Wie aus Kunst Kult wird

Transkript

1 Da Vinci bei den Simpsons 1. Icons intro.indd 1

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3 DA VINCI BEI DEN SIMPSONS Wie aus Kunst Kult wird Francesca Bonazzoli Michele Robecchi Vorwort von Maurizio Cattelan Prestel München London New York 1. Icons intro.indd 3

4 INHALT 1. Icons intro.indd 4 6 Bilder an die Macht! Vorwort von Maurizio Cattelan 50 David Michelangelo Buonarroti 8 Wie aus Kunstwerken Kultobjekte werden Einleitung von Francesca Bonazzoli 54 Die Erschaffung des Menschen Michelangelo Buonarroti 22 Der Diskobol Myron (um v. Chr.) 58 Sixtinische Madonna Raffael (1512/13) 26 Nike von Samothrake Unbekannter Künstler (um v. Chr.) 62 Las Meninas Diego Velázquez (1656) 30 Venus von Milo Unbekannter Künstler (2. Jh. v. Chr.) 66 Das Mädchen mit dem Perlenohrring Johannes Vermeer 34 Laokoon (um v. Chr.) Hagesandros, Athenodoros und Polydoros Die Geburt der Venus Sandro Botticelli Die nackte Maja Die bekleidete Maja Francisco Goya 74 Die Freiheit führt das Volk an Eugène Delacroix 78 Die grosse Woge Katsushika Hokusai (um 1484/85) 42 Das letzte Abendmahl ( ) Leonardo da Vinci 46 Mona Lisa Leonardo da Vinci ( ) (ca. 1504) (1511) (1665) ( ) (1807/08) (1830) (um )

5 82 Das Frühstück im Grünen Édouard Manet 118 Die Beständigkeit der Erinnerung Salvador Dalí 86 Der Denker Auguste Rodin (1880/81) 122 Guernica Pablo Picasso 90 Sonnenblumen Vincent van Gogh (1888) 126 KompositioNEN in BLAU, GELB UND ROT ( ) Piet Mondrian 94 Der Schrei Edvard Munch (1883) 130 Nighthawks Edward Hopper (1942) 98 Jane Avril Jardin de Paris Henri de Toulouse-Lautrec 134 Gold Marilyn Monroe Andy Warhol (1962) 102 Seerosen, Harmonie in Grün Claude Monet 138 Der Menschensohn René Magritte (1964) 106 Der Kuss Gustav Klimt (1907/08) 110 Der Tanz Henri Matisse (1909/10) American Gothic Grant Wood (1930) 142 Literatur Bildnachweis 1. Icons intro.indd 5 (1862/63) (1893) (1899) (1931) (1937)

