Die Situation von intersexuell geborenen Kindern in Deutschland. Claudia Kittel Leiterin Monitoring-Stelle UN-KRK
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- Berthold Böhm
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1 Die Situation von intersexuell geborenen Kindern in Deutschland Claudia Kittel Leiterin Monitoring-Stelle UN-KRK
2 Ich möchte erreichen 1. dass Sie einen Begriff von Intersex* bekommen 2. dass Sie wissen, welche Rechte intersexuell geborene Kinder in Deutschland haben 3. dass Sie eine Idee davon bekommen, wie diese Rechte dazu genutzt werden können, den Lebensalltag der betroffenen Kinder zu verbessern.
3 1. Intersex* Versuch einer Begriffsbestimmung Montag, 20. Februar
4 Intersex*-Definitionen Man spricht von Intersexualität, wenn bei einem Menschen die körperlichen Geschlechtsmerkmale (z.b. Genitalien, Chromosomen oder das Mengenverhältnis der Hormone) nicht alle einem Geschlecht entsprechen (vgl. Schweizer, Katinka / Richter-Appelt, Hertha 2010).
5 Intersex*-Definitionen Medizinische Klassifikation ICD-10-GM-2014 (WHO) Sexualdifferenzierungsstörung DSD (Disorders of Sexual Development) *Interessenvertretungen Betroffener lehnen diese Klassifizierung ab
6 Intersex*-Definitionen Variationen der genetischen, gonadalen, hormonalen und genitalen Beschaffenheit eines Menschen (vgl. Krämer/Sabisch 2016)
7 Prävalenz Schätzungen zufolge ist jedes Kind intersexuell. Daraus ergibt sich für Deutschland eine Schätzung von ca. 340 neugeborenen intersexuellen Kindern pro Jahr. Die Schätzung zur Gesamtzahl aller in Deutschland lebenden Intersexuellen, die nach DSD klassifiziert sind, variiert zwischen bis Menschen. *Quelle: Parallelbericht des Verein Intersexuelle Menschen e.v. zu CEDAW aus 2008
8 Personenstandsgesetz PStG 22 Abs. 3 [neu aus 2013] Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.
9 Kosmetische Operationen Ziel von geschlechtszuweisenden Operationen ist, einen möglichst eindeutig weiblichen oder männlichen Körper mittels der äußeren Geschlechtsmerkmale des Kindes zu erreichen. Die kosmetischen Operationen sind abzugrenzen von medizinisch indizierten Eingriffen, die bspw. lebenswichtige Körperfunktionen erhalten, stabilisieren oder überhaupt herstellen sollen. *Hier streiten sich die Geister, wann genau dies der Fall ist
10 Geschlechtszuweisende Operationen Die meist irreversible Vereindeutigung der äußeren Geschlechtsteile und die damit verbundenen kosmetischen Operationen können eine Verkleinerung der Klitoris beinhalten, die zur Unempfindsamkeit dieser führen kann oder sie umfassen die komplette Konstruktion eines Penis oder einer Vagina. In diesen Fällen erstrecken sich zahlreiche Eingriffe über mehrere Jahre, die unter Vollnarkose erfolgen und mit dem daraus resultierenden Wundheilungsprozess für das Kind verbunden sind.
11 Warum Operationen? Theorien der 1950er Jahre gingen davon aus, dass die Geschlechtsidentität eines Menschen hauptsächlich sozial geprägt sei und man diese in den ersten Lebensjahren noch formen könne (vgl. Money 1955). Ausgehend davon wollte man den intersexuell geborenen Kindern den Weg ebenen, eine eindeutig weibliche oder männliche Geschlechtsidentität entwickeln zu können. Ein Handeln im Sinne des Kindeswohls?
12 Geschlechtsidentität heute Geschlechtsidentität bedeutet das subjektive Gefühl eines Menschen, sich als Frau oder Mann zu erleben. Die Entwicklung der Geschlechtsidentität wird dabei als jahrelanger Prozess verstanden (der keineswegs mit dem 3. Lebensjahr abgeschlossen ist). Darüber hinaus kann das Identitätserleben sehr viel vielfältiger ausfallen als ausschließlich männlich oder weiblich (vgl. Richter-Apelt 2012).
13 Und trotzdem Operationen? Aus der Stellungnahme der BÄK: Die vorliegende Stellungnahme basiert auf der Überzeugung, dass ein angemessener Umgang mit DSD nur möglich ist, wenn solche Traumatisierungen [wie sie von Betroffenen aufgrund der optimal gender policy in Form geschlechtszuweisender Operationen kritisiert wurden] in Zukunft so weit wie möglich verhindert wird. Denn es gehört zur Aufgabe der Medizin, die Rechte der Betroffenen zu beachten und sich für einen aufgeklärten Umgang mit DSD einzusetzen. (Deutsches Ärzteblatt 2015, S.2)
14 Ich möchte erreichen 1. dass Sie einen Begriff von Intersex* bekommen. 2. dass Sie wissen, welche Rechte intersexuell geborenen Kindern in Deutschland haben. 3. dass Sie eine Idee davon bekommen, wie diese Rechte dazu genutzt werden können, den Lebensalltag der betroffenen Kinder zu verbessern.
