Probeklausur: Der neue Bundespräsident
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- Stefan Bösch
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1 Probeklausur: Der neue Bundespräsident Der amtierende Bundespräsident G ist über die derzeitige Politikverdrossenheit in der Bevölkerung nicht begeistert. Er befürchtet, dass in nicht allzu ferner Zukunft die radikalen Kräfte immer mehr Zuwachs erhalten werden, wenn nicht das Deutsche Volk dauerhaft eine integrative Leitfigur erhalte, die über der Tagespolitik und für einen neuen Zusammenhalt in der Gesellschaft stehe. Nach langem Überlegen sieht er schließlich nur sich selbst in dieser Rolle. G erwägt deshalb eine Verfassungsänderung des Art. 54 Abs. 1 und 2 GG, nach der das Volk zukünftig das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland in direkter Wahl bestimmt. Der Gewählte soll das Amt auf Lebenszeit innehaben. Erst bei seinem Ableben finden Neuwahlen statt. Art. 61 GG wird abgeschafft, im Übrigen bleiben die Rechte und Pflichten des Bundespräsidenten wie bisher. Die erste Wahl des neuen Bundespräsidenten soll zehn Wochen nach Verkündung des Gesetzes stattfinden. Da G juristisch nicht bewandert ist, bittet er seinen alten Schulfreund Dr. jur. J, der es bis zum Bundestagsabgeordneten gebracht hat, um Erarbeitung und Einbringung einer entsprechenden Vorlage. Dr. J ist Experte auf dem Gebiet des Staatsrechts und hat einen Textvorschlag mit Begründung bereits in der Schublade. Eine entsprechende Drucksache lässt er gleich darauf im Bundestag verteilen. Unter den Mitgliedern des Bundestages findet der Gesetzentwurf begeisterte Zustimmung. Sie sehen die Idee als Chance für eine neue politische Belebung im Lande. Nach drei Lesungen stimmen etwa 72 Prozent der Abgeordneten des Bundestages für den Gesetzentwurf, 22 Prozent stimmen gegen diesen, die übrigen enthalten sich ihrer Stimme oder waren bei der Sitzung nicht anwesend. Anschließend stimmt auch der Bundesrat mit 48 von 69 Stimmen für den Gesetzentwurf. Voller Freude lässt G das Gesetz nach Gegenzeichnung ausfertigen und verkünden. Anschließend setzt er den Termin für die Neuwahl an. Von dieser Entwicklung ist M, Ministerpräsident des Landes L, gar nicht begeistert. Er hatte sich bei der in drei Jahren anstehenden regulären Bundespräsidentenwahl selbst gute Chancen ausgerechnet. Bei der jetzt angesetzten Wahl sagen ihm Prognosen jedoch eine deutliche Niederlage voraus. M will dies nicht hinnehmen und überlegt, ob seine Landesregierung noch gegen das Gesetz vorgehen könne. Insbesondere zweifelt er daran, dass das Gesetzgebungsverfahren fehlerfrei abgelaufen ist und das Gesetz mit den tragenden Staatsprinzipien im Einklang steht. Er lässt seine Bedenken in einen Beschluss der Landesregierung des Landes L einfließen, der als schriftlicher Antrag an das Bundesverfassungsgericht geschickt wird. G, der über die Medien von diesem Antrag erfährt, versteht die Ansichten des M und seiner Landesregierung nicht. Er meint, das Amt sei doch besonders demokratisch ausgestaltet. Das Volk könne frei entscheiden, wer der neue Bundespräsident werden soll. Seite 1
2 Aufgabe 1: Erörtern Sie in einem Rechtsgutachten (ggf. hilfsgutachtlich), wie das Bundesverfassungsgericht über den Antrag der Landesregierung des Landes L entscheiden wird. Dabei ist auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Rechtsfragen einzugehen. Aufgabe 2: Beantworten Sie die folgenden Fragen: 1. Was versteht man unter plebiszitärer und was unter repräsentativer Demokratie? 2. Nennen Sie vier Leitprinzipien des Rechts der politischen Parteien und deren verfassungsrechtliche Grundlagen. 3. Warum ist die Europäische Union kein Bundesstaat? Die Bearbeitungszeit beträgt zwei Stunden. Die Klausur ist mit einem rechten Korrekturrand von etwa 7 cm zu fertigen und mit einem Deckblatt zu versehen, das den vollen Namen und die Matrikelnummer des Bearbeiters oder der Bearbeiterin sowie die Bezeichnung der Klausur und des AG-Leiters enthält. Seite 2
