Allgemeine Grundlagen klinischer Psychologie. Klassifikation psychischer Störungen
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1 Klinische Psychologie I WS 2006/07 Allgemeine Grundlagen klinischer Psychologie Klassifikation psychischer Störungen Prof. Dr. Renate de Jong-Meyer Veranstaltungsüberblick I Allg. Grundlagen der klinischen Psychologie Klassifikation psychischer Störungen Allg. Aspekte klinisch-psychologischer Diagnostik -Operationale Diagnostik -Funktionale Bedingungsanalyse Gastvortrag Dr. L. Kraus Korrelation und Kausalität in den Erklärungen von Substanzkonsum und Suchtverhalten Aufgaben, Methoden und Ergebnisse der epidemiologischen Forschung Psychobiologische Aspekte Emotionsregulation und motivationale Aspekte Lerntheoretische und kognitive Modelle
2 Veranstaltungsüberblick II Sozialpsychologische Aspekte Überblick über die Psychopharmakologie Psychologische Strategien I: Klärung Psychologische Strategien II: Veränderung der Informationsaufnahme und verarbeitung Psychologische Strategien III: Durchbrechen von Vermeidungszyklen Psychologische Strategien IV: Erwerben von Kompetenzen und Förderung von Ressourcen Ergebnisse der Psychotherapieforschung in ausgewählten Störungsbereichen und Empfehlungen zu evidenzbasierter Psychotherapie Klinische Psychologie Klinische Psychologie ist diejenige Teildisziplin der Psychologie, die sich mit psychischen Störungen und den psychischen Aspekten somatischer Störungen/ Krankheiten befasst. Dazu gehören u.a. die Bereiche Ätiologie/ Bedingungsanalyse Klassifikation Diagnostik Epidemiologie Intervention (Prävention, Psychotherapie, Rehabilitation, Gesundheitsversorgung, Evaluation)
3 Definition Psychische Störung Symptome oder Symptommuster (Syndrome) im Erleben, Denken oder Handeln einer Person, die von der Norm abweichen zu einer Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit und/oder sozialen Aktivitäten/Beziehungen führen durch ausgeprägtes Leiden durch die Symptomatik gekennzeichnet sind bei den Betroffenen (oder Bezugspersonen) ein Änderungsbedürfnis hervorrufen Hauptaufgabenbereiche der klinischen Psychologie I 1. Die Beschreibung und Klassifikation dieser Störungen (einschließlich der Entwicklung diagnostischer Instrumente und Vorgehensweisen). 2. Die Erforschung ihrer Ätiologie, d.h. ihrer prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen (z.b. durch experimentelle psychophysiologische Grundlagenforschung, epidemiologische Forschung, life-event-forschung).
4 Hauptaufgabenbereiche der klinischen Psychologie II 3. Die Entwicklung und Evaluation klinischpsychologischer Interventionsmethoden zur a. (primären) Prävention und Beratung b. Psychotherapie c. Rehabilitation Grundannahmen Die Verursachung psychischer Störungen wird multikausal erklärt. Die Entstehungsbedingungen sind von den Aufrechterhaltungsbedingungen zu unterscheiden. Der soziale Kontext ist bei Entstehung und Aufrechterhaltung fast immer mit zu berücksichtigen. Normales und gestörtes Verhalten und Erleben unterliegt weitgehend ähnlichen Veränderungsbedingungen. Übergänge zwischen normalem und gestörtem Verhalten sind oft fließend. Die Unterschiede bestehen z.b. in der Häufigkeit, der Intensität oder der Situationsangemessenheit.
5 Konsequenzen unterschiedlicher Normalitäts-Konzepte Statistische Norm: Abnorm ist das Ungewöhnliche Idealnorm: Abnorm ist das Verwerfliche Sozialnorm: Abnorm ist das Abweichende Subjektive Norm: Abnorm ist das Unpassende Funktionale Norm: Abnorm ist das Schädliche Ebenen des allgemeinen Krankheitsmodells Krankheitsfolgen Krankenrolle und Einschränkungen normalen Rollenverhaltens Kranksein Beschwerden, Symptome und Befunde Krankheit Pathologische Veränderungen (Defekt) in der Person Krankheitsursachen Biologische, psychologische, soziologische Ursachen
6 Verschiedene Krankheitsmodelle Medizinisches Krankheitsmodell (Lern-)Psychologisches Krankheitsmodell Sozialwissenschaftliches Störungsmodell Humanistisches Störungsmodell Differentielle Modelle Nachbargebiete der Klinischen Psychologie Verhaltensmedizin (behavioral medicine) Medizinische Psychologie Klinische Neuropsychologie Gesundheitspsychologie (health psychology) Public Health (dt. Gesundheitswissenschaften) Psychiatrie
7 Klassifikation psychischer Störungen: Prinzipien von DSM-IV und ICD-10 Historischer Rückblick Sumerische / ägyptische Literatur Erste Beschreibung verschiedener Störungsbilder, z.b. Melancholie, Hysterie. Griechenland Bekannte Kategorien waren z.b. Senilität, Alkoholismus, Manie, Melancholie, Paranoia. Mittelalter Klassifikation versch. Dämonen, die für das Auftreten psychischer Krankheiten verantwortlich gemacht wurden. Renaissance Aufgreifen der antiken Klassifikation.
