Arbeit im Alter Freiheit oder Zwang?
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- Gerd Martin
- vor 8 Jahren
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1 Arbeit im Alter Freiheit oder Zwang? Referat zur Veranstaltung «Altersteilzeitarbeit vierte Säule» der Staatsbürgerlichen Gesellschaft des Kantons Luzern Sempach, 1. September 2003 Sehr geehrte Damen und Herren In einem unlängst erschienenen Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) über Alterung und Beschäftigungspolitik ist zu lesen, in der Schweiz müssten die Menschen nicht davon überzeugt werden, im Alter länger zu arbeiten denn sie tun es heute schon. 1 Sie haben von Herrn Dr. Widmer gehört: Die Beschäftigungsrate der 50- bis 64-Jährigen ist in der Schweiz vergleichsweise hoch. Mit 86 Prozent berufstätigen Männern in dieser Altersgruppe steht die Schweiz nach Island an zweiter Stelle. Bei den Frauen sieht die Situation etwas anders aus doch auch diese holen auf. Selbst nach dem offiziellen Rentenalter arbeiten viele weiter. Und ihnen sind vor allem Selbstständige und Landwirte zu finden. Sie sehen: Arbeit hat hierzulande immer noch einen hohen Stellenwert. Deshalb ist die Frage angebracht, welchen Zweck die Debatte um Altersteilzeit eigentlich verfolgt. Das Thema wurde vor etwas mehr als einem Jahr von der Stiftung «Avenir Suisse» lanciert und dazu muss man wissen, dass dies der «Think Tank», die Denkfabrik von grossen, transnational aktiven Schweizer Unternehmen ist. Studien dieser Stiftung sind wie die Studien anderer Denkfabriken nicht einfach «wertfrei», 1 OCDE: Vieillissement et politiques d emploi. Suisse, Paris 2003, S
2 sondern verfolgen bestimmte Interessen. Das spricht nicht gegen solche Studien aber es spricht dafür, sie kritisch unter die Lupe zu nehmen. «Avenir Suisse» fordert die Verlängerung des Arbeitslebens und dies aus zwei Gründen: Angesichts der Alterung der Gesellschaft werde künftig ein Mangel an Arbeitskräften bestehen, der mit einer solchen Verlängerung zumindest teilweise zu beheben sei. Das Dreisäulensystem AHV, berufliche sowie private Vorsorge werde in Zukunft möglicherweise nicht mehr ausreichen, um den eigenen Lebensstandard in gewohnter Weise weiterführen zu können. Beide Thesen besitzen eine gewisse Überzeugungskraft. Beide Thesen enthalten aber fragwürdige Voraussetzungen. Dazu kurz einige Argumente: Alle Industriegesellschaften erleben seit den sechziger, siebziger Jahren einen gewaltigen strukturellen Wandel. Die Arbeit im industriellen Sektor wurde zunehmend automatisiert bzw. in so genannte Billiglohnländer exportiert. Stattdessen entstanden im Dienstleistungsbereich neue Arbeitsplätze. Doch auch hier macht sich zunehmend Automatisierung bemerkbar. Inzwischen lassen sich selbst Dienstleistungsjobs exportieren. Man denke nur an die indischen Computerfachleute, die für einen wesentlich geringeren Lohn arbeiten als hiesige Fachkräfte. Was an dieser Stelle dieser Jobs treten soll, ist heute noch nicht klar. Ich will mit diesen Bemerkungen nur darauf hinweisen, dass es gar nicht ausgemacht ist, ob wir in zehn oder zwanzig Jahren tatsächlich einen Mangel an Arbeitskräften haben werden. 2
3 Die Sorge um die Zukunft der Altersvorsorge ist gross. Das zeigen auch aktuelle Meinungsumfragen. Nicht zufällig steht dieses Thema im Zentrum der politischen Auseinandersetzung vor den eidgenössischen Wahlen in sechs Wochen. Mit den Ergebnissen solcher Umfragen sollte man aber einigermassen seriös umgehen. In einem Artikel, den Herr Dr. Widmer als Mitautor zeichnet, wird behauptet, «nur noch ein Drittel der Schweizer und Schweizerinnen» glaube «an eine langfristig leistungsfähige AHV». 2 Das stimmt nicht! Laut neuester Umfrage des Eidgenössischen Finanzdepartements gehen 68 Prozent der Befragten, die der berufsaktiven Generation angehören, davon aus, dereinst selber eine AHV-Rente beziehen zu können. Im Vorjahr waren es noch 73 Prozent. 3 Rund ein Drittel ist also skeptisch. In der Darstellung des erwähnten Artikels werden die Zahlenverhältnisse genau auf den Kopf gestellt! Das nur nebenbei. Entscheidender ist die Frage, ob man der These Glauben schenken darf, das Dreisäulenmodell sei gefährdet und deshalb brauche es eine so genannte vierte Säule: Arbeit auch nach dem offiziellen Rentenalter. Vor dem Ausbau der AHV stellte dies die Regel dar. So waren 1950 zwei Drittel aller Männer zwischen 65 und 69 weiterhin erwerbstätig. 