Aufwachsen in der Risikogesellschaft. Internalisierende Problemverarbeitung: Essprobleme. Einleitung. Ana Carolina Reston
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- Peter Burgstaller
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1 MSc in Erziehungswissenschaft HS 2007 Universität Fribourg-CH Aufwachsen in der Risikogesellschaft Internalisierende Problemverarbeitung: Essprobleme & Prof. Dr. Margrit Stamm Twiggy Lawson Ana Carolina Reston Einleitung Generelle Essprobleme (gestörtes Essverhalten inkl. Adipositas, Gewichtsregulation) entwickeln sich häufig in der Adoleszenz bei Mädchen. Genaue Erklärungen für die Geschlechtsspezifik liegen nicht vor. Möglicherweise wirkt sich eine Kumulation von Stressoren besonders kritisch aus. Diagnostische Unterscheidung zwischen Anorexia Nervosa (Magersucht) und Bulimie (Ess-Brech-Sucht). Mildere Formen: ständige Beschäftigung mit Essen/Gewicht, strenges Fasten und strenge Diäten etc. Diäthalten ist angesichts der Tatsache, dass dies 2/3 der Mädchen tun, normativ geworden.
2 Anorexia Nervosa (AN) Geschichte Das Vorkommen von AN ist seit dem Mittelalter dokumentiert. Beispiel: Die Erkrankung der 1245 geborenen Prinzessin Margaret von Ungarn. Sie wurde von ihrem Vater aufgrund eines Gelübdes Nonnen zur Erziehung übergeben, später änderte er seine Absichten und wollte sie mit einem geeigneten Thronnachfolger verheiraten. Margaret bemühte sich dann, sich so unattraktiv wie möglich zu machen. Sie begann zu fasten und arbeitete bis zur Erschöpfung. Im Refektorium bediente sie die anderen, und fastete selbst, während ihre Mitschwestern assen. Ihr Körper wurde als armselig beschrieben, sie starb schliesslich im Alter von 26 Jahren. Aus den erhaltenen Unterlagen geht ihr Fasten, ihre Weigerung, das Körpergewicht im Normalbereich zu halten sowie die Kombination von Überaktivität mit extremer Magerkeit als eindrucksvolle historische Dokumentation der diagnostischen Kriterien der AN hervor. Definition Als Anorexia nervosa (AN) bezeichnet man eine schwere Krankheit, gekennzeichnet durch eine Verweigerung ausreichender Nahrungsaufnahme. Dies führt zu einem bedrohlichen Zustand von Unterernährung. AN ist gekennzeichnet durch einen absichtlich selbst herbeigeführten und/oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust. Die Patienten weigern sich, das Körpergewicht über einem minimalen, auf Alter und Körpergrösse bezogenem Gewicht zu halten. Intensive Furcht vor dem Dickwerden, ausgeprägte Körperwahrnehmungsstörung, bei Mädchen die (meist sekundäre) Amenorrhoe. Diagnostische Unterscheidung zwischen Anorexia Nervosa (Magersucht) und Bulimie (Ess-Brech-Sucht). Prävalenz & Prognose AN ist häufig, die Prävalenzrate wird bei Frauen zwischen 14 und 18 Jahren mit 1:800 bis 1:100 angegeben. 95% aller AN-Patienten sind Frauen. Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr. Schlechte Prognose bei Spontanverläufen. Chronifizierung bei etwa 40%, bei 20-30% "Spontanheilung" bezogen auf den Gewichtsverlust. Phänomenologie 1. Das Körpergewicht wird absichtlich unter dem der Körpergrösse und dem Alter entsprechenden Minimum gehalten (Gewichtsverlust von 15% oder mehr). 2. Starke Angst vor Gewichtszunahme oder vor dem Dickwerden, obgleich Untergewicht besteht. 3. Störung der eigenen Körperwahrnehmung hinsichtlich Gewicht, Grösse oder Form. 4. Bei Frauen aussetzen von mindestens drei aufeinanderfolgenden Menstruationszyklen. 5. Radikale Verhaltensweisen (sehr strenge Diäten, Abführmittel, Appetitzügler, Erbrechen, Ignorieren des Hungergefühls. 6. Aktive sportliche Betätigung.
