Vorwort. Die Herausgeber, Prag/Regensburg/Weimar/Bratislava im Juli Herausgegeben im Auftrag des DAAD.

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1 Vorwort Herausgegeben im Auftrag des DAAD. Redaktion: Steffen Höhne und Marek Nekula unter Mitwirkung von Nicole Birtsch, Ekkehard W. Haring und Karsten Rinas. Redaktionsbeirat: Kurt Krolop (Ehrenvorsitzender des Redaktionsbeirats), Peter Becher (München), Klaas-Hinrich Ehlers (Berlin), Ingeborg Fiala-Fürst (Olomouc), Mária Papsonová (Prešov), Jiří Stromšík (Praha), Dalibor Tureček (České Budějovice), Jaromír Zeman (Brno). Mit dieser Doppelnummer präsentiert sich das Jahrbuch brücken Neue Folge 9 in neuer Herausgeberschaft und mit einem editorischem Beirat. Auf diese Weise soll eine stärkere Verankerung in den germanistischen Fachdiskurs in Tschechien und der Slowakei erreicht werden. Darüber hinaus möchten die brücken den Kontakt zu Fachkollegen aus den deutschsprachigen Ländern stärken. Der vorliegende Band vereinigt literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge, im Zentrum stehen zum einen die Zeit der Restauration in den Böhmischen Ländern, zum anderen die Prager deutsche Kultur und ihr Nachleben im Exil. Eine Ausgabe mit sprachwissenschaftlichem Schwerpunkt (brücken NF 10) wird gerade vorbereitet und soll zum Jahresende in Druck gehen. Manuskripte hierfür erbitten wir ebenfalls an die Herausgeber. Auch künftig wollen die brücken an dem vorgegebenen Konzept festhalten und ein wissenschaftliches Podium der tschechischen und slowakischen Germanistik mit einer starken thematischen Fokussierung auf deren traditionelle Arbeitsgebiete bilden: * Arbeiten zum Kontext der Prager deutschen Literatur sowie zur deutschböhmischen, deutschmährischen wie deutsch-slowakischen Literatur. * Arbeiten zu den literarisch-kulturellen Wechselbeziehungen zwischen den böhmischen Ländern sowie der Slowakei und den deutschsprachigen Ländern. * Arbeiten zu sprachwissenschaftlichen wie sprachhistorischen Themen, insbesondere im Kontext der kontrastiven und interkulturellen Perspektive und der Sprachkontaktforschung. * Arbeiten zu den kulturhistorischen Beziehungen zwischen Tschechen, Slowaken, Deutschen, Österreichern u.a. * Arbeiten zur Publizistik und Wissenschaftsgeschichte. Beiträge unter Berücksichtigung der formalen Vorgaben (siehe Style sheet im Anhang) werden künftig bis zum 30. September jedes Jahres erbeten. ISBN X-XXXXXX-XXX-X Die Herausgeber, Prag/Regensburg/Weimar/Bratislava im Juli 2003 Nakladatelství Lidové noviny 2003

2 Inhalt Vorwort... 3 Dalibor Tureček: Rezeptionshorizonte der tschechischen Literatur in den Jahren Václav Petrbok: Johann Joseph Polt und Herders Slawenkapitel. Ein Beitrag zum Thema Die Deutschböhmen und die tschechische Nationalbewegung Gisela Kaben: Rukopis Královédvorský a Zelenohorský Umfeld der Entstehung und Rezeption zweier gefälschter Handschriften Václav Petrbok: Die Darstellung der tschechischen Nationalbewegung in der zeitgenössischen deutschen und österreichischen Publizistik und Fachliteratur. Versuch einer Charakterisierung Steffen Höhne: Nationale Antagonismen in Böhmen. Überlegungen zum Programm von OST UND WEST Marek Nekula: Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín Josef Čermák: Das Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag Michel Reffet: Franz Kafka und der Mythos Ekkehard W. Haring: Modernekritik und literarischer Messianismus bei Max Brod

3 Inhalt Mirek Němec: DIE PROVINZ. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen Tereza Brůchová, Marek Nekula: Die bildliche Darstellung der Juden in der Zeitung DER NEUE TAG ( ) Gerhard Trapp: Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil Peter Becher: Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt Renata Cornejo Schloß, Kafka, Fassade auf den Spuren Kafkas im Werk von Libuše Moníková Daniela Blahutková,Österreicher par exellence... Joseph Roths Beamte und Offiziere Petr Štědroň Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur Inhalt Klaus AMANN, Hubert LENGAUER, Karl WAGNER (Hgg.): Literarisches Leben in Österreich (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen 1). Wien/Köln/Weimar (Böhlau) 2000, 918 Seiten Hubert LENGAUER, Heinz KUCHER (Hgg.): Bewegung im Reich der Immobilität. Revolutionen in der Habsburgermonarchie Literarischpublizistische Auseinandersetzungen (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen 5). Wien/Köln/Weimar (Böhlau) 2001, 558 Seiten Jörg BERNIG: Niemandszeit. Stuttgart/München (Deutsche Verlags-Anstalt) 2002, 283 Seiten Walter SEIDL: Der Berg der Liebenden. Erlebnisse eines jungen Deutschen. Mit einem Nachwort herausgegeben von Dieter Sudhoff (= Bibliothek der Böhmischen Länder 2). Wuppertal (Arco Verlag) 2002, 404 Seiten Lenka REINEROVÁ: Alle Farben der Sonne und der Nacht. Berlin (Aufbau Verlag) 2003, 190 Seiten Adressen der Herausgeber Adressen der Autoren Formale Gestaltung der Beiträge Klaus Schenk Kulturelle Aspekte einer theoretischen Wende: Vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus Dieter SEGERT: Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 Drei Versuche im Westen anzukommen. Frankfurt am Main/New York (Campus) 2002, 339 Seiten Monika GLETTLER, Alena MÍŠKOVÁ (Hgg.): Prager Professoren Zwischen Wissenschaft und Politik (= Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17). Essen (Klartext) 2001, 682 Seiten Michaela MAREK: Universität als Monument und Politikum. Die Repräsentationsbauten der Prager Universitäten und der politische Konflikt zwischen konservativer und moderner Architektur (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 95). München (Oldenbourg) 2001, 215 Seiten

4 Rezeptionshorizonte der tschechischen Literatur in den Jahren Dalibor Tureček Die tschechische Literatur in den Jahren stellt im Hinblick auf das Verhältnis des Nationalen und des Universalen ein äußerst interessantes Material dar, bei dessen Erforschung die literaturhistorische Methodik eine besonders wichtige Rolle spielt. In dem folgenden Beitrag versuchen wir, zumindest einige Aspekte dieses Problemkreises anzuschneiden und mit Beispielen zu illustrieren. Im Wandel des literaturhistorischen Denkens vom Positivismus zur Dekonstruktion ist es zu einer grundsätzlichen Aufweichung der einstigen methodologischen Sicherheiten gekommen. Anstelle der Suche nach objektiver Wahrheit ist die Relativität der Wahrnehmung und Erkenntnis in den Vordergrund getreten. Das Forschungsergebnis ist lediglich ein relatives, annäherndes Modell der untersuchten Realität. Der variable, vom untersuchten Material und der eingenommenen Perspektive abhängige Charakter dieses Modells wirkt sich gleichzeitig auf die Art und Weise der Textinterpretation aus. Der modellbildende und der textinterpretatorische Teil der literaturhistorischen Arbeit prallen aufeinander. 2 Der Ausgangspunkt der literaturhistorischen Überlegung, nämlich der Text, ist im Zeitalter der Dekonstruktion der Offenheit und Vielseitigkeit der Interpretationsaktivität insoweit ausgesetzt, dass seine Aussagekraft als historisches Faktum deutlich relativiert ist. 3 Gleichzeitig werden einige traditionelle Pfeiler der literaturhistorischen Methode in Zweifel gezogen: in der letzten Zeit werden vor allem Stimmen laut, die nach Überwindung einer eng sprachnationalen Optik rufen, die der Literaturgeschichte seit deren Konstituierung im 19. Jahrhundert eigen war, und die eine komparative und den zeitgenössischen Kontext respektierende Perspektive fordern. 4 Dadurch wird die traditionelle Spannung zwischen Komparatistik und nationaler Philologie wieder belebt und nach einem modernen methodologischen Konzept gesucht, das beide Disziplinen versöhnen könnte. Die Position einer rein sprachnational konzipierten Literaturgeschichte wird dabei zunehmend problematisch: das sprachnationale Prinzip ist bekanntlich 1 Diese Arbeit entstand in Rahmen des Projekts MŠMT Nadnárodní kontexty české národní literatury und ihre tschechische Fassung wurde in ESTETIKA 36, 2002, Nr. 2 4, S , veröffentlicht. 2 Vgl. TUREČEK (2000). Dort auch weitere Literatur. 3 Vgl. u.a.: STOROST (1960), WELLEK/WARREN (1966), JAUSS (1970), HARTH/GEB- HARDT (1982), PERKINS (1992), GREENBLATT (2000). 4 Vgl. ZIMA (1992), SCHULZ-BUSCHHAUS (1979), BIRUS (1995).

5 Rezeptionshorizonte der tschechischen Literatur in den Jahren auf einen relativ eng definierten zeitlichen und territorialen Ausschnitt der Kulturgeschichte anwendbar und eine bloß sprachnationale Literaturgeschichte stellt daher eine äußerst künstlich konstruierte Reihe dar. Sichtbar wird dies zum Beispiel dort, wo das sprachnationale Prinzip auf die mittelalterliche Literatur übertragen wird, die völlig anderen Werten folgt als dem sprachnational ordnenden Prinzip der neuzeitlichen Literaturgeschichte. Beim Blick auf die bestehende Literaturgeschichte wird ferner deutlich, dass die sprachnationale Optik im Rahmen der Literaturgeschichte die Funktion eines Filters hatte, welches das gesamte Material ordnet und hierarchisiert sowie die Interpretation der einzelnen Erscheinungen vorzeichnet. So verzichtete Matthias Murko, ein österreichischer Slowene und Miklosic- Schüler, zu Ende des 19. Jahrhunderts auf sein ursprüngliches Vorhaben, die Einflüsse der deutschen Romantik auf alle slawischen Literaturen zu beschreiben. Murko hat lediglich den ersten, auf die tschechische Literatur ausgerichteten Band herausgegeben, schließlich wollte er die Einflüsse der deutschen Kultur auf die slawische nicht noch um zusätzliche Belege ergänzen (MURKO 1897). Von der tschechischen Seite wurde seine Arbeit mit Jakubec euphemistisch gesagt ne se svorným souhlasem a uznáním [nicht mit einer einträchtigen Zustimmung und Anerkennung] angenommen (JAKUBEC 1901: 884). Die Arbeiten von Jakubec, Vlček oder Hanuš, die parallel zu Murkos Buch entstanden sind, setzten sich zwar ebenfalls mit den deutsch-tschechischen literarischen Beziehungen auseinander, doch bestand zwischen diesen und der Arbeit von Murko ein wesentlicher Unterschied: während die tschechische positivistische Literaturgeschichte in der tschechischen Literatur der Jahre sozusagen aus der Innenperspektive eine sprachnational geprägte Entwicklungslinie sah bzw. sehen wollte und diese aus der sprachnationalen Innenperspektive deutete, während deutsche Einflüsse bestenfalls peripher wahrgenommen wurden, bildeten diese in Murkos Außenperspektive die Dominante in der Darstellung dieser Literatur. Eine Alternative zur sprachnational geprägten Anordnung des Materials könnte die Rezeptionsästhetik bilden, die den Rezeptionshorizont eines Werkes beziehungsweise den Erwartungshorizont seines Publikums bestimmen will. 5 Zum Gegenstand der Untersuchung wird somit die Summe zeitgenössischer ästhetischer Normen und Kommunikationsstrategien des Textes, durch die diese Normen angesprochen werden und die eigene Einstellung dem Leser deutlich signalisiert wird. Während das Sprachnationale das ordnende Prinzip des Materials war, das in dieses a posteriori hineininterpretiert wurde, strebt die Rezeptionstheorie an, die realen kommunikativen Zusammenhänge zu rekonstruieren. Je nach konkreter Lage können auch Texte in unterschiedlichen Dalibor Tureček Sprachen zum Bestandteil einer Textreihe werden, wobei es nicht notwendig erscheint, sich auf die von der älteren Komparatistik gepflegte Untersuchung der gegenseitigen Beeinflussung zweier nationalen Literaturen zu beschränken. Das sprachnationale Prinzip bleibt nämlich bei dieser Perspektive primär aufrechterhalten, die Rezeptionskoordinaten haben jedoch einen wesentlich variableren und dynamischeren Charakter. Der Rezeptionsbegriff wird hier anders als bei Felix Vodička verwendet, der darunter unterschiedlich ausgeprägte Wiederaufnahmen ein und desselben Textes verstand. In meinem Beitrag und dem oben angedeuteten methodologischen Kontext ist die Rekonstruktion des Rezeptionsweges auf die Identifikation von möglichen Prätexten ausgerichtet, die einem Artefakt vorausgehen und dessen potentielle Wahrnehmung im System der zeitgenössischen ästhetischen Normen und Kodes verankern. Doch auch der dynamische und in einer konkreten kulturellen Situation verankerte Rezeptionshorizont kann für den Literaturhistoriker lediglich ein Post festum konstruiertes Modell sein, der durch den Umfang und die Auswahl des Materials eingeschränkt bleibt. Entscheidend ist also das Prinzip, nach dem das Material abgegrenzt und ausgewählt wird, um ein willkürliches Surfen durch die Epochen auszuschließen. Gerade die tschechische Literatur in den Jahren wirft in dieser Hinsicht eine Reihe von Fragen auf, denen in letzter Zeit immer intensiver nachgegangen wird. So konnten z.b. Wirkungen der sentimentalen deutschen Belletristik (insbesondere der Werke Claurens) auf die Konstituierung der tschechischen Erzählungsprosa, Parallelen zwischen der tschechischen Bearbeitung der Nationalmärchen und Gerles Volksmärchen der Böhmen aus den 20er Jahren sowie Wandlungen des Motivs der toten Geliebten bei Kollár, Mácha und Herloš 6 untersucht werden. Der Blick sollte hier jedoch nicht bloß auf die deutsch-tschechischen Beziehungen beschränkt bleiben. Es geht hier sicher nicht um Entdeckung eines ganz neuen Problemkreises. Auf dieselben Zusammenhänge hat in vielen Fällen bereits die positivistische Literaturwissenschaft hingewiesen, die jedoch in der sprachnational ablehnenden Geste bei der Feststellung möglicher typologischer Zusammenhänge stehen geblieben ist. Die Rekonstruktion des Rezeptionshorizontes muss sich zunächst auf die Registrierung von solchen Einflüssen ausrichten, die funktionelle Textcharakteristik dann im Hinblick auf die zeitgenössische Poetik festmachen. Sie sollte von Kritiken, Angaben über Ausgaben oder anderen faktisch belegbaren Fakten in der konkreten Kultursituation ausgehen. Der Rezeptionshorizont bildet dadurch eine Rekonstruktion von nach Möglichkeiten komplexen, in Wirklichkeit nur teilweise rekonstruierbaren Zusammen- 5 Vgl. JAUSS (1970) und den Sammelband Čtenář jako výzva. Výbor z prací kostnické školy, Brünn, Host Im letzten gehe ich von der bisher nicht publizierten Dissertationsarbeit von Zuzana Urválková aus, der ich für diese Anregung verbunden bin. 11

6 12 Rezeptionshorizonte der tschechischen Literatur in den Jahren hängen, die in einer konkreten historischen Situation die Wahrnehmung oder die Produktion einzelner Texte mitgeprägt hatten. So soll auch die Analyse der Übersetzung von Raupachs Tragödie Die Leibeigenen oder Isidor und Olga [Nevolníci, aneb Isidor a Olga] vorgehen, die Karel Simeon Macháček 1834 anfertigte (vgl. RAUPACH 1834). Das Spiel ist im Kontext des tschechischen zeitgenössischen Repertoires gleich aus mehreren Gründen bemerkenswert. Die Geschichte spielt sich in Russland auf dem Gut eines reichen und machtvollen Fürsten ab. Die sozialen, historischen, ethnischen und kulturellen Aspekte dieses Milieus kommen jedoch kaum zum Ausdruck. Eine wesentliche Rolle spielen hier nämlich Räume bzw. Zeiträume, die außerhalb des unmittelbar erlebten Schauplatzes liegen und die durch die Retrospektion der Gestalten gegenwärtig werden. 7 Die Handlung wird folglich gestört, sie verliert an Zügigkeit, verschiebt sich in das Innere der Gestalten, wo diese alternative Zeiträume suchen. Es bildet sich ein gespanntes Verhältnis zwischen dem Zeitraum des realen Schauplatzes und den Zeichen von abwesenden und unerreichbaren inneren Metazeiträumen heraus, an die sich die Gestalten in gespannten Handlungsmomenten im realen Zeitraum erinnern als an jene schöne Erde, wo wir so glückselig gewesen waren (RAUPACH 1834: 96). Auf der Ebene der Gestalten wird nicht deren Handlungsfunktion, sondern das Erlebnis betont. Die Handlungsmotive werden in umfangreichen monologischen und gefühlvollen Passagen mit Unterbrechungen der Satzkontinuität und Veränderungen der Redeperspektiven von der sachlichen Beschreibung des Ereignisses zur subjektiven Schilderung des geistigen Zustandes der dramatischen Gestalt erklärt. Am Ende der Geschichte kann zwar der Intrigant seine Rache, nicht jedoch seine innere Ruhe finden; er leidet genauso wie die Gestalten des Liebesdreiecks, denen er mit seiner Handlung die Welt zerrüttet hat. Ins Zentrum rücken Leiden aller Handlungsgestalten. In diesem Moment erreicht der Konflikt zwar seinen Höhepunkt, 8 wird aber nicht gelöst. Die Ausweglosigkeit der Geschichte wirkt sich auch auf die Gestalten aus, bei denen die Reflexion die Aktion überwiegt. Die Folgen sind in ihrer Sprache erkennbar: Repliken gewinnen am Umfang, Monologe erstrecken sich über mehrere Textseiten, Auftritte werden immer statischer, innere Spannungen der Gestalten werden poetisiert. Repliken wie sluneční zář i samo mračno nebes budí radosti dnů minulých [der Sonnenschein sowie die Himmelswolken wecken die Freuden der vorigen Tage] oder oči nad chudobou srdce svého do živa a do mdla vyplakala (RAUPACH 1834: 19) [sie hat sich die Augen über die 7 Insbesondere die Titelgestalten erinnern sich bereits seit deren ersten Treffen auf der Szene an die glückliche, in Italien verbrachte Zeit. 8 Die Hauptheldin hält in der Schlussszene einen Monolog über den Leichnamen der Brüder, die sich im Duell um ihre Gunst einander töteten, danach stirbt auch sie. Dalibor Tureček Armut ihres Herzens völlig ausgeweint] bzw. labutěmi tichounkými u jezeru večerním se berou klidně myšlenky tvoje a city prsy tvými (RAUPACH 1834: 21) [als stille Schwäne am Abendsee bewegen sich deine Gedanken und Gefühle durch Deine Brust] bilden einen elegischen Rahmen. Von Anfang an blickt hier das Motiv des Todes durch, das auch andere Motivkomplexe durchdringt und die sentimental düstere Atmosphäre stärkt. 9 Während die Sentimentalität in der konventionellen zeitgenössischen Produktion das Publikum lediglich rühren soll, hat das Gefühlsvermögen der Protagonisten der fiktionalen Welt in den Leibeigenen eine subjektiv romantische Funktion und trägt zur Ausprägung des Spielthemas bei. Von Anfang an entwickelt sich der Konflikt der realen Welt mit krásný sen života (RAUPACH 1834: 86) [dem schönen Traum des Lebens] ganz im Geiste der subjektiven Romantik, die die Helden von der Umwelt isoliert: Tamo ve Vlašsku, kde po pozemsku cizinci jsme byli, duchovně však vlastenci, jsme měli odřeknouce se své vlasti, ve spolek lásky vejíti [...] O cožpak jsem do toho často se nevmýšlel? Neobrazil já si kouzelné zahrady? [...] nemůže tak býti! Živobytí drží duchy pevně na ouvazku pevném, jako drží těla tíž. (RAUPACH 1834: 20 21) Dort bei den Wälschen (Italien), wo wir auf der Erde bloße Ausländer gewesen waren, geistig jedoch Patrioten, sollten wir, auf unsere Heimat verzichtend, in den Bund der Liebe hineingehen. [...] O, und ob ich mich öfters nicht darin hineingedacht habe? Bin ich nicht in Zaubergärten herumgegangen? [...] Es kann nicht so sein! Das Dasein hält die Geister fest am festen Band, wie das Gewicht den Körper hält. Der Widerspruch der Welt und des Ideals wird in wiederholten Überlegungen der Helden betont, in denen sie danach streben, die Ursache ihrer Leiden zu entdecken. Grundlegend ist in dieser Hinsicht das Motiv des Widerspruchs zwischen Vater und Sohn, der sich in der Frage des jungen Helden verdichtet: Jest to vinou mou, že zohavený znamením duchovným já se zrodil? (RAUPACH 1834: 52) Ist es meine Schuld, dass ich mit geistiger Schändung auf die Welt gekommen bin? Das Motiv der Schuld kehrt in den Szenen zurück, wo duše se zoufale s divým proudem krve potýká (RAUPACH 1834: 68) [die Seele mit einem wilden Blutstrom verzweifelt kämpft]. Der Held lehnt seine eigene Verantwortung immer stärker ab und als Ursache der Leiden wird in seiner Replik à la Mácha der Vater genannt, der im Stück als handelnde Gestalt gar nicht auftritt: 9 Der junge Mann gibt seiner Geliebten gleich bei ihrem ersten Treffen Blumen vom Grab ihrer Mutter, und eine seiner ersten Repliken lautet: Hrob ten posílá své zahradnici... [Das Grab schickt seiner Gärtnerin...], worauf die Gräfin antwortet: O milý příteli! Jakých sladkých, blažících mi slz přinášíš. [...] Drahá květinko, osvěcená z ňader zesnulé! (RAU- PACH 1834: 18) [O, du lieber Freund! Welche süßen, beglückenden Tränen bringst du mir. [...] Liebes Blümchen, von der Brust der Verstorbenen geweiht!]. 13

