2 Die reellen Zahlen. 2.1 IR als Körper
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- Dieter Melsbach
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1 16 2 Die reellen Zahlen Von den reellen Zahlen und ihren Eigenschaften haben wir bereits im vorigen Kapitel ausgiebig Gebrauch gemacht, gingen aber stillschweigend davon aus, dass der Leser auf eine intuitive Weise schon mit ihnen vertraut gewesen ist. Ziel dieses Kapitels ist es, die Rechenregeln, vor allem aber die Anordnung (<, >) und die Vollständigkeit heraus zu arbeiten. Der erste Abschnitt befasst sich mit der algebraischen Struktur von IR und kann, falls dem Leser das Assoziativ-, Kommutativ- und Distributivgesetz bekannt sind, auch übersprungen werden. Der zweite Abschnitt widmet sich den Ordnungsrelationen < und > auf IR und der Einbettung von IN in die reellen Zahlen. Auch dieser Abschnitt kann gegebenenfalls ausgelassen werden. Für die Analysis ist allerdings der dritte Abschnitt, der die Abstandsmessung und die Vollständigkeit von IR beinhaltet, von großer Bedeutung. Die Begriffe Abzählbarkeit und Überabzählbarkeit, die im vierten Abschnitt eingeführt werden, werden uns de facto ebenfalls durch die ganze Analysis begleiten; darum sollte dieser Abschnitt auch gelesen werden. 2.1 IR als Körper M sei eine beliebige Menge. wird Verknüpfung auf M genannt, wenn jedem geordneten Paar (x, y) mit x, y M ein Element x y aus M zugeordnet wird. Wir schreiben abstrakt die Verknüpfung als zweistellige Abbildung Beispiel 2.1 : M M M, (x, y) x y. 1. M = IN, = + oder = 2. M = ZZ, = + oder = 3. M = lq, = + oder = 4. M = IR, = + oder = 5. M = {(x, y); x, y IR} = IR 2, (x 1, y 2 ) + (x 2, y 2 ) := (x 1 + x 2, y 1 + y 2 ),
2 2.1 IR als Körper 17 (x 1, y 1 ) (x 2, y 2 ) := (x 1 x 2 y 1 y 2, x 1 y 2 + x 2 y 1 ) Die hier aufgelisteten Verknüpfungen erfüllen wichtige algebraische Eigenschaften; wir werden weiter unten angeben, welche dies sind. Die Verknüpfung im letzten der Beispiele macht IR 2 so viel sei vorweg genommen zu einem Körper, der als Körper der komplexen Zahlen bekannt ist und mit lc bezeichnet wird. Definition 2.2 (Gruppenaxiome) Eine Verknüpfung auf der Menge M erfülle mindestens die erste der folgenden Bedingungen: (2.1) (2.2) (2.3) (2.4) (x y) z = x (y z) für alle x, y, z x y = y x für alle x, y e : e x = x für alle x x y : y x = e 1. Ist die Bedingung (2.1) erfüllt, spricht man von einer Halbgruppe. Die Regel heißt Assoziativgesetz. 2. Ist zusätzlich die Bedingung (2.3) efüllt, nennt man M eine Halbgruppe mit neutralem Element. Die Regel (2.3) nennt man Existenz des neutralen Elements. 3. Gelten die Regeln (2.1), (2.3) und (2.4), nennt man M eine Gruppe. Die Regel (2.4) ist bekannt als die Existenz des inversen Elements. Regel (2.4) setzt natürlich voraus, dass es ein neutrales Element gibt. 4. Regel (2.2) ist unter dem Namen Kommutativgesetz bekannt. Ist dies erfüllt, bezeichnet man M je nachdem welche Regeln noch gelten als kommutative Halbgruppe (mit Einselement) oder als kommutative Gruppe bzw. als Abelsche Gruppe. Bemerkung Streng genommen besagen die Regeln (2.3) und (2.4) nur die Existenz eines linksneutralen bzw. linksinversen Elements. Ist allerdings (M, ) eine Gruppe wir gehen nicht davon aus, dass sie kommutativ ist, findet man heraus, dass ein linksneutrales Element auch rechtsneutral ist. Sei dazu x M gegeben. Nach (2.4) existieren Elemente y, z mit y x = e und z y = e. Wir können
3 18 2 Die reellen Zahlen berechnen: x = e x e linksneutral = (z y) x wegen z y = e = z (y x) Assoziativgesetz ( ) = z e wegen y x = e = z (e e) da e linksneutral = (z e) e Assoziativgesetz = x e Wegen ( ): x = z e. Wir haben wohlgemerkt nur von den Regeln (2.1), (2.2) und (2.4) Gebrauch gemacht, nicht jedoch vom Kommutativgesetz. Für eine kommutative Gruppe ist offenbar jedes linksneutrale Element auch rechtsneutral, jedes linksinverse auch rechtsinvers. Folgerung 2.3 Sei (M, ) eine Gruppe. 1. Das neutrale Element von M ist eindeutig bestimmt. 2. Zu x M gibt es genau ein Inverses; das Inverse ist links- wie rechtsinvers. 3. Ist x M und x 1 sein Inverses, so ist x = (x 1 ) 1. Beweis: 1. Seien e und e neutrale Elemente von M. Dann gilt e = e e da e rechtsneutral ist, = e da e linksneutral ist. 2. Gelte x y = e und y x = e. Dann ist y = e y = (y x) y = y (x y) = y e = y. 3. Auf die selbe Weise zeigt man x = ((x 1 ) 1 x 1 )x = (x 1 ) 1 (x 1 x) = (x 1 ) 1.
