Traditionelle Chinesische Medizin eine alternative Denkweise

Transkript

1 Fritz G. Wallner Traditionelle Chinesische Medizin eine alternative Denkweise Wichtige Einsichten in die Denk- und Handlungs weisen der Komplementärmedizin, Energiemedizin und des spirituellen Heilens in Beziehung zur Schulmedizin Mit einem Beitrag von Günter Gunia

2 1. Auflage by Windpferd Verlagsgesellschaft mbh, Aitrang Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Kuhn Grafik, Digitales Design, Zürich Layout: Marx Grafik & ArtWork Gesetzt aus der Garamond Gesamtherstellung: Schneelöwe Verlagsberatung & Verlag, Aitrang Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN

3 Inhalt Braucht die Medizin eine philosophische Basis?...5 Wissenschaftstheoretische Aspekte der TCM...11 Westliche Medizin und TCM eine Verfremdung...33 Die Etablierung der TCM in der westlichen Welt...49 Analytisches und systemisches Denken in der Medizin...55 Thesen zur Wissenschaftlichkeit der TCM...67 Die Wissenschaftstheorie des Konstruktiven Realismus: Eine Einführung für Ärzte...73 Eigenheiten und Gemeinsamkeiten von westlicher und fernöstlicher Medizin Die Autoren...119

4 Braucht die Medizin eine philosophische Basis? Ich möchte folgende, vielleicht paradoxe These formulieren: Das gegenwärtige Medizinsystem der westlichen Welt ist auf der einen Seite sehr hoch entwickelt und produziert dennoch auf der anderen Seite den enttäuschten Patienten. Dabei verstehe ich westliches Medizinsystem im Sinne einer Abgrenzung gegen östliche Medizinsysteme, wie beispielsweise die Traditionelle Chinesische Medizin. Meine Lösung dieses Dilemmas liegt in dem Postulat, dass durch das Verstehen dessen, was beim Heilen abläuft, der hohe Status quo der westlichen Medizin gehalten werden kann und dennoch keine enttäuschten Patienten produziert werden müssen. Was versteht man unter Heilung? Ich möchte zwei Gedanken ausführen. Der eine Gedanke ist, dass die westliche Medizin auf ihrem Weg zur Gegenwart sehr viel Inhalt verloren hat. Der zweite Gedanke ist, dass wir nicht verstehen, was beim Prozess des Heilens eigentlich geschieht. Beide Thesen scheinen prima vista unglaublich, weil es Heilung und Verstehen der Heilungsprozesse seit Anbeginn der Menschheit gibt. Dennoch bleibe ich bei meiner These: Was die moderne westliche Medizin wirklich macht, verstehen wir heute nicht, und m. E. finden wir in der Traditionellen Chinesischen Medizin, die zwei Jahrtausende alt ist, ein besser entwickeltes Verständnis vom Heilen und den dabei ablaufenden Prozessen. Außerdem kann man in der so genannten dritten Welt (z. B. in Afrika) zum Teil recht gut funktionierende Medizinsysteme finden. Die zahlreichen Praktiker, mit denen ich im Laufe meiner Forschungsarbeiten (zuletzt z. B. in Südafrika) diskutiert habe, geben allerdings meistens auf die Frage, wo sie heilen gelernt haben, als Antwort: von ihrer Mutter, Großmutter oder dergleichen. Diese Naturheiler praktizieren also ein Wissen, das zweifellos und nachweislich sehr oft zum Erfolg führt, das sich aber unseren westlichen Vorstellungen und Überzeugungen bezüglich Wissensvermittlung entzieht. Und leider muss ich anfügen, dass viele Personen, die die europäische Wissenschaft nicht 5