15 2. Intersex* & Menschenrechte Advocacy für die Rechte von intersexuellen Menschen 15
16 Menschenrechtsverträge 1. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) 2. Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) 3. Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1965) 4. Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1979) 5. Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafe (1984) 6. Übereinkommen über die Rechte des Kindes (1989) 7. Internationales Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeiter und ihrer Familienangehörigen (2003) 8. Behindertenrechtskonvention (2006) 9. Konvention gegen Verschwindenlassen (2006)
17 Kernprinzipien der Menschenrechte Menschenrechte sind unveräußerlich, d.h. niemand kann sie verlieren, denn sie sind an die menschliche Existenz geknüpft. Menschenrechte sind universell, d.h. sie gelten für alle Menschen ohne Unterschiede weltweit. Menschenrechte sind unteilbar, bedingen einander und sind miteinander verknüpft. Kein Recht ist wichtiger als das andere.
18 Staatenpflicht zur Umsetzung Die Achtungspflicht fordert, dass der Staat Kinder nicht an der Ausübung ihrer Rechte hindert. Schutzpflichten betreffen den Schutz von vor Übergriffen durch Dritte (auch ihre Eltern) oder wirtschaftliche Ausbeutung. Gewährleistungspflichten beziehen sich auf alle weiteren Maßnahmen zur Umsetzung der Kinderrechte wie z.b. Rechtsbehelfe, Infrastrukturmaßnahmen und soziale Leistungen.
19 Schattenberichte bei der UN Von den NGOs (Betroffenen- und andere Organisationen) wurden Schattenberichte an folgende Treaty Bodies (inkl. Menschenrechtsrat mit UPR) übermittelt: Frauenrechtskonvention (2008) Antifolterkonvention (2010) Universal Periodic Review UPR (2013) Behindertenrechtskonvention (2013/2015)
20 Concluding Observations Damit fand das Thema dann auch gleich an mehreren Stellen Eingang in die sogenannten Abschließenden Bemerkungen (Concluding Observations) unterschiedlicher UN-Ausschüsse: Frauenrechtskonvention (2009) Antifolterkonvention (2011) Behindertenrechtskonvention (2015)
21 Was folgte daraus? Concluding Observations zur Frauenrechtskonvention (CEDAW) 2009: Darin wir die Bundesregierung aufgefordert [ ] in einen Dialog mit Nichtregierungsorganisationen von intersexuellen und transsexuellen Menschen einzutreten, um ein besseres Verständnis für deren Anliegen zu erlangen und wirksame Maßnahmen zum Schutz ihrer Menschenrechte zu ergreifen (Ziffer 62)
22 Advocacy 22
23 Kinderrechtsinstitutionen Kinderrechtsinstitutionen sollen Öl im Getriebe derer sein, die sich für die Verwirklichung der Kinderrechte im jeweiligen Vertragsstaat stark machen. Sie sollen die Selbstorganisation von Kinder unterstützen, politische Verantwortungsträger_innen beraten und auf eine gute Datenlage zu den Kinderrechten hinwirken. (vgl. UNICEF 2012).
24 UN-Kinderrechtskonvention Übereinkommen über die Rechte des Kindes Verabschiedet durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 In Kraft getreten in Deutschland am 05. April 1992
25 Grundprinzipien der UN-KRK Artikel 2 Diskriminierungsverbot Artikel 3 Vorrang des Kindeswohls Artikel 6 Recht auf Leben und Entwicklung Artikel 12 Recht auf Beteiligung
26 Artikel 3 UN-KRK [Kindeswohl] (1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
27 GENERAL COMMENT NR. 14 CRC/C/GC/14 The right of the child to have his or her best interests taken as a primary consideration (...)Article 3, paragraph 1, cannot be correctly applied if the requirements of article 12 are not met. (Ziffer 43)
28 Artikel 12 [Berücksichtigung des Kindeswillen] (1) Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. (2) Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.
29 GENERAL COMMENT NR. 12 CRC/C/GC/12: The right of the child to be heard Die Meinung von Kindern zu hören und dieser auch Gewicht zu verleihen, ist eine Pflicht der Vertragsstaaten (Ziffer 15). Das Kind als Subjekt hat ein Recht auf Beeinflussung seines Lebens (Ziffer 18). Beteiligung von Kindern kennt keine Altersbegrenzung (Ziffer 20). Kindern sollte immer sorgfältig zugehört werden (Ziffer 27).
30 Schlussfolgerung Aus kinderrechtlicher Perspektive darf eine für den Lebensweg eines Menschen so hochsensible Entscheidung wie diejenige für irreversible medizinische Eingriffe zur Geschlechtszuweisung nicht ohne die Beteiligung der betroffenen Person selbst erfolgen.