7 14 Rezeptionshorizonte der tschechischen Literatur in den Jahren Vina jesti jeho, hanba tvá. (RAUPACH 1834: 33) [Seine Schuld ist es, deine Schande.]. In dieser Konstellation wird die Spannung zwischen zwei ungleichwertigen Gestalten dem real handelnden Sohn und dem in der aktuellen Handlung abwesenden Vater weiter gesteigert. In den nächsten Auftritten verliert das Schuldmotiv immer deutlicher seine zeitliche und kausale Bedeutung für die Handlung und verschiebt sich in den Bereich statischer, allgemein existenzieller Reflexionen. Zunächst wird die schicksalhafte Unlösbarkeit des Konflikts betont: Proč jsme oba světlo světa spatřili? Proč pak jeden nezůstal v té noci nezbytnosti? Neboť nižádný již pokoj mezi námi není, ani v živobytí, ani ve smrti.( RAUPACH 1834: 103) Warum sind wir beide ans Licht der Welt gekommen? Warum ist einer nicht in der Nacht der Unentbehrlichkeit geblieben? Denn keinerlei Ruhe gibt es unter uns, weder im Leben noch im Tode. Kontinuierlich verschiebt sich die Aufmerksamkeit völlig zu inneren Gefühlen des jungen Mannes, der wegen einem unüberlegten Angriff gegen den Verführer seiner Geliebten dem Gericht ausgeliefert werden soll: Tu potupu, to srdce svírání, to zošklivení sebe samého, ty hrůzy trestu všecko byl já [...] již trpěl [...] Proč té hrůzy? Že jsem se provinil? O ne, nikdy! že jsem narozen. Zavržený byl já, než jsem byl zatracený býti červem, jehož dáví nohou, jehož si zošklivují. Vážnost sebe samého, s níž člověk k životu lne duchovnímu, ta již tam a proto sebou opovrhám. (RAU- PACH 1834: 96) Die Demütigung, die Herzbeklemmung, der Ekel vor sich selbst, die Schrecken der Strafe alles habe ich [...] bereits erlitten [...] Warum den Schrecken? Dass ich mich schuldig gemacht habe? O nein, nie! dass ich geboren bin. Verstoßen bin ich gewesen, bevor ich verdammt gewesen bin, ein Wurm zu sein, der mit dem Fuß zerdrückt wird, vor dem man Ekel hat. Die Achtung vor sich selbst, mit der der Mensch zum geistigen Leben neigt, die ist schon vorbei, und deshalb verachte ich mich. Diese stvůry psychy rozjitřené (RAUPACH 1834: 96) [Ungetüme der aufgewühlten Psyche] gehen schließlich in die Fragen des Fortlebens nach dem Tode und der Todesangst über: A když smrt jen tvrdé spaní jest, proč se děsí hříšník smrti? (RAUPACH 1834: 100) Und wenn der Tod nur ein harter Schlaf ist, warum fürchtet sich der Sünder vor dem Tode? Zwei Jahre vor der Veröffentlichung des Máj hat Macháčeks Übersetzung eine Reihe von Motiven auf Máchas Art exponiert. In Übereinstimmung mit dem zweiten Gesang von Máchas Gedicht hat er diese Motive im Bild noc beze spaní, ale plné zoufalství [der Nacht ohne Schlaf, aber voll Verzweifelung] gesteigert, die předchoutka pekla (RAUPACH 1834: 99) [ein Vorgeschmack der Hölle] ist. 10 Die typologische Ähnlichkeit mit dem Máj, die sowohl in mo- 10 Auch in den oben zitierten Passagen der Übersetzung Macháčeks kann man sicherlich eine Dalibor Tureček tivischen Komplexen als auch im Konzept der Gestalten und der elegischen Poetik auffallend sichtbar wird, ist hier sogar noch deutlicher und profunder als in Klicperas Loupež, bei dem die bisherige Forschung einige auffallende thematische und motivische Zusammenhänge mit Máchas Texten suchte und fand (vgl. STICH 1986). Raupachs Spiel stellt also einen der möglichen Prätexte von Máchas Máj dar, und es wäre zweifellos möglich, auf Grund der zeitgenössischen Kritiken zu verfolgen, welche ästhetischen Möglichkeiten dieses sentimentalen Dramas in der zeitgenössischen Situation aktualisiert worden sind. Im Gegensatz zum Máj hat sich das Thema von Isidor und Olga nicht auf die subjektiv romantische Zerrissenheit der Helden beschränkt. Bereits im ersten Dialog wird auf unterschiedliche Art und Weise das schicksalhafte Gefühl mit der hitzigen Leidenschaft des Jungen, prchlou vášní jinocha (RAUPACH 1834: 38), konfrontiert. Im Gegensatz zu einer auf Verantwortung und innerer Disziplin basierenden Beziehung steht die romantisch ungefesselte Emotionalität. Mit dem Fortschritt der Handlung kommt das Motiv der höheren, transzendentalen Gerechtigkeit ins Spiel; die Leiden der Helden sind in diesem Referenzrahmen verankert. Motive der Transzendenz verdichten sich bei der weiblichen Hauptgestalt die Stücks, die sich durch christliche Frömmigkeit auszeichnet. In der Schlussszene des Sterbens spricht die Hauptheldin den Glauben aus, dass das böse Schicksal durch das ewige Leben nach dem Tode kompensiert wird. Trotz vieler auffallender Ähnlichkeiten in den Motiven, der Darstellung sowie dem elegischen Stil (vgl. IBLER 2000) gibt es also zwischen Macháčeks Raupach-Übersetzung und Máchas Gedicht einen wesentlichen Unterschied: Macháčeks Raupach-Adaptation schließt sich den anderen zeitgenössischen Texten an, die die romantischen Motive von Schuld und Rache anders exponieren, als Mácha es getan hat (vgl. STICH 1993). In dieser Hinsicht stellt Raupachs Text ein negatives Rezeptionspendant dar, das den Charakter von Máchas Werk präziser erfassen lässt. Das Verhältnis der beiden von uns verfolgten Texte umfasst noch eine dritte Dimension: der Unterschied zwischen den Leibeigenen und dem Máj, der beim isolierten Vergleich dieser Werke so offensichtlich ist, hört auf signifikant zu sein, sobald man Macháčeks Übersetzung aus der Perspektive des zeitgenössischen Theaterrepertoires betrachtet. In einem weiteren Kontext wird deutlich, dass diesem die Leibeigenen Máchas näher stehen als Theaterstücke, die sich zumindest in der Genrebezeichnung auf die Romantik berufen. Als Beispiel kann Tyls Übersetzung von Raupach dienen, die 1840 unter dem Titel Kníže ďábel angefertigt und als romantisches Schauspiel (LAISKE 1974/1: 171) aufgeführt wurde, um später noch als Erzählung umgearbeitet zu werden (vgl. ganze Reihe bedeutender Übereinstimmungen mit Máchas Mai (Máj) finden; sie scheinen mir so frappant zu sein, dass ich hier auf sie nicht ausdrücklich verweise. 15

8 16 Rezeptionshorizonte der tschechischen Literatur in den Jahren OTRUBA/PROCHÁZKA 1985). Der Zuschauer wird hier vor allem durch äußerliche Effekte angesprochen. Die Gestalten zeichnet keine strukturierte Innenwelt aus. Dem Zuschauer werden lediglich konventionelle, verkrampft und schematisch stilisierte Zeichen des geistigen Lebens präsentiert. Die Kommunikationsstrategie sowie Poetik steht eher den Barockexempeln und - parabeln nahe: Bereits zu Anfang wird eine moralische Maxime ausgesprochen, die die Handlung durch äußerliche, überexponierte emotionale Effekte lediglich illustriert. 11 Die Rezeption von Tyls Raupach-Adaptation erfolgte also vor dem Hintergrund von allgemein bekannten und bewährten Stereotypen. Der Erfolg war ferner durch die Verbindung einiger zeitgenössisch beliebten Genres Singspiel, historisches Ritterspiel und didaktisches Spiel garantiert. Effekte, welche die Hauptquelle der ästhetischen Wirkung bildeten, erinnern zwar an die Schreckensromantik, romantisch ist daran lediglich der Außenanstrich. Macháčeks Raupach-Übersetzung unterscheidet sich von einer solchen szenisch erfolgreichen Verwendung romantischer Motive durch den Psychologismus und den elegischen Charakter des Textes und zwar insoweit, dass seine Adaptation seinerzeit als ein Lesedrama wahrgenommen wurde: Tyls Rezension reagierte allerdings auf die Textausgabe und nicht auf die Bühnenaufführung. Tyl stellt fest, dass Raupachs Stück sich auf deutschen Bühnen einer großen Beliebtheit erfreut, mit dessen Übersetzung als Bestandteil des tschechischen Theaterlebens beschäftigte er sich nicht. Er hat lediglich die sprachliche Qualität von Macháček Übersetzung geschätzt und tschechischen Leserinnen zur wiederholten Lektüre empfohlen (TYL 1960: 59 62). Der Vollständigkeit halber soll hinzugefügt werden, dass Tyl zwei Jahre vor Macháčeks Übersetzung Raupachs Komödie Pašerové ins Tschechische übertragen hat, in der einzelne literarische Klischees der Romantik scharf kritisiert wurden. Am Beispiel der tschechischen Rezeption von Raupach wird also deutlich, dass die romantische Poetik, die romantischen Motive und die romantische Thematik in der realen Rezeptionslage auf unterschiedliche ästhetische Normen gerieten, in unterschiedliche funktionale Kontexte eintraten und in diesen Koordinaten auch diametral unterschiedliche Ausformungen und Bedeutungen gewannen. Bestandteile des imaginären idealen romantischen Textes haben in konkreten Werken gleichzeitig sehr unterschiedliche Positionen eingenommen und sich unterschiedlichen Dominanten unterstellt. Der Verweis auf eine auffallende Ähnlichkeit von Raupachs und Máchas Texten ist dabei nicht ein Versuch, Máchas Texte von Übersetzungen sentimentaler Tragödien abzuleiten. Máchas Werk verdichtet aber offensichtlich seinerzeit allgemeiner verbrei- 11 Robert lässt einen Klausner verbrennen, aber der erscheint als Wunder wieder auf der Szene und führt Robert zur Buße; der getötete Kumpan von Robert erscheint wiederholt als ein Geist aus der Hölle und führt Robert im Gegenteil von dem Bußweg ab. Dalibor Tureček tete Kommunikationsstrategien, Themen, Motivkomplexe und stilbildende Verfahren, wobei die Frage nach der Originalität und der spezifischen Bedeutung seines Werkes in diesem Zusammenhang unbeantwortet bleiben soll. Dessen ungeachtet zeigt sich jedoch, dass die These, dass Máchas Werk im tschechischen Kontext einzigartig ist, nicht so aufgestellt werden darf und dass die Frage nach der Eigenartigkeit seines Werkes nur in einem weiteren Kontext beantwortet werden kann. Denn spezifische Züge des subjektiv romantischen Literaturtyps waren dem tschechischen Leser und Zuschauer durch die Übersetzungen deutscher sentimentaler Tragödien bereits seit Beginn der 1820er Jahre vertraut und haben so den zeitgenössischen Rezeptionshorizont wirksam beeinflusst. Es bleibt sicherlich die Frage, wodurch sich Mácha von diesem Horizont unterschied, und insbesondere, in welchem Verhältnis er zu jenem Erwartungshorizont die Kulturtheorie der Jungmann-Gruppe stand, die auf der Ablehnung von Máchas Máj basierte. Die Beantwortung dieser Frage würde jedoch den Umfang sowie die Zielsetzungen dieses Beitrages sprengen. Eines ist jedoch schon jetzt sicher: Der scharfe und eindeutig geführte Klassifikationsschnitt, um den sich die vom Sprachnationalen ausgehenden Literaturhistoriker so oft bemühen und der zeitgenössische Richtungen und Strömungen, Kultursubareale und Autorenpersönlichkeiten ordnen soll, ist in Konfrontation mit dem realen Funktionskontext und der realen Rezeption kaum noch als Instrument der literaturhistorischen Arbeit zu verteidigen. Um so ersichtlicher zeigt sich der innerlich dynamische und verschiedenartige Charakter der zeitgenössischen Kultur, der stets und aus neuen Blickwinkeln als eine in sich widersprüchliche Zusammengehörigkeit auftaucht. Literatur BIRUS, Hendrik (Hg.) (1995): Germanistik und Komparatistik. Stuttgart/Wiemar: Metzler. Čtenář jako výzva. Výbor z prací kostnické školy (2001). Hg. v. J. Trávníček. Brno: Host. GADAMER, Hans Georg (1960): Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr. GREENBLATT, Stephen (2000): Was ist Literaturgeschichte? Frankfurt/Main: Suhrkamp. HARTH, Dietrich (Hg.) (1982): Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft. Stuttgart: J. B. Metzler. IBLER, Reinhard (2000):,...ohne Leben ist das Ideal geblieben (a bez života zůstal ideál). Karel Hynek Mácha als Elegiker. In: H. Schmid (Hg.), Karel Hynek Mácha. Die tschechische Romantik im europäischen Kontext. München: Otto Sagner,

9 Rezeptionshorizonte der tschechischen Literatur in den Jahren JAKUBEC, Jan (1901): Murko Matyáš. In: Ottův slovník naučný 17, Praha: J. Otto, JAUSS, Hans Robert (1970): Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/Main: Suhrkamp. LAISKE, MILOSLAV (1974): PRAŽSKÁ DRAMATURGIE. PRAHA: DIVA- DELNÍ ÚSTAV. MURKO, Matthias (1897): Deutsche Einflüsse auf die Anfänge der Slawischen Romantik I. Die Böhmische Romantik. Graz: Styria. OTRUBA, Mojmír/PROCHÁZKA, Martin (1985): Prvky divadelnosti v obrozenské próze In: Divadlo v české kultuře 19. století, Praha: Národní galerie, PERKINS, David (1992): Is Literary History Possible? Baltimor: Johns Hopkins Univ. Press. RAUPACH, Ernst (1834): Nevolníci aneb Isidor a Olga. Praha: J. Fetterlová. SCHULZ-BUSCHHAUS, Ulrich (1979): Die Unvermeidlichkeit der Komparatistik. In: Arcadia 14, 235. STICH, Alexandr (1986): Máchův Vilém a současná česká literatura. In: P. Vašák (ed.), Prostor Máchova díla. Praha: Československý spisovatel, STICH, Alexandr (1993): Ještě k Máchovi: Velký a silný protivník J.K. Tyl. In: F. Černý (ed.), Monology o Josefu Kajetánu Tylovi. Praha: Karolinum, STOROST, Joachim (1960): Das Problem der Literaturgeschichte. In: Dante-Jahrbuch 38, TUREČEK, Dalibor (2000): Geschichte der tschechischen Literatur Problem und Herausforderung der gegenwärtigen Bohemistik. In: Wiener Slawistisches Jahrbuch 46, TYL, Josef Kajetán (1960): Divadelní referáty a stati. Praha: Státní nakladatelství krásné literatury, hudby a umění. WELLEK, René/WARREN, Austin (1959): Theorie der Literatur. Bad Homburg: Gentner. ZIMA, Peter (1992): Komparatistik. Tübingen: Francke Verlag. Johann Joseph Polt und Herders Slawenkapitel. Ein Beitrag zum Thema Die Deutschböhmen und die tschechische Nationalbewegung 1 Václav Petrbok Im Jahre 1813 erschien in Prag ein unauffälliges Büchlein: das Handbuch der Geographie von Böhmen. Der Autor, Johann Joseph Polt ( ) er stammte aus Prag, war als Verleger tätig und überdies nicht nur ein äußerst produktiver Verfasser von Novellen im Stil der Exempelerzählung, sondern auch ein beflissener Sammler böhmischer Sagen 2 widmete seine Arbeit Ferdinand Graf Kinský, Herrn auf Kostelec nad Černými lesy, Choceň und Borovnice, Zlonice. Das nicht allzu umfangreiche Werk gliedert sich in zwei Teile. Im ersten, überschrieben Das Königreich Böhmen, skizziert Polt in übersichtlicher Weise die geographischen, politischen, kulturellen und religiösen Verhältnisse im böhmischen Königreich, wobei der Herstellung natürlicher Produkte und der Bereich der öffentlichen Verwaltung sein besonderes Augenmerk gilt. Der Autor gibt zudem eine Übersicht über die wohltätigen Einrichtungen des Landes. Der zweite Teil bietet unter der Überschrift Eine kurze Beschreibung der vorzüglichsten Städtchen u.s.w. in Böhmen eine nach einzelnen Kreisen gegliederte Zusammenstellung bedeutender Örtlichkeiten, die der Autor mit knappen Angaben ökonomischer und statistischer Art erläutert; gelegentlich finden sich auch kulturhistorische Hinweise, insbesondere zu den berühmten Söhnen oder Töchtern des jeweiligen Ortes. Auf den ersten Blick handelt es sich um ein Standardwerk, das zweifellos einer möglichst breiten Leserschicht zu rascher Information verhelfen wollte. Von besonderem Interesse für Literaturhistoriker freilich sind die beachtenswerten Kapitel zu den Themen Sprache; Karakter, Sitten und Fähigkeiten; Volksbelustigungen; Geisteskultur sowie Gelehrte und Kunstanstalten, die umfangreiches Material zur Geschichte des literarischen und kulturellen Lebens in Böhmen bieten. Die Literatursoziologie sollte die Informationen, die ihr die tschechische, deutsche, eventuell auch lateinische Fachliteratur böhmischer Provenienz in Form der im 1 Übersetzung von: Johann Joseph Polt českoněmecký Herderián? Příspěvek k velkému tématu čestí Němci a české národní hnutí. In: A. Jedličková, I. Kreitlová (Hg.): U jednoho stolu, Prof. PhDr. Jaroslavě Janáčkové, CSc. k sedmdesátým narozeninám. Praha: Ústav pro českou literaturu AV ČR 2000, Zu Polt vgl. GRÄFFER/CZIKANN (1836: 579), RIEGER (1887: 640), WURZBACH (1872: 90 92); der vergleichsweise vollständigste bibliographische Überblick findet sich bei GOEDEKE (1898: ). Über die Werke, die Themen aus der Geschichte Böhmens behandeln, finden sich verstreut Hinweise in den Arbeiten von KRAUS (1902: 246f., 278), Polts belletristische Werke für Kinder finden Erwähnung bei PLETICHA (1998: 3f.), einen Überblick über die herausgeberische Tätigkeit gibt LAISKE (1959: 168). 18

