1. Orientierung am Evangelium
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- Jan Seidel
- vor 6 Jahren
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1 1. Orientierung am Evangelium Im Lauf der Jahrhunderte hat die katholische Kirche ihre Weise zu glauben nach und nach zu einer Doktrin, einer sakramentalen Praxis und einer kirchlichen Disziplin objektiviert, oft im Gegensatz zu anderen Objektivierungen des Glauben, wie etwa zu denen der Kirchen der Reformation. Geht es nun darum all diese objektiven Vermittlungen des katholischen Glaubens wieder zur Geltung zu bringen? Können sie wirklich den Wunsch und die Lust zu glauben wecken, zumal in einer Epoche, in der alle Institutionen in Frage gestellt werden? Müssen wir nicht weiter zurückgehen...? (Philippe Bacq, in: Frei geben, Ostfildern 2012, 39) Eine Extranummer der Bistumszeitschrift von Poitiers, die praktische Arbeitsblätter für die örtlichen Gemeinden enthält (2007), nennt die Gemeinden Gesichter und Wege des Evangeliums. Die Orientierung am Evangelium beinhaltet Prioritäten. Die erste ist das Leben. Leben soll wieder wie im Ursprung gesegnetes Leben sein. Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und damit sie es in Fülle haben. (Joh 10,10) Eine andere Priorität betrifft das, was Glauben heißt. Eine dritte betrifft die Umkehr, die ständige Wachsamkeit gegenüber Gewohnheit und Routine voraussetzt. Welche konkreten Konsequenzen hat eine solche Orientierung am Evangelium für die Pastoral und für die Gemeinden?
2 2. Kultur des Rufens Die Kultur des Rufens beinhaltet ein anderes Zugehen auf Menschen als das Gewinnen von Ehrenamtlichen für bestimmte Aufgaben und Dienste. Zuerst ist nicht ein Bedarf bestimmend, sondern das Interesse am anderen, an seiner Begabung, an ihrer Idee und Kreativität. Aus diesem Interesse heraus gehen die einen die ein Dienstamt haben und mehrere örtliche Gemeinden begleiten und beraten, ermutigen und immer wieder öffnen, aber auch die im Team für ihre Gemeinde Verantwortung übernommen haben und schließlich alle Getauften auf andere zu und sprechen einander an. Die Aufgabe, für die jemand gesucht wird, kann und soll darüber nicht vergessen werden, aber die Rufenden folgen zuerst ihrem Interesse an der Person des oder der anderen und sind bereit, sich durch die Antwort, die sie bekommen, auf Umwege bringen zu lassen. Einzelne haben Bedeutung. Der Preis einer Kultur des Rufens ist der Verzicht auf schnellen Erfolg und große Zahlen. Das ist befreiend, zumal Menschen ihre Freiheit erst im Augenblick des Antwortens auf einen Ruf erfahren. Was können wir zu einer solchen Kultur des Rufens beitragen? Biblische Arbeit dazu ist lohnend, z.b. die Fragen: Wer ruft? Wen ruft Gott? Gott ruft mit Interesse, mit der Zusicherung seines Mitseins; wozu ruft Gott Menschen? In welcher Situation wird Gott zum Gerufenen? Was bewirkt das Rufen bei Ihm? Wer ruft Jesus? Was bewirkt das Rufen bei Jesus?
3 3. Kultur des Vertrauens Es geht um ein Vertrauen in Menschen, ohne die objektiven Voraussetzungen und Fähigkeiten, die sie mitbringen, oder ihr subjektives Zutrauen zu sich selber zur Bedingung zu machen. Das Vertrauen ist der Hauptschlüssel zu einer wirklichen Erneuerung der Gemeinden. Ohne dieses Vertrauen können Gemeinden in den überall errichteten größeren Einheiten das Leben der alten Pfarrei mit dem Pfarrer in der Nähe vielleicht einigermaßen re-produzieren, aber nichts Neues produzieren, keine wirkliche Veränderung hervorbringen. Wirkliche Ver-änderung kommt vom anderen her, dem oder der Vertrauen geschenkt wird. Dieses Vertrauen hat aber einen Preis: den Verzicht darauf, besseres Wissen geltend zu machen und Einfluss und Kontrolle auszuüben. Solches Vertrauen baut Gemeinschaft und Kirche auf und gilt für alle, auch für die Getauften untereinander. Dieses Vertrauen und die entsprechende Verantwortung sind so Albert Rouet das wichtigste Geschenk der Gemeinden an die Gesellschaft. Was können wir zur Kultur eines solchen Vertrauens beitragen? Es geht darum, aufmerksam zu werden für alles, was uns geschenkt wird, und in Dankbarkeit dafür selber etwas zu schenken: Vertrauen. Wo von mir nur Vertrauen erwartet oder verlangt wird, kann ich schwerlich Vertrauen schenken. Welche Konsequenzen würde eine Kultur des Vertrauens für unser Verständnis und unsere Praxis von Gemeindeleitung haben? Was trauen wir dem anderen zu?