4 2.1 IR als Körper 19 Gehen wir die Verknüpfungen aus Beispiel 2.1 einmal durch: Das Assoziativgesetz ist offensichtlich für alle Additionen erfüllt, ebenso für die Multiplikationen in IN, ZZ, lq, IR. Die Multiplikation auf IR 2 = lc ist ebenfalls assoziativ; das Nachrechnen bleibt dem Leser zur Übung überlassen. Dabei muss das Distributivgesetz (2.5) für die reellen Zahlen verwendet werden. 1. (IN, +) ist eine kommutative Halbgruppe mit neutralem Element 0; (IN, ) ist ebenfalls eine kommutative Halbgruppe mit neutralem Element (ZZ, +) ist eine Abelsche Gruppe: neutrales Element ist 0, das zu k inverse Element ist k. (ZZ, ) ist eine kommutative Halbgruppe mit neutralem Element ( lq, +) ist eine Abelsche Gruppe mit neutralem Element 0 und dem inversen Element r zu r. ( lq, ) ist eine kommutative Halbgruppe mit neutralem Element 1; ( lq, ) ist aber keine Gruppe, denn 0 hat kein Inverses. Demgegenüber ist aber ( lq \ {0}, ) eine Abelsche Gruppe; das Inverse zu r ist 1/r. 4. Für IR gelten dieselben Aussagen wie für lq. Auch hier hat 0 kein multiplikativ Inverses, aber (IR \ {0}, ) ist eine Abelsche Gruppe. 5. ( lc, +) ist eine Abelsche Gruppe. Konzentrieren wir uns nun bis auf Weiteres auf die reellen Zahlen. Wir können für die Addition feststellen: Die 0 als neutrales Element ist eindeutig bestimmt. Zu x ist das inverse Element, das wir mit x bezeichnen, ebenfalls eindeutig bestimmt. (Siehe Folgerung 2.3). 0 = 0, denn 0 = 0 + ( 0) = 0. Die Gleichung a+x = b hat eine eindeutige Lösung, nämlich x = b+( a) =: b a. Beweis: x = b a löst die Gleichung: a + (b + ( a)) = a + (( a) + b) = (a + ( a)) + b = 0 + b = b. Die Lösung ist eindeutig, denn wenn y die Gleichung a + y = b löst, ist y = ( a + a) + y = ( a) + (a + y) = a + b = b a. Für jede reelle Zahl x ist ( x) = x, vergleiche Folgerung 2.3.
5 20 2 Die reellen Zahlen Für alle x, y IR gilt: (x + y) = x y, denn (x + y) = (x + y) + (x x) }{{} =0 = (x + y) + (x + y) } {{ } =0 = x y + (y y) }{{} =0 +(( x) + ( y)) Für die Multiplikation gelten analoge Regeln. Wir müssen allerdings beachten, dass nur IR := IR \ {0} mit der Multiplikation eine (kommutative) Gruppe bildet. 1 Das neutrale Element 1 ist eindeutig bestimmt. Das Inverse einer Zahl x 0 ist eindeutig bestimmt und wird mit x 1 bezeichnet. Für alle a, b IR mit a 0 ist ax = b eindeutig lösbar mit Lösung x = a 1 b =: b a. Was IR zu einem Körper macht, ist noch das Distributivgesetz, mit dem Addition und Multiplikation in Einklang gebracht werden: Für alle x, y, z gilt (2.5) (x + y)z = xz + yz. Aus (2.5) erhalten wir sofort die Gleichung (2.6) x 0 = 0, denn x 0 = x (0 0) = x 0 x 0 = 0. Fassen wir zusammen: Definition 2.4 Ein Körper ist eine nichtleere Menge K mit zwei Verknüpfungen +, mit den Eigenschaften 1. (K, +) ist eine Abelsche Gruppe, 2. (K \ {0}, ) ist eine Abelsche Gruppe, 3. Es gilt das Distributivgesetz (2.5). 1 Dies ist auch der Ursprung der Bezeichnung IR. Das Zeichen soll die Multiplikation andeuten.
