Strafprozessrecht II Mastervorlesung. Vorlesungsprogramm Strafprozessrecht II. Frühjahrssemester 2018
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- Hella Berg
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1 Strafprozessrecht II Mastervorlesung Frühjahrssemester 2018 Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Vorlesungsprogramm Strafprozessrecht II Lektion Datum Inhalt 2 Fr, Verteidigung 3 Fr, Zwangsmassnahmen im Allgemeinen, Untersuchungs- und Sicherheitshaft, Ersatzmassnahmen 5 Fr, Durchsuchung von Aufzeichnungen, Siegelungsverfahren, Beschlagnahme 7 Fr, «ne bis in idem», Revision, Strafverfahren auf Bundesebene Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 2 1
2 Literatur D. Jositsch, Grundriss des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl., Zürich/St.Gallen Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 3 Strafprozessrecht II Lektion 2: Verteidigung 2
3 Aufgabe der Verteidigung StPO 128: Grundsatz: Verteidigung ist nur den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet Jedoch ist die Verteidigung nicht an die Weisungen der beschuldigten Person gebunden Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 5 Genügende Verteidigung Wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte: Verteidiger hat die Verfahrensrechte der beschuldigten Person Ausreichend Zeit vor Verfahrenshandlungen, Rücksicht auf Verfügbarkeit des Verteidigers und Information des Verteidigers Freier schriftlicher und mündlicher Verkehr zwischen Verteidigung und der beschuldigten Person Pflicht zu sorgfältiger Verteidigung: Wahrnehmung der Verteidigungsrechte im Vorverfahren (z.b. Akteneinsicht, Teilnahmerechte) und in der Hauptverhandlung Rechtsmittel in einigermassen aussichtsreichen Fällen Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 6 3
4 Recht auf Verteidigung Recht auf Verteidigung: (EMRK 6 Ziff. 3, IPBPR 14 III lit. b, BV 32 II, StPO 129 I i.v.m. StPO 127 I und V sowie VStR 32 ff.) Zwei Teilgehalte: Formell: Materiell: Recht der beschuldigten Person in jedem Straffall und jedem Verfahrensstadium einen Verteidiger zu bestellen Jede Tätigkeit, die darauf gerichtet ist, zur Entlastung der beschuldigten Person aktiv auf das Verfahren einzuwirken Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 7 Arten der Verteidigung Wahlverteidigung (StPO 129) Notwendige Verteidigung (StPO 130 f.) Amtliche Verteidigung (StPO 132 ff.) Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 8 4
5 Wahlverteidigung/amtliche Verteidigung Freiwillige Verteidigung Notwendige Verteidigung Wahlverteidigung Amtliche Verteidigung Wahlverteidigung Amtliche Verteidigung Voraussetzungen: Voraussetzung: Fehlende Finanzielle Mittel Komplexe Sach- oder Rechtsfragen Kein Bagatellfall Die beschuldigte Person hat selbst keinen Verteidiger bestellt Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 9 Wahlverteidigung (StPO 129) Voraussetzung: schriftliche Vollmacht der beschuldigten Person oder protokollarische Erklärung Bestellung der Verteidigung: Gemäss Vereinbarung zwischen Verteidiger und beschuldigter Person mittels einer Vollmacht Einschränkung (StPO 127 V): Vertretung der beschuldigten Person vor Gerichtsbehörden nur durch eingetragene Rechtsanwälte Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 10 5
6 Notwendige Verteidigung (1/2) Zwingende anwaltliche Vertretung der beschuldigten Person (StPO 130): Untersuchungshaft mehr als 10 Tage Drohende Freiheitsstrafe von mehr als 1 Jahr, eine freiheitsentziehende Massnahme oder eine Landesverweisung Körperliche oder geistige Beeinträchtigung oder aus anderen Gründen Anwesenheit des Staatsanwaltes bei der Gerichtsverhandlung Im abgekürzten Verfahren gemäss StPO Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 11 Notwendige Verteidigung (2/2) Beginn der notwendigen Verteidigung: Sobald ein Grund nach StPO 130 erkennbar ist Bestellung der notwendigen Verteidigung (StPO 131): Der beschuldigten Person wird zur Bestellung des Verteidigers eine Frist gesetzt Ist die beschuldigte Person anschliessend nicht verteidigt, wird ein amtlicher Verteidiger eingesetzt Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 12 6