10 20 Johann Joseph Polt und Herders Slawenkapitel 18. und 19. Jahrhundert so zahlreichen heimatkundlichen und topographischen Handbücher präsentiert, keineswegs unterschätzen. 3 Aber auch dass der Autor des hier zu besprechenden Handbuchs Deutschböhme ist, wirft eine Reihe von Fragen auf: Werden die Anfänge der tschechischen Nationalbewegung, wird das beginnende literarische Schaffen der Tschechen in irgendeiner Weise registriert, und wenn ja, welche Bewertung erfahren sie? Wie spiegelt sich die Sprachensituation in Böhmen? Welche Beobachtungen des Autors lassen sich als Beitrag zur Imagologie der Tschechen und Deutschböhmen verstehen, als Beitrag zu jenem Bereich also, der sich mit der Entstehung und Verfestigung von Bildern befasst, über die eine Kultur sich selbst und andere wahrnimmt? 4 Im Folgenden soll in knapper Form eine Antwort auf diese Fragen versucht werden. Die tschechischsprachigen literarischen Werke seiner Zeitgenossen kannte Polt gut; er führt sie, sei es auch nur in aller Kürze, in seinem Handbuch auf und enthält sich auch eines Urteils nicht. Im achtzehnten Kapitel mit der Überschrift Geisteskultur spricht er zunächst von der Neigung der Böhmen zur spekulativen Wissenschaft, um dann die Arbeiten von Balbín, Voigt, Pelcl und Vydra äußerst positiv zu bewerten. Sie geben Kunde von den Gelehrten, die sich um Kunst und Wissenschaft verdient gemacht haben, und weisen ihnen einen ehrenvollen Platz im Gebiete der Gelehrsamkeit an (POLT 1813: 23f.). Auch die WIENER ANNALEN DER LITERATUR, so Polt, lobten die Werke der tschechischen Gelehrten, und er fügt hinzu: Das folgende Verzeichniß der noch lebenden Schriftsteller Böhmens enthält sehr viele, in der literarischen Welt gefeyerte Namen, und bezeichnet am besten den Stand, auf welchem die Kultur der Böhmen jetzt stehet (POLT 1813: 24). Aus Gründen der Übersichtlichkeit ordnet Polt dieses Verzeichnis alphabetisch und liefert zu jedem Namen eine Kurzcharakteristik. Autoren, die in tschechischer Sprache publizieren, versieht er mit einem Sternchen. Und in der Tat fehlt hier kein Name, der in irgendeiner Weise auf literarischem oder auch musikalischem Gebiet von größerer Bedeutung war. Neben Josef Jungmann finden sich 3 Ein Verzeichnis dieses literarischen Genres (unter Angabe der jeweiligen Signaturen) und seiner Interpretation bietet freilich aus der Sicht des Regionalhistorikers Frantíšek Roubík (1940; über Polt: 42). Die Gründe für die gegenwärtige Popularität der Regionalgeschichte, ihre Aufgaben und der Stand ihrer Forschungen ist Gegenstand einiger Beiträge in dem Sammelband zur Konferenz J. V. Šimák a poslání regionální historiografie v dnešní době [J. V. Šimák und die Aufgaben der regionalen Geschichtsschreibung in heutiger Zeit] (ŠIMÁK 1996). Bezeichnenderweise finden sich hier jedoch keine breiter angelegten Untersuchungen über die Beziehung zwischen Literatur- und Regionalgeschichte; lediglich in dem Beitrag über die Beziehung J.V. Šimáks zur schönen Literatur wird diese teilweise thematisiert. Als grundlegend hinsichtlich der Anwendung regionaler Perspektiven in der Literaturgeschichte kann PALAS (1964) gelten. 4 Eine gelungene Analyse des Bildes, das sich deutsche Reisende, insbesondere die Gäste in den Kurbädern, von den Bewohnern des böhmischen Königreichs machten, liefert wenn auch anhand eines sich auf durchweg reichsdeutsche Quellen beschränkenden Korpus HENTSCHEL (1997). Václav Petrbok Josef Georg Meinert, beide Brüder Nejedlý und damals in ihrem Schaffen noch ausschließlich deutschsprachig K. A. Schneider, J. Rulík und ebenso F. A. Pabst. Polt beschränkt sich dabei keineswegs nur auf Autoren, die sich ausschließlich der Belletristik verschrieben hatten; die Nennung von Autoren wie J. G. Mikan, K. I. Thám und F. F. Procházka zeigt, dass er auch auf fachliterarischem Feld orientiert ist. Die Sprachensituation in Böhmen ist Gegenstand des dreizehnten Kapitels, das die Überschrift Sprache trägt. Als Hauptsprachen nennt Polt hier das Slavische und Deutsche. Zur Stellung des Tschechischen äußert er sich überraschend unverblümt: Letztere von beiden [d.h. das Deutsche, V.P.] ist die Amtssprache und unterdrückt erstere immer mehr (POLT 1813: 12). Auch dialektale Unterschiede des Tschechischen und des Deutschen erregten sein Interesse und einige charakteristische Beispiele aus Nordböhmen, wo das Deutsche sehr verunstaltet ist, werden sogar zitiert. Die Gebildeten bedienen sich laut Polt des Französischen, Italienischen und Englischen, das Lateinische aber gelte immer noch als Sprache der Kirche und der Gelehrten, wie in der Mehrheit der zivilisierten Länder (POLT 1813: 13). Das interessanteste Kapitel in Polts Handbuch ist wohl das fünfzehnte: Karakter, Sitten und Fähigkeiten. Dass Polt sich mit den Eigenschaften und dem Charakter der Bewohner beschäftigt, ist in Zusammenhang zu sehen mit dem gesteigerten Interesse insbesondere des deutschen mutatis mutandis auch des tschechischen Volkes, die psychischen Spezifika einzelner Nationen und Individuen zu ergründen und zu beschreiben. Dieses allgemein anerkannte Postulat sollte in Abkehr von dem früheren Interesse an adeligen oder gebildeten Kreisen, das Hauptaugenmerk, wie Goethe forderte, programmatisch auf den Mann in seiner Familie, den Bauern auf seinem Hof, die Mutter unter ihren Kindern, den Handwerksmann in seiner Werkstatt, den ehrlichen Bürger bei seiner Kanne Wein und den Gelehrten und Kaufmann in seinem Kränzchen oder seinem Kaffehause (GOETHE 1898: 276) lenken. Obwohl man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen kann, dass Polt, während der Arbeit an seinem Werk die darin beschriebenen Bürger oder Vertreter des Bauern- und Handwerkerstandes nicht vor Ort aufsuchte, wäre es verfehlt, seine Beobachungen einfach als gegenstandlos oder bizarre Erfindungen abzutun. Polt stützt sich in seiner gesamten Darstellung auf ausgewählte historische Ereignisse, die nicht nur zu einem tieferen Verständnis geschichtlicher Entwicklungen führen sollen, sondern zugleich auch die erforderlichen Argumente für eine Begründung der im Einzelnen festgestellten Charakterzüge bereitstellen. So zeigten die Böhmen beispielsweise im Dreißigjähigen Krieg Mut und Tapferkeit ; die folgenden Jahre bewiesen ihre Ausdauer in Beschwerlichkeiten und die Ereignisse des jüngst vergangenen Jahrzehnts bestätigen nicht nur ihre Tapferkeit [...], sondern auch ihre Anstrengungen für Thron und Vaterland in der Gründung der Legion und der Landwehr (POLT 1813: 13f.). 21

11 22 Johann Joseph Polt und Herders Slawenkapitel Polt hebt die Leistungen der Böhmen auf dem Gebiet der Mathematik, der Rechtswissenschaften, der Medizin und der Musik hervor, in der Gastfreyheit sieht er ihre Nationaltugend und stellt die Faulheit, die gerade dem Bauern vorgeworfen wird in Abrede. Im Sinne der zeitgenössischen merkantilistischen und populationistischen Theorien führt er vielmehr zu dessen Gunsten aus: es fehlt ihm nur noch an der gehörigen Kenntniß, um aus seinem Grund und Boden den höchsten Gewinn zu ziehen (POLT 1813: 14). Polt war sich des Unterschiedes zwischen den Vertretern der beiden Landessprachen sehr wohl bewusst. Von den Tschechen (Czechen) sagt er: vorzüglich trifft sie der Vorwurf, daß sie gerne bei den alten Weisen ihrer Väter bleiben und kommt in diesem Zusammenhang sozusagen entschuldigend auch auf ihre Störrigkeit zu sprechen. Den Deutschböhmen müsse zwar zugestanden werden, dass sie überhaupt viel gebildeter [...] als die Slavischen Böhmen sind, doch gäben ihre Sitten (Betrunkenheit) desöfteren Anlass zur Beschwerde. (POLT 1813: 14f.) Eine Besonderheit ist, dass Polt seiner Darstellung Herders berühmtes Slawenkapitel inkorporiert. 5 Der Bedeutung dieses Textes war sich Polt bestens bewusst und er äußert sich dazu folgendermaßen: Was Herder hier [...] über die Slaven sagt, mag hier vorzüglich einen Platz finden, da es ihren Werth unter den Völkern Europas sehr wahr und kräftig bezeichnet und in der Zukunft [Hervorhebung V. P.] von ihnen ein Gemälde entwirft, welches mit philosophischem Scharfblicke entworfen ist. (POLT 1813: 15). Vergleichen wir die ursprüngliche Version des Herderschen Textes mit dem Abdruck bei Polt, so sind gewisse Änderungen festzustellen, die dem Text vermutlich den Sprung über die Hürde der Zensur erleichtern sollten, auch wenn sich diese in der Zeit der Napoleonischen Kriege patriotisch gesinnten Texten gegenüber liberaler zeigte. Die Eingriffe der Zensurbehörde von denen zu unterscheiden, die der Autor selbst vornahm, wird mit letzter Sicherheit nur dann möglich sein, wenn das Autograph von Polts Handbuch aufgefunden werden sollte. Dennoch lohnt ein Blick auf einige Veränderungen, die in ihrer Art exemplarisch 5 Der Abdruck des Textes an dieser Stelle ist auch in Peter Drews ansonsten erschöpfender Bibliographie der Übersetzungen, Paraphrasen und Erwähnungen Herders in den slavischen Literaturen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht erfasst (DREWS 1990). Vor 1813 hatte lediglich Dobrovský Herders Text, ohne jeglichen Kommentar, in der Einleitung zu seinem Slawin veröffentlicht; dabei waren von der Zensur die Formulierungen von ihren christlichen Herren und Räubern sowie von euren Sklavenketten befreiet gestrichen worden. Im gleichen Jahr wie Polt schuf Jungmann eine ganze eigene Übersetzung des Textes (JUNGMANN 1813); vgl. dazu MACURA (1995: 62, 67f.). Unter der Chiffre W. [= W. A. Gerle?] gab ein Autor einen weiteren, nicht vollständigen Neuabdruck des deutschen Originals heraus, dem er die wohlwollenden Äußerungen des Ehepaars Woltmann über die Tschechen beifügte; diese Texte erschienen 1855 unter dem Titel Urtheile über die Slawen in der Prager Zeitschrift DAS WOHLFEILSTE PANORAMA DES UNIVERSUMS ZUR ERHEITERN- DEN BELEHRUNG FÜR JEDERMANN UND ALLE LÄNDER. Václav Petrbok sind. Herders neutrale Information hinsichtlich der Landbesiedelung durch die Slaven Allenthalben ließen sie [die Slaven, V. P.] sich nieder, um das von andren Völkern verlassene Land zu besitzen (Herder 1964: 392) erscheint bei Polt, der das Verbum modifiziert, eher als Inbesitznahme, die eines gewaltsamen Zuges nicht völlig entbehrt: Allenthallben ließen sie sich nieder, um das von den anderen Völkern verlassene Land zu besetzen (POLT 1813: 16). Herders erzürnte Sätze über die jahrhundertelange Unterdrückung und die von ihm gezogene Analogie zwischen den südamerikanischen Völkern und den Tschechen werden bei Polt erheblich gekürzt. Schreibt Herder [...] ihr Vineta nahm durch die Dänen ein trauriges Ende, und ihre Reste in Deutschland sind dem ähnlich, was die Spanier aus den Peruanern machten. Ist es ein Wunder, daß nach Jahrhunderten der Unterjochung und der tiefsten Erbitterung dieser Nation gegen ihre christlichen Herren und Räuber ihr weicher Carakter zur arglistgigen, grausamen Knechtsträgheit herabgesunken wäre? Und dennoch ist allenthalben, zumal in den Ländern, wo sie einiger Freiheit genießen, ihr altes Gepräge noch erkennbar (HERDER 1964: ), so lesen wir bei Polt lediglich und ihr Vineta nahm durch die Dänen ein trauriges Ende (POLT 1813: 18). Grund hierfür mag die Vorsicht gegenüber der Zensurbehörde gewesen sein, es ist aber durchaus auch denkbar, dass Polt mit Herders nicht allzu freundlicher Charakterisierung, die den Tschechen eine arglistige, grausame Knechtsträgheit zuschreibt, nicht einverstanden war. Unter Verweis auf Dobner, Jordan, Voigt, Dobrovský, Fritsch, Pelcl u.a. ruft Herder im Schlussabsatz seiner Schrift dazu auf, die im Schwinden begriffenen Reste des slavischen Brauchtums sowie der slavischen Lieder und Sagen zu sammeln, damit eine Geschichte des Völkerstammes im ganzen gegeben würde, wie sie das Gemälde der Menschheit fordert (HERDER 1964: 394). Herders Schrift erfährt ganz offenkundig eine Aktualisierung, wenn Polt ihr hier den von patriotischer Begeisterung getragenen Satz folgen lässt: Die Zeiten und Ihre Ereignisse bringen die prophetischen [Hervorhebung V. P.] Worte Herders ihrer Erfüllung immer näher. Die Slavischen Völker in den österreichischen Staaten erfreuen sich schon einer schöneren Kultur und eine weise Regierung macht sie täglich besser, vernünftiger und freyer. Dasselbe gilt von den Slaven in Ilyrien und Pohlen, ja auch in den vasten Räumen des russischen Reichs bringt ein menschlicher Monarch [...] eine erhöhte Kultur [...] und mildert die Sitten der rohen [Hervorhebung V. P.] Stämme durch Einführung der Künste und Wissenschaften. (POLT 1813: 19) Polts Abdruck des Slawenkapitels fällt ganz ersichtlich in die aufgewühlte Zeit der Napoleonischen Kriege, d.h. genau in jene Zeit, in der ein ethnisch wie sprachlich tschechisch geprägter, romantisch motivierter Historismus und Nationalismus seine Positionen deutlich zu formulieren beginnt. 6 Polt selbst 6 Zu diesem Thema sind in den letzten Jahren mehrere Studien erschienen, z.b. RAK (1999), VLNAS (1999), PETRBOK (2000). 23

12 24 Johann Joseph Polt und Herders Slawenkapitel gehörte mit seinem Werk und seinen Interessen eher der vorangegangenen Epoche der Aufklärung an, was ihn jedoch nicht hinderte, die Bemühungen und Ideale der anderen, 7 der jüngeren Generation wenn auch, wie wir gesehen haben, mitunter ein wenig desillusioniert, nie aber ohne emotionale Beteiligung wahrzunehmen und zu würdigen. Hinsichtlich der Reaktion dieser anderen auf Polts Buch liegen uns keine Zeugnisse vor. Es ist kaum zu erwarten, dass eine entsprechende Suche ergiebig wäre. Doch wissen wir, wie Polts spätere Arbeiten aufgenommen wurden, insbesondere seine Sagen und Geschichten aus der Vorzeit Böhmens (2 Bde., 1839), und welche Beurteilung seine Tätigkeit als Herausgeber fand. V. B. Nebeský, der die Zeitschrift KVĚTY [Blüten] von Wien aus mit Beiträgen belieferte, beschwert sich 1845 über die ältere Generation der deutschböhmischen Prosaschriftsteller, von welchen er sagt, dass sie velkolepou tkaninu naši historie v aesthetickou charpii, v novelky a obrázky rozstřepují. Pan Aneck ku př. píše a dělá z purpuru hadry a p. Polt je vydává. P. Polt sbíral dříve anekdoty a nemůže ještě přestat sbírat hadry. Jestli takoví lidé nepřestanou, bude z naších hrdin za čas pouhá holota. (NEBESKÝ 1845: 95) das großartige Gewebe unserer Geschichte zu ästhetischen Streifchen, zu niedlichen Novellen und Bildern zerschnipseln [würden]. Herr Aneck zum Beispiel schreibt und macht aus Purpur Lumpen, die Herr Polt dann herausgibt. Herr Polt hat früher Anekdoten gesammelt und jetzt kann er das Lumpensammeln noch immer nicht lassen. Wenn solche Leute nicht aufhören, werden unsere Helden mit der Zeit völlig herunterkommen. Nebeskýs Blick auf die böhmische Geschichte und ihre literarische Verarbeitung unterscheidet sich bereits grundsätzlich von dem Polts. Geschichte ist für ihn nicht mehr nur bloße Quelle lehhreichen Erkennens, das, in die Gegenwart integriert, Sinn und Ziel der Geschichte in der Zukunft bestmöglich vollenden hilft; Geschichte ist für die Generation Nebeskýs vielmehr Aufruf zu Tat und Opfer, das Sinn und Gesetz der Geschichte rechtfertigten. Die Unvereinbarkeit dieser unterschiedlichen Standpunkte, die sich über die ethnischen Grenzen hinweg wie ein Riss durch beide Landesvölker zog, sollten erst die Ereignisse von 1848 unwiderrulich vor Augen führen. 7 Ein interessantes Zeugnis proslavischer Sympathien in der Zeit der Aufklärungskriege ist Polts Sammlung Kriegslisten der Krieger aller Zeiten. Ein Spiegel zur Nachahmung (Prag 1815), die in 81 militärischen Lehrerzählungen die Anwendung von List zur Überwindung des Gegners rechtfertigt. Neben den traditionellen griechischen Figuren (Alexander der Große, Caesar) führt Polt auch den Kampf des germanischen Arminius gegen die römischen Legionen im Teutoburger Wald an, die Kreuzzüge Žižkas, den Kampf des Montenegriners Vukašovic mit den Türken sowie der Russen Ščerbatov und Fedorov mit den Franzosen. Literatur Václav Petrbok DOBROVSKÝ, Josef (1806): Slawin, Botschaft aus Böhmen, an alle Slavischen Völker, oder Beiträge zur Kenntniß der Slawischen Literatur nach allen Mundarten. Prag: In der Herrlschen Buchhandlung. DREWS, Peter (1990): Herder und die Slawen. Materialien zur Wirkungsgeschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. München: Otto Sagner. GOEDEKE, Karl (1898): Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen von Karl Goedeke. Zweite ganz neu bearbeitete Auflage. Fortgeführt von Edmund Goetze. Sechster Band: Zeit des Weltkrieges, Siebentes Buch, erste Abteilung. Leipzig/Dresden/Berlin: Ehlermann. 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13 Johann Joseph Polt und Herders Slawenkapitel PETRBOK, Václav: Jan Nepomuk Norbert Hromádko ein Bohemist im vormärzlichen Wien. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 46, 2000, PLETICHA, Heinrich (1998): Die Kinder- und Jugendliteratur in den böhmischen Ländern. In: Sudetenland 40, Heft 1, POLT, Johann Joseph (1813): Handbuch der Geographie von Böhmen. Prag: Calve. RAK, Jiří (1999): Za vlast a národ proti světoborci [Für Volk und Vaterland gegen die Weltumstürzler]. In: Mezi časy... Kultura a umění v českých zemích kolem roku 1800 [Zwischen den Zeiten... Kultur und Kunst in den böhmischen Ländern um 1800]. Praha: KLP, RIEGER, František Ladislav (1887): Slovník naučný [Konversationslexikon]. Red. F. L. Rieger, Teil II-XI unter Mitarbeit von Jakub Malý. Teil VI. Praha: I. L. Kober. ROUBÍK, František (1940): Přehled vývoje vlastivědného popisu Čech [Überblick über die Entwicklung der heimatkundlichen Beschreibung Böhmens]. Praha: Společnost přátel starožitností. ŠIMÁK, Jan Vitězslav (1996): Šimák a poslání regionální historigrafie v dnešní době. Z Českého ráje a Pokrkonoší [Šimák und die Aufgabe der regionalen Historigraphie in heutiger Zeit. Aus dem Böhmischen Paradies und dem Vorland des Riesengebirges]. Supplementum 2. VLNAS, Vít (1999): Čechy, Praha a říšskoněmecký patriotismus napoleonské doby. Marginalie k tématu [Böhmen, Prag und der reichsdeutsche Patriotismus der napoleonischen Zeit. Marginalien zum Thema]. In: Mezi časy... Kultura a umění v českých zemích kolem roku 1800 [Zwischen den Zeiten... Kultur und Kunst in den böhmischen Ländern um 1800]. Praha: KLP, WURZBACH, Constantin von (1872): Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich XXIII. Wien: K.k. Hof- und Staatsdruckerei. (Übersetzt von Kristina Kallert) Rukopis Královédvorský a Zelenohorský Umfeld der Entstehung und Rezeption zweier gefälschter Handschriften Gisela Kaben Die Fälschungen Rukopis Královédvorský a Zelenohorský bzw. die Königinhofer und Grünberger Handschrift, generell unter den Kürzeln RK und RZ bzw. RKZ abgehandelt, stehen fast am Beginn einer Reihe einschlägiger Funde in Böhmen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1 Dass gerade diese beiden Schriften in das Zentrum eines Authentizitätsstreits geraten sind, der sich bis in die Gegenwart hinzieht, 2 verdeutlicht ihre einzigartige Stellung innerhalb der weitgehend ungefestigten tschechischen Literaturlandschaft des 19. Jahrhunderts, kann aber die Dauer der Auseinandersetzung nicht erklären, die wissenschaftlich eigentlich längst entschieden ist. Die Argumentationslinien der neuen Befürworter der Authentizität vollziehen tatsächlich schon früher angestellte und widerlegte Überlegungen nach, die bereits die Vorgehensweise der Fälscher bestimmt haben dürften. Die partielle Logik dieser Argumente kann die Unhaltbarkeit der grundlegenden Thesen nicht heilen, auf denen sie aufbauen, und die quasi axiomatisch in den Raum gestellt werden. Das soll allerdings nicht Thema dieser Untersuchung sein. Ins Zentrum des Beitrags rückt das Umfeld einer Auseinandersetzung, die, wenn sie auch nicht mehr mit der gleichen Erbitterung wie einst geführt wird und die breite Öffentlichkeit nicht mehr involviert, doch durch ihre schiere Dauer überrascht. Bedenkt man allerdings, welche Aufregung der mutmaßliche Fund einiger Fragmente des Nibelungenliedes kürzlich in Forscherkreisen erregte, obwohl damit die Frage der Authentizät des bekannten Textes gar nicht thematisiert wurde, dann lässt sich der fortdauernde Streit um die RKZ eher nachvollziehen. Ihre konstitutive Funktion für das Selbstverständnis der Nation, die ihnen zugeschrieben wird, haben sie sicher eingebüßt. Das beweist das öffentliche Desinteresse, wenn nicht die Ignoranz gegenüber der Thematik. In manchen Wissenschaftskreisen will man aber offenbar noch immer Josef Jungmann rechtfertigen, der 1 Kurzgefasst ein Überblick: 1816 Píseň vyšehradská entdeckt von Linda, geschätzt 13. Jahrhundert; 1817 RK Entdecker Hanka (6 epische Gesänge, 2 lyrisch epische Lieder, 6 lyrische Lieder (geschätzt: Jahrhundert); 1818 RZ, anonyme Zusendung (Libušin soud), geschätzt Jahrhundert; 1819 Milostná píseň krále Václava, Entdecker Zimmermann, geschätzt: 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts; 1827 Mater Verborum mit tschechischen Glossen, entdeckt von Graff, geschätzt: 13. Jahrhundert; 1827 tschechische Psalmen-Übersetzungen aus dem Lateinischen, Entdecker Hanka, geschätzt: 13. Jahrhundert; 1828 Fragmente des Johannes-Evangeliums in tschechischer Übersetzung, Entdecker Hanka, geschätzt: 10. Jahrhundert; 1849: Libušino proroctví, Entdecker Hanka, geschätzt Anfang des 14. Jahrhunderts. 2 Dazu aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die Schriften von ENDERS (1993) und Urban/NESMĚRÁK (1996) 26

