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Transkript

1 SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 MusikGlobal Türkische Bardentradition weiblich Von Manfred Bonson Sendung: Dienstag, 19. Dezember 2017, Uhr Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 MusikGlobal können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/ oder swr2.de

2 Heute Die türkische Bardentradition weiblich: Am Mikrophon begrüßt Sie Manfred Bonson MUSIK 1 : Gencirem Gelirem trad Ich lernte durch ein Video kennen, das bei einem Empfang des aserbaidjanischen Studentenverbandes in Rom vor zwei Jahren aufgenommen wurde. (MUSIK) Es war ein Empfang, im Foyer, wo sie sang: Viel Stimmengewirr aber trotzdem, durch all das hindurch drang ihre Stimme, ihr besonderes Instrument: eindringlich für mich, packend, in den Bann ziehend... trotz der vielen Nebengeräusche, angeregten Gespräche, die sich an der Musik nicht störten anscheinend. (MUSIK) Ich war so fasziniert, dass ich im Internet nachguckte, forschte nach Petra Nachtmanova. Und in der Tat, es gab, es gibt viele schöne Aufnahmen, die meinen Eindruck bestätigten, nun aber ohne Störgeräusch. Ich habe mich jetzt hier im Studio in Berlin, wo sie wohnt, mit ihr getroffen. Sie hat viele schöne Aufnahmen mitgebracht und erläutert sie auch selbst. Eben hörten wir ein Lied aus Aserbaidjan. Aber vor allem singt türkische Lieder. Sie sind sehr poetisch. Ja ich übersetze mal eins. Ein Lied aus Karaman-marasch, aus dem Osten Anatoliens: Lieber Morgenwind, erzähle meiner Liebsten von mir. Ich bin gefallen, heb mich wieder auf. Sage der Königin, der Schönen, ich falle auf die Stirn, an ihrem Schrein. Aus dem giftigen Kelch fülle mich auf. Ich bin KurAchmed. Wenn ich mein Herz hergebe, wenn ich deine Blume vom Ast pflücke, wenn ich eine andere lieben sollte, bring mich um. Ja, nun hören wir mal das Lied. MUSIK 2 : Seher yeli nazli yare bildir bene trad Die türkische poetische Liedkultur ist uralt. Die Turkvölker siedelten weit im Osten, im Inneren Asiens bis zum Pamir und bis nach China. Eben in dem Gebiet, das noch 2

3 in den alten Atlanten als Turkestan bezeichnet wird. Durch's wilde Turkestan Bei Karl May ist es Kurdistan... Die Balladensänger der Turkvölker begleiteten sich schon seit je her auf der Langhalslaute Saz, Heldengedichte und Epen sangen sie in den Zelten der Nomaden und begleiteten die Reitervölker auf ihrem Weg nach Westen entlang der Seidenstraße. Schon in vorislamischer Zeit, Erben der Schamanen. Es war schließlich das Turkvolk der Seldschuken, das den entscheidenden Vorstoß nach Westen wagte: über den Kaukasus hinweg zogen sie ins römisch-byzantinische Armenien und schlugen das oströmische Heer bei Mantzikert, türkisch Malazgirt, nördlich des Van-Sees im Jahre Das war die Wende und entschied über das Schicksal Kleinasiens. Die Türken eroberten Anatolien, das 1000 Jahre lang griechisch-römisch gewesen war. - Und schließlich, Jahrhunderte später, gelangten die Türken auf ihrem Vormarsch bis vor Wien, bekanntlich. Und doch weiß Europa wenig von der türkischen Kultur. Noch heute ist dort die Tradition der Bardensänger lebendig Repräsentanten uralten Kulturguts. spricht über diese türkische Volkskultur. Man kennt so etwas in Mitteleuropa nicht mehr... Gedichte aus dem Mittelalter. Mündliche Tradition. Das nächste ist ein Volkslied, ein unglückliches Liebeslied. Es erzählt von den Gärten von Gesi, eine Ortschaft in Zentral-Anatolien: Ich spaziere durch die Gärten von Gesi (Einwurf: Es ist schwierig in Übersetzungen, die Poesie widerzugeben) und suche meine verlorene Liebe, und glaube an die paar Grüße, die sie mir sagte. D.h ich vertraue, dass sie mich liebt, weil sie mich ja zweimal gegrüßt hat, darauf will er hinaus. Und dann sagt er: Komm setz dich neben mich, ich erzähle dir von meinem Schmerz, meine Liebste weiß nicht von meinem Leid, was bin ich denn nur für sie? Als er spricht jemanden anderen an: Komm, setz dich neben mich, dann erzähle ich dir doch etwas über meine Liebe, denn meine Liebe ist ja weg, die habe ich ja verloren. MUSIK 3: Gesi baglari trad Sie waren auch in Aserbaijan, das ist ja benachbart der Türkei. Und das Aserbaiodjanische ist dem Türkischen sehr ähnlich. Ja, es ist auch eine Turksprache. Es ist dem Türkischen am ähnlichsten von allen Turksprachen. Es gibt ja ganz viele Sprachen, von Kasachisch, Kirgisisch, Usbekisch, Gagausisch... Und in Aserbaidjan gibt es auch dieses Instrument, die Saz. Die hat eine etwas andere Form. Und es gibt auch diese Ashiks, also diese Barden... Der Barde ist ja nicht nur ein Musiker, sondern er hat eine gewisse gesellschaftliche Stellung, er ist 3

