Andrea Nahles Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Gedenkrede
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- Friedrich Bergmann
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1 Andrea Nahles Bundesministerin für Arbeit und Soziales Gedenkrede anlässlich der Gedenkveranstaltung der Bundesregierung zum 62. Jahrestag des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 am 17. Juni 2015 in Berlin Redezeit: 10 Min. Gesperrt bis zum Beginn - Es gilt das gesprochene Wort!
2 - 2 - Exzellenzen, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister Müller, sehr geehrter Herr Präsident Wieland (des Abgeordnetenhauses von Berlin), sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Pau (des Deutschen Bundestages), sehr geehrter Herr Vizepräsident Gram (des Abgeordnetenhauses von Berlin), sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete (des Deutschen Bundestages und des Abgeordnetenhauses von Berlin), sehr geehrter Herr Dr. Mäder (offizieller Vertreter der Vereinigung 17. Juni 1953 e.v.), liebe Angehörige der Opfer und Vertreter der Opferorganisationen, liebe Schülerinnen und Schüler (der Ernst-Schering-Oberschule, der Schule am Schillerpark und des Lessing-Gymnasiums), meine sehr geehrten Damen und Herren, 2015 ist ein besonderes Gedenkjahr für Deutschland: Vor 70 Jahren setzte die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches den Schrecken des Zweiten Weltkriegs ein Ende. Vor 25 Jahren trat die Deutsche Demokratische Republik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bei. Heute begehen wir den 62. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni Weder die Bedeutung des 3. Oktober 1990 noch die des 17. Juni 1953 ist zu verstehen ohne die tiefe Zäsur des 8. Mai Denn dieser Tag markierte nicht nur den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und die totale Niederlage des Deutschen Reiches. Sondern er bedeutete auch das vorläufige Ende der Einheit Deutschlands. Die Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 besiegelte die Aufteilung in vier Besatzungszonen. Die Entwicklung in den drei westlichen Besatzungszonen und im Westteil Berlins nahm daraufhin einen ganz anderen Verlauf als in der Sowjetischen Besatzungszone. Deutschland und Europa waren geteilt in einen westlichen freien und einen östlichen unfreien Teil. Ob die Deutschen jemals wieder in einem einheitlichen Staat zusammenleben würden, war mehr als ungewiss. Der Historiker Heinrich August Winkler hat in seiner Gedenkrede zum 70. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2015 im Bundestag die Deutschen ermahnt, die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nicht als abgeschlossen zu betrachten: Jede Generation wird ihren eigenen Zugang zum Verständnis einer so widerspruchsvollen Geschichte wie der deutschen suchen. Es gibt viel Gelungenes in dieser Geschichte, nicht zuletzt in der Zeit nach 1945, über das sich die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutsch-
3 - 3 - land freuen und worauf sie stolz sein können. Aber die Aneignung dieser Geschichte muss auch die Bereitschaft einschließen, sich den dunklen Seiten der Vergangenheit zu stellen.[ ] Zur Verantwortung für das eigene Land gehört immer auch der Wille, sich der Geschichte dieses Landes im Ganzen bewusst zu werden. Dunkle Seiten der Vergangenheit, helle Seite der Vergangenheit - der 17. Juni 1953 führt uns mitten hinein in das Auf und Ab der deutschen Geschichte. Ich möchte Sie heute einladen, den 17. Juni 1953 als das - im Winklerschen Sinne - Gelungene zu begreifen. Als eines der Ereignisse in der Zeit nach 1945, worauf wir, die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland, auch stolz sein können. Das klingt zunächst paradox. Denn unser Blick auf die Ereignisse des 17. Juni 1953 ist geprägt von