Paklenica Kapitel 5: Joris

Transkript

1 Paklenica Kapitel 5: Joris Die nächste Seillänge lief wie am Schnürchen, was Joris, der wieder als Letzter den Stand erreichte, Auftrieb gab. Sam, ich steig die nächste Länge wieder vor. Das lief so gut eben und die Platte bis auf das Plateau soll laut Kletterführer auch nicht schwerer sein. Das mach ich mit links! Du darfst ruhig beide Hände nehmen, warf Linda augenzwinkernd ein. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Plateau direkt unter dem ekligen Riss, von dem wir die schlimmen Sachen gelesen haben. Da können wir ja dann eine Pause machen!, ergänzte sie. Samuel gab zu bedenken, dass sie sich immer noch ziemlich beeilen mussten und er eine Pause für unangebracht hielt. Du Spielverderber, sagte Joris, wir haben dann schon fünf von neun Längen weg und vor so einem Todesriss, dabei spitzte er die Lippen und machte ein gespielt ängstliches Gesicht, wirst du den Todgeweihten doch eine kleine Henkersmahlzeit nicht verweigern wollen, oder? Linda musste ein wenig über Joris albernes Gesicht lachen, sah das aber ganz ähnlich. Ich muss dann definitiv was essen, sonst schaff ich den Rest nicht!, sagte sie. My Lady, wurde Joris mit einem Mal förmlich, wenn es sein muss, werde ich sie persönlich auf dem Rücken zum Gipfel tragen. Machen sie sich keine Sorgen! Gut zu wissen, Sir Joris, ließ sich Linda auf das Spielchen ein. Er hatte es geschafft, sie wieder fröhlich zu stimmen und sie war ihm dankbar dafür. Der Sturz und das lange Hängen über dem

2 Abgrund hatten sie mental ganz schön aus der Bahn geworfen. Doch dass sie jetzt schon fast die Hälfte der Wand erreicht hatten, gab ihr und Joris neuen Schwung. Samuel hätte am liebsten dazwischen gehauen, so sehr ging ihm Joris Geseier auf die Nerven. Es war noch gar nichts geschafft, und er stand jetzt als Spießer da und musste mit ansehen, wie Joris mit Linda flirtete. Sie hatten nie ernsthaft miteinander über das Thema Linda gesprochen. Wenn, dann eher oberflächlich, wie sich Männer eben bisweilen über Frauen unterhalten. Auf dieser schenkelklopfenden Ebene, die sich hauptsächlich auf Lindas Primärmerkmale bezog, waren sie sich mit Begriffen wie rattenscharf oder heiß stets einig gewesen, aber keiner von beiden hatte je ein ernsthaftes Interesse an ihr zu erkennen gegeben. Inoffiziell galt bei ihnen wie in den meisten WGs die Devise, dass eine Beziehung untereinander scheiße sei. Und daran hatte man sich bisher gehalten. Dann gib mir den Rucksack, sagte er zu Joris, ich steig als letzter nach! Sie tauschten ein paar Sachen aus und Joris startete in die fast senkrechte, mit Griffen übersäte Platte, die er fast 50 Meter bis zum nächsten Stand würde klettern müssen. Linda, die sich mittlerweile endgültig entspannt hatte, lehnte am Fels und genoss die Nachmittagssonne, die vor wenigen Augenblicken die Wand erreicht hatte. Der Wind hatte sich gelegt, und Linda, deren Haut und Gemüt von Wärme durchflutet wurden, schloss die Augen und horchte auf die Stille, die nur hin und wieder von dem metallischen Geräusch, das Joris beim Klippen der Haken erzeugte, unterbrochen wurde. Das erste Mal seit heute Morgen war sie zufrieden damit, hier zu sein. Sie war in diesem Moment so bei sich, dass Samuel, der daneben stand und sie liebevoll

3 betrachtete, ob dieser Ausgegrenztheit fast ein bisschen eifersüchtig geworden war. Linda!, sagte er zögerlich zu ihr. Ja? Sie öffnete die Augen und schaute ihn erwartungsvoll an. Ich wollte nur, ach nichts! Na, was denn? Er hatte sie neugierig gemacht, aber sie hatte auch schon eine Ahnung davon, in welche Richtung seine Ansprache gehen würde, und sie war sich nicht sicher, ob ihr das peinlich oder angenehm sein würde. Na, Samuel zögerte, dann nahm er sich ein Herz, ich wollte dir nur sagen, dass du hübsch aussiehst! Dieser Satz hatte ihn eine unglaubliche Überwindung gekostet und er drehte sich schnell wieder um und konzentrierte sich darauf, Joris zu sichern. Linda lächelte ihn an. Dann beugte sie sich vor, zögerte ebenfalls kurz und hauchte ihm ein Danke, du Charmeur ins Ohr. Sowohl Samuel als auch Joris verbrachten die nächste Stunde in dem Hochgefühl, das Herz von Linda erobert zu haben. Während sich Samuel, schwärmerisch wie er war, wie ein edler Ritter fühlte und in Gedanken voreilig Gedichte und eine gemeinsame Zukunft entwarf, sah Joris das etwas pragmatischer. Während er Meter um Meter die Wand erklomm, dachte er darüber nach, wie es ihm gelingen würde, Lindas Schutzschirm zu durchbrechen. Sie ins Bett zu bekommen, hatte sich für ihn in den letzten Wochen zu einer Art sportlicher Herausforderung entwickelt. Wenn er ehrlich war, würde es ihn persönlich kränken, wenn er sie nicht haben konnte. Sie war nun einmal verdammt sexy und er konnte sich sogar vorstellen, länger mit ihr zusammen zu sein. Er hatte des Weiteren keine Lust mehr, auf Samuel Rücksicht zu nehmen. Insgesamt empfand Joris ihn in dieser Beziehung nicht als Konkurrenten, obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob Linda dessen stille Männlichkeit nicht vielleicht doch seiner

