Beitrag: Kein Cannabis trotz Rezept Schmerzpatienten klagen an

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1 Manuskript Beitrag: Kein Cannabis trotz Rezept Schmerzpatienten klagen an Sendung vom 10. April 2018 von Oliver Matthes Anmoderation: Etwa ein Jahr ist es her, da freute sich die Große Koalition, schwerkranken Menschen etwas Gutes getan zu haben. Sie brachte das Gesetz zur Änderung betäubungsrechtlicher Vorschriften durch. Hinter dem sperrigen Titel verbarg sich eine Revolution: Denn seither können Ärzte Cannabis auf Rezept verordnen. Eine Droge als Medizin für Patienten mit chronischen Schmerzen. Soweit die Theorie. In der Praxis stoßen die Patienten oft auf große Schwierigkeiten. Oliver Matthes über ein Gesetz mit Nebenwirkungen und schwerkranke Menschen, die darunter leiden. Text: Thorsten Naumann leidet unter starken Schmerzen und das seit Jahren. Als Jugendlicher verletzte er sich schwer bei einem Verkehrsunfall. Wirbelsäule, Becken und Knie wurden irreparabel beschädigt. Nach 50 Operationen, Unmengen an Medikamenten - von Antibiose bis Schmerzmittel aller Art - ist mein Körper heute ziemlich kaputt. Und ich bin wegen dieser starken Schmerzen auf Medikamente angewiesen und vertrag jetzt leider nicht mehr all das, was auf dem Markt ist. Jahrelang nahm Thorsten Naumann Schmerzmittel. Als nichts anderes mehr half: Oxycodon. So wie Heroin ist Oxycodon ein starkes Opioid, das abhängig macht und bei Thorsten Naumann heftige Nebenwirkungen verursachte. Sein Schmerztherapeut wollte deshalb eine sanftere Therapie ausprobieren mit Cannabis. Nach einem umfangreichen Antrag samt medizinischen Gutachten beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bekam Thorsten Naumann die notwendige Ausnahmegenehmigung. Und: Die Therapie schlug

2 an. O-Ton Dr. Winfried Hofmann, Schmerztherapeut: Unter Cannabis war es so, dass der Schmerz bei einer vergleichsweise geringeren Dosis deutlich reduziert war. Das heißt, dieser Schmerz von ihm sprach deutlich besser auf Cannabinoide an als auf Opioide. Thorsten Naumann musste die Therapiekosten allerdings selbst zahlen wie alle anderen Schmerzpatienten, die Cannabis nahmen. Das ist bei einer Jahrestherapie in meinem Fall so um die , Euro. Also, ich habe noch mal einen Kredit aufgenommen, aufs Haus, um das Ganze zu finanzieren. Und ja, hat am Ende dazu geführt, dass ich mal ganz kurz davor stand und ja, Hartz IV hat gewunken. Hohe Kosten und hohe Hürden. Nur Patienten stellten deshalb einen Antrag. Um das zu ändern, verabschiedete der Bundestag vor gut einem Jahr einstimmig ein Gesetz. Danach kommen die Krankenkassen für die Kosten auf, nach Prüfung durch den Medizinischen Dienst. Obwohl erst wenige Studien zu Cannabis als Schmerzmedizin vorliegen, können Ärzte das Mittel unbürokratisch verordnen, so das Versprechen. O-Ton Ingrid Fischbach, CDU, ehem. Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit, am : Wir sorgen dafür, dass schwerkranke Menschen bestmöglich versorgt werden. O-Ton Burkhard Blienert, SPD, ehem. MdB, am : Wir geben ihnen mit dieser Regelung die Möglichkeit, Cannabis auf legalem Wege und unabhängig vom Geldbeutel als Medikament zu beziehen. O-Ton Rainer Hajek, CDU, ehem. MdB, am : Krankenkassen dürfen nur in begründeten Ausnahmefällen der ärztlichen Erstversorgung widersprechen. Soweit die Theorie. In der Praxis aber lehnt die Kasse von Thorsten Naumann den Kostenantrag ab, verweist auf den Medizinischen Dienst: Der MDK teilte uns mit, dass der Einsatz von Cannabis- Blüten nicht notwendig, nicht unbedenklich und nicht wirtschaftlich ist. Dabei hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte die Therapie in seinem Fall bereits genehmigt.