4 wichtig für die Menschen. Und jetzt haben wir ein Beispiel von so einem aserbaidjanischen Barden. Die aserbaidjanische Bardenkultur ist bis heute auch sehr lebendig, vielleicht sogar lebendiger als die türkische. MUSIK 4: Aserbaidjanisches Bardenlied trad Ashik aus Aserbaidjan Man hörte doch diesen besonderen Gesangsstil der aserbaidjanischen Ashiks. - Über den Plural von Ashik : Ashiklar. Über den Genus von Saz. Die Saz. Es ist die türkische Volkslaute. Auch überall in in Deutschland verbreitet in der türkischen Gemeinschaft. Wurde 2013 vom Berliner Musikrat zum Instrument des Jahres gewählt... Es ist eine Langhalslaute, dünn mit vielen Bünden, mit Vierteltönen darauf... Das nächste ist ein Instrumentalstück, von einem aserbaidjanischen Ashik gespielt. MUSIK 5 : Aserbaidjanische Sazmelodie trad Mübariz Aliyev Sie hören auf SWR 2 Musik Global : Die türkische Bardentradition weiblich: Petra Nachtmanova. Der türkische Barde, der in traditioneller Weise singt, heißt Ashik. Das Wort kommt aus dem Arabischen und heißt Liebender, In der Liebe Hingegebener. Es ist aber nicht weltlich gemeint wie bei den Troubadouren, sondern es heißt, es wäre die Liebe zu Gott, die gemeint ist seit dem Aufkommen des Islam. Es ist seltsam, wie wenig wir von der Kultur dieser Lieder, des ganzen orientalischen Raums wissen leben doch Millionen Türken unter uns, inzwischen auch Flüchtlinge, aus Palästina schon lange, nun auch aus Syrien. Vor einem Jahr verirrte ich mich in Münster in die moderne Einkaufsstraße der Fußgängerzone und mit einmal hörte ich diesen Gesang, und dieses Saz-Spiel. Es lockte mich an, und dann sah ich in einer Ecke der Straße einen alten Mann sitzen, ein altes zerfurchtes Gesicht, einfach, fast dörflich gekleidet, - mit seiner Saz. Man hätte ihn für einen Bettler halten können aber seine Stimme: alt und kräftig und voller Bedeutung, einer uralten mythischen, mystischen Bedeutung Dieselbe Kraft, dieselbe Aussagekraft ging von seinem Instrument aus: eindringlich, immer wieder dieselben eindringlichen Töne und irgendwie Tragik und Schicksal ausdrückend: die Stimme des Volkes, des einfachen Volkes Ist es zu viel, zu sagen: des Leids, des Leidenden...? Die Menschen gingen achtlos an ihm vorüber, der in der Ecke hockte, fast lag, und seltsame, unverständliche Töne von sich gab: C & A und H & M und und und... Viele von diesen Liedern drücken einen großen Schmerz aus. Vor allem drücken viele Lieder den Schmerz aus, in der Fremde zu leben, vielleicht dort sogar sterben 4