14 28 Rukopis Královédvorský a Zelenohorský die Schriften 1822 als národní poklad [nationaler Schatz] deklarierte. Ein Urteil, mit dem er seinerzeit vermutlich in die Offensive ging, als der hochgeehrte Kopitar die Authentizität beider Werke immer entschiedener in Frage stellte und Dobrovský sogar die zeitweilige Entfernung der RZ aus dem Nationalmuseum durchsetzte. Der Terminus war nicht ohne Absicht gewählt. Nationale Schätze stehen fast schon per definitionem außerhalb jeglicher Kritik. Hier manifestiert sich eine Sakralisierungsabsicht, die das Werk für praktisch sakrosankt erklärt. Eine derartige Funktion ist nicht unbekannt, sie wurde europaweit seitens der nationalen Erweckerkreise auch der eigenen Sprache zugewiesen. 3 Derartige Strategien weisen aber, über den vordergründigen Aspekt der Wertschätzung hinaus, auf eine Verunsicherung, ein Gefühl der Angreifbarkeit hin; ob es im konkreten Fall sogar auf latenten Zweifeln beruhte, ist nicht mehr nachvollziehbar. Tatsächlich war es aber auch ein versuchter Erzwingungsakt, die Einforderung eines Glaubensbekenntnisses seitens der mehr oder weniger in die Auseinandersetzung Involvierten, ein Bekenntnis das bezüglich der stark umstrittenen RZ sehr viel mehr Überzeugung oder Selbstverleugnung erforderte als gegenüber der RK. 4 Bereits an diesem Punkt kristallisierte sich ein ganz wesentlicher Effekt der Handschriftenfunde heraus: Ihre integrierende Funktion für den inneren Kreis, nämlich die Erweckergemeinde und deren Anhänger, wurde ergänzt durch ein desintegrierendes Moment, eine Abstoßungs- und Ausstoßungsreaktion gegenüber allen, die diesen Gruppen fern standen. Außenseiter in diesem Sinne waren neben den Nicht-Tschechen auch Tschechen, die sich skeptisch oder ablehnend zu den Handschriften geäußert hatten, wobei diese zusätzlich unter dem Verdikt der Verräter an der eigenen Nation standen. Allerdings: Diese Wirkung erzeugten nicht nur die Handschriften allein, nicht nur die Corpora, die sich deutlich als Torso eines großen Werkes präsentierten, es waren die Entdecker und mutmaßlichen Produzenten dieser Falsifikate, die die Deutungsmacht und damit den Handlungsfortgang übernahmen. Sie fungierten nicht nur als Herausgeber, Übersetzer, Kommentatoren und Interpreten der Texte selbst. Bereits die Funde als solche wurden gekonnt in Szene gesetzt und mit hoher Symbolkraft versehen. 5 Diese Szenerie beherrschte nicht nur die 3 Diese Einstellung ist nicht erst durch Herder in den Diskurs gelangt. Sprache und die auf ihr basierende Kultur sind für die jungen Nationen und nationalen Gruppierungen unverzichtbares Identifikationsobjekt. Sprache ist sieht man von Nationen übergreifenden Idiomen ab jene intellektuelle und kulturelle Ausdrucksform, die nicht grundsätzlich supranational verständlich ist, anders als die bildende Kunst oder Musik. 4 Die Diktion mag forciert erscheinen, sie ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass die Auseinandersetzungen um die Handschriften tatsächlich zu erbitterten und persönlich verletzenden Auseinandersetzungen führten. 5 Josef Jaroslav Langer, selbst als Autor wenig renommiert, ironisierte ebenso konsequent diese Findungsakte, indem er eine selbstverfasste Bohdanecký rukopis präsentierte und Gisela Kaben euphorische Erstzeit nach den Funden. Mit Berichten, neuen Funden, die die alten legitimieren sollten und Widmungen an berühmte Persönlichkeiten, legte man nach. Und es war nicht zuletzt der einsetzende Kampf zwischen Gegnern und Verteidigern, der die Funde weiterhin im Bewusstsein der Öffentlichkeit hielt. 6 So gesehen, spielten auch die Zweifler das Spiel mit. Die Verteidigungsstrategien manifestieren sich eindrucksvoll im Kommentar Svobodas für die Edition und Übersetzung der Königinhofer Handschrift 1829 bzw. Palackýs und Šafaříks für verschiedene Handschriftenfunde, darunter Libušin soud Es sind dies Mischungen aus Apologetik, Interpretation und versuchter Mystifizierung. Inwieweit diese Handschriften tatsächlich zum Mythos wurden, lässt sich hier nicht weiterverfolgen, partiell übernahmen sie mit Sicherheit diese Funktion, jedenfalls dort, wo Überzeugungsarbeit nicht mehr notwendig war wo eben ihre Integrationskraft nach innen gefordert war. Hier lohnt ein Blick auf die Persönlichkeiten, die die Wiedergeburtskreise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmten. Bereits das Faktum, dass Zweifel an der Authentizität der Schriften aus diesem Zirkel kamen zwangsläufig, da nur hier die erforderliche Kompetenz vorhanden war, beweist, dass sich diese Gruppierung nicht geschlossen, schon gar nicht homogen präsentierte. Im Gegensatz dazu stand der Jungmann-Kreis, der sich mit derartiger Entschiedenheit als pro-fraktion positionierte, dass auch Jungmann selbst verschiedentlich in den Verdacht geriet bzw. gerät, selbst der Fälscher oder zumindest Mitwisser zu sein. 8 Die Gegensätze manifestierten sich in der erbitterten Auseinandersetzung zwischen Dobrovský und Svoboda in Hormayrs ARCHIV FÜR GESCHICHTE, LITERATUR UND KUNST (Wien 1824). 9 Die Enttäuschung über das Verdikt des hochgeachteten Kollegen, den man dennoch subtil herabzusetzen versuchte als einen verdienstvollen Mann, der sich verrannt habe, dessen Andenken man aber nicht beschädigen wolle, 10 dürfte sich dennoch in Grenzen gehalten haben, da man ernsthaft wohl nicht eine andere Einschätauch veröffentlichte, die er angeblich in einem Bierkeller gefunden haben wollte, als er ihn gezielt nach solchen Funden durchstöberte, da er genauso berühmt werden wollte wie Hanka. Ob nur ein harmloser Witz oder versuchte Entlarvung einer Fälschung, die Veröffentlichung blieb weitgehend unbemerkt und folgenlos. 6 Ein Beleg ist das Begräbnis Hankas 1861, das zu einer macht- und eindrucksvollen nationalen Demonstration wurde. 7 Siehe Hanka (1829), sowie die Abhandlungen der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, Folge 5, Prag So bei KREJČÍ (1974) sowie SCHAMSCHULA (1996). 9 Dieser Artikel ist abgedruckt unter der Überschrift Literarischer Betrug in den Abhandlungen der Böhmischen Geschichte, 171, zitiert, auch in den Veröffentlichungen der Gesamtwerke Dobrovskýs Bd. VI der Akademie der Wissenschaften, Abhandlungen

15 30 Rukopis Královédvorský a Zelenohorský zung der RZ von ihm erwarten konnte. 11 Enttäuschender war sicher die Abweisung beider (!) Schriften durch den um diese Zeit fast noch mehr geschätzten Jernej Kopitar, der als Slawe aber Nicht-Tscheche zudem genau die Mitte zwischen ethnischer Verbundenheit und nationaler Distanz hielt. Er scheint allerdings von persönlichen Angriffen auf sich eher verschont geblieben zu sein. Bezeichnend ist, dass der überzeugte Verteidiger der Authentizität der RKZ, Šafařík, in seiner Sprach- und Literaturgeschichte nur höchst lobende Worte für Kopitar findet (SCHAFFARIK 1826). Er stand für den Autor entweder über jeder Kritik oder außerhalb des Kreises, in dem man Anstoß erregen konnte. Die Zirkel scheinen relativ eng geschlossen gewesen zu sein. Briefwechsel, wie der von Jungmann zeigen (JOSEFOVIČ 1956), dass in die laufenden Kontakte immer dieselben Personen involviert waren. Diesem Zusammenhalt standen die Kritiker, Linguisten, Literaturwissenschaftler und Historiker eher als Einzelpersönlichkeiten gegenüber, erst später bot die Zeitschrift ATHENAEUM ein Forum und ermöglichte einen Zusammenschluss. Dass die meisten von ihnen in Wien, also bei den Deutschen studiert oder gelehrt hatten, begünstigte einen gewissen Generalverdacht, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich selbst als Patrioten definierten und dass sogar Hanka eine Wiener Studienzeit vorweisen konnte, die ihn wohl auch mit der deutschen Ossian-Übersetzung in Kontakt brachte, obwohl er dann wohl später die russische Übersetzung durch Kostrow vorzog. Jedenfalls wird Ossian als ein literarischer Steinbruch betrachtet, aus dem sich die Fälscher bedienten. 12 Die Vorwürfe gegen die Wiener unter den Gegnern rücken aber den schon erwähnten Aufsatz-Austausch zwischen Dobrovský und Svoboda noch einmal ins Blickfeld. Letzterer wirft seinem älteren Kollegen, der sich des Tschechischen sowieso nur als angelernter Sprache bediene, explizit vor, dass er seine Kritik gerade auch für ein deutsches Publikum publiziert habe, einem Volk, das im übrigen die Authentizität seines Nibelungenliedes nie in Zweifel gezogen habe (DOBROVSKÝ 1974/VI: 158 ff.). Diesem Vorwurf sind zwei Aussagen implizit: Zum einen der Ausschluss Dobrovskýs aus bzw. seine Marginalisierung innerhalb der natürlich in die Sprache hineingewachsenen Erweckergemeinde; zum anderen der permanente Vergleich mit den Deutschen, die Böhmen nicht nur umgaben, beherrschten, sondern auch im Lande selbst wohnten. Die Gleichsetzung Deutscher und Österreicher war üblich. Sie wurden offenkundig als dauernder Vorwurf an die eigene mutmaßliche Unzu- 11 SEDMIDUBSKÝ (undatiert) geht davon aus, dass der verspätete Abdruck der RZ in KROK 1822, nachdem man sie schon in Polen und Russland veröffentlich hatte, der Furcht vor dem Einfluss und der erneuten öffentlichen Verdammung durch Dobrovský geschuldet gewesen sei, wozu es dann ja auch kam. 12 Siehe DOLANSKÝ (1975). Hier in Gesamtheit zitiert. Auch Dolanskýs Analysen sind nicht in allen Beispielen überzeugend, wenn auch in den meisten. Gisela Kaben länglichkeit empfunden. Die deutschen als Maßstab und Abgrenzungsobjekt zugleich ließen sich eher auf dem Feld der Vergangenheit schlagen, da man sich eigener Defizite im Übermaß bewusst war. Kollár drückte es folgendermaßen aus: Hráme klavír, jenž snad strun ještě nemá. [Wir spielen Klavier, das vielleicht noch keine Saiten hat.] (nach MACURA 1983: 37) Dieses Gefühl fiel zusammen mit der Empfindung, dass gerade die Deutschen gegenwärtig einen literarischen wie philosophischen Höhepunkt erreicht hätten. Rak zitiert Vinařický: V našich prostonárodních příslovích jest více zdravé filosofie než ve všech soustavách proslulého národu filosofického. [In unseren Volksredensarten ist mehr an gesunder Philosophie als in allen Systemen der berühmten philosophischen Nation.] (RAK 1994: 87) Das war Rückzugsposition und Handlungsrichtlinie zugleich. Folgerichtig blieb man auch dort zurückhaltend, wo man auf den Thesen deutscher Philosophen aufbaut, nämlich den Theorien Fichtes, Schlözers und Herders. Sie wurden zwar rezipiert und als Faktum genommen, jedoch nicht unbedingt ausdrücklich gewürdigt. 13 Mit der Regression auf die Werte des Volkes als ultimativer Instanz nationaler Werte und Kultur konnte auch das aktuelle Defizit gemildert werden. Zugleich koppelte man sich von den normativen Wertvorstellungen der Germanen und ihrer Nachfahren ab. Manche gingen auch weiter. Macura zitiert Josef Černý, der behauptet: [...] že Germáni nejsou Němci. [dass Germanen keine Deutschen sind] (MACURA 1995: 55) Das ist natürlich auf Tacitus bezogen. In der Konsequenz wirkt dieses Manöver jedoch zwiespältig, denn man ignoriert implizit auch die negativen Eigenschaften, die Herder den Germanen (krieglüstern, feudalistisch) zuschrieb. Derartige Thesen wurden zwar kein Allgemeingut, sie legen aber die Schwierigkeiten bloß, die die tschechischen Eliten hatten, wenn sie versuchten, sich von den Deutschen abzusetzen. Und sie verdeutlichen die Erbitterung, mit denen die Handschriften so lange gegen interne und externe Kritik verteidigt wurden; es war eine Auseinandersetzung, die an die Substanz des eigenen Selbstverständnisses ging und die gleichzeitig ein gehöriges Maß an Souveränität erforderte, die Authentizität der Schriften aus der Position eines tschechischen Patrioten heraus anzugreifen. Im mehrfach erwähnten Vorwort zur RZ verweisen die beiden Autoren mit spürbarem Stolz darauf, dass die Schrift schon in eine Reihe von Sprachen 13 Man betrachtete die Theorien wohl eher als längst zustehende Anerkennung von Fakten, derer man sich unterschwellig immer bewusst gewesen sei, auch wenn dieses Wissen bei Generationen von Ignoranten aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden sei. Bei Erwähnung der o.g. Philosophen sollte man auch nicht vergessen, dass z.b. BALBÍN (1775) schon ähnliche Thesen aufgestellt hatte, mit denen er in warmen Worten Bescheidenheit und Gastfreundschaft der Böhmen schilderte: Comparent amabo Bohemicae gentis, modestiam et caritatem, qui alienos et aduenas non modo tecto reciperint [...] olim dixerat, Roma communis est patria, id conversum de Bohemia dicere liceat. Es folgt eine Abhandlung über die herzliche Aufnahme von Fremden. 31

16 32 Rukopis Královédvorský a Zelenohorský übersetzt worden sei. Der Wunsch nach europaweiter Anerkennung wird darin manifest. Es ist das Bedürfnis den anderen gleichberechtigt gegenüberzustehen, in den Kreis aufgenommen zu werden, in dem man sich selbst als Kulturnation sah. Man darf nie vergessen, dass die Tschechen um eine nationale Autonomie erst kämpften, an Souveränität war auch nicht annähernd zu denken. Kollár, der Slowake, hatte den Weg der slawischen Wechselseitigkeit gewiesen. Dass man bereit war, diesen zumindest zu versuchen, zeigt die Ausrichtung des Panslawistischen Kongresses 1848 in Prag. Aber die Akzeptanz der Nichtslaven stand naturgemäß im Vordergrund und damit die der Miteinwohner und Nachbarn. Die Reaktion der deutschen und deutschsprachigen Autoren und Wissenschaftler auf die Handschriftenfunde war uneinheitlich. Auch hier stand die RK im Vordergrund des Interesses. Neben anderen berichtet HEŘ- MAN (1966) von der positiven bis enthusiastischen Reaktion von J. H. Dambeck und J.G. Meinert, beide Professoren an der Prager Universität in der Prager Zeitschrift HESPERUS bzw. in Hormayrs Wiener ARCHIV auf die RK. Die poetisch-ästhetischen Würdigungen halten sich im Rahmen der von Dobrovský vorgegebenen Kategorien und Einschätzungen: In ästhetischer Hinsicht zeichnen sich diese Poesien sammt und sonders durch Natur und Eigentümlichkeit, die umfassendern vornehmlich durch den Charakter der Kraft und Grösse, die kleinern oder die Lieder insbesondere durch Anmut und zarte Innigkeit der Empfindung aus. Anspruchslose Einfalt, das Liebslingsgewand wahrer Grösse sowohl als echter Naivität, ist auch das Gewand, in dem diese Dichtungen auftreten. (Zitat Dambeck in: HEŘMAN 1966: 460) Besser hätten es auch die Produzenten der Falsifikate nicht ausdrücken können. Man kann davon ausgehen, dass der zielgerichtete Einsatz von die reine Naturpoesie vorgeblich charakterisierenden Stereotypen auch bei deutschen Lesern die intendierte Wirkung hervorbrachte. Das ist nicht weiter verwunderlich, da die zeitgenössische europäische Mittelalter-Rezeption weitgehend durch einen Filter vorgefertigter Idealvorstellungen erfolgte, die länderübergreifende Grundvorstellungen förderte und zur Folge hatte. Meinert, mit Dobrovský, Kopitar sowie auch Brentano bekannt 14, hatte sich mit der Herausgabe seiner Sammlung Alte teutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens in der Tradition eines Karadžić, Čelakovský und Hanka betätigt. Als Freund der Tschechen profilierte er sich mit der Ode an die Böhmen: Rollt schon wieder ein Jahrhundert vorüber und, Böhme! Immer noch schläfst du? Unaufweckbar der Jubel, womit zum krönenden Ziele andere fliegen? Ferne Völker, später als du aus den Wäldern gerufen, später als du im Buch der Geschicht [...] Winkt vergebens Unsterblichkeit in der Wissenschaft Feld dir? Und vergebens die Geister der Väter? Sollen sie ruhmlos schlafen im Grab, bei ihren Taten begraben? Soll nicht die Harfe des Sohnen nennen die Starken [...] (nach HEŘMAN 1966: 462) 14 Des Knaben Wunderhorn war auch außerhalb Deutschlands auf großes Interesse gestoßen. Gisela Kaben Dies liest sich wie eine Aufforderung an die Fälscher, einschließlich des Hinweises auf die orale Tradition der Barden-Kultur, auf die ja auch die Schriften referieren. Aus diesem Blickwinkel kann deren warme Aufnahme nicht verwundern. Meinerts Empfehlung im ARCHIV, die er später, nach 1848 durch eine kritischere Einstellung relativierte, trug deutlich zur Wertschätzung der Fragmente auf deutscher Seite bei. Die Krönung der Anerkennung bedeutete zweifellos die Wertschätzung der RK seitens Jakob Grimms und Goethes, der ja auch das Lied Kytice nachdichtete und mit einem etwas schalkhaften Schluss versah, der freilich die intendierte melancholisch-verträumte Stimmung zerstörte. Es darf nicht übersehen werden, dass die Anerkennung der deutschen Autoren auf der Übersetzung Svobodas beruhte, wie ja auch die Tschechen weitgehend nur Hankas Translation der vorgeblich mittelalterlichen Sprache lasen. Es war Hanka gewesen, der angeblich als Einziger überhaupt erst in der Lage gewesen sei, die eher böhmische Schrift der RZ zu entziffern. Die hohe Wertschätzung seitens der erwähnten Schriftsteller darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die aktive Rezeption auf deutscher Seite doch eher in Grenzen hielt. In weiten Kreisen wurden die Handschriften kaum zur Kenntnis genommen, was freilich mit einer gewissen herablassenden Geringschätzung tschechischer Literatur zu jener Zeit zu erklären ist. Das sind Themen, die man in den Handschriften vergeblich sucht. Interessanter und mindestens ebenso aussagekräftig wie die Themenwahl der Fälscher ist die Frage, warum einige durchaus prestigeträchtige Sujets, die zudem in den zeitlichen Rahmen gepasst hätten, verschmäht wurden. Man kann davon ausgehen, dass die Fälscher 15 die Auswahl unter dem Gesichtspunkt des mystifikationsträchtigen Potentials heraus getroffen hatten, sie müssen also ihre Gründe gehabt haben, andere und rezeptionsgeeignete Stoffe nicht zu verwenden. Hier muss man sich naturgemäß in den Bereich von Spekulationen begeben, als Richtschnur kann aber der Gesichtspunkt der Effizienz eines Stoffes für den bekannten Zweck dienen. So ist bei der Sage um die Herrschaft der Vlasta der fiktive Gehalt wahrscheinlich zu evident, ein solches Thema hätte wohl den implizit vertretenen Anspruch einer Abbildung der Realität geschmälert und damit auch die Glaubwürdigkeit der anderen Sujets beschädigt. Darüber hinaus widersprach wahrscheinlich eine kriegerische Amazonen- Gesellschaft und deren blutiges Ende zu sehr dem Bild des slavischen Taubenvolks, dessen Friedfertigkeit ja als Grundkonstante galt, die sich nur in der Verteidigung gegen eine äußere Bedrohung in selbstloses Heldentum verwan- 15 Der Plural erscheint hier notwendig, da die Entstehung der Falsa als Prozess gesehen wird, der sich aus einem bestimmten Umfeld heraus entwickelte, auch wenn nicht alle aktiv beteiligt waren. 33