3 Frontal 21 fragt bei der Krankenkasse nach, doch die will sich dazu nicht äußern. Thorsten Naumann fühlt sich allein gelassen. Man hat ein Gesetz erlassen, das sogar noch die Krankenkassen verpflichten soll, die Kosten dafür zu erstatten, und die machen jetzt Ätsch. Wenn man mitgeteilt bekommt, dass man nicht wirtschaftlich ist. Keine Ahnung. Man fühlt sich wirklich ganz mies. Thorsten Naumann trifft in Berlin andere Betroffene: ADHS-, Multiple-Sklerose-, chronische Schmerzpatienten. Die meisten hatten wie Naumann eine Ausnahmegenehmigung für Cannabis. O-Ton Maik Zorn, ADHS-Patient: Und dann kommt die Krankenkasse und sagt: Nein, du bekommst die Medizin von uns nicht bezahlt. Obwohl ich die alte Erlaubnis habe. Da frage ich mich doch wirklich, was ist hier bitte nicht in Ordnung? Was muss ich noch beweisen? Ich kann alles nachbelegen, über Arbeit, über Sozialkontakte, ich kann alles nachbelegen, dass es mir danach besser geht. O-Ton Max Plenert, ADHS-Patient: Der Großteil scheitert daran: Entweder ich hab nicht einmal einen Arzt oder ich habe eine Ablehnung von meiner Krankenkasse bekommen oder warte immer noch Fristen ab oder bin schon wieder auf dem Klageweg. Aber gerade die Kerngruppe, für die das Gesetz eigentlich im engeren Sinne gemacht war, die schaut noch ziemlich in die Röhre. Auch Ärzte üben Kritik. Joachim Nadstawek ist einer der führenden Schmerz- und Palliativmediziner und befürwortet die Behandlung mit Cannabis. Er hat als Experte selbst am Gesetz mitgewirkt, ist mit der Umsetzung aber unzufrieden. O-Ton Prof. Joachim Nadstawek, Leiter der Schmerzambulanz, Uniklinikum Bonn und Vorstand BVSD: Das Gesetz schreibt vor, dass in begründeten Ausnahmefällen das abgelehnt werden darf. Wenn ich die MDK-Gutachten lese, kann ich seltenst begründete Ausnahmefälle hier erkennen, sondern hier kommen eben immer stereotyp die gleichen Argumente: nicht austherapiert, keine stationäre Schmerztherapie, fehlende Schmerztagebücher und, und, und - das lässt sich beliebig fortsetzen. Das sind aber keine begründeten Ausnahmefälle. Wie häufig kommt das vor? Frontal 21 fragt nach bei den sechs größten gesetzlichen Krankenkassen. Seit Inkrafttreten des Gesetzes gingen über Anträge auf Kostenerstattung für Cannabis-Präparate ein. Je nach Kasse liegt

4 die Ablehnungsquote zwischen 36 und 44 Prozent. Im Schnitt wird also mindestens jeder dritte Antrag abgelehnt. O-Ton Prof. Joachim Nadstawek, Vorstand BVSD: Dieses Antragsverfahren ist natürlich ein Eingriff in die Therapiefreiheit. Ich kann was weiß ich - hochwirksame Opiate, die nicht billig sind, verschreiben. Der Onkologe kann hochwirksame Chemotherapeutika verschreiben, ohne vorher zu fragen. Aber für Cannabis muss ich fragen und das sollte möglichst rasch abgeschafft werden. Joachim Nadstawek fordert deshalb, den sogenannten Genehmigungsvorbehalt durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen aus dem Gesetz zu streichen. Doch die Regierungsparteien halten dagegen, auch, weil Zweifel an der Qualifikation der Ärzte bestünden. O-Ton Karl Lauterbach, SPD, MdB, stellvertretender Fraktionsvorsitzender: Es gibt viele Cannabis-Patienten, die von der Einnahme, auch zum Teil wegen der mangelnden Fachkenntnis des einzelnen Arztes, großen Schaden wegnehmen. Ich würde vor der Idee warnen, jeder, wo der Arzt sagt, das ist gut für dich, das sollst du bekommen. Das wäre nicht richtig. Wir würden den Patienten keinen Gefallen tun. Doch Joachim Nadstawek sieht das Problem viel mehr beim Medizinischen Dienst. Dort fehle es am Sachverstand. O-Ton Prof. Joachim Nadstawek, Vorstand BVSD: Wenn ich mir manche Begründungen des MDK anschaue, kann ich nur sagen, dass offensichtlich diese Anträge von Ärzten beurteilt worden sind, die weder etwas von Schmerzmedizin verstehen - und überhaupt nichts von Cannabis. Und so muss Thorsten Naumann seine Cannabis-Therapie weiter aus der eigenen Tasche zahlen. Das Gesetz hat ihm bislang nicht geholfen. Im Gegenteil: Weil die Apotheker seither Cannabisblüten aufwendig überprüfen müssen, ehe sie an die Patienten abgegeben werden, haben sich die Preise verdoppelt. Wie war noch mal das Versprechen der Politik an die Patienten? O-Ton Ingrid Fischbach, CDU, ehem. Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit, am : Wir sorgen dafür, dass schwerkranke Menschen bestmöglich versorgt werden. Das Bundesgesundheitsministerium verweist auf Nachfrage von Frontal 21 auf die positiv beschiedenen Anträge. Deren Zahl

5 zeige, Zitat: dass das Verfahren bewährt ist und das Gesetz Wirkung zeigt. Thorsten Naumann und den anderen Betroffenen hilft das wenig. O-Ton Naumann, Schmerzpatient: Ich kann das nicht wirklich verstehen, dass Politik an der Stelle nicht reagiert und, ja, hier nachbessert. Wie viele andere Patienten auch klagt Thorsten Naumann jetzt vor dem Sozialgericht gegen seine Krankenkasse. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.