6 2.1 IR als Körper 21 Dass die Null nicht zur multiplikativen Gruppe gehört, ergibt sich aus Gleichung (2.6): Es gibt kein Element x eines Körpers, so dass 0 x = 1 wäre. Für die reellen Zahlen haben wir weitere Regeln, die aus dem Distributivgesetz folgen: Sind x, y IR mit xy = 0, dann folgt x = 0 y = 0. Zum Beweis nehmen wir an, dass für einen der Faktoren, sagen wir x, gilt: x 0 (ansonsten wären wir schon fertig) und zeigen y = 0: y = (x 1 x)y = x 1 (xy) = x 1 0 = 0. Für alle x, y gilt: ( x)y = (xy), denn ( x)y = ( x)y + (xy xy) = ( ( x)y + xy ) xy ( (( x) ) ) = + x y xy }{{} =0 = xy Für alle x IR ist ( 1)x = x. Beweis: die vorige Formel mit y = 1 und dem Kommutativgesetz. Für alle x, y IR ist ( x)( y) = xy. Beweis: Bemerkung ( x)( y) = (x ( y)) = ( (xy)) = xy. 1. Wenn man das Assoziativgesetz mehrfach anwendet, erkennt man, dass x x n und x 1 x n in beliebiger Klammerung ausgerechnet werden können, ohne dass sich am Ergebnis etwas ändert. Macht man sich darüber hinaus das Kommutativgesetz zunutze, kann man auch die Reihenfolge der Summanden bzw. Faktoren beliebig vertauschen: Ist (i 1,..., i n ) eine Permutation von (1,..., n), gilt x x n = x i x in, x 1 x n = x i1 x in. 2. Seien a ij IR, i = 1,..., n, j = 1,..., m. Aus Assoziativ- und Kommutativgesetz folgt dann, dass n ( m ) m ( n ) a i j = a i j. i=1 j=1 j=1 i=1
7 22 2 Die reellen Zahlen 3. Seien x 1, y j IR, i = 1,..., n, j = 1,..., m. Dann folgt aus dem Distributivgesetz: ( n ) ( m ) n n x i y j = x i y j. i=1 j=1 i=1 j=1 Definition 2.5 (Potenzen) Sei x IR, n = 1, 2,.... Wir definieren x 0 := 1 x n := x x x }{{} n-mal x n := (x 1 ) n für x 0. Folgerung 2.6 Es gelten folgende Regeln. Dabei seien m, n ZZ, x, y IR und x, y IR bei negativen Potenzen. 1. x m x n = x m+n, 2. (x n ) m = x n m, 3. x n y n = (x y) n. Beweis: Die ersten beiden Aussagen sind offensichtlich. Für die dritte Aussage unterscheiden wir, ob n 0 oder n < 0 gilt. Sei zunächst n 0. Wir beweisen die Aussage per Induktion: Bei n = 0 gilt die Aussage offenbar. n n + 1 : x n+1 y n+1 = x n x y n y = (x n y n ) (xy) = (xy) n (xy) = (xy) n+1. Ist n < 0, gibt es ein m ZZ mit m = n > 0. x n y n = x m y m = (x 1 ) m (y 1 ) m = (x 1 y 1 ) m = ((xy) 1 ) m = (xy) m = (xy) n.
