Psychiatrische Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit
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- Albert Gärtner
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1 Prof. Dr. Norbert Scherbaum Direktor der Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin LVR-Klinikum Essen Kliniken der Universität Duisburg-Essen Psychiatrische Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit
2 Definition Mindestens eine weitere psychische Störung neben der Hauptdiagnose (Opioidabhängigkeit) Bezugsrahmen: operationalisierte Diagnosesysteme (ab DSM-III, ICD-10) Missverständlich: dual diagnosis (Doppeldiagnose) z. T. mehr als eine weitere Diagnose z. T. Verengung auf Schizophrenie und Sucht DSM = Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen ICD = Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme
3 Epidemiologie Psychiatrische Komorbidität (PREMOS-Studie) Bundesweite Zufallsauswahl opioidsubstituierter Patienten (n = 2.694) 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% Depressive Störungen 57% Persönlichkeitsstörungen 31% Angststörungen Schlafstörungen 21% 25% PTBS/akute Belastungsreakt. 12% Psychosen 5% Sonstige 19% Wittchen HU et al. Drug Alcohol Depend 2008; 95: PTBS = Posttraumatische Belastungsstörung
4 Epidemiologie Komorbide psychische Störungen bei der Mehrheit der Opioidabhängigen, vor allem affektive und Angststörungen Persönlichkeitsstörungen Aktuelle Forschung mit Fokus auf Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) posttraumatischer Belastungsstörung bipolare affektive Störung
5 PREMOS-Studie: kaum Änderung komorbider psychischer Störungen in 12-Monatskatamnese Katamnese-Stichprobe n = (100 %) Status Beginn (%) nach 12 Monaten (%) p Beigebrauch Opioide % positive Drogenscreenings 19,3 15,8 < 0,05 Irgendwelche % positive Drogenscreenings 48,9 46,3 < 00,1 Suchtmittel Durchschn. Anzahl positiver Screenings (SD) 1,5 (0,8) 1,4 (0,7) n.s. Körperliche Gesundheit HCV-Infektion 67,1 48,0 < 0,001 Lungenerkrankung 23,2 16,4 < 0,001 Arzturteil Kardiovaskuläre Erkrankung 15,1 8,4 < 0,001 HIV/AIDS-Infektion 7,3 7,4 n.s. Andere körperliche Erkrankung 77,7 52,7 < 0,001 Psychische Gesundheit Depressive Störung 57,0 56,2 n.s. Persönlichkeitsstörung 31,3 31,1 n.s. Angststörung 25,3 27,2 n.s. Arzturteil Schlafstörung 21,0 28,8 < 0,05 PTSD 11,9 15,0 n.s. Psychose 5,3 4,9 n.s. Irgendeine psychische Störung 100,0 82,9 < 0,001 Wittchen HU et al. Drug Alcohol Depend 2008; 95: SD = Standardabweichung
6 Epidemiologie Abhängige Patienten mit komorbiden psychischen Störungen haben einen ungünstigeren Verlauf als Patienten ohne komorbide Störungen: Höhere Intensität der Suchterkrankung Schlechtere soziale Integration Niedrigere Haltequote in Behandlung Mehr juristische Probleme Höhere Suizidrate Häufigere Notfallaufnahmen etc.
7 Ätiologie Wie hängen Opioidabhängigkeit und komorbide psychische Störung miteinander zusammen??