17 Rukopis Královédvorský a Zelenohorský deln durfte. So blieb denn Libuše die einzig aktiv agierende weibliche Hauptfigur, die zudem auch bereit war, ihre Macht zu delegieren. Demgegenüber bot auf den ersten Blick Ottokar II., der goldene und eiserne König der Größe und Gewicht Böhmens erheblich gemehrt hatte, eigentlich hinreichend Stoff für eine epische Bearbeitung, wie er ja auch Sujet für Dramatiker war. Sein Scheitern, noch dazu gegen einen Habsburger, widerspricht dem nicht. Tragische Schicksale sind generell bestens prädestiniert, einen Mythos zu konstituieren. Ihr hohes Identifikationspotential kommt vor allem da zur Geltung, wo man sich mit dem Scheiternden identifizieren kann, der gegen einem übermächtigen Feind untergegangen ist, der als das Substrat des Bösen, Hinterhältigen etc. erscheint. Da der Typus des dahingemeuchelten Helden ja in der RK auch vorhanden ist, kann man davon ausgehen, dass die Hersteller der Fälschungen sich über den Identifikationseffekt durchaus im Klaren waren. Offensichtlich war also das Image des realen König so zwiespältig, dass es möglicherweise die intendierte Wirkung hätte zunichte machen können. Zwei Gründe kommen in Betracht. Der offensichtliche, sich förmlich aufdrängende ist der Aspekt der Abgrenzung nach außen. Der rührige Städtegründer hatte förmliche Einwandererströme aus verschiedenen deutschen Regionen nicht zuletzt durch die Gewährung exzeptioneller Rechte gefördert und damit dauerhaft eine beträchtliche Anzahl Deutscher im Lande etabliert. Außerdem wies dieser König durchaus autoritäre Züge auf und wollte mit dem Zuzug der Deutschen nicht zuletzt auch den teilweise mächtigen Adel im Schach halten, wenn nicht schwächen eben jener Gruppe, die auch in den Epen der RK gefeiert wird. Die entstehende Ständegruppe entspricht dann auch sehr viel eher dem urslawischen Ideal einer quasi-demokratischen Mitbestimmung gerade der Eliten, der Anführer; man sieht das deutlich in der RZ. Der spätere Herrscher Přemysl hat hier keinen Platz, die demokratische Urgesellschaft soll nicht angezweifelt werden. Im Einklang mit Herders Thesen ist das Volk selbst der Kulturträger, womit auch der Bogen zum poetischen Gehalt der Schriften geschlagen wird. Dem Volksbegriff ist freilich implizit, dass er die Gegenwart fast vollständig ausblendet, dass er das Volk ausschließlich auf dem Lande verortet, letztlich eine Regression auf eine Idylle, die so nie bestanden hat, und deren Zugrundelegung im Konzept der Handschriften bereits den Keim der Unglaubwürdigkeit einpflanzt. Das Volk als Kulturträger dichtete und dichtet 16 auch Volkspoesie, Naturpoesie, ohne die Dekadenz der herrschenden Eliten, einfach, klar und authentisch. Kein Wunder, dass gerade Svoboda folgende Aussage verfasste: Gisela Kaben [...] wenn sich aus diesen und schon Homer s Gesängen bewehrt, dass die herrliche Blume der Dichtkunst am besten gedeiht im freien Raume der Natur, nicht im engenden Beet des Kunstgärtners [...] 17 Unter diesen Umständen hatte die tatsächliche im Lande existierende Poetik des Mittelalters keine Chance der Rezeption geschweige denn einer Würdigung; sie stand für fremde Dekadenz, welsches Raffinement. Zum Problem wurde angesichts dieser Überlegungen die Gestalt Wenzels I. Die deutschen Gedichte dieses Herrschers stellten ein Problem dar, das dann durch den zufälligen Fund des tschechischen Wenzel-Liedes von 1819 (siehe Anm. 1) geheilt wurde. Eines der dem König zugeschriebenen drei deutschen Minnelieder erscheint auf einmal als eine Nachdichtung des tschechischen Originals. 18 Freilich hat man dabei übersehen, dass man hier genau jene Dichtung gefälscht hat, die eigentlich als dekadent verpönt war. Dieser Fund hatte aber noch den zweiten Zweck, die Grünberger Handschrift zu legitimieren, da das darin enthaltene Poem Jelen auf der Rückseite des Gedichtblattes erscheint. Wie überhaupt die Funde immer auf die beiden wichtigsten Handschriften ausgerichtet waren; sie dienten als Beweis für die Linguisten, dass die sprachlichen Fähigkeiten der vorgeblich mittelalterlichen Autoren schon weit genug entwickelt gewesen seien, um diese Werke zu schaffen. So legitimierten sich die Fälschungen praktisch gegenseitig. Nebeský hat sich denn auch die Mühe gegeben, einige Verse aus den verschiedenen Fundstücken zu vergleichen, um eben diese Legitimierungsfunktionen herauszustellen (NEBESKÝ 1852: 171). Die tschechischen Handschriftenfälschungen standen nicht allein im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, was allgemein bekannt war. So beruft sich auch Svoboda ironisch auf Chatterton: Wir würden uns glücklich schätzen, einen zweiten Chatterton in unserer Mitte zu haben und würden, ohne auf die historische Echtheit seiner Werke ein besonderes Gewicht zu legen, ihn bitten, recht viel so Gelungenes wie dieses gleich dem unglücklichen Briten zu schaffen. (DOBROVSKÝ 1974/VI: 164) Gerade in diesem Vergleich wie in vielen anderen erweist sich, dass der Aufwand zur Simulation einer altehrwürdigen historischen wie kulturellen Vergangenheit den andernorts betriebenen beträchtlich überstieg. Auch der Zeitraum ist ungewöhnlich lang. Partiell beruht das auf der exzeptionellen Lage der tschechischen Sprache, die noch in einer Rekonstruktionsphase stand, deren Ende nicht abzusehen war. Für die Patrioten, die an den Erfolg ihrer Bemühungen glaubten, und das war ein relativ kleiner Kreis, waren die Hand- 17 Siehe Vorwort der Königinhofer Handschrift, XI. Die Erwähnung Homers ist nicht zufällig. 16 Man denke an die Dichterin Marie Čacha, eine fiktive Gestalt, mit der sich die Prager Patriotin Božislava Svobodová ein alter ego schuf, eine Bäuerin, die hin und wieder einem natürlichen Drange folgend, ein Lied verfasste Davon war auch ŠAFAŘÍK (1826: 312) überzeugt: Unter den böhmischen Fürsten wird Kg. Wenceslaw I...als Musenfreund und Dichter gerühmt; allein das ihm zugeschriebene teutsche Minnelied ist in der böhmischen Sprache weit älter vorhanden, und wahrscheinlich aus dieser in jene ihm zuliebe von irgend einem reisenden Minnesänger übersetzt worden. 35

18 36 Rukopis Královédvorský a Zelenohorský schriften Beweismittel und Arbeitsgrundlage zugleich. Der in den Erweckerkreisen vorherrschende Linguozentrismus begünstigte ein emotionales, geradezu distanzloses Verhältnis zur eigenen Sprache. Kennzeichnend dafür ist Karel Sudomír Šnajdr, der als Carl Agnell Schneider mit deutschen Gedichten seine Karriere begonnen hatte und erst als Mittfünfziger tschechisch schrieb: Běda! Že se mi tak pozdě/ Muza česká vyjevila! Že mne teprv na okraji/ Hrobu zpěvcem učinila [...] 19 An diesem Nachgesang einer fast zu spät entdeckten Liebe manifestiert sich auch ein Verlustgefühl. Es impliziert neben der Feier der eigenen Sprache auch das Bedauern, so viele verlorene Jahre einer fremden Kultur gewidmet zu haben. Der Unterschied zur bei aller Begeisterung über die Zartheit der Poesie doch eher kühl und rational analysierenden Haltung Dobrovskýs ist evident. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich unter den Tschechen die Schwerpunkte verschoben. Es ginge zu weit, wollte man dafür ausschließlich die Handschriftenfunde verantwortlich machen, was SCHAM- SCHULA (1990: 328) in seiner Analyse anklingen lässt: Als sie [die Handschriften] endgültig aus der Diskussion herausgenommen worden waren, waren solche Mittel nicht mehr erforderlich. Ota Filip geht noch weiter, indem er über die Handschriften behauptet: [...] daß sie ohne Zweifel wesentlich zur Erneuerung und Wiedergeburt der tschechischen literarischen Sprache beigetragen haben; die tiefen Spuren der Fälschungen von Linda und Hanka sind in der tschechischen Sprache bis heute deutlich zu erkennen. (FILIP 1990: 224) Das greift entschieden zu weit, vor allem da es die Vorarbeiten zweier Generationen unterschlägt, ohne die diese Kreationen unmöglich gewesen wären. Sicher haben sie die Akzeptanz in der Öffentlichkeit für die Arbeiten der Linguisten und Literaten generell vergrößert. Die ihnen immanente Mischung aus archaisierenden Versatzstücken verschiedener Slavinen war jedoch keineswegs übermäßig zugänglich, bedurfte der Interpretation, sogar der Übersetzung, die dann doch das Neutschechische involvierte. Was die Aufnahme deutlich prägte, das waren die gezielten Bemühungen der Mystifizierung, die den Nerv der Zeit traf, indem sie nicht nur das Bedürfnis nach einfachen Welterklärungs-Schemata befriedigte, sondern darüber hinaus auch noch im öffentlichen Diskurs permanent präsent war. Wie erwähnt, halfen die Gegner der Authentizität kräftig mit, das Thema im allgemeinen Bewusstsein zu halten. Einer der Höhepunkte der Auseinandersetzung war zweifellos der Fall Kuh, da hier die Echtheit von außen angezweifelt wurde, nämlich vom Herausgeber des Prager TAGESBOTEN AUS BÖHMEN. Der als Fälscher bezeichnete Hanka strengte einen Prozess gegen den Journalisten an, in dessen Verlauf, David Kuh erst verurteilt, dann freigesprochen wurde, ein Resultat, das sarkastisch als Lex Kuh in der Öffentlichkeit kommentiert wurde. Hanka äußerte sich pointiert: Nepřejouť nám Němci a židé toho pokladu, i přinucen sem byl je žalovati. (nach 19 Aus dem Gedicht Labutí zpěv (zitiert nach SCHAMSCHULA 1990: 383). Gisela Kaben IVANOV 1969: 348) Hier materialisiert sich ein Gefühl, das bestimmt wird von einer tatsächlichen Deprivationssituation, indem man nicht Herr im eigenen Lande ist, das dadurch und aus dem Abgrenzungsbedürfnis heraus sich zur deutlichen Xenophobie entwickelt. Es waren nicht nur einzelne Persönlichkeiten innerhalb der Elite, die sich antisemitisch äußerten, Leute wie V. B. Nebeský blieben eine Ausnahme. Dem gegenüber basierte die allgemeine Einstellung nicht nur auf dem Gefühl, die Juden mehrheitlich den Deutschen zurechnen zu müssen. Karel Havlíček hat es sachlich-distanzierend in Worte gefasst anlässlich der Herausgabe der Tschechischen Blätter durch Siegfrid Kapper, 1846, eines Juden der sich zum tschechischen Volk bekannte: Obwohl die Israeliten in der deutschen Literatur schon ein großes Regiment bilden und wohl besonders die Journalistik beherrschen (wie es uns scheint, mehr zum Schaden als zum Vorteil des deutschen Volkes), kam bei uns zuerst Herr Kapper auf die Idee sich der tschechischen Fahne anzuschließen [...] Und wie können hier die Israeliten zum tschechischen Volk gehören, wenn sie semitischer Herkunft sind? Da können wir vor den Juden Deutsche, Franzosen, Spanier, Engländer usw. usf. zu unserem Volk zählen, denn alle diese Völker sind mit uns mehr verwandt als die Juden. (HAVLÍČEK 2001: 92f.) Auf diese Weise lässt sich das Gefühl noch forcieren, nicht mehr Herr im eigenen Lande zu sein. Die rationale Grundlage bzw. deren Fehlen spielt keine Rolle mehr. Es ist evident, dass die RKZ auf ein Umfeld trafen, das hochgradig emotional befrachtet war. Die intellektuellen Eliten des Landes schwankten zwischen Aufbruchsstimmung und Resignation, wie Kollárs Vergleich mit dem Klavier ohne Saiten illustriert. Die Bedrohungsszenarien für die eigene Identität waren kein Hirngespinst emotional übersteigerter Erwecker. Auch Dobrovský zweifelte an der Etablierung einer tschechischen Sprache. Er betrieb eher die Konservierung eines schon irrelevant gewordenen Idioms als die Etablierung einer gebrauchsfähigen Sprache. In dieser Situation empfand man offensichtlich das Bedürfnis, dem noch unausgereiften Neutschechisch eine Legitimation auch und gerade bei der eigenen Bevölkerung verschaffen zu müssen. Diese Sprache sollte legitimiert werden durch die Existenz vermeintlich organisch herangewachsener poetischer Ausdruckformen aus der eigenen ehrwürdigen Vergangenheit. In Zeiten, in denen das Alte, Urtümliche bereits einen Wert an sich darstellte, war die Akzeptanz derartiger Verknüpfungen vorhersehbar. Indem sich die Texte adäquat in die neuformierte Sprache umsetzen ließen, verschafften sie dieser eine zusätzliche Aufwertung. Dass die Fälscher kühl kalkulierten, zeigt der Zeitplan, wonach die problematischste, weil vorgeblich älteste, Handschrift der RZ nicht als erste in die Öffentlichkeit lanciert wurde. Die rührende Geschichte vom aufrechten Anonymus, der die wertvolle Schrift vor dem deutschen Michel retten wollte, verrät ein erhebliches taktisches Geschick. Ob man wirklich glaubte, dauerhaft mit der Legende reussieren zu können, bleibt offen. Man wollte wohl auf diese Karte setzen, vermeinte es seinem Volk schuldig zu sein. Subjektiv mag es eine fraus pia 37

19 38 Rukopis Královédvorský a Zelenohorský gewesen sein, mit der man etwas fingieren wollte, was einst nach fester Überzeugung der Fälscher so oder ähnlich bestanden haben musste. De facto aber war es die Flucht aus einer als deprimierend und kränkend empfundenen Gegenwart, der man fälschlicherweise nur die eigene vorgetäuschte Vergangenheit entgegensetzen zu können glaubte, während parallel dazu schon die erste originär (neu)tschechische Poesie entstand, ohne Anschub oder Vorgabe durch die Manuskripte, und ohne deren Ästhetik und Topoi zu berücksichtigen. Literatur BALBINI, Bohuslai (1775): Dissertatio apologetica pro lingua slavonica praecipue bohemica ad clarissimum virum. Pragae: Apud Felicianum Mangold & Filium. DOBROVSKÝ, Josef (1974): Literarischer Betrug. In: Ders., Spisy a projevy. [Schriften und Reden]. Bd. VI. Bearb. Miroslav Heřman. Praha: A- cademia, DOLANSKÝ, Julius (1975): Záhada Ossiana v Rukopisech královédvorském a zelenohorském [Ossians Rätseln des Königinhofer und Grünberger Streits]. Praha: Academia. ENDERS, Julius (1993): Jazykovědný rozbor: Rukopisu Královédvorského a dalších staročeských textů s nimi spojovaných [Eine sprachwissenschaftliche Analyse: Die Königinhofer Handschrift und weitere mit ihr verwandte alttschechische Texte]. Praha: Neklan. ENDERS, Julius (1993): Rukopis Zelenohorský a Královedvorský, vznik, styl a básnická hodnota staročeské orální poesie [Die Grünberger und die Königinhofer Handschrift, Entstehung, Stil und poetischer Wert alttschechischer mündlicher Dichtung]. Praha: Neklan. FILIP, Ota (1990): Die Königinhofer und Grünberger Handschrift. In: K. Corino (Hg.), Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Eichborn, HANKA, Václav (Hg.) (1829): Königinhofer Handschrift. Übers. Von V. A. Svoboda. Prag: Calve. HAVLÍČEK, Karel (2001): Polemische Schriften. Essays. Ausgewählt und mit einem Geleitwort von Peter Demetz. Aus dem Tschechischen von Minne Bley. Mit einem Nachwort von Georg J. Morawa. Stuttgart/München: DVA. HEŘMAN, Miroslav (1966): K prvním pokusům o estetické hodnocení RK [Zu ersten Versuchen der ästhetischen Bewertung der RK]. In: Česká literatura 14, Gisela Kaben IVANOV, Miroslav (1969): Tajemství RKZ [Geheimnis der RKZ]. Praha: Mladá Fronta. JUNGMANN Josef Josefovič (1956): Korespondence. Praha: Státní nakladatelství krásné literatury, hudby a umění. KREJČÍ, Karel (1974): Některé nedořešené otázky kolem RKZ [Einige ungelöste Fragen um die Königinhofer und Grünberger Handschrift]. In: Slavia 43, MACURA, Vladimír (1983): Ideál, hra a mystifikace v české obrozenské kultuře [Ideal, Spiel und Mystifikation in der tschechischen Kultur der Wiedergeburtszeit]. In: Slavia 52, MACURA, Vladimír (1995): Znamení zrodu. České národní obrození jako kulturní typ [Zeichen der Geburt. Die tschechische nationale Wiedergeburt als ein kultureller Typus]. Jinočany: H & H. MENZEL, Wolfgang (1985): Die nationale Entwicklung in Böhmen, Mähren und Schlesien von der Aufklärung bis zur Revolution Diss. Nürnberg: Preussler. NEBESKÝ, Václav (1852): Královédvorský rukopis [Die Königinhofer Handschrift]. In: Časopis Českého muzea 26, (1852/Nr. 1), (1852/Nr. 4), (1853/Nr. 1), (1853/Nr. 2). RAK, Jiří (1994): Bývali Čechové. České historické mýty a stereotypy [Es waren einmal Tschechen Tschechische historische Mythen und Stereotypen]. Jinočany: H & H. URBAN, Jiří/NESMĚRÁK, Karel (1996): Fakta o protokolech RKZ [Fakten über die Protokolle der RKZ]. Praha: Neklan. SCHAFFARIK [= ŠAFAŘÍK], Paul Joseph (1826): Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten. Ofen: Mit. Kön. Ung. Universitäts-Schriften. SCHAMSCHULA, Walter (1990): Geschichte der tschechischen Literatur. Bd. I. Köln/Wien/Weimar: Böhlau. SCHAMSCHULA, Walter (1996): Geschichte der tschechischen Literatur. Bd. II. Köln/Wien/Weimar: Böhlau. SEDMIDUBSKÝ (undatiert): Persönliche Aufzeichnungen, der Autorin leihweise überlassen. 39

20 Die Darstellung der tschechischen Nationalbewegung in der zeitgenössischen deutschen und österreichischen Publizistik und Fachliteratur. Versuch einer Charakterisierung 1 Václav Petrbok Als der schon hochbetagte Leopold von Ranke einem Famulus seiner Famulusse seine Aufsätze zur eigenen Lebensbeschreibung diktierte, erinnerte er sich an seinen ersten und letzten Besuch in Prag im November 1827: Bei meinem ersten, leider auch letzten Besuche in Prag hörte ich das Brausen der nationalen Bewegung gegen die Wiener Hofburg; ich hörte sogar die Frage, ob es nicht besser wäre, wenn Böhmen sich an Preußen anschlösse. (RANKE 1890: 66) Schade, dass Ranke sich, sei es auch erst sechzig Jahre später, nicht ausführlicher äußerte. In den vorhandenen Quellen, soviel wissen wir, werden im Zusammenhang mit Ranke Václav Hanka, der Bibliothekar des Nationalmuseums, sowie der Kreis seiner Freunde erwähnt. Angebracht scheint da die Frage, die sich Rankes Biograph Eugen Guglia stellte, nämlich ob den Greis das Gedächtnis nicht getrogen habe (nach GOLL 1898: 332f.). In der Tat, ob sich die Tschechen, und gerade die tschechischen Patrioten um Hanka, wirklich nach einer Anbindung an Preußen sehnten, steht zu bezweifeln. In der deutschen und der österreichischen Gesellschaft war man über Erscheinungsformen, Verlauf und Ziel der tschechischen Nationalbewegung ich meine damit die sich allmählich durchsetzenden Emanzipierungsbestrebungen der tschechischsprachigen Ethnie vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Jahr 1848 sehr unterschiedlich informiert. Auch in wertender Hinsicht ergibt sich ein sehr diverses Bild: die Skala reicht von verächtlicher Diffamierung über neutrales Registrieren bis hin zu begeisterter Anerkennung, wobei eine positive Beurteilung der nationalen Erneuerung nicht unbedingt immer Folge besserer Faktenkenntnis war. In diesem Zusammenhang gehört u.a. die auf den ersten Blick sehr verführerische These, dass zwischen den wachsenden sozialen und kulturellen sowie den ihrem Höhepunkt zustrebenden politischen Ansprüchen der Tschechen und dem sich verschlechternden Bild, das die zeitgenössische Publizistik und Fachliteratur von ihnen zeichnet, eine Korrelation bestehe. Die tschechische Fachliteratur zeigt sich trotz einer Reihe wichtiger Arbeiten von Kořalka, Heidler und Rak ihrerseits nicht allzu informiert über den Informationsstand unserer deutschen und österreichischen Nachbarn und Mitbürger (oder vielmehr Mituntertanen) hinsichtlich der Absichten der Tschechen in jener Schlüsselperiode der tschechischen Neuzeit. Auch jenseits der 1 Übersetzung von: Pokus o charakteristiku zpráv o českém národním hnutí v soudobé německé a rakouské publicistice a odborné literatuře. In: K. Bláhová (Hg.), Komunikace a izolace v české kultuře 19. století. Praha 2002,

