Welche Rolle spielen die sunnitischen Stämme des Iraks?
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- Juliane Schubert
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1 FREITAG, 24. JUNI 2016 Welche Rolle spielen die sunnitischen Stämme des Iraks? Experte Professor Dr. Amatzia Baram Region: Maghreb Naher Osten Sunnitische Kräfte erhalten in der Nähe von Mossul ein militärisches Training. Die USA werden noch mehr Männer von den sunnitischen Stämmen rekrutieren müssen, wenn sie die Stadt vom IS zurückerobern wollen (Foto: dpa) Auf Blutlinien basierende Gruppierungen stellen im Irak seit Urzeiten eine Macht dar, mit der zu rechnen ist. Im 19. Jahrhundert, als die Osmanen erneut die Kontrolle über den Irak erlangten, unternahmen sie große Anstrengungen, um die gewaltigen Stammesverbände und sogar die Scheichs der kleineren Stämme zu schwächen. Als die Briten im Jahr 1920 den irakischen Staat gründeten, bauten sie ihre Herrschaft in erster Linie auf einem kooperativen König und seinen sunnitischen HofPolitikern sowie auf den sunnitischen und schiitischen Stammes-Scheichs auf. Sie kalkulierten, dass es einfacher wäre, das Hinterland außerhalb der großen Städte mit Hilfe der Scheichs zu kontrollieren. Thomas Edward Lawrence (auch als Lawrence von Arabien bekannt) sagte, dass diese Strategie die Angelegenheiten erleichtern würde, so dass die Briten mehr Steine mit weniger Stroh machen könnten. Die Blütezeit der Stammes-Scheichs ging im Juli 1958 zu Ende, als General Abd al-karim Qasim die Monarchie stürzte und die irakische Machtstruktur umwandelte. Viele Scheichs wurden verjagt. Sie verloren den größten Teil ihres Landes an den Staat, der es langsam an die Bauern zu verteilen begann. General Qasims Nachfolger, die Arif-Brüder, gingen mit dieser Politik sogar noch weiter, als sie ihr System eines arabischen Sozialismus einführten, das sie an der Politik des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser ( ) angelehnt hatten. SEITE 1
2 Saddams Strategie Als die Baath-Partei im Juli 1968 in Bagdad an die Macht kam, stand sie in starker Opposition zu den Scheichs und dem Tribalismus allerdings nur in der Theorie. In der Praxis begann Saddam Hussein, der seit Anfang 1969 der Chef aller Angelegenheiten der inneren Sicherheit geworden war, sogleich damit, die sunnitischen und schiitischen Stammes-Scheichs zu hofieren. Der Grund dafür war, dass die Baath-Regierung nur eine sehr begrenzte Kontrolle über die Gesellschaft hatte. Das Militär sowie die innere Sicherheit und die Nachrichtendienste konnten hier nicht punkten. Eine Kontrolle der ländlichen Gebiete und der armen schiitischen Slums rund um Bagdad konnte nicht ohne die Mitwirkung der Stammes-Scheichs erreicht werden. Diese Strategie funktionierte jedoch unbemerkt von den Historikern und Politologen, da sich das Regime in dieser Angelegenheit äußerst bedeckt hielt. Immerhin widersprach diese Vorgehensweise komplett dem Glauben der Baathisten. Im Ergebnis wurde die Allianz zwischen Hussein und den Stammes-Scheichs erst sehr spät publik, nach dem Golfkrieg von Dann befand sich das Regime in derartigen Schwierigkeiten, dass es die Scheichs auch noch öffentlich hofieren musste neben den materiellen Vorteilen, die diese bereits genossen. Amerikanische Revolution Als das Baath-Regime durch die Invasion der amerikanischen Truppen im Jahr 2003 beseitigt wurde, verloren die Stämme und ihre Scheichs ihre Gönner. Ihre Loyalität zu Hussein war bedingt: Solange er sie mit Vorteilen versorgen und mit Vergeltung für Unbotmäßigkeit bestrafen konnte, hatten sie ihn noch unterstützt. Innerhalb weniger Wochen nach der amerikanischen Besetzung von Bagdad befanden sich die sunnitischen Stämme dann selbst in Schwierigkeiten. Viele ihrer Männer, die in Husseins Militär