8 Suchtmittelkonsum als inadäquate Selbstbehandlung Self-Medication-Hypothese: Der Suchtmittelkonsum dient der spezifischen Linderung von psychischen Beschwerden. Khantzian EJ. Harv Rev Psychiatry 1997; 4:
9 Selbstmedikation : Depression Kokain zur Stimmungsaufhellung, Antriebssteigerung Heroin, Alkohol zur Anxiolyse Benzodiazepine bei Schlafstörung Foto: asiseeit istockphoto
10 Selbstmedikation : Angststörungen Alkohol, Heroin, Benzodiazepine zur Anxiolyse Alkohol zum Abbau von Hemmungen in Sozialkontakten Kokain zur (kontraphobischen) Antriebssteigerung Foto: luxorphoto shutterstock
11 Modelle zur Ätiologie Sucht als Folgeerkrankung Self-medication-Hypothese Supersensitivitäts-Modell Psychische Störung als Folgeerkrankung Gemeinsame Vulnerabilität (genetisch, psychisch, sozial) für psychische Störung und Sucht Bidirektional: gegenseitige negative Beeinflussung
12 Teufelskreise der Abhängigkeit Psychischer Teufelskreis Suchtmittelkonsum verschlimmert langfristig psychische Beschwerden, die er kurzfristig lindert, z. B. depressive Zustände Psychobiologischer Teufelskreis Aufmerksamkeitsverzerrung Entzugssymptome bei Absetzen Sozialer Teufelskreis: Risiko der sozialen Desintegration (z. B. Arbeitsplatzverlust) g Abbau realer Alternativen zum süchtigen Lebensstil
13 Probleme bei der Diagnostik (1) Heterogenes Hilfesystem Suchthilfesystem: Hauptdiagnose substanzbezogene Störung, komorbide psychische Störung oft nicht festgestellt oder nicht ausreichend behandelt. Psychiatrisches Hilfesystem: Hauptdiagnose psychische Störung, komorbide substanzbezogene Störung oft nicht festgestellt oder nicht ausreichend behandelt.
14 Probleme bei der Diagnostik (2) Schwierige diagnostische Evaluation Mangelhafte Angaben/Erinnerung des Patienten Psychische Symptome klingen oft nach 2 4-wöchiger Abstinenz ab. Unsicherer Zusammenhang zwischen problematischen Lebensumständen und insbesondere Depression
15 Hilfen bei der Diagnostik Mehrere Informationsquellen (Fremdanamnese: Familie, Arztbriefe etc.) Anamnese zu Belastung der Familie mit psychischen Erkrankungen Untersuchung im Verlauf Symptome und Suchtmittelkonsum Symptome und Abstinenz Psychische Auffälligkeiten vor Suchterkrankung Phasenhafter Verlauf psychischer Beschwerden
16 Therapieplan bei Substitutionsbehandlung Substitutgabe (nur) Teil der Behandlung Therapie komorbider Störungen Psychische Störungen Substanzbezogene Störungen Somatische Erkrankungen Psychosoziale Betreuung
17 Therapieziele in Substitutionsbehandlung Betreuungsintensität Rückfallrisiko Harm Reduction Beschaffungsdruck Craving Soziale und gesundheitliche Stabilisierung Heroinabstinenz* Ggf. Take-home- Verschreibung Familie, Freunde Beruf Opioidabstinenz? Opioidmissbrauch Lebensqualität * Heroinabstinenz und kein riskanter Konsum anderer Suchtmittel
18 Therapie psychiatrischer Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit Therapieoptionen Differentieller Einsatz des Substituts Pharmakologische Therapie Psychotherapeutische Behandlung Psychosoziale Begleitung
19 Medikamentöse Therapie psychiatrischer Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit Grundlagen D,L-Methadon bzw. L-Methadon ( ) -Rezeptor: Mäßige Bindung, starke Stimulation Atemdepression Euphorie Toleranz- oder Abhängigkeitsentwicklung Bradykardie κ-rezeptor: Stimulation Sedierung Dysphorie κ κ
20 Medikamentöse Therapie psychiatrischer Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit Grundlagen Buprenorphin ( ) -Rezeptor: Feste Bindung, gute Stimulation Limitierte Atemdepression Weniger Euphorie Mäßige Toleranz- oder Abhängigkeitsentwicklung Geringere Bradykardie κ-rezeptor: Hemmung Vermeidet Sedierung Vermeidet Dysphorie κ κ
21 Medikamentöse Therapie psychiatrischer Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit Grundlagen Naloxon ( ) Häufige Kombinationssubstanz mit Opioiden, z. B. mit Buprenorphin, Tilidin, Oxycodon Hemmt alle Opioidrezeptoren Reduziert die Attraktivität von Opioiden auf dem Schwarzmarkt 1 κ κ 1 Fudala PJ et al. Drug Alcohol Depend 1998; 50: 1 8; Mendelson J et al. Drug Alcohol Depend 2003; 70: 29 37
