1.3 Bedeutung von Mehrsprachigkeit
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- Helmut Winkler
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2 1.3 Bedeutung von Mehrsprachigkeit 17 führt: Im Falle von zwei unterschiedlichen Standardsprachen spricht man von äußerer Mehrsprachigkeit, im Falle von Varianten einer Sprache (wie Dialekte oder Soziolekte) von innerer Mehrsprachigkeit. Dieser Begriff geht auf Wandruszka (1979) zurück und beschreibt damit ein dynamisches Polysystem [ ], in dem die Sprachen verschiedener Sprachgemeinschaften, der verschiedenen Lebenskreise, denen wir angehören, ineinandergreifen und sich vermischen (ebd.:314). Die Problematik der inneren Mehrsprachigkeit findet sich bei sehr vielen Dialektsprechern, die ihren Dialekt und die Standardsprache in verschiedenen Kontexten abwechselnd gebrauchen. Worin besteht nun der Unterschied zwischen Mehrsprachigkeit in verschiedenen Sprachen und Mehrsprachigkeit in einer Sprache und einem ihr zugehörigen Dialekt? Der Unterschied besteht im Wesentlichen im Prestige, aber auch im Abstand zwischen den Sprachsystemen. Dialekt kann definiert werden als eine regional bestimmbare Varietät einer Sprache, die von einer sprachsoziologisch höher stehenden Varietät überdacht ist. Diese ist in der Regel eine Verkehrsoder Standardsprache. Demnach kann also der Begriff,Dialekt nicht mit rein linguistischen Kriterien bestimmt werden, sondern wird weitgehend soziolinguistisch festgelegt. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass durch die nahe Verwandtschaft der Varietäten miteinander sehr viele homophone das bedeutet in beiden Sprachen gleich lautende Wörter zu finden sind. Auch ein Großteil der grammatischen Strukturen sind gleich, so dass es viele Überlappungen gibt und die Sprecher damit weniger Varianten speichern müssen als bei typologisch sehr verschiedenen Sprachsystemen wie etwa Deutsch und Chinesisch. Dies äußert sich dann auch in vielen 1:1-Übersetzungen: viele idiomatische Wendungen, die es nur im Dialekt gibt, werden dann einfach direkt in den Standard übersetzt: vgl. das haue ich dann in die Waschmaschine rein (etwa:,das gebe ich dann einfach in die Waschmaschine ) als wörtliche Übersetzung aus dem Bairischen. Hall/Cheng/Carlson (2006) gehen deshalb davon aus, dass äußere Mehrsprachigkeit nur ein Spezialfall von einem variablen Gebrauch von Sprache ist. Die Unterschiede zwischen Sprechern bestehen nach ihrer Auffassung nicht in der Zahl der Sprachen, die sie sprechen, sondern in der Anzahl und Verschiedenheit von Spracherfahrungen und Verwendungskontexten. Sprecher von mehreren verschiedenen Sprachen haben demnach kommunikative Erfahrungen, die sich sehr stark voneinander unterscheiden. Individuen, die in hohem Maße in vielen kommunikativen Kontexten in mehreren Sprachen agieren können, bezeichnen Hall/Cheng/Carlson (ebd.:233) als multi-contextual communicative expert[s]. Dialekt und innere Mehrsprachigkeit Mehrsprachigkeit und kommunikative Kontexte 1.3 Bedeutung von Mehrsprachigkeit Neben diesen gerade beschriebenen Vorteilen in vielen verschiedenen Konstellationen kommunizieren zu können, hat Mehrsprachigkeit auch eine zentrale Bedeutung für das mehrsprachige Individuum selbst und für die Gesellschaft. Betrachtet man den Wert, den Mehrsprachigkeit für den einzelnen Sprecher hat, sind die folgenden Aspekte zu berücksichtigen: Bedeutung für das Individuum
3 18 1 Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? * der psychologische Aspekt * der soziale Aspekt * der kognitive Aspekt Bedeutung für die Gesellschaft Der psychologische Aspekt betrifft die Funktion der Sprache für die Identitätsbildung der Sprecher: Viele Sprecher benutzen ihre,muttersprache (= L1) oder einen Dialekt als Zeichen ihrer ethnischen Identität und als Zeichen der Gruppenzugehörigkeit. Diese Sprache oder Varietät hat daher meist eine andere Bedeutung als die Zweitsprache oder eine andere nach der Kindheit gelernte Sprache. Wenn diese emotional besetzte Erstsprache in einer Minderheitensituation von der Mehrheitsbevölkerung nicht geachtet oder als minderwertig abgetan wird, verletzt es das Selbstbewusstsein der Herkunftssprachensprecher und bringt sie in ein Dilemma, das bis zur Ablehnung ihrer,muttersprache führen kann. Unter