8 Philippe Pinel ( ) Historischer Rückblick Beginn der formalen Klassifikation psychischer Störungen nach dem Vorbild der Biologie; Unterscheidung zwischen - Melancholie - Manie (mit und ohne Delirium) - Demenz - Idiotie Emil Kraepelin ( ) Rückführung psychischer Störungen auf somatische Ursachen. Klassifikation der Störungen erfolgt anhand der Symptome. Klassifikation psychischer Störungen Symptomatologisch Klassifikation erfolgt auf der Grundlage einzelner Symptome. Syndromatologisch Klassifikation erfolgt anhand von Syndromen, d.h. Gruppen gemeinsam auftretender Symptome, ohne die Berücksichtigung von Entstehungsbedingungen. Nosologisch Klassifikation erfolgt anhand der Krankheitslehre (Nosologie). Neben der Symptomatik werden auch der Verlauf, das Ansprechen auf Behandlungsmethoden, Ätiologie und Pathogenese erfasst.
9 Kategoriale versus dimensionale Klassifikation Kategoriale Klassifikation Gruppierung der interessierenden Merkmale und die Einordnung dieser in ein System von Kategorien. Verwendete Kriterien: - Es muss sich um sinnvolle Gruppierungen handeln. - Zwischen den Kategorien müssen hinreichend qualitative Unterschiede bestehen. - Es dürfen keine Überlappungen auftreten. Dimensionale Klassifikation Störungen werden auf zu Grunde liegenden Dimensionen eingetragen; es werden dabei v.a. quantitative Unterschiede festgehalten, da sich qualitative Unterschiede in der Wahl der Dimension ausdrücken. Bei einer Diagnose wird die Ausprägung des Merkmals auf einer oder mehreren Dimensionen festgestellt. Für und Wider die kategoriale Diagnostik Pro - bessere Kommunikation durch klar definierte Nomenklatur - sinnvolle Informationsreduktion - ökonomische Informationsvermittlung - häufiges gemeinsames Auftreten bestimmter klinischer Symptome - Handlungsanleitung für das praktische Vorgehen Contra - Etikettierung / Labeling - Informationsverlust - Verwechslung von Deskription und Erklärung möglich - Reifikation künstlicher Einheiten möglich - Verschleierung zu Grunde liegender Dimensionen - Wissensakkumulation
10 Ursachen für mangelnde Reliabilität und Validität der DSM-III Vorläufer Bei den klassifizierenden Merkmalen Es kann zu unterschiedlichen Schilderungen der Störung durch den Patienten kommen. Es kann zu tatsächlichen Veränderungen zwischen den verschiedenen Anamnese-Zeitpunkten kommen. Bei den klassifizierenden Personen Bestätigungsdiagnostik nach schneller Hypothesenbildung Vernachlässigung der Komorbidität psychischer Störungen Ursachen für mangelnde Reliabilität und Validität der DSM-III Vorläufer Bei den Klassifikationssystemen mangelnde/fehlende Operationalisierungen der diagnostischen Kategorien ungenaue Beschreibung der Dauer, Schwere und anderer assoziierter Verhaltensmerkmale von Syndromen Fehlen zuverlässiger Zuordnungsregeln auf der Syndromebene Auftreten von Überschneidungen bei den diagnostischen Kriterien Vermischung verschiedener Klassifikationsgesichtspunkte in unzulässiger Weise unsystematische Verwendung verschiedener theoretischer Orientierungen fehlende Entscheidungshilfen, ab wann eine Störung vorliegt fehlende Anwendungsregeln für das Gesamtsystem
11 Ziele des DSM-III und seiner Nachfolger 1. Brauchbarkeit für Therapie und Administration unter verschiedenen klinischen Bedingungen 2. Hinreichende Reliabilität 3. Annehmbarkeit für Praktiker und Forscher verschiedener theoretischer Orientierungen 4. Verzicht auf unbewiesene theoretische Annahmen 5. Konsens über zuvor widersprüchlich verwendete Begriffe 6. Verzicht auf überlebte Begriffe (z.b. Neurose) 7. Übereinstimmung mit Forschungsergebnissen zur Validität diagnostischer Kategorien 8. Brauchbarkeit für die Kennzeichnung von Probanden in Forschungsstudien Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist Merkmale des DSM-III und seiner Nachfolger 1. Deskriptiver Ansatz (weitgehend atheoretisch): Störungsdefinition durch klinische Merkmale 2. Darstellung klinischer Merkmale auf möglichst niedrigem Niveau von Schlussfolgerungen 3. Gliederung von Störungen ohne bekannte Ätiologie aufgrund gemeinsamer klinischer Merkmale 4. Moderne Konzept psychischer Störungen (keine Diskontinuität) 5. Klassifikation von Störungen, nicht von Individuen 6. Einführung spezifischer inhaltlicher und zeitlicher Diagnosekriterien (Operationalisierung) 7. Betonung offen erfassbarer Verhaltensweisen 8. Detaillierte und systematische Beschreibung der einzelnen diagnostischen Kategorien 9. Konzept multipler Diagnosen statt Störungshierarchie (Komorbidität zugelassen) 10. Konzept der Multiaxialität Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