22 Differentieller Einsatz des Substitutes Verminderte emotionale Reagibilität unter Methadon Experimente zur Induktion von Emotionen 1 Hinweise auf antidepressive Wirkung von Buprenorphin 2 κ-rezeptor-antagonismus Fallserien von depressiven Patienten (ohne Opioidabhängigkeit) 1. Savvas SM et al. Addiction 2012; 107: Nyhuis PW et al. J Clin Psychopharmacol 2008; 28:
23 Antidepressive Wirkung von Buprenorphin bei EKT-resistenter depressiver Erkrankung Fall # Geschlecht Alter (Jahre) BPN Dosis HAMD vor BPN HAMD unter BPN* BDI vor BPN BDI unter BPN* 1 m 24 1,2 mg f 39 0,8 mg f 50 2,0 mg f 48 1,2 mg m 42 1,2 mg f 72 0,8 mg Nyhuis PW et al. J Clin Psychopharmacol 2008; 28: * nach einer Woche Therapie EKT = Elektrokrampftherapie BPN = Buprenorphin HAMD = Hamilton-Skala für Depression BDI = Beck-Depressions-Inventar
24 Medikamentöse Therapie psychiatrischer Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit Angststörungen Depression Schizophrenie Entsprechende medikamentöse Therapie Zwangsstörungen
25 Psychotherapeutische Therapie psychiatrischer Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit Psychotherapeutische Ansätze Einsatz von Interventionen, die für spezifische Störungen entwickelt und evaluiert wurden (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung: DBT, depressive Störung: IPT) Einsatz von Interventionen, die speziell an Substitutionspatienten erprobt wurden DBT = Dialektisch-Behaviorale Therapie IPT = Interpersonelle Psychotherapie
26 Therapiesetting Integrative Behandlung, z. B. in einer Substitutionsambulanz einer psychiatrischen Klinik Serielle Behandlung In welcher Reihenfolge (abgesehen von akuten Intoxikationen)? In unterschiedlichen Institutionen? Parallele Behandlung in unterschiedlichen Institutionen
27 Therapie psychiatrischer Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit Therapie im Netzwerk Substitutionsarzt Elementar ist die Kooperation von Substitutionsarzt und Psychiater/ Psychotherapeut. Umfeld PATIENT Psychiater/ Psychotherapeut Gesundheitsdienste PSB/ Soziale Dienste PSB = Psychosoziale Beratung
28 Herausforderungen bei der Therapie von Patienten mit Opioidabhängigkeit und psychiatrischer Komorbidität Vorbehalte von Suchtpatienten gegenüber der Psychotherapie (z. B. Vermeidung der Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, Angst vor Änderung des Lebensstils) Schnittstellenprobleme Psychiatrie Substitution Vorbehalte von Psychotherapeuten gegenüber Patienten mit substanzbezogenen Störungen
29 Herausforderungen bei der Therapie von Patienten mit Opioidabhängigkeit und psychiatrischer Komorbidität Fortsetzung problematischer Substitutionsbehandlungen (z. B. mangelnde Compliance bei Borderline- Persönlichkeitsstörung) Therapieziel: Schadensminderung Bedeutung komorbider somatischer Krankheiten für psychische Gesundheit (z. B. Hepatitis C und depressive Symptome) Bedeutung komorbider substanzbezogener Probleme für die psychische Gesundheit (z. B. komorbide Alkoholoder Kokainabhängigkeit)
30 Zusammenfassung Psychiatrische Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit sind häufig (70 80 %). Nach BÄK-Richtlinien sind komorbide psychische/substanzbezogene Störungen zu diagnostizieren und behandeln. Die Behandlung erfolgt im Netzwerk. Forschung zur Prüfung bestimmter Strategien ist notwendig.
31 Psychiatrische Komorbiditäten bei Opioidabhängigkeit Opioidabhängigkeit Soziale Probleme Substitution Psychosoziale Betreuung Andere substanzbezogene Störungen Komorbidität Andere psychische Störungen Psychopharmakologische-psychotherapeutische Behandlung
32 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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