überliefert, durften die Richter kein Urteil fällen, wenn der lodos blies, aus Angst, er könnte sie rachsüchtig machen. Und wenn Gewaltverbrechen

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2 überliefert, durften die Richter kein Urteil fällen, wenn der lodos blies, aus Angst, er könnte sie rachsüchtig machen. Und wenn Gewaltverbrechen unter Einfluss dieses Windes passierten, wurde dies als mildernder Umstand gesehen. Auch landschaftlich ist İstanbul zerrissen. Nelson lebt in Europa, ich aber in Asien. Dazwischen liegt der Bosporus, eine Erdbebenfalte, die sich irgendwann mit Wasser füllte und das Mittelmeer mit dem Schwarzen Meer verbindet. Diese Meerenge aber macht die Stadt erst atemberaubend schön. Schon seit jeher wollte der Mensch beide Seiten verbinden. Der erste Übergang war eine sogenannte Schwimmbrücke. Der persische König Dareios der Große hatte im Jahr 513 vor Christus seine Schiffe aneinanderreihen lassen, sodass man über sie laufen konnte. Die Bucht des Bosporus, in

3 deren Nähe die Hagia Sophia und die Blaue Moschee thronen, reizte später die Meister der Renaissance. Leonardo da Vinci hatte eine Vision für eine Brücke über das Goldene Horn und schrieb 1503 einen Brief an den Sultan:»Ich werde sie ausführen, so hoch wie einen Bogen, dass niemand sich einverstanden erklärt, darüber zu schreiten, weil sie so hoch sein wird.«das Schreiben blieb unbeantwortet; vielleicht kam es auch nie an. Stattdessen lud der Sultan einen anderen berühmten Italiener ein, die Kontinente zu verbinden: Michelangelo, der ihm postwendend eine Absage erteilte. Der Papst hatte ihm gedroht, ihn zu exkommunizieren, falls er für den muslimischen Herrscher arbeiten würde. Wenn es dunkel wird, beginnen die beiden großen Bosporusbrücken in verschiedenen Farben zu leuchten und tauchen die Istanbuler

4 Nacht in ein magisches Licht. Tagsüber sind sie der Flaschenhals der Stadt. Tiger Woods flog im November 2013 mit einem Hubschrauber auf den älteren der beiden Überwege und schlug ein paar Bälle von Asien nach Europa. Er war damit der erste Golfer, der einen Ball über zwei Kontinente schlug. Legendär ist auch das Tennismatch zwischen Venus Williams und İpek Şenoğlu, die im Mai 2005 auf einer Brücke spielten. Außerdem findet in İstanbul der weltweit einzige Marathon zwischen zwei Kontinenten statt. Die Veranstalter hatten anfangs sogar Angst, dass die Brücke einstürzen könnte, wenn hunderttausend Menschen zeitgleich darauf joggen. Bosporus ist ein eigenartiger Name für ein Gewässer. Die griechische Mythologie kennt die Geschichte von Io, der Tochter des Flussgottes Inachos, in die sich der höchste

5 aller Götter verliebt, Zeus. Natürlich hat seine Ehefrau Hera damit ein Problem und verwandelt Io zur Strafe in eine Kuh. Doch damit nicht genug, verflucht Hera die arme Io auch noch mit einer Rinderdasselfliege, die sie unablässig verfolgt und deren Maden unter der Haut zentimetergroße Beulen verursachen. Io, die nunmehrige Kuh, schwamm daraufhin über das Wasser von Europa nach Asien und flüchtete anschließend nach Ägypten. Deshalb wurde der Übergang auf Griechisch Boús Póros genannt, zu Deutsch: Kuh- oder Ochsenfurt. Die Türken wiederum haben ein ganz anderes Wort für den Bosporus: Boğaz, was eigentlich Hals oder Schlund bedeutet. Wenn ich früher das Wort Anatolien hörte, dachte ich an unwegsame Landschaften und an Hirten, die in den kargen Bergen bei ihren Schafen hausen. Jetzt lerne ich, dass

6 Anatolien, das die Türken Anadolu nennen, mitten im Bosporus beginnt. Auf einer kleinen Insel nämlich, auf der ein vierzig Meter hoher Leuchtturm steht, der einen verwunschenen Namen trägt: Mädchenturm. In diesem Kız Kulesi, so heißt er auf Türkisch, rettet James Bond im Film»Die Welt ist nicht genug«seine Chefin M, die auf der Insel eingesperrt wurde. Für mich ist es der schönste Ort der Stadt. Man sitzt auf den Ufertreppen, trinkt Tee, die Sonne versinkt orangerot, in der Luft kreischen die Möwen, der Mädchenturm liegt verloren vor einem im Bosporus, dahinter breitet sich Europa aus, glitzert, leuchtet, funkelt, links die Hagia Sophia, geradeaus der Galata-Turm, rechts die Kreuzfahrtschiffe und ganz hinten die Hochhäuser. Der türkische Dichter Sunay Akın sagte über den Kız Kulesi einmal sinngemäß, dass man von dort den