dem sozialen Gesichtspunkt ist anzumerken, dass Sprache Individuen befähigt, einander zu lesen. Hier geht es weniger um die Kenntnis grammatischer Strukturen als um das Verstehen von kommunikativen Routinen und Verhaltensweisen. Da der Erwerb einer Sprache auch immer mit dem Erwerb von kommunikativem Verhalten einhergeht, können Mehrsprachige eine größere Zahl an Sprechern auf diese Weise verstehen. Dazu ist es aber, wie Franceschini (2009:28) richtig betont, notwendig, Sprachen in ihrer natürlichen Umgebung und im Umgang mit anderen Sprechern zu erwerben. Was den kognitiven Aspekt angeht, so besitzen Mehrsprachige ein differenziertes Bewusstsein von Sprache und andere Fertigkeiten, die ihnen auch das Erlernen weiterer Sprachen erleichtern, z.b. die Fähigkeit zu paraphrasieren oder zwischen den Sprachen zu wechseln. Sie haben auch kognitive Vorteile, die über das rein Sprachliche hinausgehen, nämlich eine stärkere Fähigkeit zur Aufmerksamkeitskontrolle. Darüber hinaus verfügen sie über ein kreatives Potential, was auch in Kreativitätstests belegt werden kann (vgl. dazu 3.4 und 3.5). Mehrsprachigkeit besitzt auch eine entscheidende Bedeutung für die Gesellschaft durch die weltweite Vernetzung in der Kommunikation. Dabei ist die Beherrschung der Lingua Franca Englisch alleine nicht ausreichend. Denn viele kommunikative Routinen unterscheiden sich kulturspezifisch sehr stark, so dass man immer die Verzahnung von Sprache und Kultur einbeziehen muss. Je mehr Sprachen man beherrscht, desto mehr hat man auch Einblick in andere Kulturen, und das erhöht die interkulturelle Kompetenz bzw. die Flexibilität, Perspektiven zu wechseln. Mehrsprachigkeit ist damit auch ein gesellschaftliches Kapital (vgl. auch Roche 2013b:180ff.): * Sprachenvielfalt im eigenen Land erleichtert und fördert Wirtschaftsbeziehungen. Für internationale Unternehmen und Organisationen zählt zweiund mehrsprachiges Personal als wichtiger Standortfaktor (vgl. Bericht Wettbewerbsfähiger durch Sprachkenntnisse * Politisch gesehen haben Mehrsprachige eine Brückenfunktion als Vermittler zwischen verschiedenen Kulturen. Mit der Sprache lernt man auch Sichtweisen, kommunikatives Handeln und kulturell geprägte Konzepte kennen. Man lernt daher auch ein Stück weit, andere Kulturen zu verstehen und damit auch eine gewisse Toleranz.
4 1.4 Aufbau und Themen des Buches 19 * Auch das bereits erwähnte kreative Potential mehrsprachiger Sprecher und Gruppen kann positiv für die Gesellschaft genutzt werden. Aufgrund dieser gerade beschriebenen Aspekte bildet Mehrsprachigkeit eine wichtige natürliche Ressource in einer globalisierten Gesellschaft und muss daher entsprechend gefördert werden. Das betrifft besonders das Potential, das viele Kinder aus mehrsprachigen Familien mitbringen, und das aufgrund der geringen Wertschätzung verschiedener Herkunftssprachen nicht als bildungsrelevant bezeichnet wird (vgl. Brizić 2007). In Großstädten haben bereits über 30% der Schülerinnen und Schüler einen anderssprachigen Hintergrund, in Ballungsräumen sogar 65% (vgl. Daher ist es wichtig für Pädagogen und Lehrkräfte, die Bedingungen und Grundlagen von Mehrsprachigkeit zu kennen. Sie sollen über Kenntnisse verfügen, wie das mehrsprachige Gehirn aufgebaut ist und welche Formen von Mehrsprachigkeit es gibt. Außerdem sollen sie wissen, worin die Unterschiede von einsprachigen und mehrsprachigen Menschen bestehen und dass das System nicht fehlerhaft ist, wenn man die Sprachen mischt. Gleichzeitig ist es wichtig, ein Wissen darüber zu haben, welche Bedeutung die Förderung der Erstsprache auch für die Kompetenzen in der Zweitsprache haben kann und welche Bedeutung Mehrschriftlichkeit für die Schülerinnen und Schüler hat. Bedeutung für Pädagogen 1.4 Aufbau und Themen des Buches Dieses Einführungsbuch möchte nun die verschiedenen Aspekte der Mehrsprachigkeit dem Leser näher bringen und die verschiedenen Facetten der Mehrsprachigkeitsforschung beleuchten. Die Einführung startet mit einer Darstellung der Methoden der Mehrsprachigkeitsforschung und vermittelt einen Einblick über die verschiedenen Herangehensweisen der Forschung an das Thema Mehrsprachigkeit (Kap. 2). In einem weiteren Kapitel (Kap. 3) werden dann die kognitiven und neuronalen Grundlagen von Mehrsprachigkeit vorgestellt: die Repräsentation von mehreren Sprachen im Gehirn, die Vernetzung der Sprachen und die bilinguale Sprachproduktion sowie kognitive Vorteile mehrsprachiger Sprecher. Nach den Grundlagen mehrsprachiger Individuen rücken schließlich die gesellschaftspolitischen Bedingungen von Mehrsprachigkeit in den Fokus (Kap. 4). Dabei wird zum einen die Verteilung der Sprachen in mehrsprachigen Sprechergruppen erläutert, und danach werden sprachpolitische Voraussetzungen wie Sprachideologien und die Sichtbarkeit von Sprachen diskutiert. Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Betrachtung von Mehrsprachigkeit ist die individuelle Mehrsprachigkeit im Laufe des Lebens: In Kap. 5 wird daher vorgestellt, wie man Sprachen erlernen aber auch wieder vergessen kann. Nach diesen Grundlagen wird schließlich auf die konkreten sprachlichen Ausprägungen mehrsprachigen Sprechens eingegangen: Sprachmischungen, Code-Switching und Code-Mixing, aber auch Mischsprachen als Ergebnisse bilingualen Sprechens sind Thema in Kap. 6. Ein weiterer Aspekt, der in unserer globalisierten Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt, ist Mehrsprachigkeit im schriftlichen Medium. Dieser Aspekt wird in Kap. 7 unter dem Stichwort
5 20 1 Einleitung: Was ist Mehrsprachigkeit? Mehrschriftlichkeit diskutiert und gezeigt, welche Komponenten beim Aufbau von schriftsprachlicher Kompetenz in mehreren Sprachen nötig sind. Die Einführung schließt mit einem Ausblick auf Mehrsprachigkeit im deutschen Bildungssystem (Kap. 8).
6 2 Methoden der Mehrsprachigkeitsforschung Im Bereich der Methoden unterscheidet man zunächst grundsätzlich zwischen beschreibenden und experimentellen Herangehensweisen. In einer beschreibenden Studie werden die Sprecher auf verschiedene Weise beobachtet. Ein ganz einfaches Beispiel wäre, wenn man ein zweisprachig aufwachsendes Kind beim Spielen auf dem Spielplatz beobachtet und dabei die Wörter aufschreibt, die es in den beiden Sprachen verwendet. Beschreibende Verfahren sind aber auch Studien, die auf Daten aus Fragebögen oder Interviews beruhen. Bei den experimentellen Methoden werden dagegen bestimmte Variablen manipuliert. Ein Beispiel sind etwa Bildbenennungen: Man zeigt zweisprachigen Personen Bilder in L1 und L2 und vergleicht dabei die Reaktionszeiten. Hier kann man verschiedene Variablen kontrollieren, z.b. die Wortfrequenz oder -länge. Damit hat man eine bessere Kontrolle über kognitive Prozesse. 2.1 Qualitative und quantitative Methoden / Langzeit vs. Querschnitt Qualitative Studien zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich meist auf eine kleine Gruppe beziehen, die sich aus für den Untersuchungsgegenstand typischen Vertretern zusammensetzt. Bei der Analyse wird mit Hilfe der Interpretation der Daten versucht, das Verhalten der beobachteten Personen zu erklären. Ziel der qualitativen Forschung ist es, mögliche Ursachen für das Verhalten der Gewährspersonen nachzuvollziehen und ihr Verhalten zu verstehen. Dies bezieht sich in unserem Falle besonders auf das Sprachverhalten, die Verwendung bestimmter Sprachen in bestimmten Situationen sowie Phänomene der Sprachmischung. Dabei können aber keine verallgemeinerbaren Aussagen gemacht werden. Qualitative Studien werden v.a. dann herangezogen, wenn man etwa die Sprachbiographie von Probanden analysieren will, oder auch wenn man frühkindliche Mehrsprachigkeit erforschen möchte, da man hier die Kinder über einen längeren Zeitraum beobachten muss. Bei der quantitativen Methode wird im Allgemeinen eine möglichst große und repräsentative Zufallsstichprobe befragt oder im Experiment getestet. Dann werden die zahlenmäßigen Ausprägungen eines oder mehrerer bestimmter Merkmale gemessen. Diese Messwerte werden miteinander oder mit anderen Variablen in Beziehung gesetzt und die Ergebnisse dann generalisiert. Häufig wird auch eine vorher aufgestellte Hypothese anhand der Daten überprüft. Um gleiche Voraussetzungen für die Entstehung der Messwerte innerhalb einer Studie zu gewährleisten, sind die quantitativen Methoden meist standardisiert und strukturiert, d.h. jeder Proband bekommt die gleichen Voraussetzungen bei der Beantwortung der Fragen Qualitative Studien Quantitative Methode
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