Feuersteintagung AVWS und LRS. Manfred Flöther. Fachberatung Hören und Sprache Allgemeinpädagogischer Dienst des Landesarztes
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- Edmund Brinkerhoff
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1 Feuersteintagung 2015 AVWS und LRS Manfred Flöther Fachberatung Hören und Sprache Allgemeinpädagogischer Dienst des Landesarztes
2 A V AVWS ein Puzzle! Standards Terminologie Diagnostik Interdisziplinarität und dann auch noch LRS! W S Bildrechte: LUCKAS / pegbes - fotolia.com 2
3 LRS: ein Aufgabenfeld für die Disziplinen auf Burg Feuerstein? Zugriff:
4 Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) die Störung der Verarbeitung (Hirnstammniveau) und Wahrnehmung (höhere auditorische Funktionen unter Einbeziehung kognitiver Funktionen) dieser nervalen Impulse. (DGPP 2010) ICD-10-Klassifikationen (GM): F 80.2 Rezeptive Sprachstörung > F AVWS F 88 Andere Entwicklungsstörungen H 91.8 Sonstiger näher bezeichneter Hörverlust H 93.2 Sonstige abnorme Hörempfindungen H 90.5 Hörverlust durch Schallempfindungsstörung (H 91.4 ist seit 2006 bei der WHO beantragt) Prävalenz: Kinder 2-3% / Erwachsene 10-20% (USA: bis zu 7%) Quelle: Uttenweiler (2000), Feuerstein 2015 Manfred Flöther - AVWS und LRS 4
5 Lese-Rechtschreibstörung (LRS) umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. ( ICD-10-Klassifikationen: o F 81.0 Lese- und Rechtschreibstörung o F 81.1 Isolierte Rechtschreibstörung Prävalenz: Kinder 4-7% (z. T. bis zu 13%) Genetische Disposition: DCDC2 auf Chromosom 6 u. a. 5
6 AVWS und LRS: Interferenzen? 6
7 Definition: Auditive Verarbeitung und Wahrnehmung (AVW) Im Prozess der Weiterverarbeitung akustischer Reize (nach der Schallwandlung im peripheren Hörorgan) durch das neuronale Netzwerk unterscheidet man: Verarbeitung im Sinne einer neuronalen Weiterleitung sowie Vorverarbeitung und Filterung von auditiven Signalen bzw. Informationen auf verschiedenen Ebenen (Hörnerv, Hirnstamm, Kortex) und Wahrnehmung (= Perzeption) als ein Teil der Kognition im Sinne einer zu höheren Zentren hin zunehmenden bewussten Analyse auditiver Informationen. (DGPP 2010) Feuerstein 2015 Manfred Flöther - AVWS und LRS 7
8 AVWS: Mögliche Ursachen Angeboren rezeptive SSES (F 80.2) bei 5-7% der Weltbevölkerung genuin vererbt Foxp2 auf Chromosom 7 (entdeckt 1998) MRT weist herabgesetzte neuronale Repräsentationen kurzer auditorischer Reize bei SSES-Kindern nach (Diedler u. a. 2009) synaptische Störung im Hörsystem, Hörkrankheit (H 91.4, beantragt 02/2006) Bändermodell eines Teils des FOXP2-Proteins im Komplex mit DNA Quelle: Erworben (vermutlich 65-70% der AVWS-Fälle) nicht oder inkonsequent behandelte Mittelohrprobleme im Kleinkindalter nicht ausreichende Stimulation (Folge: SES) Feuerstein 2015 Manfred Flöther - AVWS und LRS 8
9 Von der AVS zur AVWS Frerichs (2000) formuliert folgende Hypothesen: 1. Die Verarbeitungsstörung lässt sich als Folge einer organischen Schädigung der Hörbahn definieren (Myelinisierungsstörung). 2. Verarbeitungsstörungen lassen sich im Schulalter kaum noch therapieren (Abklingen der Myelinisierungsphase) 3. Wahrnehmungsstörungen sind kortikale Funktionsstörungen als Konsequenz gestörter Verarbeitungsprozesse in der Hörbahn (defizitäre Signalleistungsbilanz mit eingeschränkter Hörmusterstrukturierung) > Ungünstige Hörbilanz / negative Hörkarriere Feuerstein 2015 Manfred Flöther - AVWS und LRS 9
10 10
11 Sensible neuronale Phasen Synapsenbildung: Intensivste Phase: Lebensmonat Myelinisierung: 6. SSW bis zum 4. Lebensjahr Oberer Olivenkomplex: Richtungshören (Sensibelste Phase: bis zum 3. Lebensjahr) Quelle: Feuerstein 2015 Manfred Flöther - AVWS und LRS 11
