1 Camurcu (2005), S.25 2 Stöckl (2005), S Zit. nach Stöckl, S Ebd, S. 40f.

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2 Einleitung Der Antrag der Türkei auf die Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1987 war, aufgrund der traditionellen Verbindungen zwischen Europa und der Türkei, ein logischer Schritt. Trotz turbulenter Jahrzehnte in der Innenpolitik, die durch religiöse und wirtschaftliche Differenzen in der Gesellschaft gekennzeichnet waren, näherte sich die Türkei durch zahlreiche Reformen immer mehr an den Westen an. Die erste große Hürde wurde 2001 mit der Annahme der Beitrittspartnerschaft durch den Europäischen Rat bewältigt. Im Anschluss daran setzte die bis heute regierende AKP insgesamt acht Harmonisierungspakete um, in deren Rahmen die türkische Verfassung speziell in den Belangen Menschenrechte, Gleichstellung der Frau, Abschaffung der Todesstrafe und Folter, sowie Presseund Meinungsfreiheit an westliche Standards herangeführt wurde. Die weiteren Verhandlungen nach 2005 kamen nicht zuletzt deshalb ins Stocken, weil der Zypernkonflikt noch immer nicht beigelegt war. Darüber hinaus gibt es von Seiten der europäischen Regierungen, aber auch seitens der westlichen Gesellschaften, erhebliche Ressentiments, die Großteils aber eher emotionalen, denn faktenbasierten Argumenten basieren. Eines der wichtigsten belegbaren Bedenken betrifft die Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union, die einer Überarbeitung bedürfen, sofern die Türkei im Falle eines Beitritts nicht aufgrund ihrer, durch die Einwohnerzahl bedingte Stimmstärke, das politische Ruder gänzlich an sich reißen soll. Der zweite Hauptaspekt stellt aber auf die Nationen der Europäischen Union selbst ab, die einen Mangel an Bereitschaft an den Tag legen, sich übergeordneten Institutionen unterordnen zu wollen. Dieser Umstand kann auch als Identitätskrise aufgefasst werden, die gerne auf die Türkei projiziert wird. Unbestritten ist, dass die türkische Wirtschaft im Gegensatz zu der der kerneuropäischen Ländern boomt. Dieser Aspekt ist in Anbetracht der zukünftigen Aufrechterhaltung der Sozial- und Pensionssysteme in Mitteleuropa nicht unerheblich. Mit dieser Dissertationsarbeit sollen u. a. auch historische und gegenwärtige Entwicklungen in der Türkei konstruktiv-kritisch wiedergegeben und u. a. die Stellung der Religion in der Türkei genauer erforscht werden, wobei der Aufstieg der islamischen Konservatisten seit Adnan Menderes und Turgut Özal genauer beschrieben werden soll. Innenpolitisch kann in der Türkei durchaus von einer Auseinandersetzung zwischen Kemalismus und Islamismus gesprochen werden, denn einerseits existieren aufklärerische, moderne Strömungen in der türkischen Gesellschaft, ande- 13

3 rerseits gibt es aber auch religiöse Gruppierungen, die den Islam als Denk- und Lebensweise praktizieren. Im Osmanischen Reich gab es an sich keine Grenze zwischen Religion und Staat, was in der Republik Türkei in Form des Laizismus eingeführt wurde und bis heute in allen seinen Zügen ausgeführt wird. Das Ziel der kemalistischen Türkei sind gesamtnationale Loyalitäten, um partikularistische Bindungen zu verhindern und verschiedene Ethnien im Land zu vereinen. Gemeinsame Feinde sind in erster Linie der radikale Islamismus und auch der Kommunismus, welche bei der Annäherung zu Europa Hindernisse darstellen. Die Frage, was der Islamismus ist, und wann er in der Türkei im Laufe der Geschichte entstanden ist, kann man schwer beantworten, weil es zu viele verschiedene Auslegungen der Religion in diesem Land gibt. Außerdem ist der Islamismus, abgesehen von den anderen historischen Bewegungen, eine weltliche Denkweise, in der mit einer außerreligiösen Ideologie sowohl soziale, als auch politische Themen angesprochen und interpretiert werden. 