Empathie statt Mit-Leid Eine Grundlage zur Förderung empathischer Kompetenz in der pflegerischen Bildung
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- Inge Müller
- vor 6 Jahren
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1 Empathie statt Mit-Leid Eine Grundlage zur Förderung empathischer Kompetenz in der pflegerischen Bildung Mit einer verständlichen und damit umsetzbaren Definition ist es Bischoff-Wanner (2002) gelungen, den Begriff Empathie hinsichtlich seiner pflegespezifischen Dimensionen einzugrenzen. Sie hat festgestellt, dass Empathie eine wesentliche Voraussetzung für eine therapeutisch-pflegerische Beziehung darstellt. Auf der Basis ihrer Überlegungen muss empathisches Verstehen nun auch im Pflegealltag realisiert und transparent gemacht werden. Diese Transparenz ist notwendig für die Qualitätssicherung im Rahmen einer am pflegebedürftigen Menschen orientierten Pflege (vgl. auch Wittneben 1998), aber auch um empathisches Verstehen als wesentliche Voraussetzung und als Bestandteil pflegerischen Tuns anerkannt und honoriert zu bekommen. Pflege ein Berufsbild im Wandel. Es scheint, als würde sich die Pflege auf der Suche nach einer eigenen Identität wieder auf die ureigenen pflegerischen Grundhaltungen zurückbesinnen. Doch viele dieser Grundhaltungen sind als abstrakte Begriffe wenig definiert und werden oft unreflektiert in unterschiedlichem Kontext verwendet. Gerade diese Grundhaltungen könnten, wissenschaftlich hinterfragt, zu einem gemeinsamen Pflegeverständnis beitragen. Bischoff-Wanner hat sich mit dem Begriff Empathie in der Pflege auseinandergesetzt. Empathie steht als Synonym für den Begriff Einfühlungsvermögen. Da es im deutschsprachigen Raum wenig Publikationen dazu gibt, wird in der Pflegewissenschaft der Begriff Empathie aus der angloamerikanischen Literatur verwendet. Empathische Kompetenz wiederum ist die Fähigkeit, innerhalb eines beruflichen Kontextes stellvertretend die Perspektive und Gefühlswelt eines anderen Menschen nachzuvollziehen und danach zu handeln (Bischoff-Wanner 2002, S. 16). Damit kann empathische Kompetenz als Teil einer professionellen Berufsauffassung und Expertenpflege angesehen werden und muss als Anliegen von Pflegeforschung, -lehre und -praxis gefördert und entwickelt werden. Die Antwort auf die Frage nach Empathie bzw. empathischer Kompetenz bei Pflegenden zeigt ein widersprüchliches Bild auf, welches auch durch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt wurde (vgl. Bischoff-Wanner 2002, S. 200 f.). Einerseits werden Pflegeberufe aus einer prosozialen Motivation heraus ergriffen, um Menschen zu helfen. Der kranke Mensch steht im Mittelpunkt aller pflegerischen Überlegungen. Der von den Pflegenden erhobene Anspruch, pflegebedürftige Menschen ganzheitlich zu betreuen, beinhaltet auch empathische Beziehungen mit den Betroffenen einzugehen. Dieser Anspruch war immer Teil berufsideologischer Selbstdefinition, wobei von Pflegenden erwartet wird, empathisch sein zu können und dementsprechend individuell und einfühlsam zu handeln. 1
2 Andererseits werden Pflegende als uneinfühlsam, gleichgültig, abwertend und aggressiv beschrieben, dass sie Bedürfnisse pflegebedürftiger Menschen ignorieren oder verweigern sowie deren Privat- und Intimsphäre missachten. Empirische Untersuchungen bestätigen, dass Pflegende wenig empathisch gegenüber Pflegebedürftigen reagieren und Schwierigkeiten haben, sie als individuelle Menschen zu sehen. Es wurde festgestellt, dass empathische Beziehungen zu Menschen vermieden werden, die am meisten darauf angewiesen wären. Dazu zählen alte Menschen, chronisch und unheilbar Kranke sowie Sterbende. Empathisches Verstehen ist Gefühlsarbeit und kann bei Pflegenden zu emotionaler Überlastung führen. Overlander stellt fest, dass es einen Zusammenhang geben könnte zwischen einer andauernden emotionalen Überlastung von Pflegenden und den Gewalttaten an Pflegeempfängern bis hin