5 verstehen (und das sind m. E. der Großteil von uns), obwohl sie die Wissenschaft anzuwenden wissen, blicken auf diese Heiler hinunter und meinen, der Heiler arbeite mit Intuition, die manches Mal eben zu einer Heilung führe (und manches Mal eben nicht). Demgegenüber sei die westliche Medizin sehr viel weiter. Tatsächlich ist die heutige Medizin in Europa relativ jungen Datums. Ihre heutige Wissenschaftsauffassung verdankt sie der Vermählung mit der Naturwissenschaft im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts. Damals gelangten die führenden Ärzte unter dem Eindruck des großen Erfolges der Naturwissenschaft zu der Überzeugung, dass man die Naturwissenschaft für die Behandlung von Patienten fruchtbar machen müsse. Aber vor dieser Wende der Medizin zur Naturwissenschaft, also vor dem 18. Jahrhundert, bietet uns die europäische Medizin ein ganz anderes Bild, das sich sowohl in Struktur als auch im Selbstverständnis von der heute dominanten Auffassung unterscheidet. Um die Abgrenzung zur gegenwärtigen Medizin deutlich zu machen, wird daher von traditioneller europäischer Medizin gesprochen (so z. B. von meinen Kolleginnen und Kollegen an der Wiener Universität für Medizin). Welche Änderungen fanden statt, als die Naturwissenschaft für die medizinische Tätigkeit dominant wurde? Diese Frage lässt sich dadurch beantworten, wenn man Kriterien des Erfolgs der europäischen Wissenschaft in den Blick rückt und so ihr Vorgehen erkundet: Ein charakteristisches Merkmal der europäischen Wissenschaft liegt in der Reduktion von Merkmalen, womit durch eine starke Einschränkung der vielen Möglichkeiten der Natur jene Wege herausgefunden werden, die zu einem voraussagbaren und damit sicheren Ergebnis führen. Im naturwissenschaftlichen Vorgehen liegen also der Gewinn von Sicherheit und Einfachheit einerseits und der Verlust einer unglaublichen Informationsfülle andererseits. Eine kritische Aufarbeitung der europäischen Medizin muss jene in der Verwissenschaftlichung verloren gegangenen Aspekte der Medizin sichtbar machen. Man sollte also erforschen, welche Heilungsmöglichkeiten bei diesem Verfahren, das wir westliche Medizin nennen, ausgeschlossen werden. 6

6 Unterschiede zwischen der westlichen und der Traditionellen Chinesischen Medizin Um eine entscheidende Dimension dieser Handlungsmöglichkeiten herauszuarbeiten, möchte ich auf eine Untersuchung über Akupunktur hinweisen, die in Deutschland durchgeführt und von einer Krankenversicherung gesponsert wurde. Es sollte dabei festgestellt werden, ob die Akupunktur im Vergleich mit der schulmedizinischen Behandlung bei der Behandlung von Schmerzpatienten bei Rücken- und Beinleiden einen feststellbaren Effekt hat. Es wurden drei Versuchsgruppen gebildet, wobei die erste Versuchsgruppe schulmedizinisch, die zweite Versuchsgruppe mit chinesischer Medizin und die dritte Versuchsgruppe mit Scheinakupunktur behandelt wurde (im letzten Fall wurden Placebopunkte, nicht die Akupunkturschmerzpunkte gestochen). Diese Untersuchung erbrachte folgende frappierende Ergebnisse (wobei alle, die sich mit TCM und Akupunktur auskennen, kaum überrascht waren): Die beste Wirkung konnte mit der richtigen Akupunkturbehandlung erzielt werden, die Scheinakupunkturbehandlung schnitt ein bisschen, aber nicht signifikant schlechter ab, die Ergebnisse der Schulmedizin waren katastrophal schlechter. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass diese Untersuchung von Personen gesponsert wurde, die die Schulmedizin fördern. Der Schluss scheint nahe zu liegen: Mit Akupunkturnadeln zu stechen genügt schon, egal wohin. Aber das ist m. E. falsch, denn diese Placebopunkte waren nicht immer Placebopunkte! In einem Fall konnte ich nachweisen, dass ein richtiger Schmerzpunkt als Placebopunkt ausgegeben wurde in einer wissenschaftlichen Untersuchung ist das ein unglaublicher Dilettantismus, der zeigt, auf welchem niedrigen Niveau sich die Medizinforschung eigentlich bewegt. Diese Untersuchung lehrt uns also nicht, dass man pointiert gesprochen einfach Akupunkturnadeln zücken muss, um zu besseren Ergebnissen (in der Schmerzbehandlung) zu kommen, sondern es lehrt uns etwas anderes: Dass wir die Medizin reflektieren müssen. Denn auch die Behandlung von Placebopunkten wurde von geschulten und erfahrenen Akupunkteuren durchgeführt, und damit ist hier etwas passiert, was bei der Schulmedizin leider, wie ich anfügen möchte oft vergessen wird: der Prozess des Heilens. Heilen ist ein personaler, intersubjektiver Prozess, eine Tätigkeit zwischen zwei Menschen, von denen der eine dem 7