5 zu müssen, den Schmerz darüber, dass man weit weg ist von zu Hause. Und diese Gefühl haben auch viele Menschen, die hier leben und vielleicht nicht nur in der ersten Generation, vielleicht sogar in der zweiten und dritten Generation ist dann so ein bisschen ein Gefühl von Fremde immer noch da. Und wenn sie diese Lieder hören, dann finden sie vielleicht ein Stück Heimat. Und jetzt kommt ein Lied aus Yozgat: Das würde ich gerne kurz übersetzen. Das spricht auch von diesem Schmerz in der Fremde: Vor dem Krankenhaus steht ein Feigenbaum. Der Arzt konnte kein Heilmittel für mich finden. Ich bin so arm, mein Herz leidet große Schmerzen. Die Fremde ist zu meinem Zuhause geworden. Grabt mein Grab auf dem Hügel, dreht es so, damit mein Gesicht in Richtung Heimat schaut. Grüßt meine Liebe von mir. Sie soll ihren Kopf mit Schwarz bedecken, und weinen, dass ich in der Fremde gestorben bin. MUSIK 6 : Hastane önünde incir agaci trad Das Thema Fremde ist sehr wichtig in der türkischen Volksmusik, verständlicherweise. ist ja nun hier direkt im Studio und singt auch etwas live. Also jetzt so ein Lied auch mit diesem Thema. Das Lied, das ich spielen werde, stammt aus dem 17. Jahrhundert, von Karacaoglan. Das war auch so ein berühmter Barde. Und der schrieb dieses Lied über Europa, und wie Europa doch ganz anders ist, und überhaupt nicht ähnlich ist. Die Städte sind anders, die Sprachen sind anders, die Religionen sind anders, die Herrscher sind anders, sogar die Blumen sind anders. Ob das eine Metapher für Frauen ist kann auch sein: In der Poesie ist das immer so eine Frage... und ich kehre zurück. - Über den osmanischen Namen für Europa: Frângistan das Land der Franken. Die Franken haben sie bei den Kreuzzügen kennengelernt! Vielleicht paßt die Kreuzzug-Metapher ganz gut - Denn: Wir reiten ja... MUSIK 7 : Frângistan trad./karacaoglan 2.41 Dazwischen die Frage: Wie kommt es, daß Sie türkisch singen, und vor allem so gut, daß auch die Türken Sie bewundern?. Antwort: Ich bin neugierig!... Ich bin polnisch-tschechisch österreichisch. Lebe aber in Berlin. Und diese ganzen Kulturschichten legen sich so übereinander international. Und dann bin ich nach Berlin gezogen und hier habe ich die Saz und diese Lieder kennengelernt, und gelernt... Türkisch-und Saz-Kurs. Neugier: Was um 5

