Ausdehnung der Seele

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Heidi Tiedeman
vor 6 Jahren
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1 Ausdehnung der Seele

2 Ausgewählt und übersetzt von Miriam Fischer

3 Jean-Luc Nancy Ausdehnung der Seele Texte zu Körper, Kunst und Tanz diaphanes

5 Inhalt 58 Indizien über den Körper 7 Der Lustkörper 25 Alliterationen 31 Befremdliche Fremdkörper 43 Von der ästhetischen Lust 59 Ausdehnung der Seele 73 Textnachweise 87

7 58 Indizien über den Körper 1 Der Körper ist materiell. Er ist dicht. Er ist undurchdringbar. Wenn man in ihn eindringt, zerlegt man ihn, löchert man ihn, zerreißt man ihn. 2 Der Körper ist materiell. Er ist abseits. Von den anderen Körpern verschieden. Ein Körper beginnt und endet gegen einen anderen Körper. Selbst die Leere ist eine sehr subtile Art Körper. 3 Ein Körper ist nicht leer. Er ist voll anderer Körper, voller Stücke, Organe, Teile, Gewebe, Kugelgelenke, Ringe, Röhren, Hebel und Blasebalge. Und er ist voll von sich selbst: das ist alles, was er ist. 4 Ein Körper ist lang, breit, hoch und tief: all dies in mehr oder w eniger großem Maße. Ein Körper ist ausgedehnt. Er berührt mit jeder Seite andere Körper. Ein Körper ist korpulent, selbst wenn er mager ist. 5 Ein Körper ist immateriell. Eine Zeichnung, ein Umriss, eine Idee. 6 Die Seele ist die Form des organisierten Körpers, sagt Aristoteles. Doch der Körper ist genau das, was diese Form hervortreten lässt. Er ist die Form der Form, die Form der Seele. 7

8 58 Indizien über den Körper 7 Die Seele ist durch den ganzen Körper hindurch ausgedehnt, sagt Descartes, sie dehnt sich seine ganze Länge hindurch, ist ganz und gar in ihm, in ihn eingeschmiegt, hineingerutscht, eingesickert, ihn durchtränkend, die Fühler ausstreckend, ihn aufblasend, modellierend, allgegenwärtig. 8 Die Seele ist materiell, aus ganz anderem Material, einem Material, das weder Platz, noch Größe, noch Gewicht hat. Aber sie ist materiell, auf sehr subtile Weise. So entwischt sie dem Blick. 9 Der Körper ist sichtbar, die Seele ist es nicht. Dass ein Gelähmter sein Bein nicht in die richtige Richtung bewegen kann, kann man sehen. Man sieht nicht, dass ein schlechter Mensch seine Seele nicht in die richtige Richtung bewegt: Man muss sich vorstellen, dass das die Folge einer Lähmung der Seele ist. Und dass es gilt, dagegen anzukämpfen und die Seele folgsam zu machen. Das ist die Grundlage der Ethik, mein lieber Nikomachos. 10 Der Körper ist auch das Gefängnis der Seele. Sie verbüßt dort eine Strafe welcher Art, ist nicht leicht zu erkennen, doch sie war schwerwiegend. Deshalb ist der Körper für die Seele sehr drückend und beschwerlich. Er muss verdauen, schlafen, ausscheiden, schwitzen, sich beschmutzen, sich verletzen, krank werden. 11 Die Zähne sind die Gitterstäbe der Dachluke des Gefängnisses. Die Seele flieht in Worten durch den Mund. Doch die Worte sind auch 8

9 58 Indizien über den Körper Ausdünstungen des Körpers, Ausflüsse, leichte Falten der Luft, die aus den Lungen strömt und vom Körper erwärmt wird. 12 Der Körper kann sprechend werden, denkend, träumend und erfindend. Er spürt die ganze Zeit etwas. Er spürt alles, was körperlich ist. Er spürt die Häute und die Steine, Metalle, Kräuter, Wasser und Flammen. Er spürt unablässig. 13 Dennoch ist das, was spürt, die Seele. Und die Seele spürt zuerst den Körper. Sie spürt ihn, der sie enthält und zurückhält, von allen Seiten. Wenn er sie nicht zurückhielte, entwiche sie ganz in dunstigen Worten, die sich am Himmel verlören. 14 Der Körper ist wie ein reiner Geist: Er hängt ganz an sich selbst und in sich selbst, in einem einzigen Punkt. Wenn man diesen Punkt aufbricht, ist der Körper tot. Der Punkt liegt zwischen den Augen, zwischen den Rippen, in der Leber, rings um den Schädel, in der Beinschlagader, und noch an vielen anderen Punkten. Der Körper ist eine Sammlung an Geist. 15 Der Körper ist eine Hülle: Er dient also dazu, zu enthalten, was es anschließend zu entfalten gilt. Die Entfaltung ist endlos. Der endliche Körper enthält das Unendliche, das weder Seele noch Geist ist, sondern die Entwicklung des Körpers. 16 Der Körper ist ein Gefängnis oder ein Gott. Es gibt keine Mitte. Oder aber: die Mitte ist Gehacktes, Anatomie, Geschältes, doch nichts von 9

10 58 Indizien über den Körper alldem macht einen Körper aus. Der Körper ist ein Leichnam oder er ist glorreich. Was Leiche und Körper an Glorie teilen, ist der unbewegliche strahlende Glanz: letzten Endes ist das die Statue. Der Körper vollendet sich als Statue. 17 Körper an Körper, Seite an Seite oder von Angesicht zu Angesicht, aufgereiht oder gegenübergestellt, meist bloß vermischt, sich berührend, haben sie wenig miteinander zu tun. Doch schicken sich die Körper, die eigentlich nichts miteinander austauschen, auf diese Weise Unmengen an Signalen, Mitteilungen, Augenzwinkern oder kennzeichnende Gesten zu. Eine sanftmütige oder unnahbare Haltung, ein Verkrampfen, eine Verführung, ein Zusammensinken, eine Schwere, ein Ausbruch. Dazu alles, was man mit Worten wie»jugend«oder»alter,»arbeit«oder»langeweile«,»kraft«oder»unbeholfenheit«fassen kann Die Körper kreuzen, streifen, drücken einander. Nehmen den Bus, überqueren die Straße, betreten den Supermarkt, steigen ins Auto, stehen Schlange, bis sie an die Reihe kommen, setzen sich im Kino hin, nachdem sie an zehn anderen Körpern vorbeigegangen sind. 18 Der Körper ist bloß eine Seele. Eine runzlige Seele, feist oder hager, behaart oder kahl, rau, geschmeidig, knackend, anmutig, furzend, schillernd, perlmuttern, bekleckert, mit Organdy bedeckt oder in Khaki getarnt, bunt, ölverschmiert, mit Wunden bedeckt, voller Warzen. Er ist eine Akkordeon-, Trompeten-, Bratschenbauch- Seele. 19 Der Hals ist steif und man muss die Herzen ergründen. Die Leberlappen zerschneiden den Kosmos. Die Geschlechter werden feucht. 10

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