7 Fall 1 (BJM 2012 S. 48 ff.) Im Nachtclub X kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung, wobei zwei Personen Schnittverletzungen am Halsund Kopfbereich erlitten haben. A wurde daraufhin als beschuldigte Person durch die Staatsanwaltschaft einvernommen und darauf hingewiesen, dass gegen ihn ein Vorverfahren wegen versuchter Tötung eingeleitet worden ist. Des Weiteren wurde A auf sein Recht eine Verteidigung beizuziehen oder gegebenenfalls eine amtliche Verteidigung zu beantragen, hingewiesen. A verzichtete darauf. Nach einer durch die Staatsanwaltschaft angeordneten Hausdurchsuchung wurde A erneut durch die zuständige Verfahrensleitung einvernommen, wobei ihm seine Rechte eine Verteidigung beizuziehen erneut erläutert wurden. Daraufhin gab A zu Protokoll, dass er die Einvernahme ohne Verteidiger bestreiten werde. Im Anschluss darauf wurde A festgenommen und zwei Tage später dem Zwangsmassnahmengericht zugeführt. Auf Wunsch von A, wurde Verteidiger B eingesetzt. Dieser machte geltend, dass es sich von Anfang an um einen erkennbaren Fall der notwendigen Verteidigung gehandelt habe und aus diesem Grund die ersten beiden Einvernahmen gemäss Art. 141 Abs. 5 StPO nicht verwertbar seien. Handelt es sich hierbei um einen Fall der notwendigen Verteidigung? Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 13 Amtliche Verteidigung (1/2) Voraussetzungen der amtlichen Verteidigung (StPO 132): bei notwendiger Verteidigung, wenn kein Wahlverteidiger vorhanden ist die beschuldigte Person nicht über die für einen Wahlverteidiger notwendigen Mittel verfügt und eine Verteidigung für die Wahrung der Interessen geboten ist Interessenswahrung geboten: Kein Bagatellfall Schwierigkeit in tatsächlicher/rechtlicher Hinsicht Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 14 7
8 Amtliche Verteidigung (2/2) Bestellung der amtlichen Verteidigung (StPO 133): Die amtliche Verteidigung wird durch die Verfahrensleitung bestellt: die Wünsche der beschuldigten Person werden nach Möglichkeit berücksichtigt kein Anspruch der beschuldigten Person auf einen Verteidiger seiner Wahl Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 15 Fall 2 (Urteil 1B_23/2016 vom 8. Februar 2016 E. 2.5 ff.) A und B sind kosovarische Staatsangehörige und wohnhaft in Frankreich. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, ohne Bewilligung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in die Schweiz eingereist zu sein, um auf der Baustelle von C zu arbeiten. Die Staatsanwaltschaft erlässt gegen die Beschuldigten, Strafbefehle und spricht sie der mehrfachen Widerhandlung gegen das Ausländergesetz für schuldig. Die Geldstrafe von 120 TS zu CHF 30.- wird bedingt ausgesprochen und mit einer Busse von CHF verbunden. A und B erheben Einsprache gegen die jeweiligen Strafbefehle und ersuchen um amtliche Verteidigung. Die Staatsanwaltschaft weist beide Gesuche ab. Wurden die Gesuche betreffend amtlicher Verteidigung zurecht durch die Staatsanwaltschaft abgewiesen? Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 16 8
9 Fall 3 (Entscheid Obergericht Kanton Bern, BK vom 28. Oktober 2013) Anlässlich der Hafteinvernahme informiert Staatsanwalt S den Beschuldigten A über sein Recht eine amtliche Verteidigung beizuziehen. Er fragt A, ob er einen Verteidiger kennt, welchen er kontaktieren möchte. A schlägt die Verteidiger B und C vor. Daraufhin unterbricht S die Einvernahme kurz und teilt A mit, dass sowohl B als auch C seines Wissens nach nicht mehr als Verteidiger tätig sind. Daraufhin händigt er A eine Liste mit Pikettanwälten aus. Kurze Zeit später erfährt A, dass C entgegen der Aussage des Staatsanwaltes, noch als Strafverteidiger tätig ist. Daraufhin ersucht A um einen Wechsel der amtlichen Verteidigung, welche ihm verwehrt bleibt. Der zuständige Staatsanwalt äussert sich dahingehend, dass aus dem Protokoll nicht klar hervorgeht, dass A einen konkreten Wunsch bezüglich der Verteidigung geäussert hat und des Weiteren bestehe keine rechtliche Befolgungspflicht. A legt dagegen eine Beschwerde ein. Wie sehen seine Erfolgschancen aus? Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 17 Anwalt der ersten Stunde (StPO 158) Grundsatz: Recht der beschuldigten Person auf Verteidigung ab der ersten Einvernahme Belehrungspflicht der einvernehmenden Behörde (StPO 158 Abs. 1), ansonsten absolute Unverwertbarkeit (StPO 158 Abs. 2) Teilgehalte des Rechts auf einen Anwalt der ersten Stunde: Recht einen Anwalt zu kontaktieren Beschränkte Unterstützungspflicht der Staatsanwaltschaft bei der Anwaltssuche Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 18 9