7 anderen etwas Gutes tun möchte. In den so genannten Naturmedizinen kann man vielfach studieren, welche Akte in der Absicht gesetzt werden, den Patienten personal zu beeinflussen. Das Missverständnis der Rolle der Wissenschaft in der westlichen Welt hat dazu geführt, dass man hier nur zwei Parteien kennt, entweder die naturwissenschaftliche oder die esoterische Partei. Doch diese Polarisierung ist falsch, und sie entspringt falschen Auffassungen. Was zwischen Menschen fließt und nicht auf materielle Prozesse zurückgeführt werden kann, wurde in der modernen Medizin vergessen bzw. übersehen. Ich stelle diese These sehr bewusst auf, denn m. E. ist die Psychosomatik, die hier von Schulmedizinern regelmäßig als Gegenargument angeführt wird, ein Lückenbüßer für einen Systemfehler der westlichen Medizin, weil sie zwei Entitäten (Körper und Geist) aufeinander bezieht, die künstlich getrennt wurden. Die zwei erfolgreichsten Medizinsysteme der Welt sind die (westliche) Schulmedizin und die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM). Es gibt daneben viele andere Medizinsysteme, auf die ich hier nicht eingehen werde. Mich interessiert nun der systematische Unterschied zwischen diesen beiden Medizinsystemen. Dieser wird sehr oft im Holismus der TCM gesehen. Diese Sichtweise ist zwar nicht falsch, aber doch recht oberflächlich. Denn auch in der europäischen Medizin gibt es eine Menge Holismen. Über diese Unterschiede im Holismus zu sprechen, wäre zwar verlockend, scheint aber nicht zielführend zu sein. Der grundsätzliche Unterschied der chinesischen Medizin zur europäischen liegt in der Denkweise der chinesischen Kultur und der chinesischen Sprache. Die Begriffe werden im chinesischen Denken anders konstituiert als im europäischen Denken. Im chinesischen Denken sind Begriffe kontextuell vernetzt. Die chinesische Medizin hat einen unglaublichen Erfahrungsschatz und ist in höchstem Grade empirisch (TCM ist nicht eine Philosophie, wie man manchmal hört). Aber die Empirie der TCM unterscheidet sich von der westlichen Empirie, denn in der TCM werden die Aktivitäten des Individuums des Erfahrung machenden Menschen, Arztes oder Patienten erhöht. Die Möglichkeiten, die das Individuum in seiner sozialen, psychologischen und auch biologischen Vielfalt hat, werden in der TCM eingesetzt, um Erfahrungen zu machen. In den westlichen Naturwissenschaften hat man dagegen das Prinzip des Purismus, das meint, man muss alles rein Subjektive entfernen, denn das könnte die reine Beobachtung 8

8 stören. Mit diesem Verfahren hat die westliche Wissenschaft gigantische Erfolge gehabt, was zu bestreiten wenig Sinn macht. Aber für die Medizin ist dieses Verfahren desaströs, denn es wird ausgeschlossen, was eigentlich im Rahmen des Heilens eine wichtige Rolle spielt. Der Erfolg der Chinesischen Medizin beruht darauf, dass durch die Behandlungen eine langfristige oder mittelfristige Balanceänderung entsteht. Wer schnelle monokausale Erfolge erzielen will, wird natürlich enttäuscht sein, aber wer eine Änderung des gestörten Systems anstrebt, wird auf die TCM setzen. Als Konklusion möchte ich also festhalten: Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass der Segen allein in der Anwendung von naturwissenschaftlichen Methoden liegt. Die Naturwissenschaft wird in der Medizin nur dann wirklich zu Erfolgen führen, wenn wir den Prozess des Heilens verstehen, wenn wir also Medizin adäquat reflektiert haben werden. Und das ist die Aufgabe der Zukunft. 9

9 Wissenschaftstheoretische Aspekte der TCM In diesem Beitrag möchte ich nicht bloß einige interessante und spannende Fragen beantworten, sondern ich werde dies unter Anwendung jener Methode bewerkstelligen, die ich als Verfremdung in die Wissenschaftstheorie eingeführt habe. Mit diesen einleitenden Worten möchte ich die Leserin und den Leser darauf vorbereiten, dass er möglicherweise eine Paradoxie erleben wird: Bei meiner Reflexion wird nämlich ein Fach auf ein anderes angewandt. Diese Anwendung erfolgt allerdings weder imperialistisch (in dem Sinne, dass dem einen Fach vom Standpunkt des anderen oktroyiert wird, was Sache ist ein beliebtes und bekanntes Vorgehen, das sich in der Philosophie ja oft finden lässt, allerdings nicht nur hier) noch parasitär (in dem Sinne, dass sich ein Fach an den Ergebnissen eines anderen Faches bedient). Die verfremdende Anwendung eines Faches auf ein anderes dient der Reflexion; sie ist weder imperialistisch noch parasitär. Deswegen mag sie vielleicht als schwach oder unnütz erscheinen, doch wie sich am Ende zeigen wird, ist sie weder das eine noch das andere. Damit der Leser und die Leserin die Tragweite der Verfremdung im Kontext der Medizindiskussion besser erfassen kann, werde ich zunächst auf die Entwicklung des Konstruktiven Realismus eingehen, dessen Formulierung durch das Versagen der traditionellen Wissenschaftstheorie notwendig wurde. Danach wende ich mich den Problemen von Medizin und Komplementärmedizin zu, und zwar indem ich einige der von mir angestrengten Verfremdungsergebnisse darlege. 11