Kleist lectures. 1. Kleist s life & poetics - a very brief introduction. 2. Die gebrechliche Einrichtung der Welt : Die Marquise von O...

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2 Kleist lectures 1. Kleist s life & poetics - a very brief introduction 2. Die gebrechliche Einrichtung der Welt : Die Marquise von O Crossing boundaries: Penthesilea eine bloße Unart seines Geistes : Prinz Friedrich von Homburg

3 Kleist s life & poetics a very brief introduction 1. From end to beginning: the suicide notes 2. Die Akte Kleist (documentary, 2010) 3. Influences: personal experience, politics, philosophy, literature & art 4. A poetics of uncertainty 5. An exercise in close reading: Der Griffel Gottes [ God s Stylus ]

4 1. From end to beginning: the suicide notes Heinrich von Kleist Henriette Vogel

5 Kleist s and Henriette s gravestone by the Wannsee (2011)

6 Mein sehr werther Freund Ihrer Freundschaft die Sie für mich, bis dahin immer so treu bewiesen, ist es vorbehalten, eine wunderbare Probe zu bestehen, den wir beide, nehmlich der bekannte Kleist und ich befinden uns hier bei Stimmings auf dem Wege nach Potsdamm, in einem sehr unbeholfenen Zustande, indem wir erschossen da liegen, und nun der Güte eines wohlwollenden Freundes entgegen sehn, um unsre gebrechliche Hülle, der sichern Burg der Erde zu übergeben. (Kleist and Henriette Vogel to Christoph Ernst Friedrich Peguilhen [21 November 1811])

7 The last room in the permanent exhibition Rätsel. Kämpfe. Brüche. Die Kleist-Ausstellung (Kleist-Museum, Frankfurt/O.)

8 Der Himmel weiß, meine liebe treffliche Freundin, was für sonderbare Gefühle halb wehmüthig halb ausgelassen, uns bewegen, in dieser Stunde, da unsre Seelen sich, wie zwei fröhlige Luftschiffer, über die Welt erheben, noch einmal an Sie zu schreiben. [ ] Leben Sie wohl, unsre liebe liebe Freundin, und seyn Sie auf Erden, wie es gar wohl möglich ist, recht glücklich; wir unsrer Seits wollen nichts von den Freuden dieser Welt wissen, und träumen lauter himmlische Fluren und Sonnen, in deren Schimmer wir, mit langen Flügeln an den Schultern umher wandeln werden. (Kleist and Henriette Vogel to Sophie Müller [20 November 1811])

9 2. Die Akte Kleist (documentary, 2010)

10 3. Influences: personal experience, politics, philosophy, literature & art Personal experience: orphan at a young age; child soldier; failed marriage plans; failed careers in military and civil service Wilhelmine von Zenge ( ) Wär ich zu etwas Anderem brauchbar, so würde ich es von Herzen gern ergreifen: ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann. (Kleist to Otto August Rühle von Lilienstern [Königsberg, 31 August 1806])

11 (History and) Politics: French revolution: Verlobung, Erdbeben War: Penthesilea, Herrmannsschlacht, Homburg Prussian history and politics: Kohlhaas, Herrmannsschlacht, Homburg; poems

12 Philosophy, literature & art: Enlightenment:religion (Erdbeben; Cäcilie) class (Bettelweib) history (Kohlhaas) subjectivity, psychology (Marquise, Penthesilea) knowledge, nature (Erdbeben) critical thinking (anecdotes, essays) science (essays, letters) tolerance (Verlobung) Romanticism: unconscious (Marquise; Findling) dreams (Käthchen; Homburg) myth, legend (Amphityron, Cäcilie) Middle Ages (Zweikampf; Käthchen)

13 Sapere aude Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen (Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) Critik der reinen Vernunft (1781)

14 Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. (Kleist to Wilhelmine von Zenge, Berlin, 22 March 1801)

15 4. A poetics of uncertainty 1. beauty = the result of spontaneous action rather than reflection. 2. (human) conscious reflection and true grace are incompatible 3. (aesthetic) instinct = guiding force; be true to yourself