8 2.2 Die Anordnung der reellen Zahlen Die Anordnung der reellen Zahlen Die Anordnungsaxiome und Folgerungen Die reellen Zahlen sind, wie wir eben gesehen haben, aus algebraischer Sicht ein Körper. Allerdings haben sie noch eine weitere Struktur zu bieten, nämlich eine Ordnung. Es gibt in IR eine nichtleere Teilmenge von Elementen, die positiv genannt werden (in Zeichen: x > 0). Dabei erfüllt > die folgenden drei Axiome: Definition 2.7 (Anordnungsaxiome) 1. Für alle x gilt genau eine der drei Beziehungen x > 0, x = 0, x > 0 2. Für alle x, y mit x > 0 und y > 0 ist x + y > Für alle x, y mit x > 0 und y > 0 ist x y > 0. Mit den letzten beiden Axiomen wird geklärt, wie sich Addition und Multiplikation in IR auf die Relation > auswirken. Definition 2.8 Man setzt als Kurzschreibweisen x > y : x y > 0 und x y : (x > y) (x = y). Statt x > y bzw. x y schreibt man auch y < x bzw. y x. Wir erhalten sofort einige Eigenschaften: x < 0 x > 0, denn x < 0 0 > x 0 x > 0 x > 0. Die Relation > bzw. < ist transitiv, also x < y y < z x < z. Zum Beweis seien y x > 0 und z y > 0. Nach Definition 2.7 ist dann (z y) + (y x) = z x > 0. > ist translationsinvariant, d. h. für beliebiges a IR gilt x < y x+a < y + a: x + a < y + a y + a (x + a) = y x > 0 x < y. Es gilt: x < x y < y x + x < y + y, denn x + x < y + x (erste Ungleichung um x transliert), gleichzeitig ist y + x < y + y (die zweite Ungleichung um y transliert); mit der Transitivität folgt die Behauptung. Analog zur Translationsinvarianz zeigt man: Für a IR, a > 0 gilt:
9 24 2 Die reellen Zahlen x < y ax < ay. Wendet man diese Eigenschaft zweimal an, folgt die Aussage: Ist 0 x < y und 0 a < b, so gilt ax < by. Ist x < y und a < 0 gilt ax > ay, denn aus a > 0, y x > 0 folgt nach Definition ( a)(y x) = ax ay > 0, also ax > ay. Ist x IR und x 0, gilt x 2 > 0. Beweis: Für x > 0 ist dies offensichtlich erfüllt, für x < 0 ist x > 0, also ( x)( x) = x 2 > 0. Ist x > 0 bzw. x < 0, gilt x 1 > 0 bzw. x 1 < 0, denn x 1 = x(x 1 ) 2 Ist 0 < x < y, so ist x 1 > y 1, denn aus xy > 0 folgt (xy) 1 = x 1 y 1 > 0 und daraus: y 1 = xx 1 y 1 = x(xy) 1 < y(xy) 1 = yy 1 x 1 = x 1. 1 > 0, denn 1 = 1 2 > Die Einbettung von IN in IR Sowohl IN als auch IR haben ein Nullelement und ein Einselement zu bieten. Es liegt also nahe, diese miteinander zu indentifizieren und die folgende Abbildung zu definieren ϕ : IN IR, 0 0 IR (Nullelement in IR) 1 1 IR (Einselement in IR) n 2 n IR := 1 IR }{{ IR } n Summanden Hierbei wurde 0 IR, 1 IR, n IR auf der rechten Seite geschrieben, um deutlich zu machen, dass es sich um Elemente in IR handelt. Offenbar gilt ϕ(m + n) = (1 IR IR ) + (1 }{{} IR IR ) = ϕ(n) + ϕ(m). }{{} n m Wir wollen zeigen, dass diese Abbildung injektiv ist, d. h. dass aus n IR = m IR folgt, dass n = m. Dazu zeigen wir zunächst, dass n IR > 0 IR für alle n 0. Dies geschieht induktiv: Für n = 1 haben wir nach Definition unserer Abbildung: ϕ(1) = 1 IR 0 IR. Sei ϕ(n) > 0 IR für ein gegebenes n. Dann ist ϕ(n + 1) = (n + 1) IR = n IR + 1 IR, und da beide Summanden > 0 IR sind, folgt die Behauptung. Seien nun m, n IN mit m n. Zu zeigen ist n IR = ϕ(n) ϕ(m) = m IR. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit sei n = m + k für ein k 0. Wir haben dann n IR = (m + k) IR = m IR + k IR > m IR,
10 2.3 IR als vollständiger metrischer Raum 25 also ϕ(n) ϕ(m) für n m. Da wir n und n IR miteinander identifizieren können, schreiben wir der Einfachheit halber wieder n statt n IR. 2.3 IR als vollständiger metrischer Raum Der Betrag als Abstandsmessung Für eine reelle Zahl x definieren wir den (Absolut-)Betrag durch: { x für x 0 x := x für x < 0 Für den Betrag kann man sofort einige Eigenschaften erkennen: 1. x 0 und x = 0 x = 0, 2. x = x, 3. x y = x y, 4. x y = x y für y 0 Beweis: 1. Die Aussage folgt sofort aus der Definition. 2. Wir machen eine Fallunterscheidung: x 0 Es gilt x = x und x = ( x) = x. x < 0 Hier ist x = x und x = x. 3. Hier machen wir ebenfalls eine Fallunterscheidung: Ist einer der Faktoren x, y gleich Null, gilt die Aussage offenbar. Haben beide Faktoren gleiches Vorzeichen, ist xy > 0, also xy = xy; je nach Vorzeichen ist x y = ( x)( y) = xy oder x y = xy. Haben x, y unterschiedliche Vorzeichen ist je nachdem, welcher der Faktoren positiv ist: x y = ( x)y = xy oder x y = x( y) xy. Da xy negativ ist, ist xy = xy. 4. Es ist x = x y y, also x = x y y. Satz 2.9 (Dreiecksungleichung) Für alle x, y IR ist x + y x + y.