seinem tragischen Ausgang: dem Scheitern des Aufstandes. Am 17. Juni 1953, nur acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges rollten wieder Panzer durch die Straßen von Berlin. Es wurde geschossen. Es gab Schwerverletzte und Tote. Viele Tausend Menschen bezahlten ihren Mut, für ihre Freiheitsrechte auf die Straße zu gehen, mit großen Opfern. Es gab zahlreiche Gefangennahmen; Verurteilungen und Hinrichtungen folgten in den Tagen und Monaten danach. Wie hoch genau die Zahl der Toten ist, das weiß bis heute niemand. Auch die Zahl all jener, deren gesamte Biographie von den traumatischen Ereignissen des Juni 1953 geprägt worden ist, haben wir nie erfahren. Dieser tragische Ausgang, das ist die dunkle Seite der Geschichte. Die Seite, die wir nicht vergessen können und die wir auch nicht vergessen wollen. Die uns zur Erinnerung mahnt, zum Respekt vor den Frauen und Männern des 17. Juni. Die uns auffordert, uns überall auf der Welt für die Opfer von Gewalt und Unterdrückung einzusetzen. Die uns lehrt, für unsere Werte einzustehen und sie gegen Angriffe entschlossen zu verteidigen. Und die uns einlädt, uns immer wieder auch darüber zu freuen, dass wir heute in einem freien, demokratischen und vereinten Deutschland leben. Das ist nicht selbstverständlich. Aber es gibt auch die andere, die helle Seite des 17. Juni. Die uns stolz sein lässt. Sie können wir heute - aus der Distanz und auch in Kenntnis der Ereignisse vom Herbst klarer und unbefangener sehen und beurteilen: Es ist der spontane und bedingungslose Einsatz der Menschen in der DDR für Demokratie, Freiheit und Recht; die Erfahrung von Widerstand und Aufstand gegen eine Diktatur; das Gefühl von Aufbruch und Neuanfang. In einem Originalbericht [Autor unbekannt] über den Verlauf der Ereignisse in Görlitz an der Oder-Neiße-Grenze lesen wir:
4 - 4 - [ ] die gesamte Stadt ist im Aufbruch. Da marschieren sie gemeinsam Schulter an Schulter: die Schlosser der LOWA-[Werke] neben dem kleinen Gewerbetreibenden, der Arzt neben dem Koch aus dem HO-Hotel, der Angestellte neben dem Handwerker, die Verkäuferin neben dem Rechtsanwalt. Und weiter heißt es: Ein vorher nie gekanntes Gefühlt der Gemeinsamkeit, der Solidarität hat alle ergriffen. Alle spüren, unseren Marsch kann keiner mehr aufhalten. Das ist der Anbruch der neuen Zeit für die Ostzone. Zweifellos bildeten die Aktionen der Arbeiter den Auslöser, ohne den vermutlich eine DDR-weite Erhebung gar nicht stattgefunden hätte. Aber der Ärger über erfahrenes Unrecht und unhaltbare Zustände erfasste schnell auch die ländliche Bevölkerung und die bürgerlichen Schichten. Der Arbeiter- ging in einen Volksaufstand über. Zu den sozialen Ursachen des Protests kamen die politischen Forderungen aller Aufständischen: Ablösung Ulbrichts, freie und geheime Wahlen, Wiedervereinigung. Bundespräsident Rau hat in seiner Rede zum 50. Jahrestag den 17. Juni 1953 als einen der großen Tage deutscher Freiheitsgeschichte bezeichnet. Und in der Tat: Der 17. Juni 1953 war für die Deutschen - für alle Deutschen - auch ein Tag der Befreiung. Befreiung von den Fehlern der Vergangenheit, von der eigenen Unzulänglichkeit. Am 18. Juni 1953 schrieb die New York Times: Wir wissen jetzt und die Welt weiß es, dass in dem deutschen Volk ein Mut und ein Geist leben, die die Unterdrückung nicht ewig dulden werden. Und auf einer Massenkundgebung in Paris Anfang Juli 1953, die sich mit den Männern und Frauen des 17. Juni solidarisierte, rief einer der Redner aus: Die Arbeiter von Ostberlin haben Deutschland seine Würde wiedergegeben. Acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begehrten die Menschen in der DDR auf. Die gleichen Deutschen, die die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten nicht nur hingenommen, sondern vielfach auch gestützt hatten, riefen: Wir wollen frei und keine Sklaven sein. Sie zeigten damit sich und der ganzen Welt: Auch Deutsche können Widerstand! Das war ein Bruch, eine Wende weg von den Erfahrungen der Jahre 1933 bis 1945 hin zu den Werten und politischen Ideen des Westens. Selten waren sich Ost- und Westdeutsche so nah, wie in den Tagen nach der Niederschlagung des Aufstandes. Millionen Westdeutsche äußerten ihr Mitgefühl und ihre Solidarität mit den Nachbarn im Osten. Fünf Tage nach dem Ausbruch des Volksaufstands benannte der Berliner Senat die Straße zwischen dem Brandenburger Tor
