3. Sätze und Formeln
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- Kathrin Brandt
- vor 8 Jahren
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1 Klaus Mainzer, Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data, München (Verlag C.H. Beck, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, geb. 24,95, S.352) (empfohlene Zitierweise: Detlef Zöllner zu Klaus Mainzer, Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data, München 2014, , in: 1. Methode und These I 2. Methode und These II 3. Sätze und Formeln 4. Zelluläre Automaten und der Strukturalismus 5. Superpositionen, Metaphern und Intuitionen 6. Semantik 7. Anthropologie Sätze sind immer schon welthaltig. Die Wörter, aus denen sie bestehen, bilden Prädikate, die auf eine Außenwelt verweisen, die das Subjekt zu diesen Prädikaten ist. Aufgrund dieser Subjekt-Prädikat-Struktur brauchen Sätze auch nicht vollständig zu sein, weil sie in unserer Alltagskommunikation immer schon in einen Kontext eingebettet sind, der unsere Sprechakte ergänzt und vervollständigt. (Vgl. meinen Post vom ) Formeln hingegen sind weltlos. Sie basieren zumeist nicht auf Wörtern, sondern auf Zahlen. Wenn sie nicht auf Zahlen basieren, sondern aus Wörtern zusammengesetzt sind, müssen sie vollständig und widerspruchsfrei sein und auf Axiome zurückgeführt werden können, die nicht auf Intuition, Evidenz oder Anschauung beruhen, sondern drei formale Kriterien erfüllen müssen: dazu zählt neben der gerade eben erwähnten Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit noch die Unabhängigkeit. Unabhängigkeit bedeutet, daß die Axiome aus keinem anderen Axiom ableitbar sind und noch nicht einmal von den anderen Axiomen desselben mathematischen Systems abhängig sein dürfen. So ist das Parallelaxiom der Euklidischen Geometrie nicht auf die sphärische Geometrie übertragbar, die meisten anderen Axiome der Euklidischen Geometrie hingegen schon. (Vgl. Mainzer 2014, S.60f.) Die Formeln und Sätze, die ich zu diesem ominösen Parallelaxiom zu lesen bekomme, ob nun von Klaus Mainzer oder bei Wikipedia, verstehe ich übrigens nicht und sind ein Beispiel für unnötig umständlich formulierte Definitionen. Ich
2 hatte bisher das Parallelaxiom immer als die Aussage verstanden, daß sich zwei parallele Geraden im Unendlichen treffen. Und diese Formulierung trifft gleichermaßen für die sphärische und die Euklidische Geometrie zu. Bei Wikipedia gibt es dazu noch komplizierte Winkelangaben, die für mein Empfinden gar nichts mit Parallelen zu tun haben. Als umständlich empfinde ich auch Mainzers Definition des einfachste(n) Gesetz(es) der Arithmetik, das dem Zählen zugrunde liegt : (a) Beginne mit 1. (b) Wenn bis zur Zahl n gezählt ist, addiere 1 zu n hinzu. Durch sukzessive Anwendung dieser Regel entsteht die unendliche Folge 1, 1+1, 1+1+1,... die den bekannten Symbolen der natürlichen Zahlen 1, 2, 3,... entspricht. (Mainzer 2014, S.22; Auslassungen von Mainzer) Warum diese umständliche Ausdrucksweise? Der zweite Teil (b) der Definition läßt sich auch einfacher ausdrücken: (b) Füge in der Folge fortlaufend 1 hinzu. Ich habe ziemlich lange über Mainzers Erläuterungen zum Gödelschen Unvollständigkeitsbeweis gebrütet, bis ich endlich verstanden habe, wo das Problem liegt. (Vgl. Mainzer 2014, S.69ff.) Die Formel selbst habe ich selbstverständlich überhaupt nicht verstanden, weshalb ich auch nicht lange darüber nachgedacht habe. Wirkliche Verstehensprobleme hatte ich hingegen mit dem Beispiel, das Mainzer zur Erläuterung der Formel verwendet. Dabei geht es darum, daß Gödel mathematisch bewiesen hat, daß es kein logisches System gibt, das vollständig ist, weil sich immer Sätze finden bzw. einfügen lassen, die sich nicht als wahr oder falsch entscheiden lassen. Wenn sich aber nicht alle Sätze als wahr oder falsch entscheiden lassen, dann ist ein logisches System