21 42 Darstellung der tschechischen Nationalbewegung in der Publizistik Thaya und des Böhmerwaldes scheint keine Monographie zu diesem Thema vorzuliegen, von einer Quellen- oder Dokumentenedition ganz zu schweigen. Jähnichens Arbeit Zwischen Diffamierung und Widerhall (1967) befasst sich ausschließlich mit der Rezeption tschechischer Dichtung und dies vornehmlich auf nichtösterreichischem Gebiet. Hofmans Monographie über die bedeutende Prager Zeitschrift OST UND WEST (1957) wirft kaum einen Blick über die Grenzen des behandelten Genres hinaus. Gertraude Marinelli-König veröffentlichte vier umfangreiche Arbeiten über die Darstellung der Slaven, Polen, Ruthenen und Südslaven in den Wiener Zeitschriften des Vormärz, wobei Regesten und auch der Abdruck kultureller, literarischer und gesellschaftlicher Artikel der meiste Platz eingeräumt wird. 2 Ähnliche Arbeiten zu den Westslaven also nicht nur zu den Tschechen, sondern auch zu den Slowaken und Lausitzer Sorben sind unseres Wissens in Planung. Vielleicht wird Jiří Kořalka in absehbarer Zeit sein Buch über Deutschland und die tschechische Nationalbewegung vorlegen, das er in einem Interview anlässlich des Erscheinens seiner Palacký-Biographie angekündigt hat. 3 Es ist somit ein durchaus gewagter Versuch, wenn hier durch einige vorgreifende Bemerkungen eine traditionelle Vorstellung problematisiert werden soll: die Vorstellung nämlich von einem harmonischen Zusammenleben zwischen Tschechen und Deutschen in der Vormärzzeit, von einem wechselseitigen kulturellen Austausch, dem die Ereignisse in den Frühlingsmonaten 1848 die anstehenden Wahlen für den Frankfurter Reichstag und Palackýs Ablehnung, im dortigen Fünfziger-Ausschuss mitzuwirken ein abruptes Ende setzten. Eine weiter gefasste Betrachtung dieses plötzlichen Bruchs und seiner Ursachen muss von älteren Quellen ausgehen, und zwar fachliterarischen (historischen und philologischen) wie publizistischen. Dabei sollten zwei Dinge beachtet werden, die man aus der heutigen Perspektive leicht übersieht. Erstens war die Frage nach der Beziehung zwischen Staat und Nation im Österreich der Vormärzzeit noch keineswegs so zugespitzt wie dann ab 1848 bzw. seit den Auseinandersetzungen um die Verfassung in den 60er Jahren. Die tschechische Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war mit dem österreichischen Staat durch vielfältige Bande verknüpft, wollte sie dies nun wahrhaben oder wie wohl meist auch nicht. Zweitens, und das erklärt die Sichtweise der anderen, waren die Emanzipationsbestrebungen der tschechischen Ethnie ein zwar sicher wichtiger, aber eben doch nur kleiner Teil der 2 Rußland in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz , I-II, Wien ; Polen und Ruthenen in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz , Wien 1992; Die Südslaven in den Wiener Zeitschriften des Vormärz , Wien Palacký ist, wie Jiří Kořalka sagt, nie ein ausgeprägter Nationalist gewesen. Vgl. das Interview in LIDOVÉ NOVINY 12, Nr. 122, vom ; dort in der Beilage ORIENTACE, 20. Václav Petrbok böhmischen Geschichte am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (KOŘALKA 1985: 242). Im Weiteren will ich anhand von Beispielen einige typische Charakteristika in den Darstellungen der tschechische Nationalbewegung herausarbeiten und auch deren mögliche Bedeutungsambivalenz 4 aufzeigen. Dabei wäre es angemessen, die jeweiligen Äußerungen nach Kořalkas Klassifikation (KOŘALKA 1996) in den Rahmen eines fest umrissenen, etablierten gesellschaftspolitischen Begriffs von Nation zu stellen. Für unsere Zwecke jedoch bedarf diese Klassifikation noch einer gewissen Spezifizierung. Kulturelle Topoi, die als universelle Formen einen kulturell determinierten Fundus des intersubjektiv und kommunikativ erworbenen Begründungspotentials darstellen und diesen Fundus gleichzeitig auch mitschaffen, spielen, wie Steffen Höhne zeigt, insbesondere im nationalen Diskurs der Vormärzzeit eine Schlüsselrolle (HÖHNE 1999: 319). Für solche in Ausdrucksschemata verkörperten Gedankenvorstellungen können gelten: 1. Informationsniveau 2. Linguozentrismus 3. Literarizität 4. Historizität 5. Sozialer Status 6. Quantitative Repräsentanz Informationsniveau Dass die tschechische Nationalbewegung in ihren Anfängen nicht allzu deutlich in Erscheinung trat, macht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr nicht gerade leichter. Zwar finden sich bereits seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts in der JENAER ALLGEMEINEN LITERATURZEITUNG sowie in verschiedenen Theaterzeitschriften und Almanachen (ALMANACH DER DEUT- SCHEN MUSEN AUF DAS JAHR 1773; EPHEMERIDEN DER LITERATUR UND DES THEATERS) vereinzelte Reaktionen auf die ersten zaghaften Auftritte der tschechischen Dichter- und Theatermusen, doch handelt es sich in der Mehrzahl um reine Vermerke ohne jeglichen Kommentar (DREWS 1996: 152f.). 5 Relativ reserviert zeigen sich die Rezensenten des wissenschaftsbeflissenen 18. Jahrhunderts gegenüber den allgemein bildenden Büchern zur zeitgenössischen tschechischen Literatur, z.b. gegenüber den Arbeiten Dobrovskýs, F. F. Procházkas oder F. Durychs (DREWS 1996: 154). Deutlich mehr Erwähnungen finden sich etwa ab dem Jahre 1800, wobei eine nicht zu vernachlässigende 4 Zu den Voraussetzungen der ethnischen Diskurse in den böhmischen Ländern der Vormärzzeit mit einer Untersuchung der von Heinrich Laubes Artikel ausgelösten Polemik in der ZEITSCHRIFT FÜR DIE ELEGANTE WELT 1843) vgl. HÖHNE (1999). 5 Als deren Autor vermutet man u.a. F. M. Pelcl. Vgl. ŠIMEČEK (1971: 173, Anm.16) 43

22 44 Darstellung der tschechischen Nationalbewegung in der Publizistik Rolle die sich der Grenze Böhmens nähernden napoleonischen Kriege spielten, die Schlacht bei Austerlitz und die anschließende (gesamtösterreichische) patriotische Propaganda, die zur Folge hatten, das sich das Interesse allgemein auf Mitteleuropa konzentrierte. Auch die sich in Mitteleuropa zu jener Zeit herausbildende öffentliche Meinung darf keinesfalls unterschätzt werden (LEN- DEROVÁ 2000). Den Ton der patriotischen Propaganda bestimmten insbesondere die VATERLÄNDISCHEN BLÄTTER FÜR DEN ÖSTERREICHISCHEN KAISERSTAAT ( ), die ANNALEN DER ÖSTERREICHISCHEN LITERATUR ( ), die WIENER ALLGEMEINE LITERATURZEITUNG ( ) sowie die mit diesen Blättern in Verbindung stehenden Autoren (J. A. Schultes, J. Glatz, J. M. Armbruster, F. Sartori und J. Freiherr Hormayr). Es ist schwerlich ein Zufall, dass gerade hier der Aufsatz über die Geschichte der böhmischen Landwehr zu finden ist, Cornovas Artikel über den Sieg Jaroslavs Šternberks bei Olmütz oder auch etwas über die Pflichten eines Historikers gegenüber der Heimat. Außer derlei aktuellen Betrachtungen publizierte der Redakteur F. Sartori auch Nekrologe auf tschechische Wissenschaftler und Literaten (Dlabač, Durych, Šeršnik), er registrierte die immer noch spärliche Produktion tschechischer belletristischer und populärwissenschaftlicher Literatur (vgl. z.b Rezension von Palkovičs TÝDENNÍK [Wochenschrift], 1814 Rezension des 4. Teils von Tablic Poezie) und selbst der Unterricht des Tschechischen an den Universitäten in Prag und Wien entging seiner Aufmerksamkeit nicht. 6 Ihr Bedürfnis, über die tschechische Literatur zu berichten, begründeten die Autoren dabei explizit gerade mit der in dieser Hinsicht bestehenden Nichtinformiertheit. 7 Ganz wesentlich steigt die Zahl der Nachrichten über die tschechische Erneuerungsbewegung jedoch mit Auffindung der Königinhofer und Grünberger Handschrift (1817 bzw. 1818); deren Interpretation verändert sowohl Vorgehen wie Gewicht der historischen Argumen- 6 Vgl. zum Beispiel seinen Artikel Österreichische Journalistik im Anfange des Jahres In: WIENER ALLGEMEINE LITERARISCHE ZEITUNG 1, , Nr. 9, 142f. (hier zu den PRVOTINY und Hromádkos Tschechischunterricht). 7 Vgl. z.b. die in dem anonymem Artikel Kunst und Kulturnotiz aus Prag vertretene Meinung in der LEIPZIGER LITERATURZEITUNG 10, 1821, Sp. 1516: Es ist gewiss, dass kein Land weniger Berichte über diese beyde wichtigen Gegenstände liefert, als Böhmen, und wenn gleich nicht zu läugnen, dass die literarische Productivität dieses Landes keineswegs in Verhältniss mit seiner Bevölkerung und der Zahl von wissenschaftlich gebildeten und selbst gelehrten Männern seines Umkreises steht, so ist doch keineswegs ein gänzlicher Mangel an bemerkenswerthen Erscheinungen, sondern vielmehr eine gewisse Indolenz in kritischen Mittheilungen und der Mangel an inländischen Zeitschriften, durch welche jene so sehr befördert werden, als die Ursachen dieses gänzlichen Schweigens zu betrachten. Der Böhme fühlt von Natur den Drang, seine Ansichten öffentlich auszusprechen, nicht so stark, als seine nördlichen Nachbarn, und lässt sich daher leichter durch Hindernisse abschrecken, worunter vorzüglich die Censur gehört, durch welche sich der böhmische Literator oft von Arbeiten abhalten lässt, die nicht das Geringste von ihr zu befürchten hätten, während die Schriftsteller anderer Provinzen ihr Theil versuchen und wohl dabey fahren. Václav Petrbok tation bei der Rechtfertigung der tschechischen Nationalbewegung. 8 Im Hinblick auf das Faktenwissen befördern das allgemeine Informationsniveau Dobrovskýs Geschichte der böhmischen Sprache und Literatur (1792) bzw. deren überarbeitete Ausgabe Geschichte der böhmischen Sprache und ältern Literatur (1818) 9, Jungmanns Historie literatury české [Geschichte der böhmischen Literatur] (1825) 10 und Šafaříks Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten (1826). 11 Eine außerordentliche Rolle in dem Bemühen, eine breitere tschechische Öffentlichkeit mit der tschechischen Nationalbewegung vertraut zu machen, spielte die historiographische und publizistische Tätigkeit von Josef Freiherr Hormayr. Auch ermöglichte er einer ganzen Reihe von Autoren in seinen Zeitschriften TASCHENBUCH FÜR VATER- LÄNDISCHE GESCHICHTE ( ) und ARCHIV FÜR GESCHICHTE, STATISTIK, LITERATUR UND KUNST ( ) philologische Rezensionen und Artikel über das aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen im tschechischen Leben zu veröffentlichen. 12 Unkenntnis und Desinteresse, wie sie in Deutschland und Österreich in Bezug auf die kulturelle und gesellschaftliche Sphäre der Tschechen begegneten, gaben diesen dennoch immer wieder An- 8 Den Vorzug der Handschriften sah man vor allem darin, dass sich hier ästhetische Vollendung mit patriotischem Gefühl verbinden ließ, das dem Bewusstsein von den ruhmreichen Ereignissen und historischen Taten entspringt ; vgl. HEŘMAN (1966: 456), hier speziell zu den Rezensionen von J. H. Dambeck im HESPERUS und in den ERNEUERTEN VATERLÄNDI- SCHEN BLÄTTERN von 1818 sowie von J. G. Meinert in Hormayrs ARCHIV. 9 WACHLER (1883: 477f.) führt Dobrovskýs Geschichte als Quelle seiner Informationen über die neuzeitliche Geschichte der böhmischen Literatur an. Die erste Ausgabe desselben Handbuchs von 1796 enthält außer einigen spärlichen Informationen zu Karl IV. (II, 229), Hus (II, 236, 507) und den Erstdrucken keinerlei weitere Erwähnung der böhmischen Literatur. 10 Vgl. die sehr anerkennende Äußerung über Jungmanns Wirken und seine Historie bei SARTORI (1830: 32): Die Verdienste des Herrn Jungmann um böhmische Sprache und Literatur treten mit jedem Schritte, den dieselben in ihrer Vervollkommnung thun, kräftiger und gewichtvoller einher. Seine Geschichte der böhmischen Literatur ist das erhebenste Bild der Bestrebungen einer Nation, die mit leicht empfänglichem Sinne einen so beharrlichen Ernst im Fortschreiten ihrer Cultur gewahr werden lässt, und bereits so herrliche Früchte ihrer Anstrengungen aufzuweisen vermag. 11 So verarbeiteten F. Gräffer und J. J. Czikann Informationen aus Šafařík in den nach Autoren gegliederten Stichwortartikeln der offiziellen Östereichischen National-Enzyklopädie. 12 Zu nennen wäre hier beispielsweise J.V. SEDLÁČEK, Bericht über die vorjährigen Leistungen in der eigentlich böhmisch-slawischen Literatur, in: ARCHIV FÜR GESCHICHTE, STATISTIK, LITERATUR UND KUNNST XXI, 1830, S und 376, der zwar erst nach Hormayrs Weggang nach München entstand, jedoch zweifellos noch von ihm angeregt worden war. Bedauerlicherweise beschränken sich die bisherigen Studien über Hormayr und seine Kontakte mit tschechischen Literaten und Wissenschaftlern vor allem auf seine Zusammenarbeit mit J. Dobrovský (vgl. z.b. JEDLIČKA (1930), KRBEC (1972) mit Edition der Briefe) und F. Palacký (vgl. KŘIVSKÝ (1976)). 45

23 46 Darstellung der tschechischen Nationalbewegung in der Publizistik lass zur Klage von F. M. Pelcl 13 bis zu J. E. Vocel 14. Von den gesellschaftlichen Überlegungen innerhalb der tschechischen Bewegung, d.h. von nichtliterarischen Entwicklungen im Verborgenen die daher umso leichter einer e- ventuellen Verzeichnung oder auch einem übertriebenen Konspirationsvorwurf ausgesetzt sind geben ein nur scheinbar paradoxes Zeugnis erst Palackýs Ausführungen zum slavischen Demokratismus und deutschem Feudalismus im zweiten Teil des ersten Bandes seiner Geschichte von Böhmen aus dem Jahre Anlass zu journalistischen Ausfällen (insbesondere zu nennen sind hier die AUGSBURGER ALLGEMEINE ZEITUNG und die LEIPZIGER ILLUSTRIERTE ZEITUNG) waren sicher nicht zufällig die ersten tschechischen Bälle in Prag (1840) (vgl. KLIK (1930: ) und der slawische Ball in Wien (1847) 16. Linguozentrismus Ganz bewusst sei hier ein Terminus aus Vladimír Macuras Znamení zrodu gewählt, um weitere typische Charakteristika in der deutschen und österreichischen Betrachtung der tschechischen Nationalbewegung zu benennen. Dabei soll weniger die Reflexion der tschechischen Position im öffentlichen Leben im Vordergrund stehen von diesem wichtigen Punkt wird später die Rede sein, als vielmehr das Reden über die Sprache, das mit einem Male nicht nur deren philologische Eigenschaften thematisiert, sondern noch etwas anderes. Sämtliche den Tschechen gewogenen Berichte und Betrachtungen umfangreicherer Art beschreiben deren Liebe zur Musik und bringen diese in Zusammenhang mit der Geschmeidigkeit ihrer Sprache (spätestens lässt sich dieser locus communis in Charles Burneys (1966: 276) Tagebuch einer musikalischen Reise 17 vom Ende des 18. Jahrunderts beobachten). Der bedeutende 13 Vgl. Pelcls Korrektur des Artikels Prag, den 15. Juny... aus dem INTELLIGENZBLATT ZUR ALLGEMEINEN BIBLIOTHEK 1793, August, Nr. 86, abgedruckt in Riegers Zeitschrift LIEFE- RUNGEN FÜR BÖHMEN VON BÖHMEN III, , Zu deren Analyse vgl. SCHAMSCHULA (1967). 14 Vgl. in dem Zusammenhang u.a. Vocels wenig schmeichelhafte Äußerungen über die oberflächlichen Urteile, die die Autoren von Reiseberichten fällen: Die falschen, lächerlichen, und was mehr ist, bössinnigen Urtheile über diese Volksstämme [Westslaven; V.P.] aus neueren Reisewerken und geographischen Handbüchern hier anzuführen, wäre bei dem reichen Auswahl solcher Schriften überflüssig. [= J. E. VOCEL] in: AUGSBURGER ALLGE- MEINE ZEITUNG (im Weiteren AAZ), Nr. 278, vom , Beilage, Zum Bild der Tschechen in den zeitgenössischen deutschen (nichtösterreichischen) Reisebeschreibungen vgl. HENTSCHEL (1997). 15 Zu der bekannten Affäre Knoll-Palacký vgl. DVORSKÝ (1898), HANUŠ (1923), PFITZ- NER (1926), KOŘALKA (1997: 169f., 173f.). 16 Der Slawenball in Wien. In: LEIPZIGER ILLUSTRIERTE ZEITUNG 8, 1847, Nr.197. Vgl. Neuabdruck und Untersuchung bei H. [= Heyer] (1931); vgl. ebenso GLOSSY (1919: 98 99, 297). 17 Vgl. auch die aus dem Manuskript der Dissertation von Vít zitierten Anmerkungen in MA- CURA (1995: 220f.). Burney s Werk erschien 1772 in deutscher Übersetzung von C.D. Václav Petrbok bayerische Philologe Johann Andreas Schmeller unterzog das Tschechische in seinem Aufsatz Blick auf die nachbarliche Slawensprache in Böhmen (1834) einer kenntnisreichen Analyse, 18 in der er mit statistischen Methoden die zeitgenössische Vorstellung von der Misstönigkeit des Tschechischen bzw. von einem, verglichen mit dem Deutschen, deutlichen Überwiegen der Konsonanten über die Vokale widerlegte. Ein weiteres Negativum im damaligen Urteil die Kompliziertheit der Flexion münzte Schmeller gewissermaßen in ein Positivum um, indem er gerade daran die Verwandtschaft des Tschechischen mit dem Griechischen aufzeigt. Bei der Beschreibung der phonologischen Seite des Tschechischen konnte sich Schmeller auf seine ausgezeichnete Kenntnis der süddeutschen Dialekte stützen und eine Reihe von Analogien konstatieren, die im Übrigen von den heutigen Linguisten mehrheitlich bestätigt werden. Seine eindeutige Sympathie für die tschechische Nationalbewegung, die immer wieder auch in seinen wichtigen Beobachtungen systematischer Art zu spüren ist so zum Zusammenhang von tschechischem und deutschem Purismus, zum Verhältnis beider Sprachen aus sozialer und rechtlicher Sicht, hinderte ihn andererseits nicht, Kollárs Cestopis do [...] horní Itálie, odtud přes Tyrolsko a Bavorsko, se zvláštním ohledem na slavjanské živly [Reise nach [...] Oberitalien, von dort über Tirol und Bayern mit besonderer Berücksichtigung der slavischen Elemente] äußerst kritisch zu beurteilen. Es wäre leicht, Gehässigem durch Gehässiges zu begegnen, fügt er hinzu, zeigt aber wiederum auch Verständnis für den Autor, denn er steht da als Kämpfer für die Schwächeren. (nach SCHALLER 1981: 33) Doch verlassen wir J. A. Schmeller und wenden uns gegenteiligen Beispielen zu: einige wenige Autoren (z.b. der Ästhetiker und Historiker Karl Heinz Pölitz 19, der Historiker Joseph Kreil 20 oder die Publizisten Hans Norman 21 und Ebeling bei Bode in Hamburg unter dem Titel Tagebuch einer musikalischen Reise durch Frankreich, Italien, Flandern, die Niederlande und am Rhein bis Wien, durch Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Hamburg und Holland 1772/1773, 3 Bde.; als Faksimile- Nachdruck herausgegeben 1959 von Richard Schaal. 18 Dazu SCHALLER (1981), hier Nachdruck der Studie Schmellers auf den Seiten Zu Schmeller als Slavisten vgl. auch den Stichwortartikel von G. Schröter in EICHLER (1997: ); ebenso BRUNNER (1997: 36) zur Ablehnung der Professur für Slavische Sprachen in München, (mit Angabe weiterführender Literatur), zu Schmellers Vorschlag, Šafařík als korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften aufzunehmen). 19 PÖLITZ (1813: 17 18): Freu dich, Jüngling, der du aus teutschem Blute stammest, deines Vaterlandes. Eine dichte Reihe von Edlen, die für Wahrheit, Tugend und Recht, für Freiheit und vaterländischen Boden, bald mit der Feder, bald in hohen Thaten kämpften, verklärt den Namen, der sich von unbesiegten Ahnen auf dich herab erbte. Vergiß es nie, daß es Teutsche waren, [...] daß die slavischen Völker sich unmuthig widerstrebend unter die Ü- bermacht der teutschen Kraft beugen mußten, [...] daß teutsche Kultur dem russischen Reiche seine schnell errungene Größe gab [...]. 47