5 - 5 - und der Siegessäule in Straße des 17. Juni um. Und im August 1953 erklärte die westdeutsche Regierung den 17. Juni zum Tag der deutschen Einheit und zum gesetzlichen Feiertag in der Bundesrepublik Deutschland. Man war sich damals einig, dass die Deutschen in der DDR eine Revolution gemacht hatten, wie sie der deutschen Geschichte bisher fremd gewesen war: gegen den Terror und die Ausbeutung und für Freiheit, Demokratie und Recht. Und nicht zuletzt: Für die Wiedervereinigung Deutschlands. Dass die deutsche Teilung 40 Jahre dauern würde, war für die meisten Deutschen damals unvorstellbar. Der 17. Juni ein stolzer Tag der deutschen Geschichte: Diese Sichtweise ist freilich erst heute möglich. Für die Aufständischen folgte auf die erste Euphorie eine Welle von Verhaftungen und Schikanen. Wut und Enttäuschung über die Niederlage gegen die Staatsmacht schlugen bald in Angst um. Die Zahl der sogenannten Republikflüchtlinge war nie so hoch wie in den Jahren nach Den Machthabern und ihrem Repressionsapparat gelang es, die Menschen weitgehend mundtot zu machen, ihren Freiheitswillen zu brechen und die Erinnerung an die Ereignisse des 17. Juni zu marginalisieren, ja vielleicht sogar ganz zu ersticken. Insofern wäre es falsch, allzu selbstsicher den Herbst 1989 in eine Kontinuitätslinie mit dem Juni 1953 zu stellen. Denn die meisten Zeitzeugen sahen diesen Zusammenhang nicht. Aber es gibt Gemeinsamkeiten: In beiden Fällen waren es spontane Aufbrüche. Friedlich, euphorisch und auf sympathische Weise unorganisiert. Und es war 1989 wieder der Ruf nach Freiheit und Demokratie, der diesmal tatsächlich die Macht hatte, Mauern zum Einstürzen zu bringen. Und der Freiheit und Einheit in Einklang brachte. In Deutschland und in Europa. Das Gelungene der deutschen Nachkriegsgeschichte ist hier zu finden, in diesen beiden großen Freiheitsbewegungen der Frauen und Männer in der DDR. Wir sind alle in der Verantwortung, die Erinnerungen und Verdienste dieser Menschen im Bewusstsein zu halten. Und sie weiterzugeben an die nächste Generation. Als vor 25 Jahren die Wiedervereinigung Wirklichkeit wurde, haben wir unterschätzt, wie lange es dauern würde, bis die Deutschen wieder zu einem Volk zusammenwachsen.
6 - 6 - Heute können wir sagen: Die deutsche Einheit gelingt. Die deutsch-deutschen Unterschiede haben deutlich abgenommen. Auch wenn sich bestimmte Mentalitätsunterschiede bis heute noch halten, gleichen sich die Lebensumstände und auch die Wertvorstellungen in Ost und West zunehmend an. Deutschland ist auf einem guten Weg, die innere Einheit zu vollenden. Wir wollen die Erinnerung an den 17. Juni 1953 nicht zuletzt deshalb bewahren, um uns immer wieder zu vergewissern, was die Menschen in der DDR errungen haben - errungen, wonach sich Menschen in vielen Ländern der Welt noch immer sehnen. Unsere Gedanken sind bei den Menschen in der Ukraine, in Syrien, im Irak und auch in Afghanistan und Nigeria. Dieser Friedhof dient uns heute als Erinnerungsort, weil einige Opfer vom 17. Juni 1953 hier ihre letzte Ruhe gefunden haben. Wir verneigen uns vor den Männern und Frauen des 17. Juni. Ihnen und ihren Angehörigen gilt unsere Anerkennung und unser Dank.
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