Urogynäkologie in der Praxis
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- Leander Hauer
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1 Frauengesundheit in der Praxis Gynäkologe : DOI /s Online publiziert: 20. Mai 2009 Springer Medizin Verlag 2009 G. Naumann S.B. Albrich Abteilung Urogynäkologie, Klink und Poliklinik für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Urogynäkologie in der Praxis Seit 2008 in dieser Rubrik erschienen 01/2008 Arterielle Hypertonie bei Frauen 02/2008 Funktionelle gynäkologische Syndrome als larvierte Sexualstörungen 04/2008 Perinatale Prägung und lebenslange Krankheitsrisiken 05/2008 Depression überdiagnostiziert bei Frauen, unterdiagnostiziert bei Männern? 08/2008 Nicht nur teratogen, sonder auch depressiogen 09/2008 Einführung zum Beitrag "Weibliche Genitalbeschneidung" 09/2008 Weibliche Genitalbeschneidung 09/2008 Schwangerschaft und Geburt nach Genitalbeschneidung 10/2008 Bindung, Gewalt gegen Kinder und Prävention 12/2008 Akutes Kompartmentsyndrom 1/2009 Blutungen während der Schwangerschaft und Geburt 3/2009 Anwendungsbeschränkung von Aspirin während der Schwangerschaft 4/2009 Zur In-vitro-Fertilisation Zusammenfassung Der Anteil an Patientinnen mit Harninkontinenz und Genitaldeszensus in unseren Praxen und Kliniken nimmt stetig zu. Bei guter urogynäkologischer Ausbildung können viele Beschwerdebilder gut diagnostiziert und zufriedenstellend behandelt werden. Eine Diagnostik mit Erfassung aller Beschwerden und Funktionsstörungen des Beckenbodens unter Verwendung standardisierter Fragebögen zur Lebensqualität und die Nutzung eines Miktionskalenders ist sehr hilfreich. Die subtile klinische Untersuchung mit getrennten Spekula, Provokationstests im Liegen und Stehen sowie eine Sonographie des Beckenbodens sind wichtige Diagnoseparameter. Ebenso empfiehlt sich ein großzügiger Einsatz von Urodynamik und Urethrozystoskopie. Bei der konservativen Therapie sind die lokale Estrogenisierung, eine evtl. Therapie mit Duloxetin oder einem Anticholinergikum sowie ein Beckenbodentraining unter professioneller Anleitung wichtige Bausteine. Bei komplexen Störungen und Rezidivzuständen empfiehlt sich die Hinzuziehung eines urogynäkologischen Spezialisten. Schlüsselwörter Belastungsinkontinenz Genitaldeszensus Urogynäkologische Diagnostik Sonographie Konservative und operative Therapie Urogynecology in practice Abstract The number of patients with stress urinary incontinence and genital prolapse is continuously increasing. An adequate diagnosis and treatment is possible with a high level of expert knowledge. Diagnosis should include all symptoms and disorders of all pelvic floor compartments using various validated questionnaires for quality of life and micturition diaries. Pelvic floor ultrasound and detailed clinical examination with a divided specula and functional tests are the cornerstones of diagnostics. The common use of urodynamics and cystoscopy in clinical practice is helpful. The main points in conservative treatment are local estrogens, medical therapy with duloxetine or anticholinergics and pelvic floor training under professional supervision. In cases of complex pelvic floor disorders or recurrent situations the patient should be transferred to urogynecological specialists. Keywords Stress urinary incontinence Genital prolapse Urogynecological diagnosis Pelvic floor ultrasound Conservative and operative treatment Der Gynäkologe