1 Die Unterscheidung zwischen Islamismus und Islam ist anzumerken, weil nach dem Theoretiker Malise Ruthven beides different ist. Karen Armstrong betont sogar, dass sich der Islamismus contra dem Fundamentalismus verhält, welcher seinen Ursprung nicht in der islamischen Gesellschaft, sondern in den USA mit einer Eigendefinition der amerikanischen Protestanten hat. 2 Nach Bassam Tibi ist der Fundamentalist kein homo religiosus, sondern ein politischer Ideologe und ein Aktivist, der durch den Rückgriff auf die Religion agiert. Ein wichtiges Merkmal des Islamismus ist, dass er nicht nur ein religiöses Phänomen ist, sondern auch ein soziales. Der Islamismus verwendet den Islam zur Politisierung. Der Islamismus verfolgt viele politische und soziale Belange, geschützt unter dem Mantel des religiösen Islam. 3 Hinzu kommt das Faktum, dass der Islam am Land anders wahrgenommen und gelebt wird als in der Stadt, wo man durchaus mit der Zeit geht und für den Populismus mancher Politiker weniger empfänglich ist. Seit den Wahlen 2002 arbeitet Tayip Erdogan konsequent darauf hin, seine AKP von der Verbindung zum Islamismus zu befreien und sich als Kraft der politischen Mitte zu etablieren. Dabei kommt ihm sein politisches Gefühl für Taktik genauso zugute, wie die Unfähigkeit der anderen türkischen Parteien aus der verheerenden Wahlniederlage von 2002 konstruktive Konsequenzen zu ziehen. 4 1 Camurcu (2005), S.25 2 Stöckl (2005), S Zit. nach Stöckl, S Ebd, S. 40f. 14

4 Man kann die jetzige Politik der AKP durchaus als volksnah und vom politischen Establishment weit entfernt bezeichnen, denn die AKP-Politiker wollen nicht abheben wie ihre Vorgänger in den letzten Jahrzehnten, als türkische Politiker sich über dem Volk sahen und die Involvierung in die staatlichen Angelegenheiten nur als eine opportune Situation, um ihren finanziellen und damit auch ihren gesellschaftlichen Status zu verbessern. Genau in diesem Punkt kommt die Rolle des islamischen Konservatismus im sowohl gesellschaftlichen, als auch politischen Leben zum Vorschein. Bereits in den 50er Jahren hatte der Aufstieg der islamisch-konservativen Parteien mit der demokratischen Partei unter Adnan Menderes begonnen und in den 80er Jahren mit der Mutterlands-Partei Anavatan unter Turgut Özal ihre Fortsetzung gefunden. Die Menschen in der Türkei vor allem aus den unteren Schichten - primär religiös geprägt - hatten in den 70er und 80er Jahren die Nase voll von den vorherrschenden politischen Bewegungen, die nur ihre eigenen Interessen im Sinn hatten, anstatt für das Land und ihre Menschen zu arbeiten. Dieses Verlangen aller gesellschaftlicher Milieus nach ehrlichen Politikern in der Türkei - besonders der religiösen Schichten - führte in den 90er Jahren zum Erfolg der Refah, Fazilet und schließlich zu der bis heute andauernden Regierung der AK- Partei. Dieses politische Versagen der rechten und linken Bewegungen in der Türkei nutzte den neo-islamisch-konservativen Parteien, welche eine anständige und staatsdienende Politik versprachen, wobei sowohl die Refah, als auch die Fazilet schlussendlich in den 90er Jahren an ihrer anti-kemalistischen Politik scheiterten. Am Land hatten sie zwar einen starken Rückhalt, jedoch spielte in der Türkei die Stadtbevölkerung einen relevanten Faktor und diese war, aufgrund ihrer bildungsbedingten pro-westlichen und pro-militärischen Haltung, zumeist weniger zugänglich für islamisch-populistische Parolen. Das politische System der Türkei ist so sehr vom Kemalismus beeinflusst, dass neue Parteien mit zwar islamischen Denkmustern, aber durchaus modernen und mit dem Westen zu vereinbarenden Werten Schwierigkeiten haben, sich in diesem politischen Klima durchzusetzen. Diese kemalistische Türkei stellt den Bruch mit der universalen Ideologie des Islam dar. Sie hatte für das islamische türkische Volk eine neue Auffassung des Islam geschaffen, eines Islam, dem sein traditioneller Umfang abhanden gekommen ist. Die Türkei ist heute zwar ein islamisches Land, aber kein islamischer Staat. 