auch nicht vollständig. Nun kann man anscheinend jedes logische System mit selbstbezüglichen Aussagen von der Art des Lügnerparadoxons sturmreif schießen: Selbstbezügliche Aussagen sind Aussagen über Aussagen, die über sich selbst etwas aussagen. Ein Beispiel ist die Antinomie vom Lügner, wonach die Aussage Ich spreche jetzt nicht die Wahrheit weder wahr noch falsch sein kann: Wäre sie wahr, so würde ich jetzt nicht die Wahrheit sprechen. Da das aber ein Lügner sagt, würde ich doch die Wahrheit sagen und die Aussage wäre falsch. Wäre die Aussage aber falsch, dann würde ich die Wahrheit sagen. Da das aber ein Lügner sagt, würde ich doch nicht die Wahrheit sagen und die Aussage wäre wahr. (Mainzer 2014, S.70) Schon die Formulierung Selbstbezügliche Aussagen sind Aussagen über Aussagen, die über sich selbst etwas aussagen, ist unnötig iterativ. Selbstbezügliche
3 Aussagen sind einfach Aussagen über sich selbst. Mehr nicht. Was mich aber an diesem Beispiel, so oft ich es las und mit Freunden diskutierte, immer wieder besonders irritierte, war, daß der Lügner in diesem Beispiel völlig überflüssig ist, da die Aussage für sich schon unentscheidbar ist. Wenn eine Aussage über sich selbst die Unwahrheit behauptet, dann ist ihre Wahrheit oder Falschheit als solche schon unentscheidbar, unabhängig davon, ob es ein Lügner oder Wahrheitsfreund ist, der sie macht. Da Mainzer aber in diesem Beispiel gleich zweimal darauf hinweist, daß es genau auf diesen Lügner ankommt Da das aber ein Lügner sagt..., muß seine Funktion in diesem Beispiel wohl mehr sein als bloß eine narrative Zutat. Zwischenzeitlich behalf ich mir dann mit der Hypothese, daß der Lügner für eine andere logische Ebene steht, von der aus die Unentscheidbarkeit von wahren Aussagen nachweisbar wird, im Sinne der von Mainzer an späterer Stelle angesprochenen Theorieprogression. (Vgl. Mainzer 2014, S.85) Mainzer zufolge hatte Gödels Unvollständigkeitsbeweis eine Revision von Beweisverfahren bewirkt. Von nun an galten mathematische Beweise nicht mehr als absolut, sondern nur noch als relativ wahr; relativ nämlich zum jeweiligen Stand der Theorieentwicklung. Da sich für jede Theorie unentscheidbare Sätze finden lassen, müssen sie ständig erweitert werden und in neue stärkere bzw. reichhaltigere Theorien überführt werden, ad infinitum. Ich vermutete also, daß Mainzer mit dem Beharren darauf, daß ein Lügner diese Aussage macht, einen Hinweis darauf geben will, daß mathematische Theorien immer nur von anderen formalen Ebenen ( Erweiterungen ) aus widerlegt werden können. Aber auch diese Vermutung half mir nicht viel weiter. Denn wenn ein logisches System aus sich selbst heraus nicht widerlegbar ist, so ist es meinem laienhaften Verständnis nach widerspruchsfrei und vollständig. Denn logische Systeme gelten immer nur für sich selbst und können eigentlich nicht von anderen logischen Systemen her widerlegt werden. Aber letztlich hätte ich mir alle diese Verwirrungen ersparen können. Denn endlich begriff ich, daß die Aussage des Lügners noch gar nicht als Aussage gemeint ist, sondern als Ankündigung einer Aussage. Mit jetzt ist nicht das Jetzt der aktuellen Aussage gemeint, sondern das Gleich einer in dieser Beispielerzählung noch ausstehenden Aussage! Die Probleme, die ich mit diesem Lügnerparadoxon hatte, sind ein Beispiel dafür, wie Sätze funktionieren. Sätze sind immer vieldeutig. Manchmal sind sie