4 Die Erwerbsquote der über 65-jährigen Bevölkerung sank erst ab, nachdem mit der AHV ein materiell einigermassen sicheres Leben im Alter möglich wurde. Der Ausbau der Altersvorsorge stellte also eine Chance zur Befreiung von Erwerbstätigkeit dar und wurde auch so genutzt. Heute stellt sich die Frage in aller Schärfe: Können und vor allem wollen wir uns diese Altersvorsorge noch leisten? «Avenir Suisse» sagt: Nein. Ich setze die These dagegen: Es hängt vor allem von unserem politischen Willen ab. Die Schweiz ist ein materiell reiches Land. Es hängt also davon ab, wie dieser Reichtum genutzt wird. Darüber sollten wir debattieren! 2 Rolf Widmer, Alfonso Souza-Poza, Andreas Brandenberger: Ausmass und Potenzial der Alters- Teilzeitarbeit in der Schweiz, in: Die Volkswirtschaft. Das Magazin für Wirtschaftspolitik, Nr. 9/02, S Medienmitteilung des Eidgenössisches Volksdepartements vom 14. Juli 2003 ( 4 François Höpflinger, Astrid Stuckelberger: Demographische Alterung und individuelles Altern. Ergebnisse aus dem nationalen Forschungsprogramm Alter/Vieillesse/Anziani, Zürich (Seismo Verlag) 1999, S
4 Vorschläge gibt es genug: Nutzung der überschüssigen Goldreserven für die AHV oder die Schaffung einer eidgenössischen Erbschaftssteuer, wie dies Bundesrat Kaspar Villiger im Frühjahr vorgeschlagen hatte. Selbstverständlich soll nach 65 arbeiten können, wer dies möchte. Doch auch jene, die nach der Pensionierung anderes erleben wollen, beispielsweise ein intensives Zusammenleben mit ihren Enkelkindern, und die die Chance der «späten Freiheiten» nutzen möchten, um jene Seiten ihres Lebens zu entwickeln, die durch berufliche und familiäre Verpflichtungen zu kurz gekommen sind, sollen sich einer materiell gesicherten Existenz im Alter erfreuen können ohne Zwang, sich ein «Zubrot» zur Rente verdienen zu müssen. Ich stelle die These auf, dass die Debatte um Altersteilzeit den «Türöffner» darstellt, um der Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 Jahre vorzubereiten. Sie wissen, dass die Wirtschaftsverbände und Bundespräsident Pascal Couchepin genau das vorhaben. Glücklicherweise finden sie für solche Pläne gegenwärtig keine Mehrheit im Volk. Warum sage ich «glücklicherweise»? Weil ich meine, dass wir aus Gründen der Gerechtigkeit einer generellen Erhöhung des Rentenalters nicht zustimmen dürfen. Es wird argumentiert, die heutigen älteren Menschen würden sich einer besseren Gesundheit erfreuen als die Altersgenerationen vor ihnen. Dieser Vergleich im geschichtlichen Längsschnitt trifft zu. Doch wenn wir die jeweilige Altersgeneration untersuchen sozusagen im Querschnitt, dann stellen wir gewaltige Unterschiede fest. Eine Genfer Studie aus dem Jahr 2000 hat nachgewiesen, dass Angehörige von schlecht entlöhnten Berufsgruppen ein deutlich grösseres Risiko tragen, invalid zu 4
5 werden oder vorzeitig zu sterben als besser Bezahlte. 5 Kurz gesagt: Arme sterben früher! 6 Angehörige schlecht entlöhnter Berufsgruppen haben aus finanziellen Gründen kaum eine Möglichkeit, vorzeitig aus dem Arbeitsleben auszusteigen im Gegensatz zu den besser Bezahlten, von denen viele diese Gelegenheit auch nutzen. So liessen sich in den neunziger Jahren Angestellte mit Vorgesetztenfunktionen mit 42 Prozent fast doppelt so häufig frühpensionieren wie diejenigen ohne. Bei diesen waren es 23 Prozent. Die Zahlen stammen aus einer Untersuchung im Rahmen der «Schweizerischen Arbeitskräfteerhebungen» (SAKE). Die Neue Zürcher Zeitung, die darüber berichtete, schrieb seinerzeit dazu, für viele sei die Frühpensionierung «eine Frage des Sichleisten-Könnens». 7 Die anderen, die es sich nicht leisten können, müssen dann eben durchhalten oder sie werden arbeitslos bzw. invalidisiert. Das ist doch keine Lösung, höchstens eine Verschiebung des Problems! Ein höheres gesetzliches Rentenalter würde die heute bestehenden Ungleichheiten noch verschärfen. Wir müssen uns darüber klar werden, ob wir das wollen. Und wir werden auch politisch bei Wahlen und Abstimmungen darüber entscheiden müssen, ob wir eine mehr oder weniger solidarische Schweiz wollen. Ich plädiere dafür, das Dreisäulensystem der Altersvorsorge zu stärken, und auf Gedankenspiele einer «vierten» Säule zu verzichten. Noch einmal: Nichts gegen Arbeit im Alter, die den Wünschen der Betroffenen entspricht! Doch ein klares Nein zum Zwang zur Arbeit im Alter! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! 5 Etienne Gubéran, Massimo Usel: Mortalité prématurée et invalidité selon la profession et la classe sociale à Genève, Genf (OCIRT) Siehe dazu auch Gabriela Künzler, Carlo Knöpfel: Arme sterben früher. Soziale Schicht, Mortalität und Rentenalterspolitik in der Schweiz, Luzern (Caritas-Verlag) pfi.: Die (Früh-)Pensionierung als Müssen oder Dürfen, in: Neue Zürcher Zeitung, 15. November 2000, S
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