2 Der Anteil der Frauen mit urogynäkologischen Problemen in der Praxis wächst stetig 7 Lotsenfunktion Bei abnehmenden Geburtenzahlen und steigender Lebenserwartung wird der Anteil älterer Menschen in Deutschland immer größer. Schätzungen gehen davon aus, dass 2050 jeder 3. Mensch in Deutschland älter als 65 Jahre sein wird. Die Harninkontinenz ist mit einer Häufigkeit zwischen 30 und 40% aller Frauen ab 50 Jahren eine bedeutende Volkskrankheit. Bei einer stetig steigenden Zahl älterer Patientinnen in unseren Sprechstunden werden wir in unserem Fachgebiet in den nächsten Jahren einen deutlichen Zuwachs an Frauen mit einer Harninkontinenz erleben, die eine Sanierung wünschen. Im Laufe ihres Lebens müssen sich 11% aller Frauen einer Inkontinenz- oder Deszensusoperation unterziehen [8]. Die Fortschritte der Medizin verschieben die medizinischen, technischen und auch ethischen Möglichkeiten einer adäquaten Versorgung inzwischen weit in die Dekade des Seniums. Der Anteil der Frauen mit urogynäkologischen Problemen in der Praxis wächst stetig, bedingt zum einen durch die aktuellen neuen Möglichkeiten wie z. B. die spannungsfreien Vaginalbänder in der Inkontinenzchirurgie oder die vielfältigen Netzmaterialien bei der Beckenbodenrekonstruktion, zum anderen aber auch durch einen zunehmend offeneren Umgang mit diesem tabubehafteten Problem. Der in der Praxis tätige Kollege muss sich dieser Patienten annehmen und auch hier eine 7 Lotsenfunktion für die Diagnostik bzw. weiterführende konservative oder operative Therapie übernehmen. Diagnostik Anamnese In der Fokussierung auf isolierte Symptome werden häufig Begleitstörungen unterschätzt 7 Validierte Fragebögen Die anamnestische Erfassung der urogynäkologischen Beschwerden sollte von Beginn an ganzheitlich auf Störungen des gesamten Beckenbodenbereiches ausgerichtet sein. Neben Fragen zu Harninkontinenz, Harndrangbeschwerden und Blasenentleerungsstörungen sollten auch immer Fragen zu Störungen der Sexualität und Kohabitation sowie Stuhlentleerungsstörungen oder Analinkontinenz gestellt werden. In der Fokussierung auf isolierte Symptome werden häufig Begleitstörungen unterschätzt, die dann nach Therapie meist störend in den Vordergrund treten. Erfassung der Lebensqualität/Fragebögen Die Erfassung der Lebensqualität in ihren unterschiedlichen Facetten hat eine Abfrage einzelner Symptome längst abgelöst. Die Frage nach einer postoperativen Trockenheit nach Inkontinenzoperation deckt z. B. nicht zwangsläufig neu aufgetretene Beschwerden wie eine De-novo-Drangsymptomatik, Blasenentleerungsstörungen, Unterbauchbeschwerden oder Dyspareunie auf. Es existieren inzwischen unterschiedliche 7 validierte Fragebögen, die in kurzer prägnanter Form unterschiedliche Alltagssituationen abfragen und das Ausmaß der Erkrankung in körperlicher und psychischer Form offenlegen. Subjektiver Leidensdruck Eine einfühlsame, aber direkte Befragung in einer intimen Umgebung ist notwendig Entscheidendes Kriterium bei einer angepassten Diagnostik und Therapie ist der subjektive Leidensdruck der Patientin. Die operative Sanierung von optisch den Frauenarzt störenden Befunden sollte der Vergangenheit angehören. Andererseits werden Beschwerden aufgrund des Schamgefühls zumeist eher heruntergespielt. Hier ist eine einfühlsame, aber direkte Befragung ohne Umschweife in einer intimen Umgebung notwendig. Gesprächsbrücken sollten angeboten und die Vielzahl an unterschiedlichsten Therapiemöglichkeiten aufgezeigt werden. Erstuntersuchung Eine klar strukturierte Befragung im Rahmen der ersten Visite klärt Art und Ausmaß einer Harninkontinenz mit klarem Fokus auf die Unterscheidung zwischen einer Belastungsinkontinenz (Verlust bei Husten, Niesen, körperlicher Aktivität) und einer Dranginkontinenz (Urinverlust nach impera- 462 Der Gynäkologe