3 Psychische Konstellation Perfektionistische Musterkinder Familiäre Spannungen, Verlusterlebnisse oder Hänseleien wegen des Körperbaus häufig als Auslöser Gefährdung des Gleichgewicht des Familiensystems durch Wunsch nach Verselbständigung: Abwehr durch Erkrankung. Rollenunsicherheit bezüglich der sexuellen Identität Störung der positiven Identifikation mit der Mutter Identifikation mit der Rolle des Vaters bei leistungsorientierten Mädchen Übertrieben zwanghaft-kontrollierendes Figurbewusstsein und ritualisiertes Essverhalten bringen Gefühle der Macht und Stärke, die im Familienverband nicht erreicht werden Soziale Isolation, Kompensation durch Ehrgeiz. Familienbild In der Familie existiert häufig die Regel, dass über negative Gefühle (Spannungen, Wut, Angst, Machtlosigkeit, Überforderung) nicht gesprochen wird. Diese Gefühle werden durch dauernde Beschäftigung mit Esskontrolle nicht wahrgenommen. Auch positive Gefühle (Freude, Geborgenheit, usf.) können oft nicht mehr wahrgenommen werden. Im Vordergrund steht der Kampf um Autonomie, der Kampf des Geistes gegen den Trieb: Mit dem Krankheitsgewinn entsteht das subjektive Gefühl der eigenen Vollkommenheit, die auf reiferer Ebene nicht erreichbar erscheint. Therapie Schwierige klinische Behandlung, da sich die Patientinnen subjektiv gesund fühlen und ihre Abmagerung als die gute Lösung ihrer Probleme darstellen (Ernst der Krankheit muss verstehbar gemacht und Hilfsmöglichkeiten aufgezeigt werden). Häufig schriftlicher Behandlungsvertrag. Trennung der unterschiedlichen Aufgaben in der Betreuung (Ärztliche Betreuung und Gewichtsmanagement; einzeltherapeutische Betreuung; Familientherapie). Bulimia Nervosa (BN) Anlehnung des Begriffs an das griechische "bulimos" ( Ochsenhunger ) Berichte aus der Antike, doch erst seit der Veröffentlichung von Russel (1979) als "Bulimia nervosa" in ihren Eigenschaften wissenschaftlich beschrieben.
4 Definition Als Bulimia nervosa (BN) bezeichnet man Heisshungerattacken, gefolgt von selbstausgelöstem Erbrechen sowie Missbrauch von Medikamenten, um eine Gewichtszunahme zu verhindern. Damit verbunden sind grosser, psychologischer Schmerz als Reue und schlechtes Gewissen. Für das soziale Umfeld ist diese Form der Anorexie schlecht zu entdecken. Prävalenz & Prognose BN ist noch häufiger als AN, aber hohe Dunkelziffer. Prävalenzrate: 2% bis 4% in der Risikogruppe der 18 bis 35-jährigen Frauen. 95% aller Erkrankten sind weiblich. Höheres Alter als bei AN. BN auch als Folge von AN Gute Prognose (50% bis 70% Heilungschancen), aber anhaltende, veränderte Symptomatik auch in späteren Lebensjahren. Phänomenologie 1. Starke Angst vor Gewichtszunahme und schwieriges Verhältnis zum Körper. 3. Periodische Heisshungerattacken (1x/W. bis mehrmals/tg.), gefolgt von unangemessenem Kompensationsverhalten (Erbrechen, Laxativa, Diuretika, Klistiere etc.). 4. Verlust der Selbstkontrolle während der Attacken; Selbstekel, Scham, Enttäuschung über sich selbst. 5. Übertriebene Verhaltensweisen (strenge Diäten, Abführmittel). 6. Aktive sportliche Betätigung. Psychische Konstellation Häufig hohe Selbstkontrolle Erfolgreiche Berufslaufbahn Oft negative Sexualerfahrungen Niedriges Selbstwertgefühl Starke Beeinflussung der Gefühlswelt Emotionale Einsamkeit trotz sozialer Integration "Mit-sich-selbst-ausmachen-müssen" führt zu seelischen Turbulenzen und depressiven Verstimmung Auslösung durch belastende Beziehungen, aber auch Belastung der Beziehungen.
