Weiterentwicklung der Versorgungsforschung aus Sicht der vertragsärztlichen Versorgung
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- Jens Kalb
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1 Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung in Deutschland Patientenorientierte Versorgungsforschung Gestern, Heute und Morgen Berlin, 29. September 2015 Weiterentwicklung der Versorgungsforschung aus Sicht der vertragsärztlichen Versorgung Dr. Dominik von Stillfried
2 Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) Gemeinnützige Stiftung des privaten Rechts in Trägerschaft der 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), finanziert durch Beiträge der KVen Stiftungszweck Förderung des Sicherstellungsauftrags der Träger mit den Mitteln der Forschung und Wissenschaft Fragen für die Versorgungsforschung Wo stehen wir? Was kommt beim Patienten an? Entspricht dies der notwendigen, ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung? Was kann/muss ggf. getan werden, um unerwünschten Fehlentwicklungen zu begegnen? SEITE 2
3 Wozu dient Versorgungsforschung? Deskriptive Komponente Wer sich verändern will, muss wissen wo er momentan steht... Erforderlich: Datengrundlagen im Zi erhebliche Anstrengungen zur Schaffung einer bundesweiten Datenbasis aus pseudonymisierten arzt- und versichertenbezogenen Abrechnungsdaten ( 295, 300 SGB V) der Kassenärztlichen Vereinigungen SEITE 3
4 Wozu dient Versorgungsforschung? Liefern uns Routinedaten die richtige Perspektive? z.b. Daten nur mit Bezug zur Abrechnungseinheit, ohne geografische Lokalisierung, ohne Zusammenführung mit anderen Routinedaten, etc. sind oft entweder zu konkret SEITE 4
5 Wozu dient Versorgungsforschung? Liefern uns Routinedaten die richtige Perspektive? oder zu grob. z.b. Totalerhebung ohne sinnvolle zeitliche, räumliche, personelle Differenzierung SEITE 5
6 Wozu dient Versorgungsforschung? Versorgungsforschung kann und soll ein fortlaufend aktives Navigationssystem über Stand, Fahrrichtung und Ergebnis der medizinischen Versorgung bieten. Idealiter: Verbindung der Satellitenperspektive mit der Erfahrung am Boden. Somit ist auch Steuerung in eine gewünschte Richtung möglich. N.B. Technische Grundlagen für Datengenerierung und Auswertung müssen ebenso ernsthaft entwickelt werden, wie für das alltägliche Navi im Auto Durchbruch (2010): Schaffung einer Datenbasis - arzt- und patientenbezogen - geografisch differenziert - vollständige Abrechnungsdaten - in längerer Zeitreihe SEITE 6
7 Regionale Versorgungsunterschiede Versorgungsforschung wird geografisch ( ) Populationsbezogene Betrachtung - > kleinräumige Versorgungsunterschiede (Wennberg/Gittelsohn 1973: Vermont), internationaler Forschungsansatz mit klarer Handlungsperspektive Forschung für die Praxis Dartmouth Atlas of Health Care (USA) > National Health Performance Authority (Australien) 2012, and counting Zielsetzungen: informierte Entscheidungen treffen, Versorgung verbessern Trotz einheitlicher Rahmenbedingungen: innerhalb jedes medizinischen Versorgungssystems weltweit ist festzustellen - jede medizinische Leistung ist eine regionale Besonderheit Zi startet Internetportal in 2011 SEITE 7
8 Regionale Versorgungsunterschiede - was kommt beim Patienten an? Warum? - regional verteilte Variablen - Raumordnung und -gliederung - individuelles Verhalten - Wechselwirkungen mit anderen Leistungen SEITE 8
9 standardisierte Krankenhausaufnahmen je Einwohner Quelle: OECD 2014 SEITE 9