3 Miktionskalender - Beispiel Zeit Trinkmenge Urinmenge Inkontinenz, anderes ml 350 ml ml 300 ml ml ml 400 ml 350 ml ml Urinmenge pro 24 Stunden 1900 ml Ideal: ml Anzahl Blasenentleerungen 6 5 _ 8 mal Abb. 1 7 Beispiel eines Miktionskalenders Durchschnittliche Entleerungsmenge 300 ml Urgedhr 300 ml tivem Harndrang, häufiger Harndrang). Eine gute Anamnese kann in bis zu 80% der Fälle bereits die richtige Inkontinenzform herausfinden. Die Patientin sollte bei der ersten Beratung nicht mit Untersuchungen überhäuft werden. Die Sorge um evtl. schmerzhafte apparative Prozeduren sowie das Schamgefühl lassen viele betroffene Frauen lange eine Abklärung hinauszögern, an sich massiv störende Probleme werden zunächst eher heruntergespielt. Hier hilft meist nur eine aktive 7 Brückenhilfe [5]. Eine gynäkologische Untersuchung erfolgt mit leerer Blase, die urogynäkologische Abklärung stets mit gefüllter Blase. Um eine Stresssituation für die Patientin zu vermeiden, wird bei der ersten urogynäkologischen Visite mit leerer Blase untersucht (kein Zeitdruck!). Eine Untersuchung mit leerer Blase kann bereits viele Risikofaktoren aufzeigen (Hormonmangelatrophie, Kolpitis; [3]). Die orientierende Sonographie kann eine 7 Restharnsymptomatik aufzeigen. Hier wird eine Menge deutlich unter 100 ml als Grenze angesehen. Bei Menschen im Senium können u. U. auch größere Mengen akzeptiert werden, wobei hier von einem Richtwert bis 20% der maximalen Blasenkapazität ausgegangen wird. Die Urinkontrolle kann eine im Alter oft asymptomatisch verlaufende Bakteriurie aufdecken. Die gynäkologische Untersuchung erfolgt mit getrennten Spekula und erlaubt so die spezifische Beurteilung der unterschiedlichen 7 Vaginalkompartimente (anterior, mittleres Kompartiment, posterior). Durch Pressen, Husten und Beckenbodenkontraktion werden verschiedene Belastungen simuliert und unterschiedliche Deszensusformen sichtbar gemacht. Wichtig ist die Unterscheidung von zentralen und lateralen Defekten an der vorderen Vaginalwand, isolierten Deszensusformen des Uterus oder Scheidenstumpfes oder distalen und proximalen Senkungen der hinteren Vaginalwand, eine Rektozele kann von einer Enterozele durch digitale Untersuchung unterschieden werden. Zur Aufdeckung einer Harninkontinenz sollte mit voller Blase untersucht werden. Lässt sich in liegender Position kein Urinverlust provozieren, sollte die Patientin zusätzlich im Stehen kontrolliert werden. Ein Bein auf eine Stufe stellend, wird die Frau zum Husten motiviert, ein vorgelegtes Papier kann den Harnverlust dann objektivieren. Die Untersuchung im Stehen kann häufig grenzwertige Inkontinenz- oder Deszensuszustände deutlicher hervorheben und sollte großzügig mit der Untersuchung im Liegen kombiniert werden. 7 Brückenhilfe Bei der ersten urogynäkologischen Visite wird mit leerer Blase untersucht 7 Restharnsymptomatik Die gynäkologische Untersuchung erfolgt mit getrennten Spekula 7 Vaginalkompartimente Urinverlust sollte zusätzlich im Stehen kontrolliert werden Der Gynäkologe
4 Abb. 2 8 Introitussonographie. Nachweis eines vertikalen Blasenhalsdeszensus und Trichterbildung der proximalen Urethra (*), linke Bildhälfte in Ruhe; rechts kräftiges Pressen Abb. 3 9 Sonographische Restharnbestimmung Miktionsprotokoll Ein Zeitfenster von 2 3 typischen Tagen mit Dokumentation aller Trink- und Urinmengen ist ausreichend 7 Miktionsfrequenz Das Miktionsprotokoll (. Abb. 1) ist ein ideales Hilfsmittel für Patient wie Arzt gleichermaßen. Es liefert eine Reihe nützlicher Informationen und erlaubt eine Reihe unterschiedlicher Therapieansätze. Ein Zeitfenster von 2 3 typischen Tagen ist vollkommen ausreichend, es sollten in diesem Zeitraum alle Trink- und Urinmengen abgemessen und notiert werden. Die bloße Angabe von wenig/ mittel/viel Urin ist wenig hilfreich und für die Patienten oft nicht abschätzbar [10]. Eine ausreichende Trinkmenge von 1,5 2 l/tag ist gut überprüfbar, ebenso kann eine normale 7 Miktionsfrequenz von etwa 6 8 Miktionen/Tag abgelesen werden. Abweichungen mit einer häufigeren Frequenz können dann mit der Urinmenge gut korreliert werden, die dann eine Modifizierung der Trinkmenge oder Miktionszeit (bei Miktionsmengen >200 ml) oder eine medikamentöse Therapie bei stärkerem Harndrang und kleinen Portionen einleiten. 464 Der Gynäkologe