4 Schlagfertigkeit und seinem guten Aussehen, auf das er sich zumindest ein bisschen was einbildete und das schon so viele Frauen auf seine Couch geführt hatte, vorziehen würde. Um Joris zu gerecht zu werden, durfte man ihn aber nicht nur auf seine Frauengeschichten reduzieren. Er war witzig und intelligent, und er hatte die besondere Gabe, die Menschen, mit denen er zusammen war, durch seine zwanglose Fröhlichkeit die Schwere des Lebens ein bisschen vergessen zu lassen. Natürlich war er ein Jäger, aber im Grunde seines Herzens bereit, irgendwann mit der richtigen Frau sesshaft zu werden. Er sah das Leben als ein buntes Karussel und wäre nie auf die Idee gekommen, dass er mit seinem untreuen Verhalten einer Frau das Herz brechen konnte. Und das tat er meist auch nicht, denn immer spielte er mit offenen Karten, und die vielen Frauen, die sich in den letzten Jahren seine Freundin nannten, wussten, worauf sie sich einließen. Er war wie ein kleiner Junge, der nichts Böses im Sinn hatte, und die Welt, und vor allem die Liebe, als ein großes Spiel, bei dem jeder auf seine Kosten kommen sollte, betrachtete. Dennoch kränkte es ihn in seiner Eitelkeit, wenn er eine Frau nicht haben konnte. Das Klettern in der Sonne war großartig. Der Fels hatte sich zwar schon ein bisschen aufgewärmt, doch noch war der Grip hervorragend. Selbst bei den kleinsten Tritten hatte Joris das Gefühl, dass seine Füße an der Wand kleben blieben. Überhaupt war der Kalkstein auch in den anderen Seillängen von außerordentlicher Qualität gewesen, was mit Sicherheit damit zu tun hatte, dass diese Route selten begangen wurde. Und das wiederum hatte bekanntlich mit dem ihnen noch bevorstehenden unangenehmen Riss in der sechsten Seillänge zu tun. Behutsam

5 stieg er immer weiter nach oben. Die sanften Mulden, die sich hin und wieder zu tiefen Löcher ausdehnten und die sich dann wie eine Tischkante greifen ließen, waren eine klettertechnische Offenbarung, vor allem nach dem Kamingeschramme der letzten Seillänge. Die Absicherung mit Bohrhaken war spärlich, aber in der Platte mit ihren vielen Löchern und Rissen ließen sich problemlos ein paar Klemmkeile versenken. Es bestand also keine objektive Gefahr, zumal Joris den Kletterschwierigkeiten gewachsen und, beflügelt durch die wärmende Nachmittagssonne, völlig angstfrei war. Es ging ihm also richtig gut, und er hätte sich am liebsten das T- Shirt vom Leib gerissen, damit er mit jeder Pore seines Körpers die Sonne und den Wind spüren konnte. Er stieß ein lautes Yieppieh! aus und wartete auf das Echo, das enttäuschend leise ausfiel. Wie erwähnt, war Joris eine Frohnatur und konnte sich an die jeweiligen Gegebenheiten gut anpassen. So war es für ihn im Moment zweifelsfrei das Schönste auf Erden, hier zu sein und dieses Zusammenspiel der Elemente zu erleben. Andererseits konnte er zum Beispiel Monate in den Bars der Stadt verbringen und die Tage verpennen, ohne, dass er etwas vermisste. Das Jetzt war immer der Normalzustand. Er litt nicht an der in seiner Generation weit verbreiteten Krankheit, dass hinter jedem Heute immer noch ein besseres Morgen zu finden sein müsste. Der Unterschied zwischen ihm und Linda, die sich das Credo der Selbstvergessenheit ja auch auf die Fahnen geschrieben hatte, war, dass diese Haltung Joris natürlicher Art entsprach, wohingegen Linda größte Anstrengungen unternehmen musste, um ihre Sorgen zu vergessen.

6 Auch sein Jura-Studium machte Joris so nebenbei. Es bereitete ihm zwar nicht das allergrößte Vergnügen, aber eben auch keine besonderen Schwierigkeiten. Er erreichte durchschnittlich gute Punktwerte und hatte so eine vage Vorstellung von einer Karriere als Anwalt für Verkehrsrecht, die seinem Gewissen als vorläufige Zukunftsperspektive völlig langte. Der Preis für seine Sorglosigkeit war freilich ein Leben an der Oberfläche. Er konnte Frauen wie Linda zwar für sich einnehmen, doch ihr Innerstes, ihren grundsensiblen Kern hinter der starken Fassade, berührte er nicht. Da Linda sich ihrer grundsätzlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse jedoch nicht immer bewusst war und diese mit einem konstruierten Idealbild von sich und der Welt vermischte, blieb sie weiterhin anfällig für ihn.