10 Beobachtung Erhebliche regionale Unterschiede in der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen in Deutschland: Varianzkoeffizient: 0,14 stationäre Versorgung vertragsärztliche Versorgung Varianzkoeffizient: 0,08 DRG Statistik, vertragsärztliche Abrechnungsdaten 2008 Unterschiede der auf 1 normierten ambulanten und stationären Fallzahlen nach dem Wohnortprinzip zwischen den 413 Landkreisen und kreisfreien Städten SEITE 10
11 Ein Erklärungsansatz Overall we are able to account for 73 % of the variation at state level in terms of observable factors. By far the most important reason for the regional variation in the utilisation of in-patient services is differences in medical needs. Differences in the supply of medical services and the substitutability of outpatient and inpatient treatment are also relevant, but to a lesser extent. Augurzky, B., T. Kopetsch und H. Schmitz (2013), What Accounts for the Regional Differences in the Utilisation of Hospitals in Germany? European Journal of Health Economics 14 (4): Nach Berücksichtigung der Versichertenstruktur beeinflussen - Norm (z.b. Leitlinienempfehlung) und - Kontext (Alternativen), ob beobachtete Leistungsart und menge viel / wenig, zu viel / zu wenig medizinische Versorgung darstellt. SEITE 11
12 Eine Erkenntnis Quelle: Watson D et al. (2005) Planning for Renewal, Seite 116 Aber: alle gewachsenen Versorgungsstrukturen so gewünscht (z.b. Nutzung von Notfallambulanzen)? SEITE 12
13 Beispiel: Ambulant sensitive Konditionen (ASK) Hierzu existieren international diverse ASK-Kataloge (ICD-basiert) Quelle: Sundmacher L. Wechselwirkung zwischen der ambulanten und stationären Versorgung Gibt es einen Zusammenhang? Vortrag bei: Versorgungsforschungstag der KV Hamburg; Die Ambulantisierung der Medizin: Anspruch und Wirklichkeit am Beispiel Hamburgs, SEITE 13
14 ASK-Fälle je Einwohner Ambulant-sensitive Konditionen: Substitutive Beziehung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung Leistungsdichte in EBM-Punkten je Einwohner SEITE 14
15 Ambulant-sensitive Konditionen: Substitutive Beziehung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung senkt vermeidbare + Hospitalisierung N.B. Veränderung um 1 Arzt bzw. 1 Bett je E Quelle: IGES, Ambulantes Potenzial in der stationären Notfallversorgung, Gutachten im Auftrag des Zi, Ergebnisbericht März 2015 SEITE 15
16 Ambulant-sensitive Konditionen: vermeidbare und vermiedene Kosten (Modellrechnung IGES) Best-Practice- Regionen? Quelle: IGES, Ergänzungsgutachten zum Gutachten für das BMG im Auftrag des Zi SEITE 16
17 Reduktion vermeidbarer Hospitalisierungen: Anregungen für einzelne Regionen Deutschlands? Was kommt beim Patienten an? vermeidbare Hospitalisierungen sind ein Qualitätsparameter für die ambulante Versorgung insgesamt (SVR 2012) sehr hohe und eher niedrige Hospitalisierungsraten existieren innerhalb einer KV-Region (z.b. Brandenburg) Quelle: IGES, Ambulantes Potenzial in der stationären Notfallversorgung, Gutachten im Auftrag des Zi, Ergebnisbericht März 2015 SEITE 17
18 Focus: stationäre Inanspruchnahme in Brandenburg Belegungstage im Vergleich zum Bundesdurchschnitt 1,24 1,27 1,38 1,05 1,06 Versorgungsrelationen Belegungstage 2013 unter 1,00 1,00 bis unter 1,10 1,10 bis unter 1,19 1,19 und mehr 1,00 = Bundesdurchschnitt Ostprignitz: 1,38 Prignitz: 1,27 Uckermark: 1,24 Frankfurt (Oder): 1,22 Oder-Spree: 1,19 1,19 1,09 0,93 0,98 1,09 1,06 0,99 1,12 1,18 1,19 1,22 0,95 1,15 Potsdam-Mittelmark: 0,93 Cottbus: 0,95 SEITE 18