31 3. Rechte bekommen Den Lebensalltag intersexueller Menschen verbessern 31
32 Interministerielle Arbeitsgruppe Im September 2014 wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eine Interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG) zur Situation inter- und transsexueller/- geschlechtlicher Menschen eingerichtet. Darin sind das Bundesministerium des Innern (BMI), das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) sowie das Bundesministerium für Gesundheit (BMGS) als ständige Mitglieder vertreten. Das Bundesfamilienministerium begleitet die Arbeitsgruppe auch durch öffentliche Fachaustausche mit der Zivilgesellschaft und durch wissenschaftliche Forschung.
33 Auftragsstudie Zur Aktualität kosmetischer Operationen uneindeutiger Genitalien im Kindesalter (Ulrike Klöppel, Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der HU Berlin) Ergebnis: Trotz vorgenommener Revision der medizinischen Leitlinien in 2005 und trotz der durch den Ethikrat angestoßenen politischen Debatte aus 2012 ist die Zahl der kosmetischen Genitaloperationen im Kindesalter in Deutschland nicht rückläufig!
34 Gutachten die noch folgen: Das Gutachten "Geschlecht im Recht: Status Quo & Entwicklung von Regelungsmodellen zur Anerkennung und zum Schutz von Geschlechtsidentität.", dass wir als DIMR (Abtl. Inland) erarbeitet haben und Ein Gutachten zum Thema "Regelungs- und Reformbedarf für transsexuelle/-geschlechtliche Menschen" der HU-Berlin, das Regelungsvorschläge und internationale Rechtsvergleiche enthalten soll.
35 Und nun? Eine kleine Traumreise
36 Erreicht? 1. dass Sie alle einen mit Inhalten gefüllten Begriff von Intersex* bekommen haben? 2. dass Sie alle wissen, welche Rechte intersexuell geborenen Kindern in Deutschland haben? 3. dass Sie eine Idee davon bekommen haben, wie diese Rechte dazu genutzt werden können, den Lebensalltag der betroffenen Kinder zu verbessern?
37 Filmbeitrag ARD:
38 Literatur/Quellen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2016): Hintergrundmeldung Gleichgeschlechtliche Lebensweisen, Geschlechtsidentität vom , abgerufen am unter: lebensweisen-geschlechtsidentitaet/arbeitsgruppe--intersexualitaet-transsexualitaet- /73928 Deutsches Ärzteblatt (2015): Stellungnahme der Bundesärztekammer Versorgung von Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD), vom 30. Januar 2015 Richter-Apelt, Hertha (2012): Geschlechteridentität und dysphorie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 62. Jahrgang, 20-21/2012 vom 14. Mai 2012, herausgegeben von der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn Intersexuelle Menschen e.v. / XY-Frauen / Humboldt Law Clinic (2009): Parallelbericht zum 5. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen (CAT).
39 Literatur/Quellen Klöppel, Ulrike (2016): Zur Aktualität kosmetischer Operationen uneindeutiger Genitalien im Kindesalter, in: Bulletin Texte 42, herausgegeben von der Geschäftsstele des Zentrums für transdisziplinäre Geshclechterstudien der Humboldt- Universität zu Berlin. Download unter: Krämer, Anike / Sabisch, Katja (2016): Varianten der Geschlechtsentwicklung. die Vielfalt der Natur, in: Kinder- und Jugendarzt Nr. 5/16, 47. Jahrgang, herausgegeben vom Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte, Köln. Schweizer, Katinka / Richter-Appelt, Hertha (2010): Dimensionen von Geschlecht, in: Frühe Kindheit 03/10, 12. Jahrgang, herausgegeben von der Deutschen Liga für das Kind, Berlin. UNICEF (2012): Einsatz für Kinderrechte. Eine globale Studie unabhängiger Menschenrechtsinstitutionen für Kinder Zusammenfassender Bericht, herausgegeben von UNICEF Office of Research Innocenti, Florence, Italy, ISBN:
40 Lesetipps Jeffrey Eugenides (2004): Middlesex, Rowohlt Taschenbuch, ISBN-13: Völling, Christiane (2010): Ich war Mann und Frau: Mein Leben als Intersexuelle, Verlag: Fackelträger, ISBN-13: Morgen, Clara (2013): Mein intersexuelles Kind: weiblich männlich fließend, Transitr Buchverlag, ISBN- 13:
41 Links Alle Menschenrechtsverträge mit Parallelberichten und Abschließenden Bemerkungen im Überblick Deutsches Institut für Menschenrechte e-nationen/menschenrechtsabkommen/uebersicht/ Hoher Kommissar für Menschenrechte: ountries.aspx?countrycode=deu&lang=en
42 Links Informationen zum Universal Periodic Review Hoher Kommissar für Menschenrechte: n.aspx Deutsches Institut für Menschenrechte: e-nationen/menschenrechtsrat/links-zum-upr/
43 Links Der Deutsche Ethikrat befasste sich mit dem Thema unter der Überschrift Intersexualität Leben zwischen den Geschlechtern. Dies war ein regelrechter Startschuss für den politischen und öffentlichen Diskurs in Deutschland. Die Unterlagen findet man unter:
44 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Claudia Kittel Leiterin Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention Zimmerstraße 26/ Berlin Telefon:
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