4 4. Dynamik der Nähe Die Dynamik der Nähe ist eine Dynamik der Schwäche und Angewiesenheit, die örtliche Gemeinden von der Pfarrei unterscheidet. Pfarrei das heißt immer auch Unabhängigkeit und Stolz aufgrund von Besitz, Größe, Gremien und Gruppen. Aber zuerst ist es nicht die eigene Kraft und Stärke, auf die Christen vertrauen. Der Stolz, niemanden zu brauchen, allein oder auch als Gemeinschaft, widerspricht der Tatsache, dass Menschen zuerst aus dem leben, was sie empfangen. Diese offene Stelle, die Schwäche der Angewiesenheit ist gerade die Stärke der örtlichen Gemeinden: Sie sehen in ihrem Mangel einen Weg, auf dem sie mit anderen Suche und Fragen teilen und mit denen mitgehen, die unsicher sind in ihrem Hoffen und Glauben. Sie suchen die Nähe der Nachbarn, sind präsent in den alltäglichen Ereignissen in ihrem Wohngebiet, tasten nach dem ihnen gemäßen Ausdruck in Gebet und Verkündigung. Ihr Interesse am Leben, das bedroht ist, führt sie in die Nähe der Menschen, wo immer diese sind. Zugleich sind sie angewiesen auf andere und strecken die Hände nach ihnen aus. Sie vertrauen anderen ihr Verlangen nach ihnen an und rufen sie, um mit ihnen ihre Hoffnung zu teilen. Es geht also nicht darum, wie viele Leute die Pfarrei erreicht, wie viele Gruppen und Aktivitäten sie vorweist?! Dann müssen wir eine völlige Kehrtwende vollziehen! Wie können wir ein solches Bewusstsein der Unvollständigkeit, ein Sich- Ausstrecken nach den anderen, in unseren Pfarreien einüben? Was können wir dazu tun, dass wir nicht mehr nur fragen, wie andere sich bei uns zu Hause fühlen können, sondern dass wir an ihre Türen klopfen, weil wir bei ihnen zu Gast sein möchten? Suchen wir andere, weil uns ihre einzigartige Begabung fehlt? Ja, fehlt uns der andere, so wie uns ein geliebter Mensch fehlt?
5 5. Priorität der Personen Von den Menschen ausgehen, nicht von den Strukturen und den von ihnen her vorgegebenen Funktionen. Die Bildung einer örtlichen Gemeinde geht nicht davon aus, die Fläche gemäß der Entwicklung der Zahlen von Priestern und Kirchenmitgliedern aufzuteilen. Ausgangspunkt sind vielmehr Personen, die bereit sind, mit anderen für das Leben der Kirche zu sorgen. Was braucht die Kirche, um zu leben? Dass das Evangelium in Wort und Tat gegenwärtig ist: die Botschaft Jesu von dem bedingungslosen Interesse Gottes am Leben der Menschen; dass Menschen einander beistehen, wenn ihr Leben beeinträchtigt wird und nicht mehr glücklich und mit Freude gelebt werden kann; und dass Menschen gemeinsam ihr Leben in Dank und Bitte vor Gott tragen. Die Kirche braucht also, um zu leben, wenigstens drei Menschen, die in besonderer Weise auf Verkündigung, Nächstendienst und Gebet achten, und zwei, die besonders auf das Zusammenspiel der Verantwortlichen und ihrer Aktivitäten in den drei Grunddimensionen achten und auf die materiellen Mittel, die dafür gebraucht werden. Von den Menschen her denken, heißt, dass die Personen den Vorrang haben, und nicht die Leistungen, die sie vorweisen oder nicht. Am Ende des Mandats der Teams werden nicht seine Erfolge und Misserfolge aufgelistet, sondern es geht um die Frage: Was hat meine Verantwortung in diesen drei Jahren mit mir gemacht? Wie habe ich mich dadurch verändert? Was habe ich von mir selbst dabei entdeckt? Gerufen zu werden gibt mir ja zuallererst die Chance, mehr ich selber zu werden. Diese Entdeckung der Bereicherung, die ich selber erfahren habe, wirkt sich in dem Wunsch aus, dass andere eine ähnliche Erfahrung machen können. Entfaltung der Einzelnen und Ausstrahlung der Gemeinden können sich also wechselseitig verstärken.
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