Soziologische Fachtagung Pierre Bourdieu: Neue Perspektiven für die Soziologie der Wirtschaft?
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- Moritz Berg
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1 Soziologische Fachtagung Pierre Bourdieu: Neue Perspektiven für die Soziologie der Wirtschaft? Veranstalter: Michael Florian und Frank Hillebrandt (beide TU Hamburg-Harburg) im Rahmen des DFG Schwerpunktprogramms Sozionik: Erforschung und Modellierung künstlicher Sozialität Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft Datum: Freitag 2. bis Sonnabend 3. Dezember 2005 Ort: Technische Universität Hamburg-Harburg, Raum 0007 im Gebäude ES 40 Intention Die Soziologie der Wirtschaft hat seit Beginn der 1980er Jahre vor allem in den USA eine bemerkenswerte Wiederbelebung erfahren, die es rechtfertigt von einer Neuen Wirtschaftssoziologie zu sprechen. Mit dieser Revitalisierung war zugleich eine Verschiebung soziologischer Forschungsperspektiven verbunden, die in einer Dominanz netzwerk- und strukturanalytischer Ansätze zum Ausdruck kommt besonders im Anschluss an Arbeiten von White und Burt sowie in der von Granovetter populär gemachten Metapher einer Einbettung ökonomischen Handelns in soziale Beziehungen. Seit den 1990er Jahren zeichnet sich eine Gegenbewegung ab, die mit der Kritik an diesem vorherrschenden wirtschaftssoziologischen Paradigma stärker an Konturen gewinnt und die nun ihrerseits der New Economic Sociology eine Erweiterung und Erneuerung der Perspektiven verspricht. Gemeint sind theoretische und empirische Beiträge, die über notwendige netzwerkanalytische und strukturalistische Korrekturen des Embeddedness Approach hinaus handlungs-, institutionen-, kultur- und praxistheoretische Alternativen zum vorherrschenden Blickwinkel anbieten. Die Vielzahl und Heterogenität neuartiger wirtschaftssoziologischer Perspektiven und Ansätze steigert zugleich den Bedarf nach einer stärkeren Integration und nach einer überzeugenden sozialtheoretischen Fundierung. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die geplante Fachtagung mit der Frage, welche neuen Perspektiven die praxistheoretischen Arbeiten von Pierre Bourdieu für die Soziologie der Wirtschaft zu bieten haben. Obwohl sich Bourdieu in Ausarbeitung seiner Ökonomie der Praxis schon seit den 1960er Jahren immer wieder mit wirtschaftssoziologischen Forschungsthemen befasst hat und mit Der Einzige und sein Eigenheim (1998/2002) inzwischen auch eine Sammlung jüngerer Beiträge zur Soziologie der Wirtschaft in deutscher Sprache vorliegt, steht eine umfassende Rezeption, Würdigung und Kritik seiner wirtschaftssoziologischen Studien noch aus. In der internationalen Diskussion scheint die Relevanz Bourdieus für die Soziologie der Wirtschaft mittlerweile unumstritten zu sein (vgl. z.b. die Beiträge zum Themenschwerpunkt Bourdieu and economic sociology in Economic Sociology: European Electronic Newsletter Vol. 4, 2003, No. 2 und die Aufnahme Bourdieus in die 2. Auflage des Handbuches von Smelser und Swedberg 2005). Im deutschsprachigen Raum 1
2 dagegen werden die wirtschaftssoziologischen Arbeiten von Bourdieu bis heute entweder weitgehend vernachlässigt oder als ein Beitrag zu scheinbar ökonomiefernen Themenfeldern wahrgenommen (z.b. soziale Ungleichheit, Kultur- und Bildungssoziologie), deren Bedeutung für die Soziologie der Wirtschaft hierzulande erst allmählich (an)erkannt wird (eine Ausnahme bildet Beckert, der sich allerdings im Rahmen einer Analyse des Kunstmarktes intensiver mit Bourdieu befasst hat). In Anlehnung an eine schon klassisch zu nennende Definition von Smelser beansprucht die Soziologie der Wirtschaft zeigen zu können, wie die Produktion und Verteilung, der Austausch und Verbrauch knapper Güter und Dienstleistungen mit Hilfe genuin soziologischer Theorie- und Forschungskonzepte besser verstanden und erklärt werden können, als dies mit wirtschaftswissenschaftlichen Mitteln möglich ist. Soziologische Begriffe wie soziale Einbettung, begrenzte Rationalität, Globalisierung und soziale Vernetzung diagnostizieren dabei auch einen strukturellen Wandel der modernen Ökonomie, der mit Hilfe soziologischer Theorien und Forschungsmethoden analysiert und erklärt werden soll. Obwohl die Soziologie der Wirtschaft in Deutschland noch immer ein Schattendasein führt, zeigt sich auch hier seit den 1980er Jahren in Verbindung mit einer Neujustierung wirtschaftssoziologischer Forschungsfragen ein zunehmendes Interesse an der Erforschung moderner Ökonomien, das nicht zuletzt auch durch