5 Introitus-/Perinealsonographie Die sonographische Beurteilung des Beckenbodens und der Blasen-Harnröhren-Region ist heute ein integraler Bestandteil der urogynäkologischen Diagnostik. Einfaches Handling, ständige Verfügbarkeit und hohe Patientenakzeptanz machen dieses Tool praktisch unverzichtbar. Idealerweise wird der Vaginalschallkopf nach der vaginalen Untersuchung vorsichtig auf das Ostium externum der Urethra zur Beurteilung der Harnröhre und vorderen Scheidenwand aufgesetzt (Introitussonographie) bzw. leicht ohne Druck in das distale Scheidendrittel zur Beurteilung des mittleren und hinteren Vaginalkompartiments eingeführt. Mit 7 geringer Lernkurve können die Mobilität der Harnröhre sowie verschiedene Senkungszustände von Harnblase, Uterus oder Scheidenstumpf sowie der hinteren Scheidenwand beurteilt und in verschiedenen Funktionszuständen quantifiziert werden. Neben einer Aussage in Ruheposition sollte die Patientin ebenso zum Pressen bzw. zu einer Beckenbodenkontraktion aufgefordert werden. Zur vereinfachten Beurteilung kann das Ultraschallbild zweigeteilt (. Abb. 2) werden; eine Seite dokumentiert den Ruhezustand, auf der anderen Seite erscheint dann ein Aktivitätszustand, sodass mögliche Veränderungen sofort erkannt und verglichen werden können [11]. Bei der sonographischen Untersuchung kann die Fähigkeit der Beckenbodenaktivierung durch 7 Levatorkontraktion in idealer Weise für die Patientin als visuelles Biofeedback sichtbar gemacht werden. Bei adäquater selektiver Anspannung dieser Muskeln kommt es zu einer deutlich sichtbaren Kranialbewegung des Blasenhalses. Die sonographische Beurteilung des Beckenbodens ist integraler Bestandteil der urogynäkologischen Diagnostik 7 Geringe Lernkurve 7 Levatorkontraktion Urodynamik Die urodynamische Untersuchung mit Aufzeichnung der Blasenfüllung und -entleerung sowie der Messung der urethralen Verschlusskraft ist unverändert ein essenzieller Bestandteil der Diagnostik und gerade bei Planung von Inkontinenzoperationen zwingend vorgeschrieben. Häufig wird der Stellenwert dieser Methode bei der Detektion einer Belastungsinkontinenz überschätzt. Die belastungsbedingte Harninkontinenz ist und bleibt eine klinische Diagnose, die sich auf anamnestische und klinische Fakten der Untersuchung stützt. Aufgabe der Urodynamik hier ist nicht die Diagnosefindung, sondern die Abklärung evtl. auftretender 7 Begleitfaktoren, die das Ergebnis einer Operation eher verschlechtern. Neben einer Klärung der Restharnsituation (. Abb. 3) zählen hierzu die ausreichende Füllung der Blase auf mindestens 250 ml sowie der Ausschluss einer Detrusorinstabilität. Auch wenn die Sinnhaftigkeit der Durchführung des 7 Urethradruckprofils aufgrund der anfallenden Artefakte immer mehr hinterfragt wird, führen wir diese Untersuchung stets mit dem Ziel der Ermittlung des maximalen urethralen Verschlussdrucks und damit der Aufdeckung einer hypotonen Urethra (P clo max. <20 cm H 2 O) durch. Vielfältige Studien zeigen die bis 20% schlechteren Erfolgsraten bei Vorliegen einer hypotonen Urethra, dieser Fakt sollte in die präoperative Aufklärung der Patientin mit einfließen. Eine Belastungsinkontinenz kann auch vorliegen, wenn bei der Urodynamik kein Urinverlust oder keine ausgeprägte Negativierung des Verschlussdrucks nachgewiesen