Raus aus der Panik, rein ins Leben
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- Stefanie Berg
- vor 8 Jahren
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1 Raus aus der Panik, rein ins Leben Wenn Erwachsene Lesen und Schreiben lernen Namen, Fahrpläne für funktionale Analphabeten ist ihr Informationsgehalt oft nur mit fremder Hilfe entschlüsselbar. Bis sie doch noch das Lesen und Schreiben lernen. Lernerinnen und Lerner aus Berlin erzählen, wie sie sich allmählich eine neue Welt erobern. Foto Oliver Mehlis für das BMBF: VHS-Kursleiterin Jördis Rieck 2013 A wie Alex, B wie Berlin und C wie Currywurst. Mit dem ABC durch Berlin steht auf dem Poster neben der Tafel. Im Unterrichtsraum der VHS Neukölln folgen acht Augenpaare konzentriert der Handbewegung von Jördis Rieck. Buchstabe für Buchstabe schreibt die Dozentin das Wort an die Tafel. Wenn ihr es in Silben aufteilt, wird es leichter, hilft sie: Haus-schlüs-sel, Holger Kögel* formt das Wort mit den Lippen nach. Jetzt hat er es raus: Geht doch! Bis vor Kurzem war die Welt der Buchstaben einfach nur unerreichbar 29. November 2013 Lesen & Schreiben Mein Schlüssel zur Welt: Raus aus der Panik Seite 1 THEMENSERVICE Früher war die Stadt voller geheimer Botschaften. Plakate, Straßenschilder,
2 weit weg für ihn. Er sei auf dem Stand eines Drittklässlers, sagt der 44-Jährige über sich selbst. Holger Kögel erzählt das ohne Umschweife wenn auch ausdrücklich unter Pseudonym. Betroffene fühlen sich allein Erwachsen zu sein und nicht richtig Lesen und Schreiben zu können, das ist noch immer ein Tabu in Deutschland. Dabei gibt es nach Schätzungen von Fachexpertinnen und -experten allein in Berlin und Brandenburg rund sogenannte Analphabeten. Betroffene haben oft schlechte Erfahrungen gemacht. Viele denken, dass sie allein sind mit dem Problem, erklärt Nikola Amrhein von der VHS Neukölln. Holger Kögel besucht den Lehrgang Alphabetisierung und Grundbildung zur Berufsvorbereitung, der im Rahmen des von Nikola Amrhein geleiteten Pilotprojektes gemeinsam mit der Volkshochschule Mitte an der VHS Neukölln angeboten wird. Funktionale Analphabeten, die ihre berufliche Situation verbessern wollen, sollen hier das nötige Rüstzeug bekommen. Zusätzlich zum täglichen Unterricht von neun bis 14:45 Uhr wartet im Sommer ein in den Lehrgang integriertes zweimonatiges Berufspraktikum in der Gastronomie, im Reinigungsgewerbe, in der Alten- und Behindertenpflege oder in der Logistik auf die Lernerinnen und Lerner. Der Lehrgang vermittelt gezielt auch Mathekenntnisse, trainiert im Umgang mit Computer und Internet und fördert soziale Kompetenzen. Wer als Kind in der Schule den Anschluss verloren hat, braucht rund herum professionelle Unterstützung für eine realistische berufliche Perspektive, weiß Nikola Amrhein. Wenn die Schule zum Angst-Ort wird Holger Kögel hat mit neun Jahren den Anschluss verloren. Ich wurde ständig gehänselt und sogar verprügelt wegen meiner Lippenspalte. Irgendwann beschloss ich, einfach nicht mehr zur Schule zu gehen. Meine Mutter hat zwar noch mit den Lehrnerinnen und Lehrern gesprochen, aber das hat wenig gebracht. Ich habe es irgendwann nicht mehr ausgehalten und mich nur noch herumgetrieben, bin an die falschen Leute geraten, habe viel Mist gebaut. Mit 29. November 2013 Lesen & Schreiben Mein Schlüssel zur Welt: Raus aus der Panik Seite 2