5 Die türkischen Militärs können, bei Gefahr der Islamisierung und Divergenz der kemalistischen Werte, theoretisch jederzeit in die Politik intervenieren. Dies 5 Zit. nach Stöckl, S

5 scheint jedoch in der jetzigen Situation eher unrealistisch, aufgrund der schützenden Hand des Volkes über der AKP unter Tayyip Erdogan. Das Blatt kann sich jedoch zugunsten der pro-militärischen Kemalisten wenden, weil es an der Spitze des Generalstabs immer wieder zu personellen Veränderungen kommt. Das Kräfteverhältnis zwischen den Politikern und den Militärs in der Türkei hängt primär von eben dieser Beziehung zwischen dem Regierungschef Tayyip Erdogan und dem Generalstabchef ab. Die Freiheit der neuen konservativen Kräfte gegenüber der alteingesessenen Elite lässt sich daran erkennen, dass 2007 bis 2008 Ermittlungen gegen die türkische Untergrundorganisation Ergenekon liefen, wobei zahlreiche Verhaftungen von Akademikern, kemalistischen Journalisten und beachtenswerterweise sogar pensionierten 4-Sterne-Generälen stattfand. Der Höhepunkt war im Dezember 2010, als der Prozess gegen 196 aktive und pensionierte Offiziere begann, welche wegen Plänen für Anschläge und die Machtergreifung des Militärs beschuldigt wurden. Die Reputation der Armee scheint in Gefahr zu geraten, wenn die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft sich bewahrheiten sollten. 6 Dieses Kräftemessen zwischen der zivilen Administration und der militärischen Spitze generiert auf der politischen Ebene eine Verschärfung der Angriffe seitens der sowohl kemalistischen, als auch nationalistischen Opposition, die eine Besetzung der Elite durch die neuen konservativ-demokratischen Kräfte in den höchsten Positionen befürchten. Die ganze Situation wird von der EU-Kommission mit Argus-Augen beobachtet. Kaum eine Beitrittsverhandlung schlug in den vergangenen Jahren dermaßen hohe Wellen, wie diejenige der Europäischen Union mit der Türkei. Die teils mit vielen Emotionen geführten Diskussionen führten nicht nur einmal zu enormen zwischenstaatlichen Verstimmungen. 7 Doch nicht nur das zunehmend selbstbewusste Auftreten auf dem diplomatischen Parkett irritiert Kerneuropa: Mit dem militärischen Eingreifen gegen die PKK und dem noch immer nicht beigelegten Konflikten mit Zypern und den Armeniern, verdeutlichen die Türken, dass sie sicher nicht gewillt sind, sich ohne weiteres ihre Handlungsoptionen von Dritten einschränken zu lassen. 6 Fuss (2011), S. 218f. 7 Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist das Treffen zwischen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan Anfang November Erdogan forderte dabei Deutschland auf, die Türkei im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mehr zu unterstützen, was bei der deutschen Kanzlerin auf wenig Gegenliebe gestoßen ist. Reimann, Anna Erdogan verschärft Kritik an Deutschland, In: Spiegel Online, Download unter deutschland/0,1518,795180,00.html, am 02/11/