16 Jede erste Bewegung, alles Unwillkührliche, ist schön; und schief und verschroben Alles, so bald es sich selbst begreift. O der Verstand Der unglückseelige Verstand Studiere nicht zuviel, mein lieber Junge. [ ] Folge deinem Gefühl. Was dir schön dünkt, das gieb uns, auf gut Glück. Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es giebt nichts Anderes. (Kleist to Otto August Rühle von Lilienstern [Königsberg, 31 August 1806]) Johann Jakob Otto August Rühle von Lilienstern ( )

17 Jede erste Bewegung, alles Unwillkührliche, ist schön; und schief und verschroben Alles, so bald es sich selbst begreift. O der Verstand Der unglückseelige Verstand Studiere nicht zuviel, mein lieber Junge. [ ] Folge deinem Gefühl. Was dir schön dünkt, das gieb uns, auf gut Glück. Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es giebt nichts Anderes. (Kleist to Otto August Rühle von Lilienstern [Königsberg, 31 August 1806]) spontaneity and beauty (aesthetic) instinct Romantic concept of the unconscious

18 Wir sehen, daß in dem Maaße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. ( Über das Marionettentheater ) versus: Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde, 1793 ( On Grace and Dignity )

19 Jede erste Bewegung, alles Unwillkührliche, ist schön; und schief und verschroben Alles, so bald es sich selbst begreift. O der Verstand Der unglückseelige Verstand Studiere nicht zuviel, mein lieber Junge. [ ] Folge deinem Gefühl. Was dir schön dünkt, das gieb uns, auf gut Glück. Es ist ein Wurf, wie mit dem Würfel; aber es giebt nichts Anderes. (Kleist to Otto August Rühle von Lilienstern [Königsberg, 31 August 1806]) chance as universal principle be [true to] yourself Die Welt ist eine wunderliche Einrichtung; und die göttlichsten Wirkungen [ ] gehen aus den niedrigsten und unscheinbarsten Ursachen hervor. ( Brief eines Mahlers an seinen Sohn )

20 Denn die Aufgabe, Himmel und Erde Ist ja nicht, ein Anderer, sondern ihr selbst zu sein, und euch selbst, euer Eigenstes und Innerstes, durch Umriß und Farben, zur Anschauung zu bringen ( Brief eines jungen Dichters an einen jungen Mahler )

21 5. An exercise in close reading: Der Griffel Gottes [ God s Stylus ]

22 Der Griffel Gottes. In Polen war eine Gräfinn von P., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution ertheilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen. (MA II, 351)

23 Der Griffel Gottes. In Polen war eine Gräfinn von P., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution ertheilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen. An authentic story? - An unreliable narrator. Playing on the reader s expectations: religion, class, history, nature, truth

24 Der Griffel Gottes. In Polen war eine Gräfinn von P., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution ertheilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen. religion: criticizing the Catholic Church class: negative characterization of the countess history: result of a selection process; misrepresentation

25 Der Griffel Gottes. In Polen war eine Gräfinn von P., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution ertheilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen. nature/science (vs. faith/religion): the lightning bolt - divine justice or coincidence? if the letters have to be arranged: who creates the message? an intertextual reference: J. W. v. Goethe, Faust I, Kerker, l. 4610

26 Der Griffel Gottes. In Polen war eine Gräfinn von P., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution ertheilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen. metatextual reflexions: writing and erasing; reading ambiguity: Schriftgelehrte (authority of church vs. that of science) [more] fictions of [historical] authenticity

27 Kleists Dichtung selbst ist eine Dichtung der experimentellen Offenheit, in ihr gibt es keine Sicherheit, weder die Sicherheit einer anerkannten Gesellschaftsordnung, noch die innere Sicherheit einer fraglos akzeptierten Religion; noch weniger die Sicherheit gültiger Traditionen, und schon gar nicht die Sicherheit einer ihrer selbst gewissen Subjektivität, einer existentialistischen Gefühlssicherheit [ ]. (Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist [ ], 2011)