Arbeitnehmerfreizügigkeit Folgen der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes gegenüber den ost- und mitteleuropäischen EU-Beitrittsländern

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1 Pressekonferenz, 26. April 2011, Berlin Folgen der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes gegenüber den ost- und mitteleuropäischen EU-Beitrittsländern Statement Prof. Dr. Michael Hüther Direktor Institut der deutschen Wirtschaft Köln Es gilt das gesprochene Wort.

2 Ab 1. Mai 2011 gilt in Deutschland das, was es in vielen EU-Ländern bereits gibt: die volle für Bürger der ost- und mitteleuropäischen EU-Länder, die 2004 der Staatengemeinschaft beigetreten sind. Diese Menschen können dann hierzulande ohne Beschränkungen eine Beschäftigung aufnehmen. Es ist ein richtiger Schritt zur richtigen Zeit. In den nächsten Jahren dürften viele Menschen nach Deutschland einwandern, wie es die Daten des aktuellen Eurobarometers nahelegen. Langfristig bleibt der Zustrom aber moderat, wie Vergleiche mit früheren Zuwanderungswellen zeigen. Die kann Deutschland daher doppelt helfen: Gerade während des aktuellen Aufschwungs werden zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht. Gleichzeitig mangelt es aber bereits an Nachwuchs in vielen Branchen, weil viele Ältere in den Ruhestand gehen und nicht genug Jüngere nachrücken. Gut qualifizierte Fachkräfte aus Ost- und Mitteleuropa könnten diese Engpässe etwas mildern. Gleichwohl werden die neuen Regelungen vielerorts skeptisch betrachtet. Eines der gängigsten Argumente gegen die sind Sorgen um den eigenen Job wegen der zunehmenden Konkurrenz. Dabei wissen viele Menschen gar nicht, was wirklich auf sie zukommt. So zeigt eine repräsentative Befragung durch die IW Köln Consult vom Februar 2011: Die Mehrheit der Arbeitnehmer kennt die Regelung bislang noch nicht (Tabelle 1). Lediglich zwei Fünftel der Befragten hatten schon davon gehört. Wiederum nur zwei Fünftel der Arbeitnehmer, die wissen, wie die funktioniert, haben dies im Kollegenkreis bereits thematisiert. 2

3 Insgesamt 40 Prozent aller Befragten befürchten, dass sich die volle auf den eigenen Arbeitsplatz negativ auswirken wird. Lediglich ein Viertel glaubt, dass diese Regelung sich kaum in ihrem eigenen Job bemerkbar machen wird. Bezeichnenderweise ist bei dieser eher pessimistischen Einschätzung kaum von Bedeutung, ob die Betreffenden die Regelungen überhaupt kennen sie hegen dennoch Ängste, weil sie erwarten, dass mit der Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts viele Menschen aus Mittel- und Osteuropa zuwandern und mit Einheimischen um Arbeitsplätze konkurrieren werden. Das IW Köln hat deshalb in einer Studie untersucht, von welchen Faktoren die Zuwanderung abhängt, welche Rolle dabei die Freizügigkeit in der Europäischen Union spielt, welche Erfahrungen andere Länder gemacht haben und welche Folgen Deutschland bevorstehen. Die wesentlichen Ergebnisse: Faktoren der Wanderungsentscheidungen Die Entscheidung, in ein anderes Land auszuwandern, treffen Menschen aus den verschiedensten Erwägungen. Von herausragender Bedeutung sind vor allem wirtschaftliche Bedingungen. So ist eine neue Heimat vor allem dann reizvoll, wenn der Lohn und die Chance auf einen entsprechend gut bezahlten Arbeitsplatz im anderen Land höher sind als zuhause. Das ist keineswegs eine rein theoretische Sichtweise von Ökonomen. In einer Eurobarometer-Befragung von EU-Bürgern, die Faktoren nennen sollten, die sie zu einer Auswanderung in ein anderes Land veranlassen könnten, waren die drei am häufigsten Gründe besse- 3