werden kann. Die Indikation zu einer operativen Sanierung stützt sich in erster Linie auf den klinischen Eindruck. Bei Frauen mit einer reinen, belastungsbedingten Harninkontinenz ohne Restharn ist die Durchführung einer 7 Uroflowmetrie oder Druck-Fluss-Messung nicht zwingend erforderlich, hier reichen die Zystometrie und das Urethradruckprofil vollkommen aus. Die urodynamische Untersuchung ist bei Planung von Inkontinenzoperationen zwingend vorgeschrieben 7 Begleitfaktoren 7 Urethradruckprofil 7 Uroflowmetrie Urethrozystoskopie Die Urethrozystoskopie ist eine einfache, nichtinvasive Methode und kann eine Reihe verschiedener Probleme aufdecken. Unklare Blasenentleerungsstörungen, Hämaturie, persistierende Drangbeschwerden sowie morphologische Auffälligkeiten bei der klinischen oder sonographischen Untersuchung sollten dringend endoskopisch abgeklärt werden [1]. Bei der Durchführung von Inkontinenzoperationen sollte die Zystoskopie obligat zum Ausschluss von Läsionen eingesetzt werden, aus unserer Sicht auch bei transobturatorischen Schlingen oder Minischlingen. Ein ebenso großzügiger Einsatz ist bei postoperativen Auffälligkeiten bei Inkontinenz- und Deszensusoperationen geboten. Nur so kann meist eine zügige Intervention zur Komplikationsbehebung erfolgen. Bei allen Inkontinenzoperationen ist die Zystoskopie zum Ausschluss von Läsionen einzusetzen Der Gynäkologe
6 Larvierte Harninkontinenz 7 Würfelpessar Die Aufdeckung einer maskierten Harninkontinenz durch vorliegenden Genitalprolaps ist gelegentlich schwierig und auch durch die Urodynamik schwer quantifizierbar. Hier bietet sich die klinische Untersuchung mit gefüllter Blase und gleichzeitiger Reposition mit einem Spekulum oder Tupfer an. Ein über 6 8 Wochen eingelegtes 7 Würfelpessar erbringt den gleichen Elevationseffekt und kann der Patientin das Problem der begleitenden Harninkontinenz in den Alltagssituationen deutlich aufzeigen. Therapie Konservativer Ansatz 7 Compliance Die Therapie startet stets mit konservativen Schritten 7 Beckenbodentraining Die Art und Weise sowie das Ausmaß der Therapie richtet sich nach dem Leidensdruck der Patientin, die 7 Compliance der Patientin ist entscheidend für den Erfolg gerade einer konservativen Therapie. Dazu gehört eine ausführliche Beratung über mögliche Maßnahmen, die Erörterung von Alternativen und die offene Bewertung von zu erwartenden Erfolgen und evtl. auftretenden Nebenwirkungen. Die Therapie startet stets mit konservativen Schritten, eine lokale Estrogenisierung mit einem Estriol als Vaginaltablette, Salbe oder Ovula gehört ebenso wie die konsequente Physiotherapie dazu [4]. Frauen in allen Lebensdekaden können Beckenbodenkontraktion erlernen, hier muss der Arzt individuell über den Therapiemodus entscheiden. Frauen mit guter Willkürmotorik können primär ein 7 Beckenbodentraining durchführen, dies kann durch ein Biofeedback noch komplettiert werden. Frauen ohne Möglichkeit der adäquaten Muskelanspannung bedürfen zunächst einer Elektrostimulation. Das professionelle Training unter Anleitung geschulter Physiotherapeuten ist einer alleinigen Übung mit Hilfe von Flyern oder Broschüren eindeutig vorzuziehen [6]. Medikamentöser Ansatz Die Gabe von Duloxetin führt zu einer deutlichen Verbesserung der urethralen Verschlusskraft 7 Anticholinergikum 7 M3-selektive Präparate Medikamentöse Therapien stellen eine sinnvolle Ergänzung der konservativen Therapie dar. Die Gabe von Duloxetin führt zu einer deutlichen Verbesserung der urethralen Verschlusskraft. Die einschleichende Dosierung verhindert ausgeprägte Nebenwirkungen. Ein Beginn mit einmal tgl. 20 mg zum Abend über 2 3 Tage und eine dann folgende Steigerung auf 2-mal 20 mg über einige Tage hat