gedient hatten, wurden von den neuen Herrschern gefeuert. Alle Leistungen des Regimes rissen plötzlich ab. Ausländische Truppen lagerten in ihren Städten, darunter Falludscha, Ramadi und Hit. Ihr Zugang zum Zentrum der Macht war völlig abgeschnitten. Viele sunnitische Scheichs näherten sich Paul Bremer, dem amerikanischen Chef der Koalitions-Übergangsverwaltung im Irak, an und offerierten ihre Zusammenarbeit. Sie schlugen vor, dass ihre Männer, falls diese von den USA unterstützt würden, dem sich im Entstehen begriffenen Aufstand ein Ende setzen könnten. Doch er lehnte ab, mit dem Argument, dass es sein Ziel sei, einen neuen, modernen Irak zu schaffen (zu dieser Zeit schrieb ich einen Meinungskommentar, in dem ich die USA drängte, mit den Stämmen zusammenzuarbeiten ohne Erfolg). SEITE 2
3 Das Erwachen Drei Jahre und viele amerikanische und irakische Opfer später, im September 2006, stellte ein unter Brigadekommandeur Oberst Sean MacFarland in der Nähe von Ramadi dienender Geheimdienstoffizier fest, dass jeden Morgen einige Leichen von al-qaida-mitgliedern am Rande der Straße lagen, die zur Stadt führte. Oberst MacFarland erfuhr, dass hierfür einer der lokalen Scheichs, Abdul Sattar Abu Risha, verantwortlich war. Auf die Frage, warum er diese Morde befahl, lautete die Antwort von Scheich Abu Risha: Seit drei Jahren hatte er mit al-qaida gearbeitet, doch diese hatten nun begonnen, seine Familie aufgrund verschiedener Unstimmigkeiten zu töten. Würde er ihnen vergeben, dass sie das Blut seiner Familie vergossen hatten, würde er als unehrenhaft gelten und dies könnte ihn schließlich selbst vernichten, weil dann sein Stamm jeden Respekt für ihn verloren hätte. Oberst MacFarland bot ihm Unterstützung in Form von Waffen, Munition und Verträgen für lokale Projekte an, bei denen er seine Stammesangehörigen beschäftigen könnte. Im Falle einer ernsten Gefahr, wie koordinierten Massenangriffen auf seinen Stamm in Ramadi, versprachen die Amerikaner, Unterstützung durch Kampfhubschrauber zur Verfügung zu stellen. Mindestens einmal wurde Scheich Abu Risha durch diese Art der schnellen Reaktion durch Luftunterstützung gerettet. All dies wurde ohne Washingtons ausdrückliche Zustimmung unternommen, aber es erwies sich als so effektiv, dass schließlich sogar Präsident George W. Bush nach Ramadi kam, vor allem, um Abu Risha die Hand zu schütteln. Zwei Wochen später wurde der Scheich ermordet. Sein Bruder Ahmad übernahm die Führung. Die meisten anderen Stämme und Clans in der Provinz Anbar schlossen sich diesem Milizsystem an, welches als Das Erwachen (al-sahwa) bezeichnet wurde. Die Rechnung der Stämme war einfach: Wenn sie nicht beim Erwachen mitwirken würden, könnte Abu Rishas Stamm zu mächtig werden und sie bedrohen. Die Überwindung von al-qaida Zunächst widersprach die von Schiiten dominierte Regierung des Iraks derartigen Bündnissen, weil sie befürchtete, dass die bewaffneten Sunniten nach der Macht streben könnten. Als jedoch Premierminister Nouri al-maliki ( ) erkannte, dass die Stammesmilizen mit amerikanischer Unterstützung äußerst erfolgreich waren in ihrem Kampf gegen al-qaida, schlug er vor, dass ihre Gehälter von Bagdad anstatt von Washington bezahlt werden könnten und so wurde es gemacht. Das US-Militär etablierte schließlich ähnliche Milizen in Bagdad, um Mossul und Tikrit sowie in der Provinz Diyala. Bis Ende 2009 wurden die al-qaida-truppen im Irak dezimiert. Ihre Funktionäre verschwanden entweder im sunnitischen Ozean SEITE 3