10 Fall 4 (Urteil 1B_66/2015 vom 12. August 2015) Die Staatsanwaltschaft führte gegen A eine Strafuntersuchung u.a. wegen versuchten Diebstahls. Konkret wurde ihm vorgeworfen, eine Armbanduhr im Wert von Fr. 39' in einem Geschäft anprobiert und ständig belanglose Fragen gestellt zu haben, wohl in der Hoffnung, die Verkäuferin werde vergessen, dass er die Uhr noch am Handgelenk trage. Er habe sodann telefonieren müssen und dabei Anstalten gemacht, das Geschäft verlassen zu wollen, bevor er von der Verkäuferin auf die Uhr angesprochen worden sei. Daraufhin habe er sich noch einmal nach dem Preis erkundigt und gesagt, er müsse es sich überlegen, ehe er das Geschäft verlassen habe. Anlässlich der ersten polizeilichen Befragung am 3. Dezember 2014 verlangte A den «Anwalt der ersten Stunde». Der beigezogene Verteidiger stellte im Namen des Beschuldigten während der Einvernahme ein Gesuch um Bestellung als amtlicher Verteidiger. Am 10. Dezember 2014 wies die Oberstaatsanwaltschaft, Büro für amtliche Mandate, das Gesuch um Bestellung einer amtlichen Verteidigung ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht am 5. Februar ab. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 2. März 2015 an das Bundesgericht beantragte A unter anderem, der Beschluss des Obergerichts vom 5. Februar sei aufzuheben und ihm sei für das bei der Staatsanwaltschaft geführte Strafverfahren in der Person des Rechtsanwalts P eine amtliche Verteidigung beizugeben und mit Fr zu entschädigen. Hat A für das bei der Staatsanwaltschaft geführte Strafverfahren einen Anspruch auf amtliche Verteidigung? Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 19 Einschränkungen der Verteidigung (1/2) Rechtliche Einschränkungen: Sitzungspolizeiliche Massnahmen (StPO 63 ff.) Keine umfassende Übersetzung (StPO 68) Wechsel der Verteidigung Faktische Einschränkungen: unzureichende finanzielle Mittel der beschuldigten Person mangelnde Sprachkenntnisse Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 20 10
11 Einschränkungen der Verteidigung (2/2) Einschränkung der Teilnahmerechte: Bei Verhinderung des Rechtsbeistandes (keine Wiederholung, wenn unentschuldigt oder unverhältnismässig aufwändig) Im Rechtshilfeverfahren (grundsätzlich kein Anspruch auf Teilnahme bei Beweiserhebungen im Ausland) Durch Schutzmassnahmen Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 21 Strategie der Verteidigung Freispruch Beweislage günstig milde Bestrafung Beweislage ungünstig Kooperation Obstruktion Passivität Ethische Grenze: Verteidiger als Garant des Rechtsstaates Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 22 11
12 Entschädigung der Verteidigung Wahlverteidigung: Durch die beschuldigte Person gemäss Vereinbarung Anspruch auf Entschädigung der Wahlverteidigung (StPO 429 I a) Nur soweit die Anwaltskosten angesichts der Strafsache verhältnismässig und notwendig sind Amtliche Verteidigung: Entschädigung notwendiger und verhältnismässiger Leistung durch den Staat Bemessung anhand der Anwaltstarife des Bundes bzw. Kantons Rückzahlungspflicht gemäss StPO Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 23 Fall 5 Saralisa wird dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechend vom Gericht zu 4 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Anschliessend kann sie den von ihr bestellten Wahlverteidiger Dieter nicht bezahlen. Kann Dieter seine Forderung gegenüber dem Staat geltend machen? Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 24 12
13 Zusammenfassung Recht auf Verteidigung gliedert sich in einen formellen und materiellen Teilgehalt (StPO 128) Das Gesetz unterscheidet zwischen verschiedenen Arten der Verteidigung (Wahl-, amtlicher und notwendiger Verteidiger) Der Verteidiger verpflichtet sich die Interessen der beschuldigten Person zu wahren und die Verteidigungsrechte wirksam und sorgfältig auszuüben Rechte der Verteidigung können eingeschränkt werden (rechtlich/faktisch) Entschädigung der Verteidigung: Wahlverteidiger durch die beschuldigte Person gemäss Auftrag Amtliche Verteidigung durch den Staat gemäss Anwaltstarif Strafprozessrecht II, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch Seite 25 13
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