24 48 Darstellung der tschechischen Nationalbewegung in der Publizistik Franz Schuselka 22 ) operierten bei ihren Vorbehalten gegen den tschechischen (oder allgemein slavischen) Lebensstil, die tschechische Sprache oder auch speziell die Nationalbewegung mit Topoi, die man als negative ethnische Stereotypen bezeichnen könnte: Unwohllaut (als Beispiel hierfür dient stets der Zungenbrecher strč prst skrz krk [steck den Finger durch den Hals]), Unbiegsamkeit [!], Unmuthigkeit, häufig auch findet sich die etymologische These von einem Zusammenhang zwischen dem Appelativum Sklave und dem proprium Slave, worauf die patriotische tschechische Gesellschaft mit einer etymologischen Interpretation konterte, die sie keineswegs neu erfand, sondern aus dem humanistischen Fundus requirierte: der Ableitung des propiums Slovan [Slave] vom Appelativum sláva [Ehre, Ruhm]. 23 Literarizität Die überwiegende Mehrheit der Texte, die Bezug auf die tschechische Nationalbewegung nehmen, knüpft bei ihren Betrachtungen gerade an jenen Bereich an, in dem diese Bewegung ihren eigentlichen Ausdruck findet an das literarische Leben. Die dominante Ausrichtung auf die Literatur im weitesten Sinne des Wortes, hat ihren Grund wohl auch darin, dass die Möglichkeiten, sich in anderer Form öffentlich Gehör zu verschaffen, im Österreich der Vormärzzeit beschränkt waren. Die Literatur galt ganz im Sinne des damaligen Literaturverständnisses als reinster geistiger Ausdruck des Volkes. 24 Hervorgehoben werden bezeichnenderweise die zeitgenössische Lyrik, das Sammeln von Volksliteratur und überhaupt alte Denkmäler, erinnert sei hier nur an die Artikel in OST UND WEST (HOFMAN 1957: ) und in Klars Almanach LI- BUSSA (PAUL 1938; FASOLD 1992) u.a. (JÄHNICHEN 1967: 20 83, insb ). 20 KREIL (1817: 21f.): Du stehst mit einigem Male auf der Gränzlinie zwischen derselben [steierische Reinlichkeit, Einfügung V.P.] und der wendischen Unsauberkeit [...], denn so wie du in das Städtchen Windisch-Freistritz eintrittst, so hat auch teutsche Reinlichkeit und Offenheit ein Ende, und du befindest dich auf einmal in einem böhmischen oder mährischen Dorfe unter den unsaubern Slaven, auf deren Antlitz die Natur selbst den Stämpel der Leibeigenschaft aufgedrückt zu haben scheint. Gegen Kreil und Pölitz meldeten sich Jungmann (1821) und Kollár (1832: 458) polemisch zu Wort. 21 Gegen dessen Vorwurf der mechanischen Fertigkeit vgl. BENEŠOVSKÝ (1833: 167). 22 Grundlegende bibliographische Angaben und nicht allzu zuverlässige Regesten zur Polemik zwischen Schuselka und Vocel vgl. in ŠIMÁK (1934). 23 Schon Georg Kaspar Kirchmeyer hatte die Herstellung eines Zusammenhangs Slave Sklave in seiner Dissertatio philologica de origine, jure ac utilitate linguae Slavonicae, Wittenberg 1697, abgelehnt. Hierzu vgl. BITTNER ( : 547) und ČAPEK (1952: 111f.). 24 Eine [böhmische] Volkspoesie [ist] ein Schatz, auf dem junge Literatur vor allem ihren Blick richten und sie gleichsam als Grundlage ihres Wesens annehmen sollte, in: DAS AUSLAND, 1842, Bd. 2, 978. Václav Petrbok Besondere Aufmerksamkeit galt den Liedern, Sagen und Märchen. Selbst Autoren, welche die bisherigen Ergebnisse der tschechischen Bemühungen auf literarischem Gebiet ignorierten oder bestritten, hatten zumindest einen Begriff von der Volksliteratur und benützten sie, ihren Absichten entsprechend, für Vergleiche mit der Kunstliteratur. So wusste beispielsweise F. Schuselka, daß [dies der] unläugbare Untergang der czechischen Litteratur sey, die in der That ungeachtet ihrer jetzigen Anstrengungen, ja eben durch diese krankhaft überreizten Anstrengungen beweist, daß sie wenig lebensfähig mehr ist. Ein eigentliche nationales Leben ist nur in den czechischen Liedern, aber Lieder bezeichnen ebenso den Anfang wie das Ende einer Nationalliteratur. Wir läugnen hier durchaus nicht die ehrenwerthen Versuche czechischer Dichter in größern Schöpfungen, aber wie wenig Theilnahme und Wirkung sie erreichen, ist bekannt. 25 Historizität Von rein deskriptiven Arbeiten und Rezensionen abgesehen, war die Sicht des damaligen Gegenwartsgeschehens von der geschichtlichen Vergangenheit bestimmt. Diese stellt gewissermaßen einen Fundus an verschiedenen Ereignissen bereit, die argumentativ ambivalent funktionalisiert werden können (vgl. ZITKO 1971). Doch weit mehr noch als an jenen Ereignissen ist am jeweiligen Geschichtsbegriff eines Autors selbst gelegen. Ist für die ältere Generation, erzogen in der Tradition des aufklärerischen 18. Jahrhunderts, die geschichtliche Vergangenheit Quelle der Belehrung, die in die Gegenwart zu integrieren ist, damit die Geschichte ihren Sinn und Zweck in der Zukunft auf beste vollenden könne, so ist die jüngere Generation fasziniert von der Idee der Geschichte als Aufruf zu Tat und Opfer, das höherer Sinn und Gesetz derselben rechtfertigen. Von den Ereignissen, die sich am häufigsten interpretiert finden, wären folgende zu nennen: die Schlacht am Weißen Berg und der daraus resultierende Verfall der tschechischen Kultur (stets als Nachteil gewertet, die Analyse der Folgen des Weißen Berges bildet geradezu ein integratives Motiv in Thuns berühmter Broschüre Über den gegenwärtigen Stand der böhmischen Litteratur, ), die rudolfinische Zeit als goldene Zeit der tschechischen Kultur (stets gewertet als nicht zu bestreitender Beitrag deutscher bzw. europäischer Bildung). Mit einer ambivalenten Sicht haben wir es im Falle der hussitischen Zeit zu tun: Im prostestantischen Umfeld unterschied man zwischen Jan Hus, der anerkannt und verehrt wurde, und den Hussitenkriegen, von denen insbesondere die Hussitenfahrten Prokops des Großen negativ kodiert waren. Im katholisch-österreichischen Umfeld begegnet man Hus nur sehr selten 25 [= F. Schuselka]: Stepanek und die böhmische Bühne. In: AUGSBURGER ALLGEMEINE ZEITUNG, Nr. 67, vom , Beilage, , hier 529). 26 Vgl. die Analyse in HEIDLER (1920: 107f.), ebenso RAK (1994). 49

25 50 Darstellung der tschechischen Nationalbewegung in der Publizistik und, abgesehen vom reformiert-katholischen Milieu, sozusagen durchweg als Ketzer (KOŘALKA 1985: 211, 214). Die Hussitenkriege hingegen werden wie Jiří Rak zeigte zwischen im Rahmen der antinapoleonischen Propaganda positiv funktionalisiert (RAK 1980). Ebenso ambivalent präsentiert sich die Interpretation der theresianischen und josephinischen Zeit: Die Mehrheit (Hormayr, Caspar Sternberg, Sartori, einen Leipziger Anonymus, Gräffer-Czikan, Jordan) sieht sie unter dem Aspekt der Germanisierung und Zentralisierung des gesellschaftlichen Lebens und vor allem des höheren Bildungswesens, von der sich die tschechische Literatur nur langsam erholt. Für einige andere Autoren jedoch war die Einführung und Durchsetzung des Deutschen als Amtssprache ein unterstützendes Argument bei der notwendigen Aufrechterhaltung des status quo (so ein Anonymus 1813 im KRONOS 27, F. Schuselka, Graf F. Deym und teilweise auch Graf Joseph Matthias Thun 28 ). Die besondere Rolle des historischen Rechts im Zusammenhang mit den Sprachforderungen der tschechischen Erneuerer wurde von Autoren verschiedentlich thematisiert, so 1822 von einem Anonymus in der LEIPZIGER LITTE- RATURZEITUNG, 1844 von Vocel, die der österreichischen Staatsverwaltung u.a. ein nicht wegzudiskutierendes Argument in Erinnerung brachten die in der Verneuerten Landesordnung 29 verankerte Gleichberechtigung der deutschen und tschechischen Sprache. Zu einer Abwertung der Tschechen als einem, so wörtlich, geschichtslosen Volk, dem es an Lebensfähigkeit und geschichtsbildender Kraft mangele, kommt es erst in der demokratischen Publizistik von 1848 und den nachfolgenden Jahren (F. Engels, T. Pisling) (KOŘALKA 1996: 59, 80f. Anm. 193), wenngleich sich derartige Anzeichen beispielsweise auch schon in Schuselkas Artikel Von den Sudeten vom 8. September 1844 beobachten lassen. 27 Kaiser Alexander von Rußland, in: KRONOS, 1813, Bd. 4, 67: Was es in dem Oesterreichischen Kaiserstaate an Slawischen Nationen giebt, hat schon zu sehr an der Deutschen Kultur Theil genommen, eine eigenthümliche schon zu sehr aufgegeben, ist von zu vielen Deutschen Instituten umgeben und durchschnitten, als daß es dahin trachten könnte, die Slawische Nationalität zu einem eigenthümlichen Ganzen auszubilden. Vgl. dazu auch NOVÁK (1914: 274). 28 Er [der Tscheche, Einfügung V.P.] weiß die deutsche Bildung hoch zu schätzen, er wünscht ihr nachzustreben, ist so vorurtheilsfrei zu fühlen, daß er ihrer nie wird entbehren können, und hadert mit dem Schicksale nicht, das die Verhältnisse, die einstens anders waren, so gestaltet hat. Zit. nach Thun (1845: 19). Zu Interpretation und Resonanz von Thun vgl. HEIDLER (1920: 110f., 119f.). 29 J.E.W. [= J. E.Vocel], Die Czechophobie. Prag, im Julius. In: AUGSBURGER ALLGEMEI- NE ZEITUNG, Nr. 236, vom , , hier 1882: Dem Entwurf, daß die Böhmische Sprache nicht auf dem gegenwärtigen Rechtsboden stehe, müssen wir die erneuerte Landesordnung Kaiser Ferdinands II. entgegen halten, welche der böhmischen Sprache ausdrücklich dieselben Rechte wie der deutschen in Böhmen und Mähren zugesteht. Václav Petrbok Sozialer Status In unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage nach der Interpretation der theresianischen und josephinischen Epoche steht ein ganzer Kreis weiterer Fragen: haben die Autoren auf der Suche nach den Ursachen für die nachhinkende Entwicklung von tschechischem Bildungsstand und tschechischem Selbstbewusstsein über den Zaun der historischen Argumentation hinausgeblickt? Die Antwort wird wohl nicht überraschen: Vergleichsweise selten führt eine Argumentation zugunsten der tschechischen Nationalbewegung ins Feld, dass diejenigen Tschechen, die eine Stellung in sozial höherer Schicht anstrebten, gezwungen waren, dass Deutsche zu erlernen und sich an die deutschösterreichische Kultur anzupassen, oder anders gesagt, dass die sprachlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Tschechen und Deutschen zu einem erheblichen Teil mit einem Unterschied in der gesellschaftlichen Stellung korrelieren. Als einer der wenigen war sich Bernard Bolzano dieser unseligen Folgen der Sprachenpolitik in den Schulen bewusst und machte sie zum Gegenstand seiner drei Exhorten über das Verhältniss der beiden Volksstämme in Böhmen aus dem Jahre Die Lösung sah er in einer moralischen Erneuerung und einer allgemeinen Menschenliebe, deren Verwirklichung er im Rahmen eines einzigen zweisprachigen böhmischen Volkes sah. 30 Quantitative Repräsentanz Die geringe Zahl der Tschechen und damit zwangsläufig die auch nur geringe Zahl von Anhängern der tschechischen Nationalbewegung ist der Topos, der bei Autoren, die der tschechischen Nationalbewegung nicht gewogen sind, am häufigsten begegnet. Die quantitative Dominanz des deutschsprachigen Elements in den böhmischen Ländern rechtfertigte gewissermaßen dessen politische, kulturelle und soziale Hegemonie. Die junge Generation, die unter dem Einfluss Hegels stand, sah sich zudem noch durch dessen These bestärkt, der zufolge die Geschichte den Kleinen keine Chance einräume. Das Argument der quantitative Dominanz stützte sich dabei auf Gesamtstatistiken, deren Zuverlässigkeit von tschechischer Seite angezweifelt wurde, indem sie darauf verwies, dass all die als Deutsche gezählt wurden, die das Deutsche beherrschten. 31 Allgemeiner formuliert bringt dieses Problem J. E. Vocel in seiner mit dem westfälischen Journalisten G. Höfken 1839 in der AUGSBURGER ALLGE- MEINEN ZEITUNG geführten Polemik zur Sprache: 30 Zu diesem Thema existiert eine umfangreiche Literatur, oft dilettantischen Charakters oder in ihren Positionen voreingenommen. Unter den markantesten zu nennen wären NAEGLE ( ), LOUŽIL (1978: 65 74) oderkořalka (1996: 40 42). 31 Vgl. ŠTAIF (1996); zur Polemik um Schuselkas Broschüre Ist Österreich deutsch? (1843), in die sich Ferdinand Graf Schirnding und auch F. L. Rieger einschalteten (ŠTAIF 1996: 19 23), sowie zur Polemik zwischen Schnabel und Havlíček (ŠTAIF 1996: 23). 51

26 52 Darstellung der tschechischen Nationalbewegung in der Publizistik Es ist eine auffallende Erscheinung unserer aufklärenden Zeit, daß man in England, Frankreich, ja selbst in Deutschland richtigere statistische und ethnografische Kenntnisse von Ost- und Westindien und sogar von Central-Afrika besitzt, als vom Mittelpunkte, vom Herzen unseres Welttheils selbst, welches die Westslaven in Böhmen, Mähren und Schlesien und nördlichem Ungarn inne haben [...]. Die Hälfte der Bewohner des österreichischen Kaiserstaates besteht aus Slaven. 32 Die Funktionalisierung der Kategorie der quantitative Repräsentanz ist nicht weniger ambivalent als die der oben besprochenen Kategorien des sozialen Status und in einer bestimmten Auslegung birgt sie eine spezielle Gefahr. Die Anzahl der Anhänger der Nationalbewegung, d.h. also die Anzahl der Tschechen und anderen Slaven, wurde stets von denjenigen geltend gemacht, die mit dieser Bewegung sympathisierten, von den Tschechen selbst auch als Ersatz für ihre gesellschaftliche (und politische) Abstinenz im Böhmen der Vormärzzeit. Dieses Problem musste jedoch zwangsläufig auf die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis des Slaventums zu Russland führen (WOLLMAN 1986). Die unverbindlichen Erwägungen Jungmanns hinsichtlich der Schaffung einer slavischen Einheitssprache (nach dem Muster der einheitlichen deutschen Schriftsprache), die sich lexikalisch aus dem Reichtum aller Slavinen speist, hatte sich stets nur in den Grenzen reiner wenn auch aus heutiger Sicht höchst seltsam anmutender Theorie bewegt. 33 Auch auf politischer Ebene kommt eine Durchsetzung russischer oder panslavischer Interessen nicht ernsthaft in Betracht, schon gar nicht nach dem russisch-polnischen Konflikt von 1830/31 und den späteren Berührungen mit der russischen Realität (KO- ŘALKA 1996: 37). Dennoch empfiehlt G. Höfken in seiner Polemik mit Vocel den Tschechen, sich deutlich vom übrigen Slaventum abzutrennen und mit den Deutschen zusammenzuarbeiten. Seine Unterstützung der tschechischen Nationalbewegung band Höfken dabei an eine Bedingung: die kulturelle und politische Unterordnung der Tschechen innerhalb des deutschen Kulturraumes An. [= J. E. Vocel]: Die Westslaven und die böhmische Litteratur, AUGSBURGER ALLGE- MEINE ZEITUNG Nr. 278, : Vgl. hierzu auch Vocels spätere Äußerung in der AUGSBURGER ALLGEMEINEN ZEITUNG Nr. 236, : 1882): Möglich, daß manche historische, statistische und ethnographische Wahrheit nicht so recht in den Kram der Gegenwart paßt, und deßhalb ihre Galle so heftig aufregt; man prüfe aber die Sachen gehörig durch, widerlege mit Gegengründen und verleumde nicht! 33 ZELENÝ (1881: 45f.). Zu dieser Problematik vgl. auch WALZEL (1932) und BĚLIČ (1974). 34 Böhmen war das deutsche Reichsgebiet, in dem sich das slavische und germanische Element in friedlicher Weise am innigsten berührten und geistig durchdrangen, wo eben dadurch zu einer Zeit, als in den westslavischen und allen deutschen Ländern das Städtewesen, die Wissenschaft, christliche und römische Bildung mehr denn je zuvor auflebten und aufblühten [...], so daß ohne diese Berührung, also ohne das Mitwirken des germanischen Elements, jener Culturaufschwung in Böhmen durchaus nicht zu erwarten stand. Man kann wohl nichts mehr als die Fortdauer eines solchen Verhältnisses wünschen [...]. Sorgsam gepflegt muß die czechische Sprache werden, daß die deutsche Sprache in den böhmischen Ländern als Medium der höhern Bildung, der literarisch-wissenschaftlichen Wirksamkeit Václav Petrbok Vocels Versuche, den Panslavismus-Vorwurf als ungerechtfertigt zurückzuweisen 35, wurden dabei von der deutschen liberalen Publizistik nicht wirklich ernst genommen. Schuselka ging in seinen Forderungen sogar noch weiter nachdem er sich gegen Vorwurf, die literarischen und nationalen Bestrebungen der Tschechen angegriffen zu haben, verwahrt hat, erklärt er: Wir feinden keine literarische Bestrebung an, insofern sie eine solche bleibt und sich nicht auf ganz andre Wege verirrt. Ihr begannet eure Sprache aus der Erstarrung, in welche sie durch eure Schuld gefallen, zu wecken; aus Grammatik wolltet ihr eine Literatur schaffen; und die Königinhofer Handschrift, welche noch jetzt nicht von allen Seiten als ächt anerkannt wird, ward eure Wehr und Waffen [...] Wie nimmt sich eure Literatur gegen uns Teutsche? Antwort: Palazky s Geschichte. Sagt nicht er sey ein einzelner Mann. Dieser Geschichtsschreiber predigt Deutschenhaß. So ist der Charakter eurer Literatur und die sollen wir lieben? Ihr säet Deutschenhaß, was wollt ihr ernten? [...] Wer Oesterreichs, wer Deutschlands Größe will, kann ein Slawenthum, welches in deutschen Landen herrscht oder herrschen will, nicht dulden; ein solches Slawenthum wäre schon ein gutes Stück Allslawenthum... [Hervorhebung, V.P.]. Böhmen ist deutscher Boden, teilweise von ureingebornen Deutschen bewohnt, die eingewanderten Czechen dürfen sich nicht als alleinige Herren im Lande gebärden [...]. Wir wollen, daß Österreich deutsch bleibe, weil wir jede Regung wodurch Österreichs Macht und somit auch Deutschlands Kraft gelähmt würde, als unpatriotisch verdammen müssen, weil wir zwei Grundprincipien, ein deutsches und ein slavisches, als die Einheit der Regierung Österreichs untergrabend, nie anerkennen dürfen. 36 Die weiteren historischen Zusammenhänge, die zur Wende des Jahres 1848 führten, sind hier im Weiteren nicht mehr zu behandeln. Doch lässt sich zumindest noch anfügen, dass Palackýs Schreiben nach Frankfurt mit einem Male den tiefen Widerspruch beleuchet, in den die deutsche und die tschechische Nationalbewegung zueinander geraten mussten, weil sie ihre politischen Ziele erscheint. Zit. nach an. [= G. Höfken]: Die Czechen und die übrigen Westslaven. In: AUGSBURGER ALLGEMEINE ZEITUNG : Beilage Z.B. an. [= J.E. Vocel]: Erläuterungen über die Westslaven. In: AUGSBURGER ALLGE- MEINE ZEITUNG Nr. 74, : Beilage 587: [...] endlich wird angeführt, daß sich unter Oesterreichs Schutz eine antirussische, slavische Nationalbildung entwicklen soll, und daß Oesterreichs Regierung, wenn die alte Landessprache mit milder Schonung und Achtung behandelnd, unabsehbare glückliche Folgen daraus gewinnen werde. Dasselbe mit anderen Worten in: Die Westslaven und die böhmische Literatur. In: AUGSBURGER ALL- GEMEINE ZEITUNG Nr. 278, : Beilage Von den Sudeten. In: AUGSBURGER ALLGEMEINE ZEITUNG Nr.283, : 2262f.; der Artikel ist nicht unterzeichnet. Zur vermutlichen Autorschaft Schuselkas vgl. KOŘALKA (1996: 71 72). Mit dieser deutlichen Attacke reagierte er auf den Artikel von J.E.W. [= J. E. Vocel]: Die Czechophobie, Prag, im Julius. In: AUGSBURGER ALLGEMEINE ZEITUNG Nr. 236, : Beilage