3 Der neue Bundespräsident Lösung Aufgabe 1 Der Antrag der Landesregierung L könnte als Antrag in einem abstrakten Normenkontrollverfahren auszulegen sein. Als solcher führt er nach 78 Satz 1 BVerfGG zur Nichtigerklärung des Änderungsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht, wenn er zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit Der Antrag müsste zulässig sein. Dies ist der Fall, wenn die folgenden Sachentscheidungsvoraussetzungen gegeben sind. I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht ist für abstrakte Normenkontrollen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, 13 Nr. 6 BVerfGG zuständig. II. Antragsberechtigung des Antragstellers Der Antragsteller müsste antragsberechtigt sein. Antragsberechtigt im abstrakten Normenkontrollverfahren sind nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, 13 Nr. 6, 76 Abs. 1 BVerfGG nur die Bundesregierung, die Landesregierungen oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages. Hier hat die Landesregierung L den Antrag gestellt. Sie ist antragsberechtigt. Hinweis: Einen Antragsgegner gibt es nicht. Insbesondere wäre es falsch, hier die Person des G zu erwähnen. III. Antragsgegenstand Es müsste ein überprüfbarer Antragsgegenstand gegeben sein. Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, 13 Nr. 6, 76 Abs. 1 BVerfGG ist die Überprüfung von Bundes- oder Landesrecht zulässig. Hier liegt mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes ein Bundesgesetz und damit Bundesrecht vor. Das Änderungsgesetz ist folglich ein überprüfbarer Antragsgegenstand. IV. Antragsgrund Für den Antrag müsste ein Antragsgrund bestehen. Grund für den Antrag ist die Haltung des Antragstellers zum Antragsgegenstand. Der Antrag ist nach 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG Seite 3
4 nur zulässig, wenn der Antragsteller das zu prüfende Recht wegen förmlicher oder sachlicher Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz für nichtig hält. Hingegen genügen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 13 Nr. 6 BVerfGG Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Hier äußern M und seine Landesregierung lediglich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes. Auf seine Nichtigkeit berufen sie sich nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich. Mithin ist nur Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, nicht aber 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG erfüllt. Fraglich ist also, ob sich die Zulässigkeit des Verfahrens nach der engeren Vorschrift des 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG oder der weiteren Vorschrift des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG richtet. Für ersteres spricht, dass das BVerfGG eine im Grundgesetz angelegte und in der Praxis erforderliche Präzisierung und Konkretisierung der Zulässigkeitsvorschriften des Grundgesetzes hinsichtlich der Verfassungsgerichtsbarkeit darstellt (vgl. Art 94 Abs. 2 Satz 1 GG; siehe auch BVerfGE 96, 133 (137)). Es ist insofern die speziellere Norm. Außerdem ließe sich nach Sinn und Zweck der Norm sagen, dass für jedes Gesetz, dass in einem demokratischen Verfahren zustande gekommen ist, die Vermutung seiner Verfassungsmäßigkeit spricht, weshalb eine verfassungsgerichtliche Überprüfung erst dann sinnvoll und angezeigt ist, wenn bedeutende Staatsorgane, wie die hier zulässigen Antragsberechtigten, vom Gegenteil überzeugt sind. Andererseits ermächtigt das Grundgesetz nach seinem Wortlaut nicht zu einer solchen Konkretisierung und Einengung. Der minimale Umfang der Zulässigkeit einer abstrakten Normenkontrolle und damit der Befugnisse des Bundesverfassungsgericht ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ausdrücklich geregelt. Die übrigen Normen, insbesondere Art. 93 Abs. 3 GG, lassen nur eine Erweiterung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes durch einfaches Bundesrecht zu, nicht jedoch eine Einschränkung. Auch die Regelung des Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG ermächtigt nach seinem Wortlaut nicht zu einer Begrenzung der verfassungsunmittelbaren