sich hier bewährt. Anschließend kann bei guter Verträglichkeit weiter bis 2-mal 40 mg gesteigert werden, u. U. aber auch bei ausreichender Effektivität 2-mal 20 mg beibehalten werden. Die Behandlung der drangbedingten Inkontinenz oder begleitender Harndrangsyndrome ist meist nicht mit einem schnellen Erfolg verbunden und benötigt Geduld auf beiden Seiten. Beim Nichtansprechen eines 7 Anticholinergikums kann auch in der Substanzklasse gewechselt werden. Bei deutlicher Mundtrockenheit oder anderen Nebenwirkungen können die transdermalen Applikationen deutliche Besserung erbringen. Die neuen 7 M3-selektiven Präparate (Darifenacin, Solifenacin) sind den herkömmlichen Medikamenten in ihrer Wirkung nicht überlegen, zeigen aber eine offenbar höhere Sicherheit hinsichtlich zentralnervöser Nebeneffekte (ein klassisches Anticholinergikum kann zu einer geistigen Alterung von bis zu 10 Jahren führen!) und sollten daher eher bei älteren oder gefährdeten Patienten verwendet werden [2]. Bei kombinierter Therapie mit Duloxetin und einem Anticholinergikum sollte immer sequenziell vorgegangen werden, um mögliche Nebenwirkungen besser zuordnen zu können. Operativer Ansatz Die Fülle an neuen innovativen operativen Verfahren und deren subtile Anwendung sprengen den Rahmen dieses Beitrags. Generell bleibt die operative Sanierung der letzte Baustein einer komplexen Therapiekaskade. Die Einlage spannungsfreier Vaginalbänder ist der gegenwärtige Goldstandard bei der Behandlung der Belastungsinkontinenz. Die entsprechende Expertise mit einem Bandsystem ist vollkommen ausreichend, aus unserer Sicht hat die retropubische Bandeinlage unverändert einen herausragenden Stellenwert [7]. Jedes operative Zentrum sollte auch die modifizierte Kol- 466 Der Gynäkologe
7 posuspension sowie intraurethrale Injektionen anbieten können, um individuell die richtige Prozedur indizieren zu können. Die operative Versorgung des 7 Genitaldeszensus erfolgt nur bei deutlichen Beschwerden der Patientin und erfordert ebenso ein individuelles Konzept zur Korrektur der anatomischen Pathologie sowie die Wiederherstellung geordneter Organfunktionen. 7 Netzeinlagen sollten dem erfahrenen urogynäkologischen Operateur vorbehalten bleiben und werden derzeit nur in der Rezidivsituation bzw. bei primären grotesken Prolapsformen befürwortet. Die zweifellos ausgezeichneten Langzeitergebnisse und sehr guten anatomischen Resultate werden z. T. mit deutlichen Funktionsstörungen oder Komplikationen wie Infektionen, Arosionen oder Dyspareunie erkauft. Ob biologische oder neuere leichtgewichtige synthetische Materialien bessere Resultate erbringen werden, müssen zukünftige Studien zeigen. Beim Vorliegen einer larvierten Harninkontinenz plädieren wir für ein zweizeitiges Vorgehen. Die Maskierung sollte bereits präoperativ aufgedeckt und mit der Patientin besprochen werden [12]. Zunächst erfolgt der Deszensuseingriff mit Wiederherstellung einer anatomisch korrekten Urethrovesikal-Topographie und einer geordneten Blasenentleerung. In bis zu 30% ist mit einer postoperativen Kontinenz zu rechnen. Nach erfolgter Prolapssanierung kann dann eine evtl. demaskierte Inkontinenz abgeklärt und gezielt in zweiter Sitzung saniert werden. 