11 26 2 Die reellen Zahlen Beweis: Offensichtlich ist x x und y y, also x+y x + y. Gleichzeitig ist x x und y y, also (x + y) = x y x + y. Fassen wir dies zusammen, haben wir die Ungleichung x + y x + y. Definition 2.10 (Metrik auf IR) Wir setzen dist(x, y) := x y. Hierdurch haben wir haben wir auf IR eine Metrik, also eine Abstandsmessung, definiert. Allgemein ist eine Metrik auf einer nichtleeren Menge eine Abbildung d : M M IR mit den folgenden Eigenschaften (2.7) (2.8) (2.9) d(x, y) 0, d(x, y) = 0 x = y (Definitheit), d(x, y) = d(y, x) (Symmetrie), d(x, y) d(x, z) + d(y, z) (Dreiecksungleichung). für alle x, y, z M. Man nennt dann (M, d) einen metrischen Raum. Die drei Eigenschaften einer Metrik sind naheliegend, wenn man sie sich in der Ebene oder im dreidimensionalen Raum vorstellt: Eigenschaft (2.7) besagt, dass der Abstand zwischen zwei verschiedenen Punkten stets größer als Null und der Abstand eines Punktes zu sich selbst stets gleich Null ist. Eigenschaft (2.8) deckt sich ebenfalls mit der Anschauung, dass, wenn man auf dem selben Weg zurück fährt, man die gleiche Strecke zurück legt. Eigenschaft (2.9) ist wieder die Dreiecksungleichung und besagt grob gesprochen, dass ein Umweg von x nach y über einen dritten Punkt z mindestens dieselbe Strecke beansprucht Die Vollständigkeit Von der algebraischen Struktur und den Regeln für die Anordnung her hätten wir in den vergangenen Abschnitten statt der reellen Zahlen auch durchweg nur die rationalen Zahlen betrachten können, so dass sich die Frage stellt, was denn eigentlich der Unterschied zwischen lq und IR ist. Nun, einige prominente Unterschiede kennen wir: 2, π oder e. Diese Zahlen sind irrational. lq hat also bildlich gesprochen Löcher.
12 2.3 IR als vollständiger metrischer Raum 27 z x y Abbildung 2.1: Zur Dreiecksungleichung: Der direkte Weg ist kürzer als der Umweg über z. Für eine der Grundfragen der Analysis ist allerdings entscheidend, dass die zugrunde liegende Menge keine Löcher hat. Diese Frage ist die nach der Konvergenz, die in den kommenden Kapiteln an allen Ecken und Enden auftreten wird. Betrachten wir als Beispiel die Folge n 1 a n := k!. k=0 Offenbar sind alle Glieder der Folge rational, der Grenzwert der Folge ist allerdings gerade e. Dass solch etwas bei den reellen Zahlen nicht auftritt, ist von den Mathematikern über Jahrhunderte als gegeben hingenommen und stillschweigend vorausgesetzt worden. Man sprach immer davon, die reelle Zahlengerade habe keine Löcher. Erst um 1900 herum wurde dies auf ein solides Fundament gestellt. Richard Dedekind ( ) formuliert die Vollständigkeit über den nach ihm benannten Dedekindschen Schnitt: Definition 2.11 (Dedekindscher Schnitt) Für je zwei nicht leere disjunkte Teilmengen A, B IR mit A B = IR und a b für alle a A, b B gibt es genau eine Zahl t IR mit a t b für alle a A, b B. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass jede Zahl t, an der IR in zwei Teilmengen A = {x IR; x t} und B = {x IR; x > t} aufgetrennt werden kann, mit zu IR gehört. Bei lq ist das nicht der Fall: Seien A := {r lq; r 2}, B := {r lq; r > 2}; dann ist lq = A B, A B =, aber 2 / lq.