Zulässigkeitsvoraussetzungen. Das zeigt auch der Umkehrschluss aus Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG. Schließlich spricht die klare Gesetzeshierarchie zwischen dem Grundgesetz und dem einfachen Recht für die zweite Lösung. Das einfache Recht vermag eine Grundgesetznorm nicht über ihren Wortlaut hinaus begrenzen. Mithin genügen für die Zulässigkeit einer abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG Zweifel des Antragstellers an der Verfassungsmäßigkeit. Diese liegen hier vor. Ein Antragsgrund ist gegeben. Ergänzend, das heißt über den Wortlaut der Vorschriften des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes hinaus, müsste ein objektives Klarstellungsinteresse vorliegen. Dies ist jedenfalls gegeben, wenn der Antragsteller an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes mindestens zweifelt und das Gesetz bereits ausgefertigt und verkündet ist. Hier ist das Änderungsgesetz bereits ausgefertigt und verkündet und die notwendigen Zweifel der Antragsteller liegen vor. Ein objektives Klarstellungsinteresse ist gegeben. V. Form Der Antrag ist nach 23 Abs. 1 BVerfGG schriftlich zu stellen. Dies ist hier geschehen. Seite 4
5 VI. Ergebnis Der Antrag ist zulässig. Anmerkung: Für eine durchschnittliche Arbeit ist erforderlich, dass der Kandidat das richtige Verfahren erkennt und die Zulässigkeitsprüfung vollständig und in einem ordentlichen Gutachtenstil prüft. Bessere Arbeiten erkennen das Problem Meinungsverschiedenheiten/Zweifel und führen stringent zu einer Lösung. Hingegen kann eine Arbeit, die grobe Mängel in der Zulässigkeitsprüfung aufweist, kaum noch als ausreichend angesehen werden. Im Übrigen genügt allein eine vollständige und richtige Zulässigkeitsprüfung bei fehlender oder unverwertbarer Begründetheitsprüfung noch nicht für eine ausreichende Leistung. B. Begründetheit Der Antrag müsste auch begründet sein. Dies ist der Fall, wenn das Änderungsgesetz gegen die Bestimmungen des Grundgesetzes verstößt, die zu prüfen sind ( 78 BVerfGG). Das heißt, dass das zu prüfende Gesetz im Rahmen des Prüfungsumfangs formell oder materiell verfassungswidrig sein müsste. Anmerkung: Von allen Arbeiten wird ein korrekter Obersatz erwartet. Der Hinweis auf 78 BVerfGG ist nicht zwingend. I. Formelle Verfassungsmäßigkeit Das Gesetz könnte formell verfassungswidrig sein. Dies ist der Fall, wenn der Bund für die Gesetzgebung nicht zuständig wäre oder verfassungsrechtliche Verfahrens- oder Formvorschriften nicht eingehalten wurden. 1. Gesetzgebungskompetenz Zunächst ist fraglich, ob dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Änderungsgesetz zusteht. Grundsätzlich sind die Länder für die Gesetzgebung zuständig (Art. 70 GG). Hier ergibt sich jedoch die Zuständigkeit des Bundes für die Änderung des Grundgesetzes, also der Verfassung des Bundes, entgegen der Regel des Art. 70 GG aus Art. 79 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 GG. Ein Kompetenzverstoß ist nicht gegeben. Anmerkung: Mit leichten Abstrichen kann auch auf die ungeschriebene Kompetenz kraft Natur der Sache abgestellt werden. Ausschlaggebend ist, dass es um die Änderung der Bundesverfassung geht, jedoch nicht, dass hier zufällig auch Regelungen zu einem Bundesorgan geändert werden sollen. 2. Gesetzgebungsverfahren Weiterhin ist zu prüfen, ob das Gesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß abgelaufen ist. Seite 5
6 a) Gesetzesinitiative Das Gesetzesvorlageverfahren richtet sich nach Art. 76 Abs. 1 GG. Vorlageberechtigt sind zum einen die Bundesregierung und der Bundesrat. Zum anderen können Vorlagen aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden. Fraglich ist, was aus der Mitte des Bundestages bedeutet. Denkbar ist zum einen die Benennung einer bestimmten Mindestanzahl von Abgeordneten, die einer Vorlage beitreten müssen, zum anderen, dass schon jeder einzelne Abgeordnete eine Vorlage einzubringen in der Lage ist. Hier hat nur ein Abgeordneter, Dr. J, die Vorlage in den Bundestag eingebracht. Ist eine bestimmte Mindestanzahl erforderlich, liegt ein