19 Focus: vermeidbare Hospitalisierungen Anregungen für regionale Versorgungsziele in Deutschland? 1,27 1,19 1,38 1,09 0,93 Handlungsbedarf insbesondere in den Kreisen Prignitz, Ostprignitz, Uckermark 0,98 1,05 1,09 1,06 1,24 1,06 0,99 1,12 1,18 1,19 1,22 0,95 1,15 Best-Practice: Cottbus, Potsdam, Potsdam-Mittelmark, Barnim Alle ASK-Fälle Bund = SEITE 19 Quelle: IGES, Ambulantes Potenzial in der stationären Notfallversorgung 2015
20 Die Chance: - von realisierten Vorbildern (Best Practice) lernen Was ist / wäre dafür nötig? Populationsbezug in den Daten und im Steuerungsansatz (Wohnort- statt Standortbezug, möglichst vollständige Abbildung des Leistungsgeschehens, sektorenübergreifend) Regionale Darstellung: Was passiert? Wo besteht Erklärungs- bzw. Handlungsbedarf? Die Landkarte zum Navigationssystem weiterentwickeln: Versorgungsbeitrag (versorgte Population, Leistungsstruktur, Ergebnisindikatoren) der beteiligten Praxen, Krankenhäuser etc ermitteln. Kooperationsstrukturen identifizieren. Wen muss man informieren / ansprechen, um Veränderungen für die Population zu erreichen? Strukturiertes Feedback anbieten Daten innerhalb und zwischen den Kooperationsstrukturen interpretieren, Handlungsperspektiven formulieren, Ergebnisse überprüfen SEITE 20
21 Bildung funktionaler Populationen und ihrer Versorgungsgemeinschaften Bestimmung der Praxis aus dem hausärztlichen Versorgungsbereich mit dem höchsten Leistungsbedarf je Patient (sog. Primärpraxis ) Zuordnung des Patienten zu dieser Primärpraxis - jeder Patient ist mit allen weiteren Arztkontakten genau einer Primärpraxis zugeordnet Jeder Praxis aus dem hausärztlichen Versorgungsbereich ist eine eindeutige Population zugeordnet; die Versorgungsgemeinschaft (VG) umfasst alle weiteren von dieser Population in Anspruch genommenen Praxen (Fachärztliche Praxen können mehreren VG angehören) Analysiert wird die Versorgung der definierten Populationen im Vergleich der Versorgungsgemeinschaften SEITE 21
22 N (Patienten je VG) Mittelwert: 1381,11 Std Abw.: 749,973 N (VG): SEITE 22
23 Beispiel: Versorgungsindikatoren HbA1c-Messung bei Diabetikern Kreis A insgesamt: 78% Kreis B insgesamt: 86% 2 Landkreise in Deutschland Kreis A weist schlechteren Median-Wert aber auch Best-Practice-Beispiel auf Differenziertere Darstellung bildet reale Erfahrungen / Erwartungshorizonte von Patienten und Ärzten besser ab Mögliche Grundlage individualisierter Feedback-Berichte Kreis A Kreis B SEITE 23
24 Beispiel Canada: Routinedaten sollen Fragen aufwerfen Feedback an virtuelle Netze aus Praxen und Krankenhäusern Quelle: Vortrag Dr. Therese Stukel (ICES, Toronto) WIC health policy conference 4./ Berlin SEITE 24
25 Flankierend erforderlich: Prospektive populationsbezogene Mengenvereinbarungen der Krankenkassen mit einzelnen Krankenhäusern Populationsbezug in der Versorgung und der Vergütung Quelle: SVR 2009, S. 505 Ziel: sektorale Zuordnung der Einrichtung verliert an Bedeutung, die regionalen Strukturen entscheiden über den Ort der Leistungserbringung. SEITE 25
26 Flankierend erforderlich: Prospektive populationsbezogene Mengenvereinbarungen der Krankenkassen mit einzelnen Krankenhäusern Populationsbezug in der Versorgung und der Vergütung Sicherstellung & Morbiditätsbezug ( Budget ) nach Wohnortprinzip Morbiditätsbezug je Fall, Budget nach Standortprinzip Quelle: SVR 2009, S. 505 Die sektorale Abgrenzung verliert an Bedeutung, die regionalen Strukturen entscheiden über den Ort der Leistungserbringung. SEITE 26