6 Bilder an die Macht! Vorwort von Maurizio Cattelan 1. Icons intro.indd 6

7 6 7 Ehrlich gesagt würde ich dieses Vorwort lieber in Form von Bildern schreiben. Lange Reden sind nichts für mich. Ein Wort ans andere zu reihen, um zu sagen, was ich mir denke, ist mir zu wenig. Am Ende fehlt immer das eine Wort, das alle anderen zusammenfasst. Das können nur Bilder. Bilder können zum Beispiel komisch und tragisch zugleich sein. Was zu sagen ist, ist auch zu sehen, ein Blick genügt. Dabei hieß es vor einigen Jahrzehnten noch, die Herrschaft des Sehens wäre vorüber und die Zukunft gehöre der synästhetischen Wahrnehmung. Aber es ist dann doch anders gekommen. Heute verbringen wir einen Großteil unserer Zeit damit, auf einen Bildschirm zu starren, und wir bilden uns ein, dadurch wüssten wir etwas über die Welt. Die Überzeugungskraft der Bilder ist ganz einfach größer als die der Worte. Schon immer haben die Mächtigen Bilder produziert und Bilder kontrolliert, um die Massen zu lenken. Früher waren das die Könige und Päpste, heute sind es die Werbeagenturen. Bilder ziehen uns unwiderstehlich an, wir können den Blick nicht von ihnen lassen, wir sind geradezu besessen von Bildern. Wer allzu genau herausfinden will, warum das so ist, macht die Faszination der Bilder zunichte, er zerstört ihre Magie, entzaubert ihren Mythos. Es ist wie bei einer Vivisektion: Sie fördert unter Umständen aufschlussreiche Dinge zutage, aber meist ist das Versuchstier anschließend nicht mehr am Leben. Ich für meinen Teil glaube nicht an die Heiligkeit der Bilder. Sicher wären nicht alle in diesem Band vertretenen Künstler besonders glücklich, wenn sie ihre Motive auf Kaffeetassen und Pantoffeln wiederfänden. Aber im Grun- 1. Icons intro.indd 7 de verdanken sie genau dieser Art Popularität ihre Unsterblichkeit. Die Massengesellschaft hat sich die großen Werke der Kunst angeeignet, um sie zu Werbezwecken und für Merchandising einzusetzen. Man kennt sie, sie sind Teil des allgemeinen Bildervorrats, der uns tagtäglich umgibt. Sie werden so selbstverständlich benutzt wie im Zusammenhang der Sprache ein Satz, den man irgendwo aufgeschnappt hat und dann in einem anderen Zusammenhang selbst anwendet. Oder wie bei einer Reise, auf der während jeder Etappe neue Informationen ausgetauscht werden, die die Reisenden als Gewinn einstreichen. Wie der Kreislauf der Ideen ist auch der Kreislauf der Bilder ununterbrochen in Bewegung. Sie gehören allen und niemandem, da kann man nichts machen. Am besten man erzählt einfach von diesem Kreislauf wie dieses Buch, in dem das weitverzweigte Leben der Bilder beschrieben wird, es tut. Als man für Monets Seerosen ein eigenes Museum einrichtete, wollte sie niemand mehr sehen; Botticellis Venus musste auf das Erscheinen Claudia Schiffers warten, um populär zu werden; und erst nachdem sie 1911 aus dem Louvre gestohlen worden war, standen die Leute Schlange, um die Mona Lisa zu bewundern. Jedes der in diesem Band vorgestellten Bilder hatte seinen großen Moment, in dem es zur Ikone wurde, und schließlich wurde aus der Ikone der Mythos. Mythen sollen die Kultur und die Lebensweise einer Gesellschaft erklären, und ich wüsste nicht, was unsere Zeit besser wiederspiegeln würde als das Motiv der sich berührenden Fingerspitzen aus Michelangelos Erschaffung des Menschen, das jedes Mal erscheint, wenn man das Handy einer bestimmten Marke einschaltet.