7 Genitaldeszensus 7 Netzeinlagen Beim Vorliegen einer larvierten Harninkontinenz plädieren wir für ein zweizeitiges Vorgehen Bedeutung der Urogynäkologie In Anbetracht der aktuellen demographischen Entwicklung und des steten Zuwachses von Frauen mit Inkontinenz und Genitalsenkung in unseren Praxen und Kliniken ist eine engere Zuwendung zu urogynäkologischer Diagnostik und Therapie für jeden Gynäkologen wichtig und lohnenswert. Unter Beachtung von Tipps und Tricks können auch scheinbar komplexe Fälle subtil und verantwortungsvoll behandelt oder anderen Fachkollegen übergeben werden. Fazit für die Praxis Die Einleitung einer konservativen Therapie der Inkontinenz und Genitalsenkung obliegt jedem Gynäkologen; operative Interventionen bei klaren Primärfällen eines Deszensus oder einer Belastungsinkontinenz sollte jeder operativ tätige Kollege beherrschen. Rezidivfälle, komplexe Beschwerdebilder sowie Patientinnen mit einem nicht zufriedenstellenden Behandlungsverlauf sollten dringend an einen urogynäkologischen Spezialisten verwiesen werden. Zumeist gut gemeinte rasche Reinterventionen und operativer Aktionismus führen dann eher in weitere Komplikationen oder schlechtere Resultate [9]. Komplexe Beckenbodenstörungen benötigen eine ebenso komplexe diagnostische Abklärung, die zumeist urogynäkologischen Zentren vorbehalten sein sollte. Korrespondenzadresse Dr. G. Naumann Abteilung Urogynäkologie, Klink und Poliklinik für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Langenbeckstraße 1, Mainz gnaumann@uni-mainz.de Interessenkonflikt. Der Autor Dr. Naumann ist als Referent für die Firmen AMS, Astellas, Bard und Lilly tätig. Literatur 1. American College of Obstetricians and Gynecologists. (2007) The role of cystourethroscopy in the generalist obstetrician-gynecologist practice. ACOG Committee Opinion Number 372. Obstet Gynecol 110(1): Review 2. Andersson KE, Appell R, Cardozo L, Chapple C (2005) Pharmacological treatment of urinary incontinence. In: Abrams P, Cardozo L, Khoury S, Wein A (eds) Incontinence, 3rd edn. Health Publication, Paris France, pp Carranza-Lira S, Fragoso-Díaz N, MacGregor-Gooch AL et al (2003) Vaginal dryness assessment in postmenopausal women using ph test strip. Maturitas 45(1):55 58 Der Gynäkologe
8 4. Hay-Smith EJ, Dumoulin C (2006) Pelvic floor muscle training versus no treatment or inactive control treatments for urinary incontinence in women. Cochrane Database Syst Rev (1):p. CD National Collaborating Centre for Women s and Children s Health (2006) NICE Clinical Guideline Number 40: The management of urinary incontinence in women. National Institute for Health and Clinical Excellence, London 6. Neumann PB, Grimmer KA, Deenadayalan Y (2006) Pelvic floor muscle training and adjunctive therapies for the treatment of stress urinary incontinence in women: A systematic review. BMC Womens Health 6:11 7. Novara G, Ficarra V, Boscolo-Berto R et al (2007) Tension-free midurethral slings in the treatment of female stress urinary incontinence: A systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials of effectiveness. Eur Urol 52(3): Epub 2007 Jun 21. Review 8. Olsen AL, Smith VJ, Bergstrom JO et al (1997) Epidemiology of surgically managed pelvic organ prolapse and urinary incontinence. Obstet Gynecol 89: Petri E, Niemeyer R, Martan A et al (2006) Reasons for and treatment of surgical complications with alloplastic slings. Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 17(1):3 13. Epub 2005 Jun 18. Review 10. Tincello DG, Williams KS, Joshi M et al (2007) Urinary diaries: A comparison of data collected for three days versus seven days. Obstet Gynecol 109(2 Pt 1): Tunn R, Schaer G, Peschers U et al (2005) Updated recommendations on ultrasonography in urogynecology. Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 16(3): Review 12. Visco AG, Brubaker L, Nygaard I et al (2008) Pelvic Floor Disorders Network. The role of preoperative urodynamic testing in stress-continent women undergoing sacrocolpopexy: The Colpopexy and Urinary Reduction Efforts (CARE) randomized surgical trial. Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 19(5): Epub 2008 Jan 9
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