27 Flankierend erforderlich: Prospektive populationsbezogene Mengenvereinbarungen der Krankenkassen mit einzelnen Krankenhäusern Gutachten im Auftrag von SEITE 27
28 AGENON-Vorschlag für das Vorgehen Schritt 1: Auswahl geeigneter Krankheitsgruppen (Verlagerungspotenziale vermutet) Schritt 5: Aufarbeitung der ambulanten Behandlungsangebote und -möglichkeiten Schritt 2: Spezifikation verlagerungssensitiver Parameter der Inanspruchnahme (DRGs) Schritt 3: Quantifizierung der Parameter (Anzahl der Fälle; Bund, Land, Kreisregion; Adjustierung) Schritt 4: Regionalauswahl Schritt 6: Aufschlüsselung nach Krankenhäusern, Bestimmung von Ziel- Krankenhäusern Schritt 7: Zielbildung auf der Basis von Vergangenheitswerten und Prognosen Schritt 8: Zuordnung zu den Ziel-Krankenhäusern SEITE 28
29 Routinedaten: Mehr Fragen als Antworten Beispiel Kombinationstherapie bei Herzinsuffizienz-Patienten Anteil von Patienten mit ACE-Hemmer/AT1-Blocker & Beta Blocker an allen Patienten mit I50.1 / I50.9 einer VG nach Versorgungsquoten und Geschlecht Versorgungsquote niedrig Versorgungsquote mittel Versorgungsquote hoch AVD / VDA-Daten 2011 (ohne WL) I50.1 / I50.9 N Männer = Patienten N Frauen = Patienten N Versorgungsgemeinschaften = Patienten pro funktionaler Population 40,2 + 38,6 (Min = 1, Max = 744) SEITE 29
30 Grenzen der Routinedaten Was zum besseren Verständnis fehlt - Einweisungen - AU-Bescheinigungen - Heilmittel-Verordnungen - Hilfsmittel-Verordnungen - tatsächliche Kontakte - Arbeitszeit (Inhaber, angestellte Ärzte, Mitarbeiter) und Teilleistungen - Befunde - soziostrukturelle Merkmale der Patienten - Patienten-Präferenzen, Unverträglichkeiten - Outcomes SEITE 30
31 Forschungspraxen-Netze practice based research networks (PBRN) Interdisziplinäre, regional definierte Kooperationen, in der Regel fest in hausärztlicher Versorgung verwurzelt, mit begleitenden Universitäts-Instituten, finanziert durch Gesundheits- und Forschungsministerien Aufgaben Datensammlung (Behandlungsanlässe, Symptome, Anamnese, Krankheiten, Befunde, Verlaufsindikatoren, Outcomes wichtige Ergänzung von Routinedaten!) klinische und versorgungsbezogene Forschung kontrollierte Multi-Site / Multi-Center- Studien Methodenentwicklung Fortbildung Implementierung von neuem Wissen in der Versorgung Impulse für Gestaltung des Gesundheitswesens (health policy and planning) SEITE 31
32 Warum nicht eine Infrastruktur zur Forschung schaffen? (Programmatischer Vorschlag DEGAM) Nach Auffassung Zi: fachgruppenübergreifende Forschungspraxen- Netze notwendig Quelle: DEGAM (2014), Unser Labor ist die Praxis. Warum ein hausärztliches Forschungspraxennetz in Deutschland erforderlich ist SEITE 32
33 Ein gutes Navigationssystem vermeidet unliebsame Überraschungen SEITE 33
34 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland Herbert-Lewin-Platz Berlin Tel Fax zi@zi.de SEITE 34
35 Forschungspraxen-Netz-Themen (Beispiele aus der Literatur) Optimierte Diagnose-/Behandlungsabläufe (wann / wie zum Facharzt?) Neue Organisations- und Kooperationsformen (Innovationsfonds) Welche Intervention wirkt? z.b. alternative Behandlungsverfahren/Wirkstoffe, Senkung von Krankenhausaufnahmen Wo treten Kommunikationsbarrieren im Behandlungsablauf auf? Was begründet Abweichungen von Leitlinien-Empfehlungen? (Präzisierung und Weiterentwicklung der Leitlinien, Methodenentwicklung zur einfacheren Implementierung) Was sind sinnvolle Qualitätsindikatoren? Wie kann Datenlage künftige Abläufe verbessern? (data linkage; Big Data ) SEITE 35
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