4 re Lebensqualität, bessere Arbeitsbedingungen und bessere Karriere- oder Geschäftsmöglichkeiten. So verlockend, wie die Aussichten in einem anderen Land auch immer sein mögen auszuwandern kostet erst einmal Geld. Wer das Kapital nicht hat und es sich auch nicht leihen kann, der kann auch nicht gehen selbst wenn die späteren Erträge, beispielsweise ein besserer Lohn, die Kosten später kompensieren würden. Zudem beschränken die meisten Länder die Zuwanderung per Gesetz. So unterliegen etwa Ausländer aus Nicht-EU-Ländern in Deutschland dem Aufenthaltsgesetz. Und das lässt nur in sehr beschränktem Umfang überhaupt eine Zuwanderung zum Zwecke der Erwerbstätigkeit zu. Freizügigkeit in der Europäischen Union Für EU-Bürger gelten diese Einschränkungen nicht, sie genießen innerhalb der Union Freizügigkeit: Arbeitnehmer können sich dort niederlassen und erwerbstätig werden, wo sie wollen. Voraussetzung ist allerdings, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können. Das im Rahmen der Freizügigkeit gewährte Recht der Niederlassung an einem beliebigen Ort begründet keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Ein EU- Bürger kann also nicht nach Deutschland kommen, um hier von Arbeitslosengeld II zu leben. Er kann aber wie jeder andere Arbeitnehmer durch Beiträge Ansprüche an die Sozialversicherung erwerben. Erst nach fünf Jahren berechtigten Aufenthalts bekommen Zuwanderer ein Daueraufenthaltsrecht und damit das Recht, Grundsicherungsleistungen zu beziehen. 4

5 Die EU-Neulinge aus Ost- und Mitteleuropa mussten nach ihrem Beitritt 2004 jedoch erst einmal warten, bis sie überall in der Union eine Beschäftigung aufnehmen konnten. Denn die meisten Länder nutzten die Möglichkeit, die Freizügigkeit für Staatsangehörige der Neumitglieder für maximal sieben Jahre auszusetzen. Die Einschränkungen wurden vereinbart, weil die alteingesessenen Staaten Bedenken hatten: Ihre im Vergleich hohen Löhne hätten viele Zuwanderer anlocken und zu Verwerfungen der heimischen Arbeitsmärkte führen können, so die Begründung. Doch nicht alle Staaten haben Beschränkungen verhängt. Großbritannien, Irland und Schweden haben ihre Arbeitsmärkte bereits im Zuge des Beitritts 2004 geöffnet. Auf der anderen Seite stehen Deutschland und Österreich, die erst zum letztmöglichen Termin im Mai 2011 alle Einschränkungen aufheben (Tabelle 2). Bisherige Auswirkungen der Freizügigkeit Nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Gestaltung des Zuwanderungsrechts sind die Erfahrungen aus den Beitrittsstaaten recht unterschiedlich (Tabelle 3): Deutschland war in der Zeit vor 2004 mit Abstand das wichtigste Ziel ost- und mitteleuropäischer Zuwanderer trotz des strengen Aufenthaltsrechts. Seit dem EU-Beitritt hat sich die Zuwanderung in absoluten Zahlen zwar noch erhöht, allerdings ist Deutschlands Anteil an der gesamten Zuwanderung aus Osteuropa gesunken. In den vergangenen Jahren war die Nettozuwanderung rückläufig. 5

6 Eine weitere Besonderheit: Die Erwerbstätigenquote der Osteuropäer in Deutschland ist relativ niedrig. Haben die Zuwanderer einen Job, dann meist in Branchen, in denen die Qualifikationsanforderungen typischerweise gering sind, z.b. in der Landwirtschaft und in der Gastronomie. In Großbritannien gab es vor dem Beitritt überhaupt keine nennenswerte Zuwanderung aus Osteuropa. Dies hat sich nach 2004 jedoch dramatisch geändert die Insel jenseits des Ärmelkanals wurde zum wichtigsten Ziel. Die Zuwanderer waren überdurchschnittlich gut qualifiziert, übten aber ähnlich wie in Deutschland häufig nur einfache Tätigkeiten aus. Seit 2008 sind die Zuwanderungszahlen deutlich eingebrochen. Nach Schweden kamen in absoluten Zahlen zwar weitaus weniger Menschen aus den neuen EU-Staaten als nach Deutschland oder Großbritannien, in Bezug auf die einheimische Bevölkerung waren es aber erheblich mehr. Die Zuwanderer sind in Schweden eher überdurchschnittlich qualifiziert und sie verdienen mehr als Einheimische. Im Gegensatz zu Deutschland und Großbritannien dominieren nicht die einfachen Tätigkeiten die Berufsbilder. Ein Schwerpunkt liegt vielmehr im Gesundheitswesen. Künftige Zuwanderung nach Deutschland Wie viele Zuwanderer die nach Deutschland lockt, ist seit vielen Jahren Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Debatten. Studien kommen überwiegend zu dem Ergebnis, dass 6

