Einführung in die germanistische Sprachwissenschaft

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1 University of Vechta Universität Vechta Prof. Dr. J. A. Bär Fakultät III Germanistische Sprachwissenschaft Vorlesung Einführung in die germanistische Sprachwissenschaft Sitzung 8: Textik

2 [ ] daß es bisher nicht gelungen ist, einen Konsens herzustellen hinsichtlich des [...] Begriffs Text (Heinemann/Viehweger 1991, 13) [ ] nicht einmal der Begriff Text [...] bei allen Autoren identisch [ist], und zuweilen [...] nicht einmal bei ein und demselben Autor (Coseriu 1994, 8) [Es] lassen sich mühelos Hunderte von Textdefinitionen zusammenstellen, die zwar in bestimmten Grundpositionen aufeinander beziehbar sind, im Einzelnen aber doch so weit auseinanderdriften, dass dem an der praktischen Verwendbarkeit von Texten Interessierten ein äußerst verwirrendes, heterogenes Bild des Phänomens Text entstehen muss (Heinemann/Heinemann 2002, 96) Es wäre vermessen, bei der [...] Zusammenstellung von Textdefinitionen und Begriffsumschreibungen auch nur annähernd Vollständigkeit anzustreben. Allein die Zahl der sprachwissenschaftlichen Textdefinitionen ist ungezählt, teilt der Text doch das Schicksal anderer linguistischer (und zugleich alltags-sprachlicher) Basiskategorien wie Zeichen, Wort oder Satz. (Klemm 2002, 18)

3 Texte sind in sich geschlossene (als Handlungen vollständige) sequenzielle sprachliche Äußerungen.

4 Texte sind in sich geschlossene (als Handlungen vollständige) sequenzielle sprachliche Äußerungen. Texte bestehen prototypischerweise aus mehr als einem Satz; sie m ü s s e n aber nicht einmal aus einem einzigen grammatisch vollständigen Satz bestehen. Schloss in Oberitalien (Nähe Locarno) umständehalber günstig zu verkaufen ( ). Am Fuße der Alpen, bei Locarno im oberen Italien, befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges Schloß, das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht: ein Schloß mit hohen und weitläufigen Zimmern, in deren einem einst, auf Stroh, das man ihr unterschüttete, eine alte kranke Frau, die sich bettelnd vor der Tür eingefunden hatte, von der Hausfrau aus Mitleiden gebettet worden war. Heinrich von Kleist, Das Bettelweib von Locarno (1810) [Textanfang].

5 Text s o r t e n können in unterschiedlicher Weise bestimmt werden, z. B. strukturell, medial, situativ, intentional/ funktional. Eine einheitliche, allgemein verbindliche Textsortenklassifikation gibt es nicht. strukturell: z. B. Lyrik Epos Drama oder Poesie Prosa medial: z. B. gesprochene Sprache geschriebene Sprache oder Zeitungstext Fernsehansprache SMS situativ: z. B. Kneipengespräch Beziehungsstreit Predigt intentional/funktional: z. B. Vorlesung Sachbuch Roman Die verschiedenen Kriterien überlagern sich. Man muss von Fall zu Fall (abhängig vom jeweiligen Untersuchungsinteresse) definieren, welche Textsortenkategorien man ansetzen will.

6 Texte sind Phänomene der Parole, nicht der Langue. Sie sind daher per se k e i n e s p r a c h l i c h e n Z e i c h e n (sondern nur Mengen von sprachlichen Zeichen). Zur Erinnerung: Man kann Sprachzeichen betrachten als a) Einheiten der Parole b) Einheiten der Langue c) individuelle Einheiten d) kategoriale Einheiten konkret kotextuell bestimmte Zeichen kotextabstraktiv bestimmte Zeichen konkret kotextuell bestimmte Zeichenarten kotextabstraktiv bestimmte Zeichenarten Belegzeichen, z. B. Lexe ( Textwörter ) Korpuszeichen, z. B. Lexeme Gliedarten, z. B. Kompaxivglieder Zeichenarten, z. B. Wortarten Man kann jedes individuelle Zeichen auch als Vertreter einer Zeichenkategorie interpretieren. Kategoriebezeichnungen sind Variablen für individuelle Zeichen.

7 Texte sind Phänomene der Parole, nicht der Langue. Sie sind daher per se k e i n e s p r a c h l i c h e n Z e i c h e n (sondern nur Mengen von sprachlichen Zeichen). Zur Erinnerung: Man kann Sprachzeichen betrachten als a) Einheiten der Parole b) Einheiten der Langue c) individuelle Einheiten d) kategoriale Einheiten konkret kotextuell bestimmte Zeichen kotextabstraktiv bestimmte Zeichen konkret kotextuell bestimmte Zeichenarten kotextabstraktiv bestimmte Zeichenarten Belegzeichen, z. B. Lexe ( Textwörter ), Korpuszeichen, z. B. Lexeme Gliedarten, z. B. Kompaxivglieder Zeichenarten, z. B. Wortarten Texte