4 auch unnötig umständlich und verleiten einen dazu, dieser Umständlichkeit noch einmal einen besonderen Sinn zu geben. Sätze sind letztlich relativ ungeeignet, um sie als Formeln zu verwenden. Hätte Mainzer es einfach bei der Ankündigung des Lügners belassen und sie selbst schon als Aussage genommen, ohne den Lügner zu erwähnen, hätte ich nicht diese Probleme damit gehabt. Ich vermute, ich leide an einer Art Formelblindheit, die der Gesichtsblindheit entspricht. Auch Menschen, die gesichtsblind sind, können Gegenstände erkennen. Sie erkennen also Gestalten und Muster, nur eben nicht Gesichter. So ergeht es mir mit Formeln. Was Formeln beschreiben, die Muster und Gesetzmässigkeiten also, verstehe ich durchaus, wenn sie nur in wohlgeformten, d.h. nicht unnötig umständlich formulierten Sätzen dargestellt werden. Nur die Formeln verstehe ich einfach nicht. Mainzers Verdikt ist in diesem Zusammenhang eindeutig: Wer die Sprache der Mathematik nicht versteht, kann diese Welt nicht verstehen. (Mainzer 2014, S.260) Dem halte ich entgegen: Beweisverfahren, die ich nicht verstehe, sind keine Beweisverfahren! Die ihnen zugrundeliegenden Thesen bleiben prinzipiell so lange unbewiesen, bis ich sie auf irgendeine Weise verstehe. Kurz: Beweisverfahren sind nicht an Formeln gebunden, sondern an meinen Verstand. Beim Lesen von Mainzers Buch bin ich deshalb so vorgegangen, daß ich in Formeln dargestellte Beweisverfahren als eine Art Orakelmaschine hinnahm, die ich, soweit sie in dieser Welt technisch angewendet werden, gelten lasse, ohne sie glauben zu müssen. In dieser Welt gelten die Formeln aber eben nur, weil sie, wie schon erwähnt, auf Zahlen basieren. Auch Mainzer fragt sich, wie es kommt, daß die Mathematik so gut auf die Welt (passt)? (Vgl. Mainzer 2014, S.275ff.) Er liefert eine verblüffende Antwort: Gerade weil sie so abstrakt ist und deshalb die welthaltige Mannigfaltigkeit nicht berücksichtigt! So zumindestens verstehe ich Mainzers diesbezüglichen Äußerungen zum Zahlbegriff. (Vgl. Mainzer 2014, S.276) Zahlen abstrahieren von Symbolen und Gegenständen. Anders als Wörter verweisen Zahlen nicht auf die Äpfel und Birnen, die sie zählen: Eine (natürliche) Zahl ist also eine Abstraktion. Sie umfasst alle Mengen von Dingen, die einander umkehrbar-eindeutig zugeordnet sind. (Mainzer 2014, S.276) Mainzer ergänzt, daß Zahlen sogar irreale Gegenstände zählen können, die nur in der Vorstellung existieren, wie z.b. Einhörner. Zum Zahlenraum gehören also auch gedankliche Vorstellungen, und es wird dabei kein Unterschied zwi-
5 schen fiktiv oder real, zwischen innen oder außen gemacht, eine Differenz, die für die Subjekt-Prädikat-Struktur von Sätzen unverzichtbar ist und auf der auch das menschliche Bewußtsein basiert. Plessner bezeichnet das als Doppelaspektivität, und sie bildet zusammen mit der exzentrischen Positionalität einen Grundbegriff seiner Anthropologie. Dann macht Mainzer noch eine weitere, für mich alles entscheidende Feststellung: Im strengen logischen Sinn einer Abstraktion sind sie (die Zahlen DZ) auch keine Gedanken, da wir auch davon abstrahieren. (Mainzer 2014, S.276) Wenn Zahlen also keine Gedanken sind, dann sind sie auch unabhängig vom menschlichen Bewußtsein. Und das ist der Grund, warum auch Maschinen mit ihnen rechnen können! Wir haben also allen Grund, nicht etwa unseren Intuitionen, sondern den Zahlen zu mißtrauen. Zumindestens dann, wenn sie den Bereich lebensweltlicher, anschaulicher Zuordnungen verlassen. Die Welt, in der Zahlen gültig sind, ist nicht die Lebenswelt des Menschen: Die Mathematik hat es mit Gegenständen zu tun, die buchstäblich nicht von dieser Welt (gemeint ist, die mit unseren Sinnen wahrnehmbare physische Welt) sind.... Zahlen mögen im Umgang mit Dingen der wahrnehmbaren Welt entstanden sein. Aber Wahrheiten über die Welt der Zahlen sind logisch unabhängig von Raum und Zeit der physischen Welt. (Mainzer 2014, S.276) Mainzers Satz Wer die Sprache der Mathematik nicht versteht, kann diese Welt nicht verstehen. bezieht sich also gar nicht auf die menschliche Lebenswelt, sondern auf eine Alien-Welt, die nur die verstehen, die den Zahlenraum jenseits menschlicher Erfahrung in Raum und Zeit miteinander teilen. (Vgl. Mainzer 2014, S.277)
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