6 Wozu auch? Mit einem prognostizierten Wirtschaftswachstum 8 von 6,5% für 2011 stellt sich mittlerweile nicht mehr die Frage, ob die EU die Türkei als Mitgliedsland akzeptiert, sondern ob sie sich eine Union ohne die Türkei leisten kann. Die traditionellen wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse geraten sosehr ins Wanken, dass sich Europa womöglich eingestehen muss, obgleich der kulturellen und religiösen Differenzen gar keine andere Wahl zu haben, als sich kooperativ zu zeigen. Möglicherweise ist auch der Blick der Westeuropäer aufgrund der jahrzehntelangen wirtschaftlichen und politischen Überlegenheit getrübt und es sind lediglich Vorurteile, die eine Annäherung verhindern. Wenn gleich es in vielen Fällen auch keine befriedigende Antwort geben wird, eines ist gewiss: Emotional aufgeladene Debatten können nur durch eine sorgfältige Prüfung der Fakten zu einem für alle Seiten befriedigenden Ergebnis führen. Obwohl einzelne AKP-Politiker in den 90er Jahren durch ihre Islamisierungstendenzen negativ auffielen, weist die Politik der AKP, seit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen, durch ihre Reformen mehr Nähe zu der westlichen Welt und der EU auf, als die Politik der vorangegangenen Regierungen. Wenn die Türkei nicht EU-Mitglied wird, können EU-Gegner Aufwind bekommen; eine Abwendung der Türkei von Europa und Hinwendung zu den arabischen Ländern und damit einhergehende Islamisierung könnte folgen. Arbeits-Methodik Der Autor stützt sich bei seinen Analysen hauptsächlich auf Sekundärliteratur, die vor allem im Rahmen der Reformprozesse und die rechtspolitische Grundlage der EU betreffend durch Primärliteratur ergänzt wird. Vorwiegend wurde deutsch- und türkischsprachige Literatur bearbeitet, hinzu kamen englischsprachige Publikationen. Komplementär dazu wurde die Berichterstattung in türkischen und europäischen Medien betrachtet. In erster Linie wurden deutsche, österreichische und türkische Printmedien herangezogen. Des Weiteren wurden Interviews mit türkischen Politikern von verschiedenen Parteien, wie der MHP (Milliyetci Halk Partisi) und AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi) durchgeführt. Sie wurden u. a. über die politische Situation in der Türkei befragt und ob es seit dem Wahlerfolg der AK-Partei unter Tayyip Erdogan bisher irgendwelche sozio-ökonomischen Veränderungen gab. 8 WKO (2011), S. 1 17

7 Eine wichtige Quelle bei den Recherchen war auch das Internet, wo für diese Arbeit wertvolle Beiträge bzw. Kommentare auf verschiedenen Seiten von nicht regierungsnahen Organisationen zu finden waren.speziell Beispiele zum aktuellen Geschehen werden durch Berichte aus (Online-)Medien belegt werden. Ziel und Aufbau der Dissertation Ziel der vorliegenden Dissertation ist eine deskriptive Darstellung des Aufstieges der islamisch-konservativen Parteien in der Türkei und des Annäherungsprozesses zwischen der Türkei und der Europäischen Union bis heute. Dabei ist ein kurzer historischer Rückblick über die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen des Landes ebenso Bestandteil, wie eine Analyse der Aktivitäten und Reformen der führenden politischen Partei, der Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP) seit ihrem Bestehen. Auch auf die Theorie des politischen Realismus wird eingegangen, welche erklärend ein genaues Bild von der türkischen Innenpolitik von 1946 bis 2001 wiedergibt. Die zweite Phase nach 2001, mit der aktuellen Regierungspartei mit ihrem AKP-Liberalismus und dem Beginn der EU-Verhandlungen, stützt sich auf der konstruktivistischen Denkweise und der Interdependenztheorie. Weitere wichtige Inhaltspunkte sind in erster Linie die Identität der AK-Partei und deren Konservatismus. Das Kernstück der Arbeit stellt auf die laufenden Verhandlungen der Türkei mit der EU im Zuge der Beitrittsverhandlungen ab. In einem weiterführenden Kapitel liegt der Fokus auf den Dimensionen einer möglichen Mitgliedschaft der Türkei in der europäischen Staatengemeinschaft. 18