8 Texte sind Phänomene der Parole, nicht der Langue. Sie sind daher per se k e i n e s p r a c h l i c h e n Z e i c h e n (sondern nur Mengen von sprachlichen Zeichen). kann konkret kotextuell als individuelles Belegzeichen betrachtet werden kann kotextabstraktiv als individuelles Korpuszeichen betrachtet werden Haus kann konkret kotextuell als kategoriales Zeichen (Gliedzeichen) betrachtet werden kann kotextabstraktiv als kategoriales Zeichen (Exemplarzeichen) betrachtet werden Beleg-, Korpus-, Glied- und Exemplarzeichen sind unterschiedliche P e r s p e k t i v e n auf e i n u n d d a s s e l b e Zeichen. Texte können jedoch nur als Belegzeichen erscheinen.

9 Verkettung durch Pro-Zeichen: anaphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach links bzw. nach oben im Text) Eduard so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen. Sein Geschäft war eben vollendet; er legte die Gerätschaften in das Futteral zusammen und betrachtete seine Arbeit mit Vergnügen [ ]. (J. W. Goethe, Die Wahlverwandtschaften (1809)

10 Verkettung durch Pro-Zeichen: anaphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach links bzw. nach oben im Text); kataphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach rechts bzw. nach unten im Text) Tragödie Sie war 12 Jahre alt, hiess Piróska. Er geleitete sie bis zu dem Garten-Gitter. Da sagte das Kind: Schreiben Sie mir morgen einen schönen langen Brief! Aber nicht so einen für Kinder. Einen, Sie wissen schon. P. Altenberg, Was der Tag mir zuträgt (1901)

11 Verkettung durch Pro-Zeichen: anaphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach links bzw. nach oben im Text); kataphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach rechts bzw. nach unten im Text); relevant: neben Pronomina auch alle anderen Pro-Zeichen, nämlich Proartikel und Propartikeln (darauf, dazu, hiernach )

12 Verkettung durch Pro-Zeichen: anaphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach links bzw. nach oben im Text); kataphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach rechts bzw. nach unten im Text); relevant: neben Pronomina auch alle anderen Pro-Zeichen, nämlich Proartikel und Propartikeln (darauf, dazu, hiernach ) Rekurrenz: direkte Wiederholung von Elementen Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. R. M. Rilke, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1899/1904)

13 Verkettung durch Pro-Zeichen: anaphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach links bzw. nach oben im Text); kataphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach rechts bzw. nach unten im Text); relevant: neben Pronomina auch alle anderen Pro-Zeichen, nämlich Proartikel und Propartikeln (darauf, dazu, hiernach ) Rekurrenz: direkte Wiederholung von Elementen; partielle Rekurrenz: Verwendung desselben Wortmaterials bei Veränderung der Wortart Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus. J. v. Eichendorff, Mondnacht (ca. 1830)

14 Isotopielinien: Verwendung von sinnverwandten Einheiten Verkettung durch Pro-Zeichen: anaphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach links bzw. nach oben im Text); kataphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach rechts bzw. nach unten im Text); relevant: neben Pronomina auch alle anderen Pro-Zeichen, nämlich Proartikel und Propartikeln (darauf, dazu, hiernach ) Rekurrenz: direkte Wiederholung von Elementen; partielle Rekurrenz: Verwendung desselben Wortmaterials bei Veränderung der Wortart [ ] aus dem Wagen stieg ein prächtig gekleideter Herr mit Orden und Stern. L. Tieck, Des Lebens Überfluß (1839)

15 Isotopielinien: Verwendung von sinnverwandten Einheiten semantische Anreicherung im Textverlauf Verkettung durch Pro-Zeichen: anaphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach links bzw. nach oben im Text); kataphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach rechts bzw. nach unten im Text); relevant: neben Pronomina auch alle anderen Pro-Zeichen, nämlich Proartikel und Propartikeln (darauf, dazu, hiernach ) Rekurrenz: direkte Wiederholung von Elementen; partielle Rekurrenz: Verwendung desselben Wortmaterials bei Veränderung der Wortart Nun zeigte der Wirt sein Gesicht, das auch ein Allerwertester sein konnte, so schnell, als hätte er hinter der Tür gewartet. H. Mann, Henri Quatre II (1958) In seinem allerwertesten Gesicht bedrängten die Fettsäcke die Augen, so dass sie zugedrückt wurden. Ebd.

16 Isotopielinien: Verwendung von sinnverwandten Einheiten semantische Anreicherung im Textverlauf Verkettung durch Pro-Zeichen: anaphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach links bzw. nach oben im Text); kataphorisches Pro-Zeichen (Verweis nach rechts bzw. nach unten im Text); relevant: neben Pronomina auch alle anderen Pro-Zeichen, nämlich Proartikel und Propartikeln (darauf, dazu, hiernach ) Rekurrenz: direkte Wiederholung von Elementen; partielle Rekurrenz: Verwendung desselben Wortmaterials bei Veränderung der Wortart Textzusammenhänge, für deren Deutung man ausschließlich grammatisches Wissen benötigt, nennt man K o h ä s i o n. Unter K o h ä r e n z versteht man demgegenüber Textzusammenhänge, für deren Interpretation man grammatisches und semantisches Wissen braucht. Kohäsion: Johanna geht zu Bett, weil sie müde ist. Kohärenz: Johanna geht zu Bett. Sie ist müde.