Verfahrensverstoßvor. Der Wortlaut des Art. 76 Abs. 1 GG spricht zunächst dafür, dass jeder Abgeordnete eine Vorlage einbringen kann. Jeder einzelne wird als Mitglied des Bundestages aus seiner Mitte tätig. Eine bestimmte Mindestanzahl findet im Grundgesetztext keine Stütze. Hingegen verlangen 75 Abs. 1 Buchst. a), 76 Abs. 1 GOBT die Einbringung durch eine Fraktion oder mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages. Daher ist zu fragen, ob die GOBT eine in der Verfassung angelegte und von ihr getragene Konkretisierung und Begrenzung der Verfahrensvorschriften des Grundgesetzes darstellen kann. Hierfür spricht, dass eine Begrenzung auf eine bestimmte Mindestzahl die Arbeitsfähigkeit des Parlaments sichern und weithin abwegige Einzelanträge, die keine Aussicht auf eine Mehrheit haben, begrenzen und vermeiden soll. Hingegen folgt aus dieser Vorschrift keine zwingende Formvorschrift, deren Nichtbeachtung die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes zur Folge hat. Für eine solche Folge fehlt im Grundgesetz jede Stütze. Selbst wenn man der GOBT eine gewisse begrenzende Ordnungsfunktion insofern zugesteht, vermag ein Verstoß hiergegen mangels Verstoß gegen das Grundgesetz schon durch den mehrheitlichen Beschluss des Bundestages geheilt werden, der spätestens damit den Gesetzentwurf als Gesetzgeber in seinen Willen aufgenommen hat. Mithin ist die Einbringung durch einen einzelnen Abgeordneten, wie hier durch Dr. J, ohne die Unterstützung einer Fraktion oder von insgesamt mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages jedenfalls dann ausreichend, wenn das Gesetz vom Bundestag beschlossen wurde. b) Zustandekommen des Gesetzes Das Gesetz könnte verfassungsgemäß zustande gekommen sein. Nach Art. 78 Var. 1 GG setzt dies einen Gesetzesbeschluss des Bundestages und die Zustimmung des Bundesrates voraus. aa) Gesetzesbeschluss des Bundestages Das Gesetz bedarf als verfassungsänderndes Gesetz gemäß Art. 77, 79 Abs. 2 GG der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages. Hier haben 72 Prozent der Mitglieder für das Gesetz gestimmt. Dies sind mehr als zwei Drittel (ca. 66,67 Prozent). Das Gesetz wurde ordnungsgemäß beschlossen. bb) Mitwirkung des Bundesrates Auch bedarf das Gesetz nach Art. 79 Abs. 2 GG der Zustimmung des Bundesrates mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen. Hier hat der Bundesrat insgesamt 69 Stimmen. Es bedarf mindestens 46 Stimmen. Hier wurden 48 Stimmen für das Gesetz abgegeben. Die nötige Mehrheit ist erreicht. Seite 6
7 cc) Ergebnis Das Gesetz ist zustande gekommen. c) Ergebnis Das Gesetzgebungsverfahren war (jedenfalls nach dem ordnungsgemäßen Beschluss des Bundestags auch mit Bezug auf die Gesetzesinitiative) fehlerfrei. 3. Form Das Gesetz ändert das Grundgesetz gemäß Art. 79 Abs. 1 GG in seinem Wortlaut (davon ist zumindest mangels gegenteiliger Anhaltspunkte auszugehen) und wird gemäß Art. 82 GG ordnungsgemäß durch den Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und verkündet. 4. Ergebnis Das Gesetz ist formell verfassungsgemäß. Anmerkung: Bei der formellen Verfassungsmäßigkeit liegt der Schwerpunkt auf einem klaren gutachterlichen Prüfungsaufbau. Die einzelnen Stationen sollen in der gebotenen Kürze abgearbeitet werden. Problematisch ist lediglich die Gesetzesinitiative durch den einzelnen Abgeordneten. II. Materielle Verfassungsmäßigkeit Das Gesetz könnte gegen inhaltliche Bestimmungen des Grundgesetzes verstoßen. Hier liegt ein verfassungsänderndes Gesetz vor. Mithin ergibt sich hierfür der relevante materielle Prüfungsmaßstab allein aus Art. 79 Abs. 3 GG, das heißt die Änderungen sind an Art. 20 GG zu messen. (Die übrigen Maßstäbe des Art. 79 Abs. 3 GG (bundesstaatlichen Ordnung und Art. 1 GG) sind hier nicht relevant.) Das Gesetz enthält im Wesentlichen drei Änderungen, die jede für sich zu prüfen sind. Dies sind die Einführung der direkten Wahl des Staatsoberhauptes, der lebenslangen Amtszeit desselben sowie die Abschaffung der Absetzungs- und Anklagemöglichkeit des Staatsoberhauptes. Bisher finden sich die von der Änderung betroffenen Regelungen in Art. 54 und 61 GG. Diese sollen jedoch geändert werden und sind insofern kein Prüfungsmaßstab. 