13 28 2 Die reellen Zahlen Bemerkung Augenscheinlich hat auch die Ebene IR 2 keine Löcher, es liegt also nahe, anzunehmen, dass auch IR 2 vollständig ist. Wir können aber nicht vom Dedekindschen Schnitt Gebrauch machen, weil IR 2 nicht angeordnet ist. Wie man die Vollständigkeit in solchen Fällen definiert, werden wir weiter unten sehen, wenn uns der Begriff der Cauchy-Folge zur Verfügung steht. Eine Folgerung aus der Vollständigkeit von IR ist Satz 2.12 (Archimedisches Axiom) Zu jedem x IR gibt es ein n IN mit n > x. Beweis: Nehmen wir an, die Behauptung sei falsch. Dann sind die Mengen B := {x IR; x > n für alle n IN}, A := {x IR; n IN : x n} disjunkt, nicht leer mit IR = A B und a b für a A, b B. A und B erfüllen also die Voraussetzungen für den Dedekindschen Schnitt. Da IR vollständig ist, gibt es ein t mit a t b für a A, b B. Nehmen wir an, dass t IN: Dann gilt t + 1 IN. Allerdings ist t A und t < t + 1 2, im Widerspruch dazu, dass t a für alle a A. Nehmen wir umgekehrt an, dass t / IN, dann gibt es ein ε > 0 mit t n > ε für alle n IN. Dann ist t ε 2 > n für alle n IN, also t ε 2 B, aber t ε 2 < t, im Widerspruch dazu, dass t b für alle b B. Insgesamt haben wir damit die Annahme, dass die Mengen A, B die Voraussetzungen des Dedekindschen Schnitts erfüllen, zum Widerspruch geführt. Da aber A, B offenbar disjunkt sind und IR = A B gilt, kann nur eine der beiden Mengen, nämlich B leer sein. Da es für ein reelles x 0 also immer ein n IN mit n x n + 1 gibt, können wir für x die größte natürliche Zahl kleiner oder gleich x definieren. Diese Definition lässt sich ohne Weiteres auf negative reelle Zahlen ausdehnen: n IN, x IR, x < 0 : n x n + 1 n 1 x n. Wir definieren daher: Definition 2.13 Der ganzzahlige Teil einer reellen Zahl x, in Zeichen [x], sei diejenige Zahl k ZZ mit k x < k + 1.
14 2.3 IR als vollständiger metrischer Raum 29 Diese Definition hat zur Folge, dass [3, 5] = 3, aber [ 3, 5] = 4, und nicht = 3 wie man naheliegenderweise bei dem Begriff ganzzahliger Teil denken würde. Man macht sich leicht klar, dass das k aus Definition 2.13 eindeutig bestimmt ist. Gilt für h, k ZZ: h x < h + 1 und k x < k + 1, folgt h < k + 1 und gleichzeitig k < h+1, zusammen also 1 < h k < 1. Da h und k ganze Zahlen sind, ist h k ZZ, also h k = 0. Auch für Potenzen von reellen Zahlen gibt es Abschätzungen gegen natürliche Zahlen: Lemma Ist x IR, x > 1, dann gibt es zu jedem k > 0 ein n IN so dass x n > k ist. 2. Ist x IR, 0 < x < 1, dann gibt es zu jedem ε > 0 ein n IN, so dass x n < ε ist. Beweis: 1. Sei y := x 1. Offenbar ist y > 0. Nach der Bernoullischen Ungleichung (Satz 1.12) ist x n = (1 + y) n 1 + ny. Für die Erfüllung der Aussage ist also hinreichend, dass ny > k 1 n > k 1 y = k 1 x Es ist 1 x > 1, also gibt es nach der ersten Aussage des Lemmas eine Zahl n IN, so dass ( 1 ) n 1 = x x n > 1 ε, mit anderen Worten: x n < ε. Wir haben, wenn wir die bisherigen Eigenschaften der reellen Zahlen einmal zusammenfassen, gesehen: IR ist ein angeordneter Körper, vollständig und erfüllt das Archimedische Axiom, oder kurz: IR ist ein vollständiger, Archimedisch angeordneter Körper. Es lässt sich zeigen, dass IR hierdurch eindeutig charak-
15 30 2 Die reellen Zahlen terisiert ist, d. h. alle anderen vollständigen, Archimedisch angeordneten Körper sind isomorph zu IR. Wir schließen den Abschnitt mit zwei Ergebnissen, die rationale Zahlen und reelle Zahlen in Beziehung setzen: Satz 2.15 Zu jedem Paar u, v von reellen Zahlen mit u < v gibt es eine rationale Zahl r mit u < r < v. Beweis: Nach Voraussetzung ist u v > 0, also gibt es nach dem Archimedischen 1 Axiom eine natürliche Zahl n mit u v < n 1 < n(u v) 1+nu < nv. Es gibt dann ein k ZZ mit k 1 + n u < k + 1. Verschieben wir die zweite Ungleichung um 1, erhalten wir: n u < k 1 + nu < nv. Division durch n ergibt dann u < k < v, }{{} n lq womit unsere gesuchte rationale Zahl gefunden ist. Satz 2.16 Seien r 1, r 2 lq mit r 1 < r 2. Dann gibt es eine irrationale reelle Zahl x mit r 1 < x < r 2. Beweis: Setze x := r (r 2 r 1 ). Da r 1, r 2 lq, ist x irrational. Die letzten beiden Sätze kann man auch zu der folgenden Aussage zusammenfassen: Zwischen zwei rationalen Zahlen liegt immer eine irrationale Zahl, zwischen zwei irrationalen Zahlen immer eine rationale. Oder wie man es später ausdrücken wird: lq liegt dicht in IR.