12 Multiaxionale Klassifikation des DSM-IV Achse I: Achse II: Achse III: Klinische Störungen u. andere relevante Probleme Notierung aller klinischen Syndrome und Störungen einschließlich der spezifischen Entwicklungsstörungen Persönlichkeitsstörungen u. geistige Behinderungen Betrachtung der langfristigen Störungen, die evtl. von Störungen auf Achse I verdeckt werden. Körperliche Störungen u. Zustände Notierung aller bestehenden körperlichen Störungen oder Zustände, die für das Verständnis oder die Behandlung des Patienten/der Patientin wichtig sind. Multiaxiale Klassifikation des DSM-IV Achse IV: Psychosoziale u. umgebungsbedingte Probleme Erfassung aller psychosozialen und Umweltprobleme, die für die Diagnose, Behandlung und Prognose psychischer Störungen von Bedeutung sein können. Achse V: Globale Erfassung des Funktionsniveaus Die soziale Anpassung soll hinsichtlich der drei Bereiche soziale Beziehungen, Leistung im Beruf und Nutzung der Freizeit auf einem hypothetischen Kontinuum von psychischer Gesundheit Krankheit eingeschätzt werden ( Global Assessment of Functioning -Skala (GAF)).
13 ICD-10 & DSM-IV im Vergleich ICD-10 F 0 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen F 1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F 2 Schizophrenie, schizotype u. wahnhafte Störungen F 3 Affektive Störungen Schizophrenie u. andere psychotische Störungen Affektive Störungen DSM-IV Delir; Demenz; amnestische und andere kognitive Störungen Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen F 4 Neurotische Belastungs - u. somatoforme Störungen F 5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen u. Faktoren Angststörungen; somatoforme Störungen; dissoziative Störungen; Anpassungsstörungen Essstörungen; Schlafstörungen; sexuelle u. Geschlechtsidentitäts - störungen (auch F 6) Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist ICD-10 & DSM-IV im Vergleich ICD-10 F 6 Persönlichkeits- u. Verhaltens - störungen F 7 Intelligenzminderung F 8 Entwicklungsstörungen F 9 Verhaltens - u. emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit & Jugend DSM-IV Persönlichkeitsstörungen, vorgetäuschte Störungen, Störungen der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder in der Adoleszenz diagnostiziert werden. Psychische Störungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors Andere klinisch relevante Probleme Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
14 ICD-10 & DSM-IV im Vergleich Gegenüberstellung am Beispiel der Angststörungen ICD-10 DSM-IV F40.00: Agoraphobie ohne Panikstörung F40.01: Agoraphobie mit Panikstörung : Agoraphobie ohne Panikstörung : Panikstörung mit Agoraphobie F40.1: F40.2: F41.0: F41.1: Soziale Phobien Spezifische Phobien Panikstörung Generalisierte Angststörung : Soziale Phobien : Spezifische Phobien : Panikstörung ohne Agoraphobie : Generalisierte Angststörung ICD-10 & DSM-IV im Vergleich Gegenüberstellung am Beispiel der Angststörungen F40.9: F41.9: ICD-10 Nicht näher bezeichnete phobische Störung Nicht näher bezeichnete Angststörung DSM-IV : Nicht näher bezeichnete Angststörung F42.0: Zwangsstörung : Zwangsstörung F43.0: F43.1: Akute Belastungsstörung Posttraumatische Belastungsstörung : Akute Belastungsstörung : Posttraumatische Belastungsstörung
15 ICD-10 & DSM-IV im Vergleich Gegenüberstellung am Beispiel der Angststörungen F06.4: ICD-10 Angststörung aufgr. eines medizinischen Krankheitsfaktors DSM-IV : Angststörung aufgr. eines medizinischen Krankheitsfaktors F1x.8: Substanzinduzierte Angststörung ---: Substanzinduzierte Angststörung Entscheidungsbäume im DSM-IV Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Rist
16 Literaturhinweis: Margraf, J. (2000). Klassifikation psychischer Störungen. In J. Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie (2. Auflage, Band 1, S ). Berlin: Springer. Wittchen, H.U. & Hoyer, J. (2006). Klinische Psychologie und Psychotherapie. Heidelberg: Springer. Daraus die Kapitel 1 ( Was ist Klinische Psychologie? ) und 2 (Diagnostische Klassifikation psychischer Störungen).
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