1. Direkte Wahl des Staatsoberhauptes Die Einführung der direkten Wahl (Änderung des Art. 54 Abs. 1 GG) könnte gegen das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG verstoßen. Nach dem Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 GG, der den Grundsatz der Volkssouveränität statuiert, geht die Staatsgewalt mittels Wahlen und Abstimmungen vom Volk aus. Die Einsetzung eines Staatsoberhauptes mittels einer (freien) Wahl durch das Volk anstelle der mittelbaren Wahl durch die Bundesversammlung steht dazu nicht im Widerspruch. Ferner wird hier auch jedes neue Staatsoberhaupt Seite 7
8 durch das Volk gewählt (anders als bei einer Erbmonarchie). Mithin ist insofern kein Verstoß gegen das Demokratieprinzip gegeben. Auch ein Verstoß gegen ein anderes Prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ist nicht ersichtlich. 2. Lebenslange Amtszeit Auch hinsichtlich der Bestimmung der Amtszeit auf die Lebenszeit des Gewählten (Änderung des Art. 54 Abs. 2 GG) kommt ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip in Betracht. Jedoch bestimmt das Demokratieprinzip in einem engen Verständnis nur die Einsetzung des Volkes als Souverän. Sämtliche Staatsgewalt muss auf das Volk zurückgeführt werden können. Dies geschieht hier. Auf die Frage der Länge der Amtszeit kommt es nicht an. Diese ist auch angesichts der Endlichkeit der Lebenszeit eines Einzelnen nicht unbegrenzt. Man könnte allenfalls annehmen, dass eine überlange Zeit zwischen den jeweiligen Wahlen als den insofern einzigen Akten der Ausübung der Volkssouveränität die Wahrnehmung derselben aushöhlt und zu einer Scheindemokratie führt. Auf der anderen Seite ist jedoch zu sehen, dass das Staatsoberhaupt nach den beibehaltenen Vorschriften des Grundgesetzes nur eine eingeschränkte politische und verfassungsrechtliche Macht besitzt. Es ist insofern eher eine repräsentative Figur. Im Vergleich mit europäischen Nachbarstaaten ist erkennbar, dass eine funktionierende Demokratie durchaus einen Monarchen als Staatsoberhaupt besitzen kann. Die Gestaltung einer solchen demokratischen Monarchie wäre auch nach dem Demokratiebegriff des Grundgesetzes denkbar. Mithin liegt insofern kein Verstoß gegen das Demokratieprinzip vor. Jedoch kommt ein Verstoß gegen das Republikprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG in Betracht. Dieses ist zunächst historisch als Abkehr vom monarchischen Prinzip zu verstehen. Nach einem formellen Monarchiebegriff läge schon dann ein Verstoß vor, wenn dass Staatsoberhaupt eine monarchische Bezeichnung erhält (z. B. Umbenennung in König von Deutschland). Ein solches Verständnis greif aber wohl zu kurz (a. A. vertretbar). Materiell gesehen ist eher auf eine Staatsform abzustellen, der ein auf Zeit gewähltes, abwählbares und anklagbares Staatsoberhaupt vorsteht. Unvereinbar mit dem Republikprinzip sind demnach Bestimmungen, nach denen das Staatsoberhaupt durch einseitige Benennung des Amtsinhabers oder auf Grund von Abstammung bestimmt wird, die Amtsgeschäfte auf unbestimmte Zeit oder auf Lebenszeit führt oder nach denen das Staatsoberhaupt nicht zumindest im Falle von Amtsmissbrauch vorzeitig abgesetzt und angeklagt werden kann. Hier wird die Amtszeit auf Lebenszeit eingeführt. Dies ist insoweit nicht republikanisch und daher mit Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar. 3. Abschaffung des Art. 61 GG Auch hinsichtlich der Abschaffung des Art. 61 GG ist ein Verstoß gegen das Republikprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG zu prüfen. Dieses fordert nach dem oben gesagten, dass das Staatsoberhaupt im Falle des Amtsmissbrauchs vorzeitig abgesetzt und angeklagt werden kann. Seite 8