16 2.4 Abzählbarkeit und Überabzählbarkeit Abzählbarkeit und Überabzählbarkeit Wann kann man eine Menge M als abzählbar bezeichnen? Nun, einfach gesagt, wenn man alle Elemente von M abzählen kann. Gemeint ist damit, dass man jedem Element von M eine natürliche Zahl als Index zuordnen kann, also z. B. den Primzahlen über die Vorschrift P (1) := 2, P (2) := 3, P (3) := 5,... oder den Tagen des Jahres 1900 über die Vorschrift T (1) := , T (2) := ,..., T (365) := (wohlgemerkt: das Jahr 1900 war kein Schaltjahr). Abstrakt lässt sich also sagen, Definition 2.17 Eine Menge M ist genau dann abzählbar, wenn es eine Abbildung von den natürlichen Zahlen auf M gibt. Endliche Mengen sind damit insbesondere auch abzählbar. Äquivalent zu der Definition ist die Aussage, dass M genau dann abzählbar ist, wenn es eine injektive Abbildung von M in IN gibt bzw. eine bijektive Abbildung von M auf eine Teilmenge von IN. Bei abzählbaren Mengen gibt es einige erstaunliche Eigenschaften, die wir in dem folgenden Satz formulieren: Satz Ist M abzählbar, dann ist auch M {a} abzählbar. 2. Sind M und N abzählbar, dann auch M N. 3. Sind M 1, M 2,... abzählbar viele abzählbare Mengen, dann ist auch M 1 M 2 M 3... abzählbar. Beweis: 1. Sei M = {a 1, a 2,...}. Wir definieren die Abbildung 1 a, 2 a 1, 3 a 2,... n a n 1,.... Auf diese Weise werden alle Elemente von M aufgezählt.
17 32 2 Die reellen Zahlen 2. Sei M = {a 1, a 2,...}, N = {b 1, b 2,...}. Wir definieren die Abbildung 1 a 1, 2 b 1,..., 2k 1 a k, 2k b k,.... Auf diese Weise werden alle Elemente von M und alle Elemente von N aufgezählt; a k bekommt den Index 2k 1, b k den Index 2k. 3. Hier stellt es sich schon etwas komplizierter dar. Seien die Elemente von M i nummeriert mit a ij (j = 1, 2,...). Wir betrachten die folgende unendliche Matrix und folgen den Pfeilen: M 1 : a 11 a 12 a 13 a M 2 : a 21 a 22 a M 3 : a 31 a M 4 : a Mit diesem sogenannten Cauchyschen Diagonalverfahren sammeln wir zunächst alle Elemente mit Index (ij) ein, wo i + j = k gilt und sortieren dann nach k. Dieses Beweisprinzip wird uns später bei dem Cauchy- Produkt von Reihen noch einmal begegnen, daher sein Name. 1 Wir können also erkennen: IN hat die gleiche Mächtigkeit wie IN \ {0}, ZZ ist abzählbar und hat damit die gleiche Mächtigkeit wie IN, lq ist auch abzählbar und damit gleich mächtig wie IN. Diese scheinbare Paradoxie, dass eine Menge gleich mächtig zu einer echten Teilmenge ist, ist gerade ein Charakteristikum für unendliche Mengen. In der Tat hat Dedekind eingeführt, dass eine Menge als unendlich definiert wird, wenn sie sich bijektiv auf eine echte Teilmenge abbilden lässt. Die Abzählbarkeit von ZZ und lq wird gern mit Hilberts Hotel erklärt: Hilberts Hotel hat so viele Zimmer wie es natürliche Zahlen gibt, und alle Zimmer sind belegt. Ein neuer Gast kommt an die Rezeption und bittet um ein Zimmer. Der 1 Obwohl dieses Verfahren erst von Cantor beschrieben wurde.