den öffentlichen Diskurs angeregt wird, der inzwischen von ökonomischen Beschreibungsformen der Gesellschaft dominiert wird. Die geplante soziologische Fachtagung will sich der Frage stellen, ob und auf welche Weise die Grundannahmen der Bourdieuschen Praxistheorie einer Soziologie der Wirtschaft neue Perspektiven eröffnen können. Dies bietet sich auch deshalb an, weil Bourdieu das Vokabular der Ökonomie zur Entwicklung einer allgemeinen Soziologie generalisiert und für unterschiedliche Anwendungsbereiche respezifiziert. Lassen sich zentrale Begriffe und Konzepte der Praxistheorie wie Habitus, (ökonomisches) Feld und praktische Vernunft, Interesse (illusio) und Ökonomie symbolischer Güter sowie kulturelles, soziales, ökonomisches und symbolisches Kapital in fruchtbarer Weise mit wirtschaftssoziologischen Fragestellungen korrespondieren? Erlaubt das Verständnis der Sozialität als soziale Praxis neue Beschreibungsformen und Erklärungsweisen der modernen Wirtschaft, die über das Repertoire handlungstheoretischer oder netzwerkanalytischer Ansätze hinaus führen? Es geht also vor allem darum, zentrale wirtschaftssoziologische Themenfelder wie Markt, Tausch und Institutionalisierung mit Hilfe der Praxistheorie zu analysieren und darüber hinaus die viel diskutierte, nicht zuletzt auch durch das politische Engagement Pierre Bourdieus provozierte Frage zu sondieren, welche Formen der Kapitalismuskritik die Praxistheorie ermöglicht. Die Tagung gliedert sich in drei Themenschwerpunkte: (1) Markt und Tausch, (2) Institutionen sowie (3) Kapitalismuskritik. Markt und Tausch Die Analyse von Märkten ist eines der Schlüsselthemen der Wirtschaftssoziologie. Mit der Bourdieuschen Theorie lässt sich die Frage aufwerfen, ob Marktmechanismen wie Kooperati- 2
3 on, Netzwerkbildung, Konkurrenz, Preise und vor allem Tausch mit Hilfe kultursoziologischer Theoreme vielschichtiger und umfassender erklärt werden können, als dies mit neoklassischen, am Rationalitätsmodell oder an Spieltheorien orientierten Ansätzen zur Erklärung von Marktprozessen möglich ist. Betrachtet man den Tausch als das zentrale Moment der Operationsweise des Marktes, stellt sich die Frage, ob mit Hilfe eines aus der Praxistheorie entwickelten Konzeptes des symbolischen Tausches neue Erklärungen sozialer Tauschbeziehungen in der modernen Ökonomie möglich sind. Wichtige Fragen, die es unter diesem Themenschwerpunkt der Tagung zu problematisieren gilt, sind folglich unter anderen: Was sind die Vorteile einer praxistheoretischen Thematisierung des Marktes und sozialer Tauschmechanismen? Können zentrale Theoreme der Wirtschaftssoziologie wie das des Marktgleichgewichts mit Hilfe der Praxistheorie in neuer Weise thematisiert werden? Lassen sich Differenzierungen des Marktes mit Hilfe der Bourdieuschen Feldtheorie gehaltvoll auch auf verschiedenen Analyseebenen der Sozialität untersuchen? Lassen sich unterschiedliche Praxisformen des Tausches mit Hilfe der Praxistheorie eingrenzen und auf überzeugende Weise voneinander unterscheiden? Institutionen Die Erforschung sozialer Institutionen als Mechanismen zur Einschränkung und Ermöglichung ökonomischen Handelns mit Hilfe verbindlicher handlungsleitender Regeln hat mit dem Revival der New Economic Sociology nicht nur innerhalb der Wirtschaftssoziologie, sondern auch im Bereich der Wirtschaftswissenschaften wieder deutlich an Gewicht gewonnen. Seit geraumer Zeit ist vor allem in der Organisations- und Wirtschaftssoziologie eine Renaissance des Institutionenkonzeptes zu beobachten ( New Institutionalism, Akteurzentrierter Institutionalismus sowie Institutionenökonomik in der Ökonomie), was der Bearbeitung von Grundfragen soziologischer Sozialtheorien (z.b. der Mikro-Makro-Problematik) neue Impulse verleiht und auch den Dialog zwischen dem soziologischen und ökonomischen Institutionalismus fördert (vgl. hierzu z.b. Schmid und Maurer). Gleichzeitig weisen die in der Neuen Wirtschaftssoziologie dominierenden netzwerk- und strukturanalytische Ansätze aber einige Schwächen auf hinsichtlich der Berücksichtigung makrosozialer Strukturen sowie mit Blick auf den Einfluss kultureller und politischer Bedingungen. Zu untersuchen ist, inwieweit die Praxistheorie Bourdieus die in sie gesetzte Hoffnung auf Etablierung einer fruchtbaren theoretischen Alternative zum vorherrschenden netzwerk- und strukturanalytischen Konzept der sozialen Einbettung gerecht werden kann und auf welche Weise neue Institutionenkonzepte gestärkt werden können, die sich um eine Einbeziehung kognitiver, kultureller und politischer Faktoren bemühen (vgl. z.b. DiMaggio, Zelizer, Fligstein) oder eine auf den Interessenbegriff hin ausgerichtete Neuorientierung der Wirtschaftssoziologie verfolgen (z.b. Swedberg). In diesem Zusammenhang sind unter anderem folgende Fragen bedeutsam: 3