5 Risikofaktoren für AN und BN Multikausale Erklärungsmuster! Soziokulturelle Faktoren (Schönheitsideale) Familiäre Faktoren (Harmoniebestreben, Verstrickungen etc.) Persönlichkeitsmerkmale (Perfektionismus) Genetische/physiologische Faktoren (Risiko bei biol. Verwandten höher) Kritische Lebensereignisse (Sexueller Missbrauch, Trennungen) -> Prädispositionaler Charakter der Risikofaktoren; voll entwickelte Essstörungen entstehen aber erst durch deren Interaktion. Normative Essprobleme: Adipositas Adipositas als Ernährungs- und Stoffwechselkrankheit, auch Übergewicht mit psychischen Störungen; Definition: übermässige Vermehrung des Fettgewebes, das mit einem gesundheitlichen Risiko einhergeht. WHO (1998) BMI-Klassifikation (für Erw., auch für Ju) Prävalenz & Prognose Ess-, Gewichts- und Bewegungsprobleme bei Jugendlichen massiv im Steigen begriffen; z.t. gravierende psychische, volkswirtschaftliche und medizinische Auswirkungen. Nur begrenzte Vergleichbarkeit a.g. unterschiedlicher Definitionen und Messmethoden ca. 0.5% morbide Adipositas; ca. 10% Adipositas; 10% Übergewicht Prävention erfolgreich, konservative Behandlung nicht sehr erfolgreich. Phänomenologie Keine einheitlichen Persönlichkeitszüge viele Alltagstheorien (Panzer anessen; sexueller Missbrauch etc.) Eingeschränktes Bewegungsverhalten Kognitiv übersteuerte natürliche Hunger- und Sättigungsgrenzen nicht beherrschbarer Drang nach übermässigem Essen fliessende Übergänge zwischen Essstörungen und Adipositas
6 Diäthalten Schönheitsideal: Grenze zwischen Norm und Störung Diätverhalten heute in einer grauen Zone aus: Smash-Report, 2002 Prävalenz Bei Mädchen seit Jahrzehnten zwischen 30% und 40%; Lebenszeitprävalenzen höher (60% in achter Kl.) Geschlechtsspezifik, aber bei Jungen auch relativ hohe Raten Fend: Diäthalten als normativ in westlichen Kulturen Flammer & Alsacker (2001, S. 269) (Diäthalten von Jungen und Mädchen in der Schweiz und in Norwegen)
7 Phänomenologie/Prädiktoren Mädchen: Nicht das Gewicht, sondern die Wahrnehmung des relativen Gewichts und die Gedanken über Essen und Gewicht als zentrale Faktoren Jungen: Absolutes Gewicht zentraler Faktor -> Werbung -> Einstellung näherer Bezugspersonen Diäthalten ist ein starker Prädiktor für Essstörungen. Fazit: den eigenen Körper gestalten? Jugendzeit als Zeit harter Körperarbeit: Veränderung des Erscheinungsbildes durch Kleidung und aktive Selbstgestaltung Zunahme der Intensität der Körperpflege: Entwicklungsspezifische Kosmetik (Haut- und Haarpflege); Korrektur der Stellung der Zähne Zunahme an Körperfetten in der Pubertät bei Mädchen ca. 11kg (Gewichtsprobleme in dieser Hinsicht als Anstemmen gegen natürliche Entwicklungsprozesse); Gewichtsprobleme in USA als nationale Obsession Intervention/Therapie Prävention Problematisierung des vorherrschenden anorektischen Schönheitsideals. Protektive Faktoren: Verringerung der gestörten Einstellungen gegenüber Gewicht und Körper (Stärkung des Selbstbewusstseins, Selbstvertrauens und der Selbstwirksamkeit, Konflikt- und Problemlösefähigkeit. Hohe Bedeutung des Einbezugs der Eltern zur Aufklärung über Risikofaktoren (zu hohe Kontrolle des kindlichen Essverhaltens, Trösten durch Lieblingsessen, Auslassen von Mahlzeiten, negative Kommentare über die eigene und die Figur des Kindes). Aufklärung der Eltern über salutogene Faktoren. Günstiges Ess- und Bewegungsverhalten. Therapie und Beratung Für Menschen mit potentiellen Suchtanteilen, Essstörungskomorbidität bzw. Essstörungsgefährdung müssen Interventionen vorgesehen werden, die in gängigen Adipositasprogrammen nicht hinreichend berücksichtigt sind. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Einbeziehung und Schulung der Eltern sehr wichtig. Extreme sind insbesondere im Gruppenkontext (Schulen) zu vermeiden, da sportliche Betätigung einen der stärksten Prädiktoren des Rückfalls von AnorektikerInnen darstellt.
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