12 Modell der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung (Flöther / Rink- Ludwig 2006ff.) Top- down- Prozesse Hirnrinde (Kortex) Höhere mentale Prozesse: Erwartungen, Wissen, Motivation Phonologische Bewusstheit Synthese Ergänzung Analyse Identifikation Diskrimination Analogie Auditive Aufmerksamkeit Vigilanz geteilte Aufmerksamkeit selektive Aufmerksamkeit Langzeitspeicher / -gedächtnis Aufmerksamkeit: Generelle Wachheit Kurzzeitspeicher/-gedächtnis Umfang/Gedächtnisspanne Sequenz Arbeitsgedächtnis Phonologische Schleife Phonologischer Speicher Artikulatorischer Kontrollprozess Hörnerv Stammhirn Mittelhirn Hörorgan Verarbeitung: Differenzierung (Geräusche) Lokalisation (Richtungshören) Selektion (Figur-Grund-Wahrnehmung) Separation (Dichotisches Hören) Summation Zeitauflösung Sensorische Prozesse / Schallinput / Peripheres Hören / Empfindung Bottom- up- Prozesse 12
13 13
14 Phonologische Kompetenzen: Vorläuferfertigkeiten für den Schriftspracherwerb Skowronek & Marx 1989 Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne Phonologische Bewusstheit im engeren Sinne Tunmer & Rohl 1991 Wortbewusstheit Lautbewusstheit Morais 1991 Gathercole & Baddeley 1993 Wehr 1992 u Gombert 1990 Ganzheitliche phonologische Bewusstheit Implizite epiphonologische Fähigkeiten Analytische phonologische Bewusstheit Explizite metaphonologische Fähigkeiten 14
15 Entwicklung impliziter epiphonologischer Fähigkeiten Alter Epiphase I (Beginn 3.Lj.) Epiphase II Epiphase III (4.-6. Lj.) > Metaphase Kompetenzen Erprobung von Sprachspielen (morphophonologische Eigenschaften) Reime erkennen und bilden Segmentierung und Identifikation: Silbisch ( > Silbenklatschen > Prosodie! oft früher) Subsilbisch ( onset - rime ) Phonemisch (ohne Prosodie / Semantik) Lautidentifikation ab ca. 5. Lebensjahr Ergänzungen (In- und Auslaut, Silben) 15
16 Entwicklung expliziter metaphonologischer Fähigkeiten Alter Metaphase (ab 7. Lj.) Kompetenzen Willentliche Beherrschung der Phonemstrukturen Phoneme zählen Phoneme auslassen Positionsbestimmung Syntheseleistungen (vor allem im Rahmen des Schrifterwerbs) Schriftspracherwerb (alphabetisch) <> Metaphonologische Kompetenzen 16
17 Einige mögliche (Spät-) Folgen von AVWS Spracherwerbsstörungen ca % Late Talker bei U7 (davon ca. 50% SES) Konzentrationsstörungen Verhaltensauffälligkeiten Lese-Rechtschreibprobleme bei ca. 50% der SES-Kinder Lernschwierigkeiten / Schulprobleme > Schulunterricht ist wesentlich auf auditive Informationsverarbeitung angelegt Feuerstein 2015 Manfred Flöther - AVWS und LRS 17
18 AVWS als interdisziplinäre Herausforderung Audiologische Technik Medizin Pädaudiologie Pädiatrie HNO-Heilkunde Psychologie Bildrechte: Sergey Ilin fotolia.com Heilmittel/Therapie Logopädie Ergotherapie Pädagogik Heil-/Sonderpädagogik Hörgeschädigtenpädagogik Sprachheilpädagogik Feuerstein 2015 Manfred Flöther - AVWS und LRS 18
19 Aktuelle Empfehlung zur Diagnostik (DGPP 2010) 1. Individuell ausgerichtete Testbatterie mit ausreichender Breite 2. Vorweg-Diagnostik: Beurteilungen von a) Sprechen b) Sprache c) Lernfähigkeit d) Psyche 3. Altersgemäße Tests zur Diagnose von AVWS (sprachlich basiertes und sprachfreies Testmaterial) 4. Vermeidung von top-down -Einflüssen: alters- bzw. sprach- und entwicklungsabhängige Auswahl der subjektiven Tests 5.AVWS: Gattungsname für verschiedene Unterformen (Kiese- Himmel 2011) Feuerstein 2015 Manfred Flöther - AVWS und LRS 19
20 AVWS: Spezifische Störung? Schritt 1: Normakusis (Ausschluss Peripherie) Schritt 2: Ausschluss einer kognitiven Beeinträchtigung: IQ > 85 Schritt 3: Ausschluss eines ADHS Schritt 4: Feindiagnostik Auditive Ebenen und Teilleistungen auditives Profil Konsequenz: Interdisziplinarität Klinisch: 5-6 Std. Testung (z.b. MHH) Netzwerk: Ärzte, Therapeuten, Psychologen, Schulen, Beratungsstellen etc. (z. B. Halberstadt) 20
21 Formen und Ausprägungen Formen (Modilitäts-) Spezifische Störung (= nur isolierte AVWS) Kombinierte Störung z.b. mit SSES, ADHS, LRS, Autismus Symptomatische Störung (AVWS = Teilsymptom) z.b. als Folge eines kognitiven Defizits Ausprägungen Breitbandiges Störungsbild (mindestens 3 Teilleistungen erheblich gestört, V- und/oder W-Ebene?) Auditive Teilleistungsstörungen (Merkspanne, phonematische Diskrimination) Ziel: genaue Beschreibung der diagnostizierten Funktionsdefizite, also z.b. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung mit basalen auditorischen Defiziten der Frequenzauflösung und Phonemdiskriminationsschwäche sowie eingeschränkter Hörmerkspanne. (Konsensus-Entwurf der DGPP 2012) 21