4 der westlichen und nördlichen Provinzen oder sie flohen nach Syrien, wo sie die Unterstützung von Präsident Baschar al-assad erhielten. Sunnitische Stammesmilizen könnten sich als besonders effektiv gegen den Daesh in der westlichen Provinz Anbar und im Kampf um Mossul im Norden erweisen (Quelle: macpixxel for GIS) Den US-Streitkräften beizustehen, erwies sich für sunnitische Clans als äußerst nützlich. Im Jahr 2005 zum Beispiel gerieten die Stämme Albu Mahal und Albu Nimr in Konflikt mit al-qaida über den Schmuggel zwischen Syrien und dem Irak: al-qaida verlangte die Zahlung einer sehr hohen Steuer. Nahe der Stadt al-qaim an der syrischen Grenze baten die Stämme die US-Marines um Unterstützung. Schließlich kamen die Marines zu Hilfe, sie besiegten die al-qaida-kräfte und trieben sie tief in die Wüste zurück. Fatale Fehler 2009 und 2010 begingen die Amerikaner den fatalen Fehler, die Autorität der lokalen Kommandanten aufzuheben, um die sunnitischen Scheichs und ihre Stämme zu unterstützen. Die Verbindungen wurden fast vollständig durchtrennt. Im Jahr 2010 entschied Washington, Premierminister al-maliki für eine zweite Amtszeit zu unterstützen. Diese Entscheidung war katastrophal: Al-Maliki hatte bereits sein komplettes Versagen als nationaler Vereiniger unter Beweis gestellt. Zwischen 2010 und 2014 ächtete er die gleichen sunnitischen Stammesführer, die er bis 2009 bezahlt und unterstützt hatte. Er schikanierte sunnitische Politiker und schlug gewaltsam friedliche sunnitische Demonstrationen gegen ihn nieder. SEITE 4
5 Am Ende des Jahres 2011 zog Washington die letzten amerikanischen Kampftruppen aus dem Irak ab. An diesem Punkt hatte al-maliki keine Scheu mehr, die Sunniten zu unterdrücken in dem Wissen, dass die USA nun keinen direkten Druck mehr gegen ihn ausüben würden. Der Iran unterstützte diese Politik. Bis Juni 2014 kehrte der Islamische Staat (IS) als die Reinkarnation von al-qaida aus Syrien zurück und eroberte Mossul. Er verfügte bereits seit 2012 über die Kontrolle einiger Hochburgen in der Provinz Anbar. Die lokalen Stämme empfingen die Kräfte des Islamischen Staats mit gemischten Gefühlen: Sie mochten den IS nicht wegen dessen islamischen Fanatismus, aber sie verabscheuten al-maliki noch mehr. Die meisten Stämme blieben an der Seitenlinie stehen, doch einige verbanden sich mit dem IS. Potenzielle Verbündete Heute sind die meisten der sunnitischen Stämme gespalten. Einige Splittergruppen haben sich dem Islamischen Staat angeschlossen, während andere Washington und Bagdad helfen. Die meisten jedoch sind immer noch unschlüssig. Die Gründe für die Unterstützung oder die Gegnerschaft zum IS sind vielfältig. Jede Gruppe hat ihre eigenen Interessen und Überzeugungen. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Stämme, die die Amerikaner schon früh unterstützten, also zwischen 2005 und 2006, heute noch immer mit Washington und Bagdad zusammenarbeiten. Die Stämme, die Das Erwachen später unterstützten, traten entweder dem IS bei oder warten ab, um zu sehen, wie sich die Lage entwickelt. Zu den Stämmen, die den Islamischen Staat bekämpfen, gehören die Albu Issa in Falludscha, Albu Fahad östlich von Ramadi, Al-Jughayfa in Haditha, Albu Alwan in Ramadi, Albu Nimr in Hit und Albu Mahal in al-qaim. Bisher sind zwischen und sunnitische Stammeskämpfer dem irakischen Militär beigetreten. Sie kämpfen in Falludscha und sie werden an der Befreiung von Mossul teilnehmen, aber ihre Zahlen bleiben zu klein. Das vielleicht beste Beispiel für einen potenziellen Verbündeten, der noch immer zwischen allen Stühlen sitzt, ist der riesige Schammar al-jarba-stamm (er hat nicht weniger als 2 Millionen Mitglieder), der sich an der irakisch-syrischen Grenze entlang zieht. Einige seiner Mitglieder kämpfen bereits neben den syrischen Kurden gegen den IS, doch auf der irakischen Seite der Grenze unterstützt eine kleine Gruppe tatsächlich den Islamischen Staat. Die meisten Stammes-Mitglieder warten weiter ab. Der derzeitige irakische Premierminister Haidar al-abadi unternahm einen wichtigen Schritt, als er General Najim al-jubouri zum Kommandeur der Mossul- Operationen ernannte. General al-jubouri ist ein erfahrener Kämpfer und ein ausgezeichneter Feld-Kommandant, der unter Saddam Hussein als Generalmajor SEITE 5