zu Tötungsdelikten (vgl. Overlander 2001, S. 115). Um dies zu verhindern, müssen Pflegende eine emotionale Balance erreichen, zwischen einer einfühlsamen, verständnisvollen Nähe zum pflegebedürftigen Menschen bei gleichzeitiger Distanzierung von intensivem Mitleiden. Es geht um eine professionelle Distanz, bei der trotzdem Bedürfnisse des Kranken erfasst werden (vgl. Overlander 2001, S. 120). Bischoff-Wanner weist darauf hin, dass Untersuchungen gezeigt haben, dass Pflegekräfte, die eine empathische Beziehung zu pflegebedürftigen Menschen aufbauen und therapeutisch nutzen, weniger Schwierigkeiten mit emotionalen Situationen hatten als solche, die diese Beziehungen eher vermieden. Dies bedeutet, dass eine empathische Beziehung nicht zu emotionaler Überforderung bzw. zum Burn-out führt, sondern dass Pflegende im gegenseitigen Geben und Nehmen selbst Unterstützung durch die zu Pflegenden erfuhren (vgl. Bischoff-Wanner 2002, S. 17). Seit Florence Nightingale (1969) ist Empathie in der Beziehung zwischen Pflegekräften und pflegebedürftigen Menschen anerkannt. Auch bei zeitgenössischen Pflegetheoretikerinnen und in der Pflegepraxis gilt Empathie als angemessen, wünschenswert, therapeutisch fördernd bzw. als herausragendes Charakteristikum der helfenden Interaktion. Bischoff-Wanner stellt pflegespezifische Aspekte der Empathie heraus und leitet daraus eine pflegespezifische Definition ab: Ziel von Empathie ist es, durch Perspektivenübernahme den pflegebedürftigen Menschen besser kennenzulernen, um mit ihm individuell und an seinen Bedürfnissen orientiert seine Pflege zu planen. Der zu Pflegende wird als selbstbestimmter, mitbestimmungsfähiger und gleichberechtigter Partner in der pflegerischen Interaktion gesehen. Empathie als aktiver und bewusster Vorgang wird oft von Pflegenden initiiert. Empathische Kompetenz gehört damit zu den beruflichen Fähigkeiten von Pflegekräften und gilt als Qualitätsanforderung und Arbeitsleistung. In diesem Zusammenhang müssen 2
3 auch die Rahmenbedingungen in der Pflege betrachtet werden, die Empathie entweder zulassen oder nicht. Empathie ist nicht immer und nicht mit allen Pflegebedürftigen notwendig. Empathische Kompetenz im Rahmen des Pflegeprozesses ist insbesondere bei pflegebedürftigen Menschen gefordert, die sich nicht direkt mitteilen können oder wollen. Hierin könnte sich u. a. der pflegespezifische vom psychotherapeutischen Empathiebegriff unterscheiden. Durch Empathie kann Beziehung und Nähe zum pflegebedürftigen Menschen entstehen ( Gefühlsband ). Beziehung ist jedoch keine Bedingung für Empathie, sondern eine mögliche Folge. Empathie hat nonverbale Aspekte und ist dadurch für die Pflege von herausragender Bedeutung. Bei bewusstlosen oder kommunikationsgestörten Menschen spielen körperliche Hinweisreize in der Wahrnehmung eine besondere Rolle. Dabei müssen auch Gestik, Mimik, Körpersprache, -haltung und -position wahrgenommen werden. Empathie ist in der Regel nicht-wechselseitig. Der pflegebedürftige Mensch selbst muss nicht empathisch sein, da er keine Erkenntnisse über die Pflegeperson gewinnen muss. Vielmehr müssen Pflegekräfte in der Lage sein, Erkenntnisse über die zu Pflegenden zu gewinnen. Diese müssen durch direktes Handeln zugunsten der Pflegebedürftigen umgesetzt werden. Allerdings kann eine Wechselseitigkeit (Reziprozität) in der Beziehung zwischen der Pflegekraft und dem zu pflegenden Menschen auftreten, wobei diese nicht typisch ist. Empathie in der Pflege ist handlungsorientiert, entweder über die Kommunikation (verbal, nonverbal, körperorientiert) oder durch eine direkt ausgeführte Pflegemaßnahme (Bischoff-Wanner 2002, S. 254 f.). Auch Wittneben stellt fest, dass in der Pflege Empathiefähigkeit unerlässlich ist für die Wahrnehmung von Patientenerlebnissen und -verhalten, von Existenzbedrohungen und - entlastungen sowie von Begegnungen und Berührungen. Sie sieht Empathie als zentralen Begriff in der Pflege und fordert ein differenziertes pflegepraxiswirksames Empathiekonzept (vgl. Wittneben 1998, S. 221 f., S. 246). Bischoff-Wanner hat dieses Konzept begründet. Nach Bischoff-Wanner ist Empathie in der Pflege ein bewusst wahrgenommener, willentlicher Akt der Perspektivenübernahme. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme lässt sich in drei zusammenhängende Komponenten teilen: - Erkennen und Interpretieren von Hinweisreizen (Wahrnehmung) - Erkennen der Gedanken, Motive, Intentionen, Bedeutungen des Verhaltens - Erkennen von Gefühlen. Durch körperliche und verhaltensbezogene Hinweisreize eines pflegebedürftigen Menschen wird der Prozess der Perspektivenübernahme ausgelöst. In der Folge geschieht eine zeitlich begrenzte empathische Identifikation mit dem Betroffenen. Der innere Zustand wird mit der 3
4 eigenen Vorstellungskraft konstruiert und Gefühle, Bedürfnisse, Wahrnehmungen und Definitionen der Situation im persönlichen Kontakt einer Interaktion von der Pflegekraft nichtbewertend erfasst und verstanden. Die Aufmerksamkeit liegt dabei auf dem Erleben des zu Pflegenden, wobei das Bewusstsein zwei getrennter Identitäten stets erhalten bleibt. Kognitive Empathie ist damit ein aktiver arbeitsförmiger Vorgang, als Arbeitsleistung zu verstehen und damit als empathische Kompetenz (vgl. Bischoff-Wanner, 2002, 272). In Zeiten von fehlenden Ressourcen Geld, Zeit und Personal stellen auch die Rahmenbedingungen eine Herausforderung im Pflegealltag dar und gelten oftmals als Empathiebarriere. Damit empathisches Verstehen gefördert werden kann, müssen Pflegende sich selbst, ihre Arbeit und die Organisation ihrer Arbeit kontinuierlich reflektieren und Veränderungen im eigenen Umfeld zulassen. In einem weiteren Schritt kann dann eine Atmosphäre entstehen, in der dem Pflegebedürftigen Wertschätzung und Verständnis entgegengebracht wird. Auch in kurzer Zeit kann dadurch eine Basis für empathisches Verstehen geschaffen werden, die zum Wohlbefinden aller Beteiligten beiträgt. Nahe, wenn auch nicht emotional tiefe, Beziehungen zu Patienten mit einer gewissen Reziprozität (Wechselseitigkeit) nützen nicht nur dem Patienten, sondern können zu hoher Berufszufriedenheit der Pflegenden führen. Die Verbündeten der Pflegenden sind somit die Patienten. Pflegende und Patienten gemeinsam müssen die Bedingungen schaffen, die eine qualitativ hoch stehende, einfühlsame Pflege ermöglichen (Bischoff-Wanner 2002, S. 283). Dazu müssen Kompetenzen im Sinne von Schlüsselqualifikationen nicht nur die empathische Kompetenz in der pflegerischen Bildung gezielt gefördert werden (vgl. Scheu, 2010). Mit ihren Überlegungen hat Bischoff-Wanner den Begriff Empathie vom Kopf auf den Fuß gestellt (Bischoff-Wanner 2002, S. 249). Um Empathie im Prozess einer therapeutischpflegerischen Beziehung zu nutzen, ist es notwendig, diese nun im Pflegealltag zu realisieren und transparent zu machen. Damit leistet empathisches Verstehen auch einen wesentlichen Beitrag, eine professionelle Pflege von Berufsroutine zu unterscheiden. Literaturverzeichnis Bischoff-Wanner, C.: Empathie in der Pflege: Begriffsklärung und Entwicklung eines Rahmenmodells. Bern et al., Huber 2002 (Reihe Pflegewissenschaft) Nightingale, F.: Notes on Nursing. What it is, and what it is not. Dover Publications, Inc
5 Overlander, G.: Die Last des Mitfühlens. Aspekte der Gefühlsregulierung in sozialen Berufen am Beispiel der Krankenpflege. Frankfurt am Main, Mabuse Verlag GmbH 2001 Scheu, P.: Empathie statt Mit-Leid. Ein praktisches Konzept zur Förderung empathischer Kompetenz in der Pflege. Marburg, Tectum Verlag 2010 Wittneben, K.: Pflegekonzepte in der Weiterbildung zur Pflegelehrkraft. Über Voraussetzungen und Perspektiven einer kritisch-konstruktiven Didaktik der Krankenpflege. Europäische Hochschulschriften. Reihe XI. Pädagogik Bd./Vol Frankfurt am Main et al., Verlag Peter Lang
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