7 die Zuwandererzahlen moderat ansteigen. So rechnen Experten nach Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes im Mai mit einer anfänglichen Nettozuwanderung von rund Personen im Jahr, langfristig gehen sie insgesamt von rund 1,8 Millionen zusätzlichen Einwanderern aus. Hinzu kämen ab dem Jahr 2014 noch Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Um ein detailliertes Mikroszenario für Deutschland zu errechnen, hat das IW Köln auf eine Eurobarometer-Befragung von EU-Bürgern zurückgegriffen. Rumänien und Bulgarien blieben in dieser Untersuchung noch außen vor. Der Umfrage zufolge beabsichtigen 17 Prozent der Unionsbürger, irgendwann in einem anderen Land zu arbeiten; in den acht mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern sind es sogar 23 Prozent. Diese 23 Prozent entsprechen einem Potenzial von rund 12 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter (Tabelle 4). Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass diese 12 Millionen Menschen auf den deutschen Arbeitsmarkt drängen werden. Dafür sind vier Gründe maßgeblich: Erstens setzen nicht alle Migrationssympathisanten ihre Absichten auch in die Tat um 10 bis 50 Prozent geben ihre Pläne später auf, wie verschiedene Studien schätzen. Zweitens zieht nur ein Teil der Befragten eine unmittelbare Auswanderung innerhalb der nächsten zwölf Monate in Betracht. Im quantitativ bedeutsamsten Auswanderungsland Polen wollen nur 15 Prozent der Auswanderungswilligen innerhalb des nächsten 7

8 Jahres ihrer Heimat den Rücken kehren. Dagegen planen 16 Prozent diesen Schritt erst in fünf Jahren oder später. Rund 29 Prozent können oder wollen sich diesbezüglich noch gar nicht festlegen. Damit bleibt dieser Personenkreis bei der Berechnung der potenziellen Auswandererzahl außen vor. Drittens haben die meisten Personen nicht die Absicht, dauerhaft im Ausland zu bleiben. Sie planen lediglich einen temporären Aufenthalt. Von den auswanderungswilligen Polen beispielsweise wollen 23 Prozent weniger als ein Jahr fern des Zuhauses bleiben. Es ist daher von Beginn an eine Rückwanderung gegenzurechnen. Viertens ist Deutschland zwar vielfach das wichtigste, aber keineswegs das einzige Zielland von Bedeutung. Die Befragten aus den baltischen Ländern bevorzugen Großbritannien oder skandinavische Staaten. Für Ungarn, Slowenen und Slowaken ist Österreich interessant. Auch zieht es viele in Länder außerhalb der EU, etwa nach Australien oder in die USA (Tabelle 5). Künftige Zuwanderung nach Deutschland die Ergebnisse Aus den Antworten der Befragten, ob, wann, wie lange und wohin sie auswandern wollen, lässt sich ein nach Jahren und Ländern differenziertes Migrationsszenario für Deutschland berechnen (Tabelle 6). Demnach könnte es bei der Zuwanderung zu einem Bugwelleneffekt in den nächsten zwei Jahren kommen. Für 2011 und 2012 wäre zusammen eine Nettozuwanderung von Personen im erwerbsfähigen Alter möglich. In den folgenden Jahren jedoch dürften die Zahlen stark sinken. Im ge- 8

9 samten betrachteten Zeitraum bis 2020 dürften 1,2 Millionen Menschen Deutschland als 2. Heimat wählen. Dies entspricht gut 2 Prozent der Bevölkerung in den Herkunftsländern. Die meisten Zuwanderer kommen voraussichtlich aus Polen mit Personen, Ungarn ( ) und Tschechien ( ). Diese Werte markieren die obere Grenze der Schätzung, das heißt, so viele Menschen wandern zu, wenn alle ihre Migrationsabsichten auch in die Tat umsetzen. Wenn ein Teil dieser Personen ihre ursprünglichen Pläne aufgibt, reduziert sich die Nettozuwanderung proportional. Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt Rund 1,2 Millionen Zuwanderer hören sich erst einmal viel an. Diese Zahl muss aber deutlich relativiert werden, denn im historischen Vergleich ist sie keineswegs außergewöhnlich hoch: In den zehn Jahren von 1991 bis 2000 wanderten per Saldo über 3,3 Millionen Menschen nach Deutschland ein. Allein 1992 kamen unterm Strich fast Personen in die Bundesrepublik; in den 1970er Jahren waren es mehrfach über im Jahr. Dem deutschen Arbeitsmarkt haben diese früheren Zuwanderungswellen nicht ernsthaft geschadet. Zwei weitere Aspekte sprechen dafür, dass der Arbeitsmarkt in Deutschland den Zustrom verkraften kann: Erstens dürfte die Nachfrage nach Arbeitskräften angesichts der guten Konjunktur erst einmal hoch bleiben, zumindest in den nächsten beiden Jahren, in denen die meisten Menschen neu nach 9