6 FREITAG, 24. JUNI 2016 Lt. Gen. Sean MacFarland, der die US-Streitkräfte im Irak und in Syrien anführt, leistete im Jahr 2006 mit seiner Kooperation mit den sunnitischen Stämmen Pionierarbeit (Foto: dpa) gedient hatte. Später wurde er Gouverneur von Mossul und arbeitete mit General David Petraeus zusammen. Er und seine Familie wurden später in die USA verbracht, nachdem sowohl sunnitische als auch schiitische Hardliner Drohungen gegen sie ausgestoßen hatten. Seine Anwesenheit ist dazu geeignet, die Bürger von Mossul davon zu überzeugen, dass sie in Sicherheit sein werden, wenn sie von den irakischen Streitkräften befreit werden. Er kann potenziell viele seiner eigenen Stammesmitglieder rekrutieren. Er arbeitet mit dem Befehlshaber der amerikanischen Truppen im Irak und in Syrien, Sean MacFarland, zusammen, der inzwischen Generalleutnant ist. Abgewürgter Fortschritt Es gibt wichtige gemeinsame Nenner für die meisten sunnitischen Stämme. Im Gegenzug für die Zusammenarbeit mit Bagdad erwarten sie bestimmte Zugeständnisse. Erstens verlangen sie, dass Bagdad eine Nationalgarde für jede sunnitische Provinz legitimiert, finanziert und ausrüstet. Solche Milizen würden stark genug sein, um die lokale Sicherheit zu garantieren, aber keine Gefahr für Bagdad darstellen. Zweitens erwarten die meisten Sunniten eine Art von politischer Autonomie, ähnlich wie jene, die die Kurden in der kurdischen Regionalregierung (KRG) genießen. Diese lokalen Behörden müssten durch einen Anteil an den irakischen Öleinnahmen finanziert werden, von denen die meisten aus dem schiitischen Süden kommen. SEITE 6
7 Schließlich erwarten die Sunniten noch, dass alle Ent-Baathifizierungs-Gesetze geändert werden, so dass die ehemaligen sunnitischen Baathisten ohne Einschränkungen im öffentlichen Dienst arbeiten können. Dies ist etwas, das die schiitisch dominierte Regierung bereits für die ehemaligen schiitischen Baathisten getan hat. Im Moment möchte Bagdad nur ungern diese Zusicherungen geben, selbst unter amerikanischem Druck. Während Premierminister al-abadi bereit ist, erhebliche Zugeständnisse zu machen, blockieren der Iran und seine irakischen politischen Anhänger eine solche Vereinbarung. Die Amerikaner sind nicht bereit, die kleinen sunnitischen Milizen unabhängig zu bewaffnen, die bereits neben dem irakischen Militär kämpfen, weil Bagdad darauf besteht, dass jede einzelne Munitions-Runde von der Zentralregierung verwaltet wird. All dies macht es sehr schwierig, neue Stämme oder Teile von Stämmen zu der sunnitischen Kampfkraft hinzu zu addieren, die benötigt wird, um Mossul und den Nordirak zu befreien. Solange diese Streitmacht unzureichend bleibt, kann der IS die Millionen sunnitischer Bürger in Mossul leicht davon überzeugen, dass der Preis einer Niederlage durch die Regierungstruppen ein Massaker an den Zivilisten durch die irakischen Truppen und durch widerspenstige schiitische Milizen wäre. Sobald Mossul befreit ist, werden die IS-Funktionäre erneut innerhalb der sunnitischen Bevölkerung verschwinden oder vorübergehend die Grenze ins vom Chaos regierte Syrien überqueren, wo sie sich in kleinen Einheiten als Wüsten-Streitmacht neu formieren können. Mit Unterstützung der sunnitischen Bevölkerung dürften sie Bagdad noch lange Schwierigkeiten bereiten. Es ist daher unerlässlich für die Koalitionstruppen, so schnell wie möglich die Unterstützung der sunnitischen Stämme zu gewinnen und 2010 begingen die Amerikaner den fatalen Fehler, die Autorität der lokalen Kommandanten aufzuheben SEITE 7
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