4 Bietet die Praxistheorie eine angemessene Grundlage für die Ausarbeitung eines kognitiven, kulturellen und politischen Bezugsrahmens sozialer Institutionen? Welchen Beitrag kann die Praxistheorie für eine Mikrofundierung makrosoziologisch ausgerichteter Institutionenkonzepte leisten? Welche Bedeutung hat ein praxistheoretisches Verständnis von Interessen für eine wirtschaftssoziologische Konzeption von Institutionen? Inwieweit lassen sich netzwerk- und strukturanalytische Ansätze durch ein praxistheoretisches Verständnis sozialer Relationen und Positionen erweitern oder handelt es sich hier um wirtschaftssoziologisch nur schwer vereinbare Perspektiven? Kapitalismuskritik Kapitalismuskritik ist heute vor allem Globalisierungskritik. Bourdieu selbst hat sich zu diesem Themenkomplex vor allem in seinen politischen Schriften dezidiert geäußert. Dabei ging es ihm vor allem darum, die vom neuen Kapitalismus hervorgebrachten Herrschaftsverhältnisse und Ungerechtigkeiten aufzudecken und zu kritisieren. Dies impliziert die Formulierung einer Zeitdiagnose, die die neuen Formen des global vernetzten Kapitalismus als bestimmend für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion ausmacht. In einer solchen Zeitdiagnose muss problematisiert werden, welche Folgen die globale Vernetzung ökonomischer Prozesse für die Lebenswirklichkeit und Lebensbedingungen der sozialen Akteure hat. Damit sind unter anderem die folgenden Fragen virulent: Erlaubt die Praxistheorie, den Ort auszuweisen, von dem aus ökonomische Prozesse kritisiert werden können? Kann die Praxistheorie den hegemonialen ökonomischen Beschreibungsformen der Gesellschaft eine plausible Zeitdiagnose entgegensetzen? Ist eine praxistheoretisch inspirierte Zeitdiagnose in der Lage, die zentralen Probleme des neuen Kapitalismus gehaltvoll zu bestimmen? Bietet die Praxistheorie Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten für die durch den global vernetzten Kapitalismus neu hervorgebrachten (vor allem symbolischen) Machtund Herrschaftsverhältnisse und für die daraus folgenden politischen Konflikte? Ausgangspunkt für diese Tagungsidee ist das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Schwerpunktprogramm Sozionik geförderte interdisziplinäre Forschungsprojekt Modellierung sozialer Organisationsformen, das sich am Beispiel der Transportwirtschaft aus praxistheoretischer Sicht mit der Modellbildung und Sozialsimulation organisations- und wirtschaftssoziologischer Themen beschäftigt. 4
5 Programm Freitag Michael Florian und Frank Hillebrandt (beide TU Hamburg-Harburg) Begrüßung und Vorstellung der Intention der Tagung Jens Beckert (Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung, Köln) Perspektiven einer Soziologie des Marktes Pause Markt und Tausch Andrea Maurer (Universität der Bundeswehr München) Bourdieu und die Wirtschaftssoziologie Frank Hillebrandt (TU Hamburg-Harburg) Formen des symbolischen Tausches und gesellschaftliche Strukturdynamiken Pause Institutionen Sophie Mützel (Humboldt Universität Berlin) Strukturelle Netzwerkanalysen und Bourdieus Wirtschaftssoziologie: unterschiedliche Blicke auf die Institution Markt Michael Florian (TU Hamburg-Harburg) Soziales Feld versus Structural Embeddedness : Alternative Ansätze oder komplementäre Konzepte der Wirtschaftssoziologie? Ende erster Tag Möglichkeit zu einem gemeinsamen Abendessen 5
6 Sonnabend Sozialsimulation von Wirtschaftsprozessen 9.00 Bettina Fley (TU Hamburg-Harburg) Distinktion und Diskurs: Zur Institutionalisierung von Wettbewerbsstilen in Märkten 9.45 Petra Ahrweiler (Uni Hamburg) Kapitalflüsse in sozialen Räumen wissensintensiver Industrien Daniela Spresny (TU Hamburg-Harburg) und Christian Hahn (DFKI Saarbrücken) Ein Reputationsmodell: Die Bedeutung des symbolischen Kapitals für das Marktgeschehen Pause Kapitalismuskritik Jürgen Mackert (Humboldt Universität Berlin, Uni Erfurt) Ohnmacht des Staates? Zur Erklärung staatlichen Handelns Uwe H. Bittlingmayer (Uni Bielefeld) Ungleichheitssoziologie plus intellektuelle Gegenfeuer oder Kritische Theorie der Gesellschaft? Ende der Veranstaltung Zur Teilnahme ist eine Anmeldung erforderlich. Kontakt: Stefanie Schäfer Tel.: Frank Hillebrandt Tel.:
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