8 WIE AUS KUNSTwERKEN KULTOBJEKTE WERDEN Einleitung von Francesca Bonazzoli 1. Icons intro.indd 8

9 8 9»Wenn wir jedoch irgendetwas, das das Leben des Zeichens ausmacht, benennen sollten, so würden wir sagen müssen, dass es sein Gebrauch ist.«ludwig Wittgenstein Das blaue Buch Was macht ein Kunstwerk zum Kultbild? Wer macht es dazu und wie? Warum wird ein Kunstwerk zu einer Ikone der Populärkultur? Was bringt Menschen dazu, in die Museen zu pilgern, dort stundenlang Schlange zu stehen und dann andächtig vor einem Gemälde zu stehen, als handle es sich um ein wundertätiges Wallfahrtsbild? Warum wurde Rodins Denker berühmter als all seine übrigen Skulpturen? Und warum hat fast jeder beim Namen Leonardo da Vincis die Mona Lisa und das Abendmahl vor Augen, während den Barockmaler Caravaggio zwar viele dem Namen nach kennen, aber kaum jemand bei diesem Namen ein konkretes Bild in den Sinn kommt? Warum wurde die Venus des Botticelli nach Jahrhunderten in der Versenkung plötzlich zu einem Star am Himmel der Kunst? Vereinfacht gesagt sind vier Faktoren nötig, um aus einem Kunstwerk einen Kultklassiker zu machen: Was wird von ihnen erzählt, wer redet über sie, wie tut er es und wo ist es zu sehen? Damit nicht genug. Um das Geheimnis, wie aus Kunst Kult wird, zu ergründen, muss man Geschichte und Gesellschaft, Psychologie und Religion befragen. André Grabar zum Beispiel sieht den Ursprung der Bildervereh- 1. Icons intro.indd 9 rung im christlichen Kult, genauer gesagt im Reliquienkult. Seit dem sechsten Jahrhundert seien Heiligenbilder eigens geweiht, mit geweihtem Öl besprengt und mit Weihrauch verehrt worden. Aber schon die alten Griechen verehrten mit besonderen Kräften ausgestattete Götterbilder. Aristophanes berichtet, der mythische Dae dalus sei der Erste gewesen, der seine Standbilder mit geöffneten Augen versah und mit getrennt stehenden Beinen und vom Körper gelösten Armen. Man habe sie festbinden müssen, damit sie nicht wegliefen. Als unberechenbar galt auch das Kultbild der Artemis Orthia in Sparta, das deshalb mit Weidenruten umwunden wurde, um es im Zaum zu halten. Pausanias zufolge sollen die beiden Männer, die es gefunden hatten, mit Wahnsinn geschlagen worden sein, als sie dem Standbild ins Gesicht blickten. Als Kaiser Konstantin am Bosporus eine neue Hauptstadt erbauen ließ, befahl er, das Standbild der Fortuna dort festzuschließen, damit das neue Rom niemals vom Glück verlassen würde. Und wie ein Blick in die Bibel lehrt, begann die Geschichte des Menschen damit, dass Gott ein Bildwerk aus Lehm formte, ihm seinen Atem einhauchte und es damit zum Leben erweckte.

10 Da Vinci bei den Simpsons Kleomenes Medici-Venus, 1. Jh. v. Chr. Marmor, Höhe 153 cm Galleria degli Uffizi, Florenz Botticelli Geburt der Venus, um 1484/85 Ausschnitt 1. Icons intro.indd 10

11 10 11 Wie David Freedberg in seinem Buch Die Macht der Bilder ausführt, zeigt die Weihe eines einzelnes Bildes zum Kultbild, dass potenziell alle Bilder als Kultobjekt fungieren können. Priester und Gläubige wählen aus einer Vielzahl von Bildern aus. Ist ihre Entscheidung für eines davon gefällt, wird ein Tempel oder Heiligtum errichtet, und zwar nicht nur, um das Kultbild vor Witterungseinflüssen zu schützen, sondern auch, um damit ein Wallfahrtsziel zu errichten. In der modernen Konsumreligion, wie George Ritzer sie genannt hat, spielen die Museen die Rolle von Tempeln und Heiligtümern für die Kultbilder der Kunstgeschichte. Aus aller Welt pilgern die Menschen in die Musentempel, um Kunst-Ikonen wie der Mona Lisa oder van Goghs Sonnenblumen zu huldigen. Damit sind wir bei einem anderen Faktor, der da rüber entscheidet, ob ein Kunstwerk zum Kultgegenstand avanciert oder nicht: dem Ort, wo es aufbewahrt wird. Wie André Malraux geschrieben hat, stellen die Museen die großen Werke der Kunst nicht nur aus, sie machen sie allererst zu dem, was sie sind. Malraux fragt: Wäre die Mona Lisa genauso berühmt, hinge sie in einem Museum in Birmingham? Wahrscheinlich wäre sie das sogar, denn so richtig berühmt wurde die Mona Lisa erst durch ihre Entwendung aus dem Louvre im Jahr 1911; davor war sie nur einem kleinen Kreis von Kennern ein Begriff (wenngleich Leonardos Bildnis auf eine prestigeträchtige Liste von Vorbesitzern zurückblicken konnte, von Franz I. bis zu Napoleon Bonaparte). Eine entscheidende Rolle spielte der Aufstellungsort dagegen bei einer anderen modernen Kunst-Ikone, der Nike von Samothrake. Sie verdankt ihre Bekanntheit ohne jeden Zweifel der Platzierung im großen Treppenhaus des Louvre. Eine antike Skulptur wie viele andere, wäre die Nike wohl in Vergessenheit geraten, stünde sie in irgendeinem Museum in Birmingham. Wie bildmächtig die Sie- 1. Icons intro.indd 11 Wie aus Kunstwerken Kultobjekte werden gesgöttin dagegen bis heute ist, beweist die Schlüsselszene aus dem Film Titanic, in der Kate Winslet, gehalten von Leonardo di Caprio in der Pose der Nike am Bug des Ozeanriesen triumphierend ihre Arme wie Schwingen ausbreitet. Die Bedeutung des Aufstellungsortes für die Bekanntheit eines Kunstwerks ist durchaus keine moderne Erscheinung. Seit dem 16. Jahrhundert galten die in Bramantes Cortile del Belvedere im Vatikan ausgestellten antiken Bildwerke, etwa der berühmte Apoll, als kanonisch verbindliche Stilvorbilder. Von den Tausenden antiker Statuen, die in der Renaissance vor allem in Italien ausgegraben wurden, errangen nur wenige einen vergleichbaren Status, und zwar dann, wenn sie an besonders prestigeträchtigen Orten, etwa der Tribuna der Florentiner Uffizien, dem Königsschloss von Fontainebleau oder später im Musée Napoléon in Paris standen. Kopien dieser Werke fanden im Schloss von Versailles oder der Ermitage in St. Petersburg ebenso Aufstellung wie in den Parks englischer Landgüter oder in den Häusern des gehobenen Bürgertums. Von den heiligen Orten der Kunst aus ging ihr Bild auf diese Weise in das kollektive Bildgedächtnis ganz Europas über schrieb Montesquieu in seiner Voyage en Italie:»Es gibt bestimmte Statuen, die von den Kennern zu Norm und Beispiel erklärt wurden, eine jede auf ihrem Gebiet der Kunst: der Apoll vom Belvedere, der Herkules Farnese, der Laokoon. Man kann sie nie genug studieren, denn auf ihnen haben die Neueren das System ihrer Maßverhältnisse konstruiert. Sie sind es, denen wir gewissermaßen die Künste verdanken.«neben dem Ausstellungsort kann natürlich auch der Name des Künstlers und die Legenden, die seine Person umgeben, der entscheidender Faktor sein, der ein Kunstwerk zum Kultobjekt macht. Wie wichtig der Name des Schöpfers ist, lässt sich in jedem Museum beobachten, wenn die Besucher bei der Lektüre der Auskunftstäfel-