10 Deutschland kommen könnten. Die Gemeinschaftsdiagnose der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute rechnet mit Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts von 2,8 und 2 Prozent. Von einem Beschäftigungsaufbau geht man bereits ab einem BIP-Wachstum von 1 bis 1,5 Prozent aus. Im besten Fall hilft die Zuwanderung aus Osteuropa sogar, einen konjunkturell oder strukturell bedingten Fachkräftemangel abzumildern. Zweitens darf nicht vergessen werden, dass Deutschland aus demografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen ist. Die Modelle der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes zeigen eine deutliche Entschärfung der demografischen Lage, wenn die jährliche Nettozuwanderung bei Personen liegen würde. Dieser Wert wurde zuletzt im Jahr 2002 erreicht. In den Jahren 2008 und 2009 neuere Daten liegen noch nicht vor sind sogar mehr Menschen aus Deutschland aus- als eingewandert. Die Zuwanderung aus Osteuropa bietet deshalb die möglicherweise einmalige Chance, junge, leistungsbereite Menschen für das Leben und Arbeiten in Deutschland zu gewinnen. 10

11 Tabellen Tabelle 1: Kenntnis über volle So viel Prozent der Arbeitnehmer kennen die Regelung (Ja-Quote) Gesamt 43,7 Schulabschluss Hauptschule 32,0 Realschulabschluss/POS 44,2 Abitur/Fachhochschulreife 54,0 Geschlecht Männlich 49,1 Weiblich 37,3 Altersgruppen , , , ,1 Quelle: IW Consult, IW-Arbeitnehmervotum, Ende Februar 2011, Arbeitnehmer 11

12 Tabelle 2: Herstellung der uneingeschränkten Gegenüber Arbeitnehmern aus den NMS-8* Gegenüber Arbeitnehmern aus den NMS-2** 2004 Großbritannien, Schweden, Irland Griechenland, Spanien, Italien, Portugal, Finnland 2007 NMS-8, Zypern, Finnland, Schweden 2008 Luxemburg, Niederlande, Frankreich 2009 Belgien, Dänemark Dänemark, Griechenland, Spanien, Portugal Deutschland, Österreich * Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen ** Rumänien, Bulgarien; Quelle: EU-Kommission 12

13 Tabelle 3: Wanderungen zwischen Deutschland, Großbritannien und den NMS-8 Deutschland Einwanderung Auswanderung Saldo Vereinigtes Königreich Einwanderung Auswanderung Saldo Quelle: Eurostat, Office for National Statistics, Statistisches Bundesamt 13

14 Tabelle 4: Personen, die beabsichtigen, in der Zukunft irgendwann in einem anderen Land zu arbeiten Land Anteil in Prozent Hochgerechnet auf die Bevölkerung von 15 bis 64 Jahren (1.000 Personen) Tschechien Estland Lettland Litauen Ungarn Polen Slowenien Slowakei NMS-8* Rumänien Bulgarien * Gewichteter Durchschnitt Quelle: Eurobarometer 72.5 (2009), Eurostat, eigene Berechnungen 14

15 Tabelle 5: Migrationsabsichten in Prozent der Personen mit Migrationsabsicht Wann? In den nächsten 12 In den nächsten 1 Später Monaten bis 5 Jahren Tschechien Estland Lettland Litauen Ungarn Polen Slowenien Slowakei Wie lange? Bis 1 Jahr 1 Jahr bis 10 Jahre Länger Tschechien Estland Lettland Litauen Ungarn Polen Slowenien Slowakei Wohin? Deutschland Österreich Großbritannien Tschechien Estland Lettland Litauen Ungarn Polen Slowenien Slowakei Quelle: Eurobarometer 72.5 (2009), eigene Berechnungen 15

16 Tabelle 6: Schätzung der Migration zwischen Deutschland und den NMS-8 Zuwanderung Abwanderung Saldo Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Eurobarometer 72.5 (2009), Eurostat 16