3 15 Jahren fand Holger Kögel einen Job als Möbelträger, später arbeitete er im Straßen- und schließlich viele Jahre im Gerüstbau. Dass er funktionaler Analphabet ist, merkte niemand: Wichtige Begriffe wie Zentimeter oder Kilometer habe ich mir einfach auswendig eingeprägt. Wenn ich mal Fehler gemacht habe, hat das die Sekretärin korrigiert, erzählt er. Als der Rücken plötzlich nicht mehr mitmachte, musste er seinen Job aufgeben. Das war der entscheidende Punkt, sagt Kögel. Das hat ihn motiviert, noch einmal anzufangen und sich eine neue berufliche Perspektive zu schaffen. Radio- und Fernsehtechniker würde er gerne werden. Der Lehrgang ist ein erster Schritt. Raus aus der inneren Kündigung Wer im Erwachsenenalter einen Alphabetisierungskurs beginnt, vor dem ziehe ich meinen Hut, sagt Lernberaterin Margret Müller. Viele erleben schon in frühester Kindheit Ablehnung, entwickeln Angst, werden auffällig. Irgendwann kommt das Stoppsignal, eine Art innere Kündigung an den Schulunterricht, beschreibt sie den Teufelskreis, den die meisten ihrer erwachsenen Schüler in Kindheit und Jugend durchlaufen haben. Seit 25 Jahren arbeitet sie als Kursleiterin für Alphabetisierungskurse für den Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe e. V. in Berlin-Kreuzberg. Der 1977 gegründete Verein ist neben den Volkshochschulen längst zu einer festen Institution für funktionale Analphabeten geworden. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft fördert die Arbeit, zu der auch die professionelle therapeutische Einzelberatung gehört. Allmählich tut sich etwas Es ist Montagabend. Anne Schuster* sitzt nach dem Alphabetisierungskurs noch mit den anderen Frauen zusammen. Zweimal pro Woche kommt die 50- Jährige nach Feierabend hierher. Sie arbeitet im öffentlichen Dienst, hat einen Schulabschluss. Richtig schreiben hat sie nie gelernt. Nur weiß das am Arbeitsplatz und im Freundeskreis niemand. Der Druck ist groß. Einzig ihrem Mann und ihrem Sohn hat sie sich anvertraut. Wenn jemand neben mir steht, 29. November 2013 Lesen & Schreiben Mein Schlüssel zur Welt: Raus aus der Panik Seite 3
4 während ich etwas schreibe, bekomme ich noch immer Panik, bekennt sie. Meine Mutter hat mir immer wieder gesagt, dass ich dumm sei. Irgendwann habe ich das selbst geglaubt. Ich kam ja auch auf die Sonderschule, Anfang der 70er Jahre war das. Der Knacks sitzt tief. Doch allmählich tut sich etwas. Inzwischen könne sie immer besser schreiben, und selbstbewusster sei sie auch geworden. Es braucht einfach sehr viel Mut, offen mit der eigenen Schwäche umzugehen und sich mit den anderen im Kurs auszutauschen. So schreibe ich jetzt! Die anderen Frauen stimmen ihr zu. Sie wissen genau, was Anne Schuster meint. Mit hämmerndem Herzen und schweißnassen Händen habe sie selbst vor drei Jahren hier gestanden, um sich für den Unterricht anzumelden, erzählt Yasmin Özgur. Meine Tochter musste mich begleiten! Stewardess wäre die 53-Jährige gerne geworden. Stattdessen hat sie als Näherin in Fabriken gearbeitet. Ihre Eltern sind oft umgezogen und sie haben sie auch lieber zum Einkaufen als in die Schule geschickt. Dabei hätte sie so gerne ihren Schulabschluss gemacht. Yasmin Özgur klappt ihr Heft auf und zeigt auf einen Text. So schreibe ich jetzt, sagt sie stolz. Anne Schuster wirft einen anerkennenden Blick auf die langen, gleichmäßigen Sätze. Noch mag ich Abkürzungen lieber, da muss ich weniger schreiben, stellt sie heiter fest. Und es klingt sogar eine Spur Selbsthumor hindurch. Wie Holger Kögel will auch sie sich unbedingt beruflich weiterentwickeln. Sie hat ganz offensichtlich das Zeug dazu. *Namen von der Redaktion geändert Verwendungshinweis: Der Abdruck ist honorarfrei. Um ein Belegexemplar wird höflich gebeten. Für Ihre Recherche: Zahlen und Fakten aus leo. Level-One Studie der Universität Hamburg: November 2013 Lesen & Schreiben Mein Schlüssel zur Welt: Raus aus der Panik Seite 4
5 Weitere Informationen zur Kampagne Lesen & Schreiben Mein Schlüssel zur Welt, zu den Partnern und zu den Aktivitäten vor Ort: Weitere Informationen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung: Pressekontakt: Servicebüro Lesen & Schreiben Mein Schlüssel zur Welt Ein Service des Bundesministeriums für Bildung und Forschung Burgstraße Berlin Deutschland Telefon: Fax: presse@mein-schluessel-zur-welt.de 29. November 2013 Lesen & Schreiben Mein Schlüssel zur Welt: Raus aus der Panik Seite 5
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