18 2.4 Abzählbarkeit und Überabzählbarkeit 33 Portier sagt: Tut uns Leid, alle Zimmer sind belegt. Der Hotelmanager veranlasst darauf, dass der Gast aus Zimmer 0 in Zimmer 1 zieht, der Gast aus Zimmer 1 in Zimmer 2, allgemein der Gast aus Zimmer n in Zimmer n + 1. Zimmer 0 ist frei geworden, und der neue Gast kann dort einziehen. Etwas später trifft ein Bus ein und lädt anzählbar unendlich viele Leute ab, die in dem Hotel unterkommen möchten. Der Portier sagt wieder: Tut uns Leid, alle Zimmer sind belegt. Der Manager sagt daraufhin, es gebe dennoch Platz genug: Der Gast aus Zimmer 0 bleibt, wo er ist, der Gast aus Zimmer 1 zieht in Zimmer 2, der Gast aus Zimmer 2 in Zimmer 4, der Gast aus Zimmer n in Zimmer 2n. Alle Zimmer mit ungeraden Nummern sind somit frei, und in diese können die neuen Gäste einziehen. Auf diese Weise hat man eine bijektive Abbildung zwischen IN und ZZ gefunden. Etwas später treffen abzählbar unendlich viele Busse ein, jeder mit abzählbar unendlich vielen Leuten, woraufhin der Portier kündigt. Der Manager bringt die Neuankömmlinge nach dem Cauchyschen Diagonalverfahren unter. Auf diese Weise wird gezeigt, dass lq abzählbar ist. Es reicht ja zu zeigen, dass die positiven rationalen Zahlen abzählbar sind. Diese schreiben wir als Brüche und ordnen sie folgendermaßen an: Wir zählen damit zwar etliche rationale Zahlen doppelt, aber das ist erlaubt; verboten ist nur, einen Index mehrfach zu vergeben. Man könnte nun denken, alle unendlichen Mengen wären abzählbar, aber dem ist nicht so. Georg Cantor ( ) ist auf einen genialen Beweis gekommen, wie die Abzählbarkeit etwa der reellen Zahlen widerlegt werden kann. Satz 2.19 IR ist nicht abzählbar.
19 34 2 Die reellen Zahlen Beweis: Nehmen wir an, die reellen Zahlen im Intervall (0, 1) seien abzählbar; dann wäre auch ganz IR als Vereinigung n ZZ (n, n + 1] abzählbar. Wir schreiben jede reelle Zahl in (0, 1) als Dezimalzahl 0, a 1 a 2 a 3... Unter der Annahme, dass (0, 1) abzählbar ist, können wir eine Aufzählung angeben: x 1 := 0, a 11 a 12 a 13 a x 2 := 0, a 21 a 22 a 23 a x 3 := 0, a 31 a 32 a 33 a x 4 := 0, a 41 a 42 a 43 a Wir definieren die Zahl y als Dezimalzahl 0, y 1 y 2 y 3... mit { a nn a nn 8 y n := 0 a nn = 9 Offenbar ist y eine reelle Zahl zwischen 0 und 1. Da unsere Auflistung nach Annahme vollständig ist, muss y irgendwo darin auftauchen, sagen y = x k für ein bestimmtes k. Dann ist aber y k = a kk, also nach Konstruktion a kk = 9 a kk = 0, a kk = a kk + 1 sonst, ein Widerspruch. Obwohl in jeder Umgebung um eine reelle Zahl eine rationale Zahl liegt, sind die rationalen Zahlen doch echt weniger als die reellen Zahlen. Auch dies ist etwas, das erst einmal verdaut werden will. 2.5 Ein Blick in die mathematische Werkzeugkiste Dieses Kapitel hat sich in erster Linie mit der Struktur der reellen Zahlen befasst und daher an analytischen Sätzen nicht viel zu bieten. Die Ergebnisse über die reellen Zahlen dürften intuitiv bekannt gewesen sein. Beweistechnisch hat sich im ersten Abschnitt immer wieder ein Trick eingeschlichen, der in den folgenden Kapiteln in gänzlich anderen Zusammenhängen öfter in Erscheinung treten wird: die Addition einer gehaltvollen Null. Damit ist gemeint, dass man schreibt: x = x + y y mit einem geeigneten y und sich dann Eigenschaften von x + y zu Nutze macht. Der Diagonalbeweis von Cantor, mit dem die Überabzählbarkeit von IR gezeigt wurde, hat sich als unverzichtbares Hilfsmittel der Mathematik entpuppt zwar weniger in der Analysis als eher in den Gebieten der Berechenbarkeitsund Komplexitätstheorie der theoretischen Informatik, wo Algorithmen nach ihrer Komplexität klassifiziert werden.
2 Die Körper-Axiome. I. Axiome der Addition (A.1) Assoziativgesetz. Für alle x, y, z R gilt (x + y)+z = x +(y + z).
17 Wir setzen in diesem Buch die reellen Zahlen als gegeben voraus. Um auf sicherem Boden zu stehen, werden wir in diesem und den folgenden Paragraphen einige Axiome formulieren, aus denen sich alle Eigenschaften
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