17 Vergebens rief die Marquise, von der entsetzlichen, sich untereinander selbst bekämpfenden, Rotte bald hier-, bald dorthin gezerrt, ihre zitternden, durch die Pforte zurückfliehenden Frauen, zu Hülfe. Man schleppte sie in den hinteren Schloßhof, wo sie eben, unter den schändlichsten Mißhandlungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen, ein russischer Offizier erschien, und die Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren, mit wütenden Hieben zerstreute. Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leib umfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut, zurücktaumelte; bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück. (Heinrich von Kleist, Die Marquise von O., 1808)

18 Proartikel Pronomen Propartikel Rekurrenz Isotopie semantische Anreicherung im Textverlauf Vergebens rief die Marquise, von der entsetzlichen, sich untereinander selbst bekämpfenden, Rotte bald hier-, bald dorthin gezerrt, ihre zitternden, durch die Pforte zurückfliehenden Frauen, zu Hülfe. Man schleppte sie in den hinteren Schloßhof, wo sie eben, unter den schändlichsten Mißhandlungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen, ein russischer Offizier erschien, und die Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren, mit wütenden Hieben zerstreute. Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leib umfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut, zurücktaumelte; bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück. (Heinrich von Kleist, Die Marquise von O., 1808)

19 Proartikel Pronomen Propartikel Rekurrenz Isotopie semantische Anreicherung im Textverlauf Vergebens rief die Marquise, von der entsetzlichen, sich untereinander selbst bekämpfenden, Rotte bald hier-, bald dorthin gezerrt, ihre zitternden, durch die Pforte zurückfliehenden Frauen, zu Hülfe. Man schleppte sie in den hinteren Schloßhof, wo sie eben, unter den schändlichsten Mißhandlungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen, ein russischer Offizier erschien, und die Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren, mit wütenden Hieben zerstreute. Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leib umfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut, zurücktaumelte; bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück. (Heinrich von Kleist, Die Marquise von O., 1808)

20 Wortverbünde (Figuren, Örtlichkeiten [Topoi], Handlungen, Motive, Begriffe, Dinge [ Dingsymbole ] usw.) MARQUISE VON O.:... Marquise ihr sie sie Dame solch Marquise ihr Dame sie die sie ihr sie GRAF F.: Offizier er er er er... usw.

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22 MISSBRAUCH (Handlung) MARQUISE (Figur) ROTTE (Personengruppe) GRAF F. (Figur)

23 MARQUISE (Figur) GRAF F. (Figur) Text Die Marquise von O. MISSBRAUCH (Handlung) ROTTE (Personengruppe)

24 (!) Texte sind Phänomene der Parole, nicht der Langue. Sie sind daher per se k e i n e s p r a c h l i c h e n Z e i c h e n (sondern nur Mengen von sprachlichen Zeichen). (!) Wortverbünde können Phänomene der Parole und der Langue sein. Sie sind die komplexesten denkbaren Zeichen der Sprache. Parole-Wortverbünde sind Bestandteile eines einzigen Textes (z. B. die Figur FAUST bei Goethe). Langue-Wortverbünde sind Bestandteile mehrerer Texte zugleich (z. B. die Figur FAUST im Volksbuch, bei Goethe, bei Grabbe).

25 Wortverbünde können Phänomene der Parole und der Langue sein. Sie sind die komplexesten denkbaren Zeichen der Sprache. Definitionen im Überblick Texte sind in sich geschlossene (als Handlungen vollständige) sequenzielle sprachliche Äußerungen. Texte bestehen prototypischerweise aus mehr als einem Satz; sie m ü s s e n aber nicht einmal aus einem einzigen grammatisch vollständigen Satz bestehen. Text s o r t e n können in unterschiedlicher Weise bestimmt werden, z. B. strukturell, medial, situativ, intentional/funktional. Eine einheitliche, allgemein verbindliche Textsortenklassifikation gibt es nicht. Texte sind Phänomene der Parole, nicht der Langue. Sie sind daher per se k e i n e s p r a c h l i c h e n Z e i c h e n (sondern nur Mengen von sprachlichen Zeichen). Textzusammenhänge, für deren Deutung man ausschließlich grammatisches Wissen benötigt, nennt man K o h ä s i o n. Unter Koh ä r e n z versteht man demgegenüber Textzusammenhänge, für deren Interpretation man grammatisches und semantisches Wissen braucht.

26 Vorbereitung der nächsten Sitzung Studienbuch Linguistik, S