12 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Francesca Bonazzoli, Michele Robecchi Da Vinci bei den Simpsons Wie aus Kunst Kult wird Paperback, Klappenbroschur, 144 Seiten, 19,5 x 24,0 cm 172 farbige Abbildungen ISBN: Prestel Erscheinungstermin: Februar 2014 Wir leben in einem visuellen Zeitalter, Bilder gehören zu unserem Alltag. Was hebt einige von ihnen aus dem Kanon der Kunst heraus, was macht sie zu Ikonen der Popkultur? Wie erlangten Botticellis Venus oder Munchs Schrei Weltruhm auf T-Shirts, Kaffeetassen und Werbeplakaten? Warum taucht das Konterfei von Da Vincis Mona Lisa in populären TV-Serien wie den Simpsons auf? Dieser Band erzählt die Geschichten von 30 Kunstwerken aus 2500 Jahren Menschheitsgeschichte, von der Nike von Samothrake bis zu Andy Warhols Gold Marilyn Monroe, und beschreibt ihre Wandlung vom Museumsstück zum Kultbild. Wichtig dabei ist ein Ursprungsmythos: Die Mona Lisa beispielsweise machte erst ein Diebstahl im Jahr 1911 zur Ikone; Vermeers geheimnisvolles Mädchen mit dem Perlenohrring und die Frage nach ihrer Herkunft bescheren dem kleinen Museum Mauritshuis in Den Haag seit der Hollywoodverfilmung mit Scarlett Johansson und Colin Firth jährlich bis zu Besucher. Hier schließt sich der Kreis: Ein Kunstwerk wird so oft zitiert, in der Werbung, als Comic, auf Filmplakaten, Buchcovern und Magazintiteln kopiert, parodiert und neu interpretiert, bis das Original zur zeitlosen Ikone wird. Aus Bild wird Kult.