22 Quelle: Schröter, Carolin (2013): AVWS meets LRS: Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis. In: Spektrum Patholinguistik 6,
23 Sprachfertigkeiten Sprachebenen Mündliche Sprachfertigkeiten Perzeptiv / rezeptiv Produktiv / expressiv Hören Sprechen Schriftliche Sprachfertigkeiten Perzeptiv / rezeptiv Produktiv / Expressiv Lesen Schreiben Textematik (Textebene) Sprachverständnisstörung (F 80.2) Sprachgestaltungsschwäche (F 80.1) Eingeschränktes sinnerfassendes Lesen Aufsatz- Schwäche Lexematik (Wortschatz) Defizite im passiven Wortschatz; Auditive Speicherschwäche Defizite im aktiven Wortschatz; Wortfindungsprobleme Unsicherheiten in der Wortbilderkennung Morphematik (Wortbau) Unsicherheiten in der auditiven Analogieerkennung Dysgrammatismus Syntagmatik (Satzbau) Verminderte Hör-Merk-Spanne, Sequenzierung Dyssyntaxie; wenig Satzbaupläne Phonematik (Lautebene) Störung der phonologischen Bewusstheit Identifikation und Analogie Analyse und Synthese Ergänzung Diskrimination Dyslalie / Stammeln Phonologische Aussprachestörung (F 80.0) Erschwertes Lesen, analytisch und synthetisch (Legasthenie?) (F 81.0) Rechtschreibschwäche (Isolierte RS?) (F 81.1) Prosodie (Melodie etc.) Speichern v. Melodien, Betonungsmustern, Rhythmus etc. Dysprosodie, Redeflussstörung, (Stottern Poltern) F 98.5 /.6) Fehlerhafte Zeichensetzung (übergreifend) Auditive Verarbeitungs-/ Wahrnehmungsstörungen (F 80.20) Mutismus (F 94.0) Näseln (Rhinophonie R 49.2) Leseschwäche (Legasthenie?) Schreibschwäche (Legasthenie?) 23
24 Zusammenhang zwischen eingeschränkten Teilfunktionen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung und der Lese- und Schreibfähigkeit (Schröter, Carolin (2013): AVWS meets LRS: Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis. In: Spektrum Patholinguistik 6, ) Auditive Teilfunktion Lesen Schreiben Lautdiskrimination - Verwechselung klangähnlicher Buchstaben Auditive Merkfähigkeit Lesen mehrsilbiger Wörter erschwert Schreiben mehrsilbiger Wörter erschwert; Metathesen Auditive Analyse - Auslassung von Buchstaben Auditive Synthese Auditive Ergänzung Zusammenlauten von Buchstaben erschwert; verlangsamtes Lesetempo; Rateverhalten Rateverhalten durch falschen Zugriff im phonologischen In- und Outputlexikon Auditive Identifikation - Verwechselung, Auslassung und Tilgung von Buchstaben - - Feuerstein 2015 Manfred Flöther - AVWS und LRS 24
25 Abbildung: gemeinsame Varianzanteile von sprachlicher Intelligenz, Lese- und Hörverstehen (Rost & Hartmann, 1992) Quelle: (Aufruf am ) 25
26 AVWS und LRS: Was hilft? Langfristig: Training der phonologischen Bewusstheit in Kombination mit schriftsprachlicher Förderung (div. Studien von Schneider et. al. 1999, 2000, 2002) Elterntraining (dialogisches Vorlesen, Übungen zur phonologischen Bewusstheit) und Hören, Lauschen, Lernen jeweils signifikant wirksam Kombination beider Programme erbrachte keine erhöhte Wirksamkeit (Rückert u.a. 2010) FM-Unterstützung in Kombination mit LR-Förderung und auditivem Training (Hornickel u.a. 2012/2013; Johnston u.a. 2009) Was hilft nicht? Zeitverarbeitungstraining (Ordnungsschwelle) FM-Unterstützung: keine strenge empirische Evidenz (Lemos u.a. 2009) 26
27 Das hilft: frühe Förderung, elterliche intuitive Didaktik, Dialogik und Bindung Das hilft auch: ganzheitliche Förderung mit allen Sinnen, keine Angst vor Schrift! Bildrechte: detailblick / lagom / kotomiti fotolia.com Ein Klassiker: Bilderbuchbetrachten, möglichst im Dialog! 27
28 Danke für s Zuhören! Jetzt schauen wir mal, was Sie daraus machen! 28
AVWS - Bielefeld Konsensus-Papiere / Leitlinien DGPP (Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie) > seit 1999 mit regelmäßigen Updates BDH
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