9 Diese Möglichkeit ist hier nach Abschaffung des Art. 61 GG jedoch nicht mehr gegeben. Mithin verstößt das Änderungsgesetz gegen das in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte und durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Republikprinzip. Anmerkung: Mit entsprechender Argumentation kann hinsichtlich der Abschaffung des Art. 61 GG auch ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG angenommen werden. Auszuführen wäre insofern, dass die staatliche Gewalt an das Gesetz gebunden ist. Diese Bindung muss auch effektiv überprüfbar sein. Durch die Abschaffung des Art. 61 GG wird die Überprüfbarkeit des Bundespräsidenten jedenfalls erschwert. Nicht vertretbar ist es indes, auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung abzustellen. 4. Ergebnis Das verfassungsändernde Gesetz ist materiell verfassungswidrig. Anmerkung: Bei der materiellen Verfassungsmäßigkeit liegt das Schwergewicht der Klausur. Vertretbar ist auch ein anderer Aufbau, der nach den einzelnen Prinzipien gliedert. Die Bearbeitungen sollten nach Möglichkeit die drei unterschiedlichen Regelungsgehalte des Änderungsgesetzes berücksichtigen. Durchschnittliche Bearbeitungen erkennen den richtigen Prüfungsmaßstab und benennen entweder beide einschlägigen Prinzipien (Demokratieprinzip und Republikprinzip) oder nur eines von beiden, bearbeiten dieses jedoch mit einer ansprechenden Argumentation. Gute bis sehr gute Bearbeitung arbeiten den Unterschied zwischen beiden Prinzipien heraus und bieten mit tiefergehender Argumentation eine differenzierte Lösung an. Nicht mehr ausreichende Leistungen wenden einen falschen Prüfungsmaßstab an oder verkennen die Bedeutung der Staatsprinzipien für den vorliegen Fall völlig. III. Ergebnis Der Antrag ist begründet. C. Zusammenfassung Der Antrag wird erfolgreich sein. Das Bundesverfassungsgericht wird gemäß 78 BVerfGG das Änderungsgesetz für nichtig erklären. Seite 9
10 Der neue Bundespräsident Lösung Aufgabe 2 A. Was versteht man unter plebiszitärer und was unter repräsentativer Demokratie? Die plebiszitäre Demokratie (direkte Demokratie) ist durch die unmittelbare Herrschaft des Volkes auch hinsichtlich der Sachentscheidungen gekennzeichnet. Repräsentative Demokratie (indirekte Demokratie) bedeutet, dass die Staatsgewalt durch vom Volk gewählte Vertreter ausgeübt wird, das heißt erst diese die Sachentscheidungen treffen. B. Nennen Sie vier Leitprinzipien des Rechts der politischen Parteien und deren verfassungsrechtliche Grundlagen. Mehrparteienprinzip (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG: Die Parteien... ), Gründungsfreiheit (Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG, BGB, PartG), Innerparteiliche Deomokratie (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG), Rechenschaftspflicht (Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG) C. Warum ist die Europäische Union kein Bundesstaat? Der Europäischen Union steht nach den Verträgen nicht das Recht zu, die Kompetenzen zwischen den Mitgliedsstaaten und der Union zu verteilen (Kompetenz-Kompetenz). Sie agiert vielmehr nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV). Im Verhältnis zu den Mitgliedsstaaten verfügt sie damit nicht über ausreichende Souveränität, wie es für einen (Bundes-)Staat erforderlich wäre. Erzeugt mit LATEX und KOMA-Script. Seite 10
11 Lösungsübersicht A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts II. Antragsberechtigung des Antragstellers III. Antragsgegenstand IV. Antragsgrund V. Form VI. Ergebnis B. Begründetheit I. Formelle Verfassungsmäßigkeit 1. Gesetzgebungskompetenz 2. Gesetzgebungsverfahren a) Gesetzesinitiative Seite 1
12 b) Zustandekommen des Gesetzes aa) Gesetzesbeschluss des Bundestages bb) Mitwirkung des Bundesrates cc) Ergebnis c) Ergebnis 3. Form 4. Ergebnis II. Materielle Verfassungsmäßigkeit 1. Direkte Wahl des Staatsoberhauptes 2. Lebenslange Amtszeit 3. Abschaffung des Art. 61 GG 4. Ergebnis III. Ergebnis Seite 2
13 C. Zusammenfassung A. Was versteht man unter plebiszitärer und was unter repräsentativer Demokratie? B. Nennen Sie vier Leitprinzipien des Rechts der politischen Parteien und deren verfassungsrechtliche Grundlagen. C. Warum ist die Europäische Union kein Bundesstaat? Seite 3
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