6 mich herum geschah, hier in Berlin. Nach Istanbul, um weiter Türkisch zu studieren... In Berlin hat man die ganz tolle Gelegenheit, ganz viele Kulturen kennenzulernen. Berlin ist eine Metropole. Jetzt vor allem, in dieser politischen Lage ist auch Berlin ein ganz wichtiger Austauschpunkt für viele Kulturen und viele Menschen. Und wenn man ein offenes Ohr hat, dann gibt es ganz viel, was man hören kann. Noch mal das Lied vom Anfang, aber ohne Störgeräusche, pur. Die Lieder aus Aserbaidjan haben auch so eine Freude in sich, gerade für das europäische Ohr. Es ist eigentlich kein Bardenlied. So ein Volkslied, relativ neu, ich glaube aus den 50ern, man könnte es fast schon als Schlager bezeichnen, aber es ist in einem älteren Stil, und es geht um die Region Gencer in Azerbaidjan. Und dann erzählt ein junger Mann, wie er aus Gencer kam und Datteln trug und Blumen trug und was auch immer. Und da in Gencer war aber so ein tolles Mädchen, und sie hatte so schöne Haare und überhaupt sie war so schön wie eine Blume, ihr Name war sogar Blume. Also das ist ein sehr blumiges Lied, und das singe ich jetzt mal. MUSIK 8 : Gencirem Gelirem trad live im Studio Das war nun ein aserbaidjanisches Lied. Hauptsächlich singt sie aber türkische Lieder. Anatolien ist eine kulturell sehr reiche Gegend, auch Kurden. Es gibt einen ganz berühmten Ashik, der in den 70er verstorben ist, Ashik Veysel. Das ist jemand, der von allen geliebt wird, in der ganzen Türkei, ob man jetzt links, rechts, blau, grün, kurdisch, türkisch oder was auch immer für eine politische Einstellung hat. Ashik Veysel wird von allen geliebt. Und Ashik Veysel zeichnet sich durch seinen besonderen Humanismus aus. Und das kommt vielleicht auch teilweise vom Alevitischen Kulturgut. Die Aleviten, das ist ja eine Gruppe in Anatolien, die wirklich sehr zentral diese Saz einsetzt, auch im Gebet, aber auch eben in sozusagen einer Moralpredigt: dass man zuerst Mensch sein soll, und dann irgendwer anderer sein kann, König oder Sklave, aber zuerst, in erster Linie ist man Mensch, und Menschen muss man respektieren. Also wirklich auch so ein ganz tiefer Humanismus, der verwurzelt ist in Anatolien. Und die Ashiks, und vor allem Ashik Veysel die stehen für diesen Humanismus. Und das ist etwas, was man vielleicht gar nicht weiß, dass es in der anatolischen Kultur so etwas ganz Tolles gibt. Wenn man Nachbarn hat, vielleicht sind sie sogar Aleviten oder vielleicht kennen die, haben die Ashik-Veysel- CDs zu Hause... Auf jeden Fall ist es eine eigene Philosophie. Ich habe von Ashik Veysel zum ersten Mal von meinem türkischen Schneider gehört, Änderungsschneider. 6

7 Jetzt kommt ein Lied von Ashik Veysel. Es ist ein Gespräch der Blumen. Jede Blume sagt, dass sie schön ist, daß sie toll ist, und sie fragt: Gibt es denn eine schönere Blume als mich? - Jeder stellt sich vielleicht so eine Frage, meint Ich bin so toll. Vielleicht sollte man das mal ein bisschen reflektieren. Und Ashik Veysel ruft dazu auf. Sie singt es zusammen mit Masül Bindik, einem Musiker aus Wien... MUSIK 9 : Çiğdem der ki ben Alayım Ashik Veysel 4.15 und Mansur Bildik Die persische Kultur hatte immer einen sehr großen Einfluss auf die Kulturen der Nachbarländer, gerade die persische Poesie auf die Barden. Das nächste Lied fällt etwas aus dem Rahmen, in der modernen Aufnahme. Petra Nachtmanova singt es zusammen mit ihrem persischen Lehrer, dem Sänger Hossein Baharbin. MUSIK 10: Khoda Hafez ey Javani w.o Hossein Baharbin und - eine weibliche Stimme der orientalischen Volksmusik, eine außergewöhnliche Stimme. Eine Sängerin, die sich in die Seele dieser Musik hineinfühlt, und sie uns nahebringt. Diese Lieder, diese Poesie auch das ist der Orient! Sie beendet unsere Sendung wieder mit einem türkischen Lied. MUSIK 11: Bu yil benim yeshil bagim (Berliner Momente) 3.57 w.o. Sie hörten: Musik Global: Die türkische Bardentradition weiblich: Petra Nachtmanova. Am Mikrophon verabschiedet sich Manfred Bonson. 7