27 54 Darstellung der tschechischen Nationalbewegung in der Publizistik in den Rahmen unterschiedlicher territorialer Konzepte stellten, einen Widerspruch, der bereits vor 1848 existierte, jedoch kaum reflektiert wurde (KO- ŘALKA 1990: 27). Die liberale tschechische Politik hatte daher wohl auch nicht damit gerechnet, dass sie als Vertreterin eines politisch eigenständigen und souveränen Volkes von jemandem ernst genommen werden könnte e- benso wenig wie die tschechische Gesellschaft selbst. Das führte auf der tschechischen Seite nicht nur zu der immer wieder zitierten Überempfindlichkeit, sondern auch zu einem radikalen Nationalismus, der nach Überwindung der Kleinheit und nach Anerkennung von außen bestrebt war. Dieser Nationalismus wurde später von Hans Kudlich als Ausdruck nationaler Beschränktheit (URBAN 1998: 34f.) gedeutet. Gleichzeitig verfestigte sich um 1849/50 wie KOŘALKA (1996: 33) gezeigt hat in den außerösterreichischen deutschen Ländern ein Negativbild von den Tschechen als zurückgebliebenen Elementen ohne Kultur, Agenten des Panslavismus, Parteigängern der Feudalherren und in lutheranischem Umfeld als Anhängern der kirchlichen Reaktion. Der anekdotische Hinweis auf ein Missverständnis hat meinen Versuch, ein fatales Missverstehen darzulegen, eingeleitet, mag er mit einer ähnlichen Begebenheit schließen. Als Alexander Helfert zu Beginn der 90er Jahre in der Zeitschrift OSVĚTA [Aufklärung] an die Ereignisse von 1848 erinnerte, kommt er auch auf die angespannte Atmosphäre im Oktober 1848 nach dem Auszug der tschechischen Abgeordneten aus dem Wiener Reichstag zu sprechen: Während dieser Tage lief ein Ausspruch um, den Havlíček getan haben soll:,lieber ein wenig Reaktion, retten wir nur die Nationalität [...].,Sicher, soll Reichert, einer der Wiener Studenten darauf erwidert haben,,was liegt an Gott und Freiheit, wenn man nur Tschechisch spricht. (HELFERT 1890: 460) Des Betrachtens und Nachdenkens wert, wenngleich Beispiel einer gewissermaßen widernatürlichen Voreingenommenheit, scheinen da die Zeilen aus dem Brief eines Brünner Deutschen, den dieser nach der Wiener Oktoberrevolution 1848 an das Prager Blatt DIE WAGE (!) schrieb: Wir sind am Beginn eines Bürgerkriegs, den man von oben nicht verhindert, sondern herbeigeführt hat. Man benützt den Fanatismus der Nationalitäten, der Präponderanzgelüste nur in blutigen Kämpfen die endliche Lösung finden werden. Du wirst wahrscheinlich staunen, wenn ich dir sage, daß ich, trotz aller individuellen Abneigung, nun von den Slaven das Heil der Monarchie erwarte. Die Ultradeutschen wollen die Zerstückung, die Ungarn eine todtbringende Schwächung; es bleiben uns nunmehr die Slaven, von deren politischen Scharfsinn wir eine Erhaltung des Staates mit Zuversicht erwarten können. Ob jetzt die Monarchie eine slavische sein wird oder nicht, gilt dem wahren Vaterlandsfreunde gleich DIE WAGE FÜR FREIHEIT, RECHT UND WAHRHEIT 1, Nr. 8, : Rubrik Welt- Courier, 62f. Der Beitrag ist unterzeichnet mit der Chiffre A. Literatur Václav Petrbok BĚLIČ, Jaromír (1974): Jungmannovy představy o možnosti jazykového sjednocení Slovanů [Jungmanns Vorstellungen von der Möglichkeit einer sprachlichen Vereinigung der Slaven]. In: AUC Philologica 3 4, Slavica Pragensia 17, BENEŠOWSKÝ, A. W. 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30 Nationale Antagonismen in Böhmen. Überlegungen zum Programm von OST UND WEST Steffen Höhne 1. Nationalität und Öffentlichkeit Die Napoleonische Herrschaft brachte auch für Mitteleuropa gravierende Veränderungen territorialer und politischer Natur, kommt es doch in ihrer Folge zum ersten massenwirksamen Durchbruch des nationalen Denkens, das künftig die politischen Prozesse in entscheidender Weise determinieren wird. Verbunden mit strukturellen Veränderungen kann man eine tiefe Erschütterung des Sozialgefüges als Voraussetzung für den modernen Nationalismus in Mitteleuropa konstatieren. Zu nennen wäre das demographische Wachstum und die damit verbundene Urbanisierung, die durch die beginnende Industrialisierung hervorgerufenen ökonomischen Veränderungen, ein damit verbundener Zerfall der ständischen Sozialordnung und damit eine Erosion traditioneller Legitimation politischer Herrschaft (WEHLER 1996). In letzter Konsequenz führen diese Prozesse zur Infragestellung anerkannter soziokultureller Muster der Weltdeutung. Infolge der Zerstörung vertrauter Ordnungen und der Auflösung traditioneller, lokaler sozialer Bindungen, also Gruppenidentitäten konfessioneller und ständischer Natur, wird eine Rezeptionsbereitschaft für neue kollektive Orientierungen geschaffen, durch die Vorstellungen von nationaler Identität zunehmend Akzeptanz finden. Ferner steht eine Trägerschicht bereit, welche die neuen Ideen propagiert, rezipiert und letztlich durchsetzt in Deutschland beispielsweise Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn, in Böhmen Josef Jungmann, Václav Hanka u.a. Die Betonung der ideologischen Komponente ist dabei in Korrelation zu den sozialen Prozessen zu betrachten, wobei sich der Nationalismus als eine mächtige Integrationsideologie erweist, mit der eine Umstrukturierung alter Bindungen und die Bildung einer neuen Gruppensolidarität über das Nationalbewusstsein einhergeht. Auf die anomischen Tendenzen einer zunehmenden sozialen Differenzierung antwortet ein neuer Inklusionscode (GIE- SEN/JUNGE 1996: 300). Mit der Entwicklung einer bürgerlichen Nationalbewegung verläuft zugleich der paradigmatische Wechsel von der Adels- zur bürgerlichen Kultur, in der sich der gemeinsame Kulturkreis der Gebildeten zu Lasten sich zunehmend national definierender Kulturen auflöst. Der in der deutschen und tschechischen Kultur sich entwickelnde Diskurs über die Nation dient primär der Kompensation einer unbefriedigenden Gegenwart, dem nicht vorhandenen, auf einer Konstitution basierenden Nationalstaat. Für die nichtdeutschen Völker der Habsburgermonarchie kommt ein einheitsstiftender Druck der Fremdherrschaft hinzu, die Spannung zwischen beklagenswerter Gegenwart und idealer nationaler Gemeinschaft erscheint hier in verschärfter

31 62 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST Dimension. In dieser Situation erhalten Sprache, Literatur und Kunst kompensatorische Bedeutung, eine postulierte Nationalkultur wird zur Integrationsideologie erweitert. Diese ist entscheidend beteiligt an der Konstitution einer bürgerlichen Öffentlichkeit, zugleich Voraussetzung für die Nationalstaatsbildung. Öffentliche Kommunikation als ein umkämpftes Gebiet (GER- HARDS/NEIDHARDT 1991: 34ff.), bei dem es um die Profilierung in einem Wettbewerb politischer Konzepte geht, ist im Kontext moderner, funktional differenzierter Gesellschaften zu verstehen. Öffentliche Kommunikation bzw. Massenkommunikation 1 lässt sich mit Modellen der Sozialdisziplinierung in der Tradition von Alfred Schütz, Peter Berger/Thomas Luckmann, Norbert Elias, Michel Foucault erklären, d.h. als eine Geschichte der Disziplinierung von Wahrnehmung und Kommunikation, auch wenn dies eine Reduktion der Medienanalyse auf die Machtanalyse impliziert. Geht man dagegen von der Theorie des sozialen Handelns aus, lässt sich ein Weg qualitativer Analyse beschreiten, d.h. Mediennutzung wird als soziales Handeln aufgefasst. Danach existieren Bedürfnisse nach kognitiver Übereinstimmung zur Bestätigung der jeweiligen Weltbilder, dies führt zu Interpretationsgemeinschaften, bei denen den Meinungsführern eine besondere Bedeutung zukommt und eine Diffusion neuer Ideen und Praktiken erfolgt. 2 Dies lässt sich in exemplarischer Weise in der Phase der tschechischen nationalen Wiedergeburt vor 1848 beobachten. Es handelt sich dabei um einen Prozess, der zunächst von einzelnen Intellektuellen getragen wird, die seit dem 1. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein verhältnismäßig geschlossenes Kommunikationsnetz bilden, misstrauisch gegenüber den herrschenden aristokratischen Eliten, aber auch dem einfachen Volk entfernt, und die ab den 1830er Jahren eine erste Massenwirksamkeit erreichen, für die die Publizistik die entscheidende Voraussetzung darstellt. Die 1830er Jahre bilden eine Zeit allmählicher Konsolidierung einer nur schwach ausgebildeten Emanzipationsbewegung, die nun vor allem mit der 1 Massenmedien sind massenhaft verbreitete Medien für die in der Regel einlinige bzw. monologische Verbreitung von Wissen und Unterhaltung an ein anonymes, heterogenes und disperses Publikum, das für deren Rezeption materielle, soziale und geistig-kulturelle Voraussetzungen aufweisen muß. (SCHILDT 2000: 189) 2 Bei beiden Ansätzen besteht ein Problem der Übertragbarkeit auf die historische und historisch orientierte philologische Forschung, werden doch unterschiedliche Problemhorizonte akzentuiert, so die Konstruktion medialer Wirklichkeiten, die Sozialdisziplinierung und Manipulation, kommunikative Handlungen in lebensweltlichen Kontexten. Aus diesem Dilemma könnte die methodische Trennung zwischen Synchronie und Diachronie helfen. Synchron betrachtet kann man Öffentlichkeit als einen Differenzierungsprozess verstehen, als ein Ensemble und eine Interdependenz von medialer Produktion, Kommunikation und Rezeption, von systemischen und lebensweltlichen Mustern, von technologischen Dynamiken und kulturellen Bedeutungen, von biographischen und sozialstrukturellen Dimensionen, von Macht- und Diskursformen, existierend in der differenzierten und fragmentarischen Form verschiedener Öffentlichkeiten. (SCHILDT 2001: 188). Diachron betrachtet ist Öffentlichkeit Faktor moderner Gesellschaftsentwicklung und zugleich deren Schrittmacher. Steffen Höhne erfolgreichen Museumszeitschrift (ČASOPIS ČESKÉHO MUSEUM) eine laut Karel Sabina dauerhafte Wirkung erreicht: als jedes neu erschienene Heft uns ein Beleg mehr ist für den Fortgang der nationalen Sache der Čechen überhaupt, und uns zugleich den Standpunkt bietet, von welchem aus wir thatsächlichen Fortschritte des Slawismus in Böhmen am genauesten überblicken können. (SABINA : 279) Nach František Palacký verläuft in diesen Jahren ein Wechsel von einer Phase des Aufholens zur einer Phase gleichberechtigten kulturellen Wettstreits, von einer zunehmenden Politisierung begleitet. Damit wird nicht nur das Vorhandensein eines tschechischen Kommunikationsnetzes signalisiert (HROCH 1999: 212), sondern man kann von einer Zeit intensiver nationaler Agitation sprechen, in deren Verlauf die kulturellpolitische Mobilisierung und Identifikation breite Kreise der tschechischen Gesellschaft erfasst, eine Entwicklung, in deren Folge u.a. der Aufschwung der Matice česká, die 1832 ihre Tätigkeit aufnahm, und die partielle Tschechisierung des Nationalmuseums (1832 markiert das Ende der deutschsprachigen Museumszeitschrift), wie auch der Königlich böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften stehen. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des ČASOPIS ČESKÉHO MUSEUM betont Palacký in einem Rückblick die besondere Rolle der Zeitschrift, und zwar im Hinblick auf die Herausbildung einer publizistischliterarischen Öffentlichkeit: Co sme chtěli? Připomeňme sobě staw náš před desjti a wjce lety. Gazyk český w národu našem zanedbaný, opowržený, z weřegného žiwota, z obcowánj oswěcenců, ze škol a kanceláří wylaučený, celá wzdělanost naše, celý oběh myšlének, každá wýměna žiwota duchownjho, ba i wšecka spráwa občanská, konaná i zpostředkowaná gazykem giným [...]. (PALACKÝ 1837: 3f.) Was haben wir gewollt? Erinnern wir zurück an unseren Zustand vor zehn und noch mehr Jahren. Wir sehen die tschechische Sprache bei unserem Volke vernachlässigt, missachtet, aus dem öffentlichen Leben, aus dem Verkehr der Gebildeten, aus den Schulen und Kanzleien verwiesen, unsere ganze Bildung, unser ganzer Gedankenkreis, jeder Austausch geistigen Lebens, ja auch die gesamte Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten durch eine fremde Sprache bewirkt und vermittelt. 3 Ausgehend von einem tiefen Verfallspunkt setzt nach Palacký ein erfolgreicher Prozess der Emanzipation ein. Aus der Perspektive des Jahres 1837 habe sich die tschechische Sprache modernisiert und erweitert, die Rezipientengruppe ist gewachsen, auch wenn man noch immer am Anfang stehe. Auf der Basis dieser erfolgreichen Entwicklung skizziert Palacký die künftigen Aktivitäten und Ziele: Die Sprache sei beinahe auf der gleichen Stufe mit anderen gebildeten Völkern, woraus sich neue Aufgaben und Pflichten ergäben, mit den ande- 3 Soweit nicht anders vermerkt stammen die Übersetzungen vom Verfasser. Die Wirkung dieses Grundsatzartikels lässt sich auch daran ermessen, dass THUN (1842: 15 24) Passagen davon in seiner Literaturschrift zitiert. 63

32 64 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST ren Völkern um die Wette nach der Palme wirklicher Aufklärung in wissenschaftlicher, ästhetischer und gewerblicher Beziehung zu streben. Über einen solchen idealistischen Bildungsauftrag müsse sich nach Palacký dann auch die Resonanz des Publikums einstellen und damit ein Prozess, der durch das Forschrittsparadigma gesellschaftlich-kultureller Entwicklung codiert sei: A gistě, že budeme-li takto hledati předewšjm řjše nebeské, tj. prawé oswěty, známostj a nauk samýeh, ostatnj wšecko, tj. láska u obecenstwo, i wyššj a stálý prospěch gazyka i národu, přidáno nám bude. Tentoť gest tedy nowý, welebný aukol náš. (PALACKÝ 1837: 8) Und gewiss, suchen wir vor allem das Himmelreich, das ist das Reich der wahren Aufklärung, der Erkenntnis und der Wissenschaft selbst, so wird uns alles Übrige, nämlich der Liebe des Publikums und ein höheres und beständiges Fortschreiten der Sprache und des Volkes zugegeben werden. Das ist unser neues, erhabenes Ziel. Auch Palacký geht es um Öffentlichkeit, ein Programm, das in den 1830er Jahren in den literarisch-publizistischen Zirkeln vermehrt diskutiert und postuliert wird. Angesichts der gesellschaftlichen wie ökonomischen Krise unter Metternich erhält Öffentlichkeit gar den Status einer zentralen Reformidee, mit der die Stagnation des Systems zu überwinden wäre: Sie allein [die Öffentlichkeit, S.H.] ist das echte perpetuum mobile der Völker, das sie in jener Frische und Bewegung erhaltende Geheimnis der Staatskunst, welches, dem Regulator bei Dampfmaschinen ähnlich, die überstrotzenden Kräfte entweichen läßt, dagegen aber das gehörige Maß der nützlichen zu einer segenbringenden Arbeitsweise verwendet. (MOERING 1848: 419) 4 Hinter diesen Konzepten von Öffentlichkeit lassen sich sowohl Traditionen der Aufklärung als auch der Französischen Revolution beobachten, gerade nach 1789 führte die Dynamik der neuen Öffentlichkeit zu einer Politisierung der Mittel- und Unterschichten, wobei es für die Neugestaltung der Öffentlichkeit in Mitteleuropa zwei Vorbilder gab: das radikale Frankreich und das liberale Großbritannien (HOHENDAHL 2000: 44). Öffentlichkeit erhält dabei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Konnotationen, mal im Sinne eines Bollwerks gegen staatliche Willkür (liberale Position), mal als eine die staatliche Ordnung bedrohende Macht (konservative Polemik). Eine neue Dimension erhält der Terminus bei Welcker (Staats-Lexicon), der Öffentlichkeit uneingeschränkt zur Bedingung gesellschaftlicher Freiheit erklärt, also eine politische Auslegung, die auch Moering vornimmt und die dann für die folgende Zeit dominant bleiben sollte. Welcker bindet die öffentliche Mei- 4 GROß-HOFFINGER (1845: ) nennt als Gründe für die österreichische Unterentwicklung den Mangel an persönlicher Freiheit, den Mangel an Intelligenz sowie den Mangel an Gewerbefreiheit. In der Beschreibung der demographischen Entwicklung in Böhmen vermeidet er allerdings jegliche ethnische Kategorisierung, da diese anscheinend für die politische Entwicklung irrelevant ist (GROSS-HOFFINGER 1845: ). Steffen Höhne nung an Prinzipien des Naturrechts, um so revolutionäre Volkswillkür auszuschalten. (HOHENDAHL 2000: 47) 5 Insgesamt kann man von der Genese eines öffentlichen Diskurses in Habsburg erst 1848 sprechen, als mit dem Fall der Zensur zentrale Voraussetzungen einer freien Publizistik wie Publizität (öffentliche und allgemeine Zugänglichkeit), Aktualität, Kontinuität (regelmäßiges periodisches Erscheinen) und Universalität (thematische Vielfalt) gewährleistet sind. Die neue publizistische Freiheit entwickelt sich seit den späten 1830er Jahren in Korrelation zu einem paradigmatischen Wandel von einer stärker nachrichtenbetonten Presse zur Meinungspresse. Die gravierende quantitative Zunahme an Kommentaren und Berichten, die sich der Diskussion nationaler Fragen widmen, ist ein deutliches Zeichen für die Verschiebung von Wahrnehmungs- und Akzeptanzgrenzen. 2. Öffentlichkeit und Zensur Zu berücksichtigen ist natürlich, dass die Ausbildung einer publizistischen Öffentlichkeit im frühen 19. Jahrhundert von den rigiden Zensurmaßnahmen in der Metternich-Ära behindert wurde, man denke nur an die Karlsbader Beschlüsse 6 im August 1819, eine Reaktion auf die politischen Manifestationen auf dem Wartburgfest und den politisch motivierten Mord an Kotzebue durch den Studenten Karl Sand. Mit den Karlsbader Beschlüssen setzte der österreichische Staatskanzler seine repressive Bundespolitik durch, so dass sich von einem öffentlichen Diskurs nur unter Einschränkung sprechen lässt. Die am verabschiedeten vier Bundesgesetze umfassten ein Universitätsgesetz, ein Pressegesetz, ein Untersuchungsgesetz zur Aufklärung revolutionärer Umtriebe und eine Exekutivordnung zur Durchsetzung der Bundesgesetze in den Einzelstaaten. Ein erster Präzedenzfall wurde mit dem Verbot des TEUT- SCHEN BEOBACHTERS 1823 geschaffen, das zunächst wie ein Schock auf die Presse und liberale Öffentlichkeit wirkte. Nach der Juli-Revolution 1830 wurde das Bundespressegesetz weiter verschärft. Das Hambacher Fest 1832 bot den Anlass zu einem Maßregelgesetz zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland ( ). Weitere Höhepunkte bilden die so genannte Wiener Schlussakte vom , mit der das Ziel einer re- 5 In Hegels Philosophie wird dagegen eine ambivalente Haltung konstatiert: Auf der einen Seite unterstützt sie eine konservative Kritik der öffentlichen Meinung im Rahmen einer korporativen Verfassung, auf der anderen Seite führt sie zu einer radikalen Analyse des Zusammenhangs von Öffentlichkeit und Eigentumsrechten in der bürgerlichen Gesellschaft. Ihr Ergebnis bei Karl Marx ist die Entlarvung der bürgerlichen Öffentlichkeit als einer I- deologie. (HOHENDAHL 2000: 49f.) 6 SIEMANN (1988: 295) streicht die Bedeutung des Gesetzes von 1819 heraus: Alle Betrachtungen zur Zensurgesetzgebung im sogenannten Metternichschen System müssen bei dem Bundespreßgesetz von 1819 ansetzen. Es bedeutete einen kaum zu überschätzenden Einschnitt in der neuzeitlichen deutschen Buchhandels-, Presse- und Zensurgeschichte. Zur Zensur in diesem Zeitraum siehe ferner ZIEGLER (1982, 1983) 65

33 66 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST aktionären Pressegesetzgebung erreicht war, und der Bundestagsbeschluss zum Verbot des Jungen Deutschland vom Dennoch lässt sich ungeachtet des Metternichschen Zensursystems schon im frühen 19. Jahrhundert eine kommunikative Verdichtung beobachten, die vor allem der sich neu herausbildenden Publizistik geschuldet ist, auf deren Bedeutung auch OST UND WEST verweisen: In unserer Zeit machen Journalisten einen Haupt- und zwar den hervorragenden Theil einer jeden Literatur aus. [...] So wie die Handelswaare auf Dampfschiffen und Wagen über Eisenbahnen und Kanäle im Nu von einem Platze zum andern befördert wird: eben so durchwandert mit Hülfe der Journale die geistige Waare, der Gedanke, im Fluge alle Länder bis an die entferntesten Grenzen der gebildeten Welt. Aus Journalen lernt man den Zustand menschlicher Bildung, den Grad der Aufklärung und den Geist der Zeit kennen, [...]. (OST UND WEST : 212) 8 Und muss auch das Fazit gezogen werden, dass die tschechischen Periodika zwar manches Gute bringen, aber nicht in dem Maße, als es die Bedürfnisse der Zeit verlangen (OST UND WEST : 220), so wiederspricht diese Erkenntnis nicht der generellen Bedeutung, die der Publizistik im Hinblick auf die Herausbildung einer nationalen Kultur und Sprache zugesprochen wird. Im Gegenteil, wenige Jahre später kann die Macht der Presse von Ludwig Ritter von Rittersberg selbstbewusst betont werden: Jetzt ist die Presse in voller Thätigkeit, Nationen horchen auf ihre Stimme, und hunderte von Meilen können keine geistige Isolirung mehr bewirken. Die slawischen Sprachen, an Ausbildung und Reinheit keiner europäischen mehr nachstehend, haben den Gipfel der Geisteshöhe nach dem heutigen Weltzustande erreicht, und sind nach den Bedürfnissen der größten Volksstämme als Schriftsprachen centralisirt. In der Erkenntnis nationeller Zustände, im gründlichen und eifrigen Studium derselben und ihrer Anwendung auf das höhere und geistige Leben darf sich in diesem Augenblick kein anderes Volk mit uns messen! Die Theorie der Kunst steht eben so hoch als die blühendsten Wissenschaften. (RITTERSBERG : 349) 7 Diesem Bundestagsbeschluss ging 1834 eine publizistische Kampagne gegen oppositionelle Autoren voraus, die sich auf Gutzkows Wally, die Zweiflerin konzentrierte. Obwohl das E- dikt juristisch problematisch, faktisch kaum angewendet wurde und 1842 offiziell aufgehoben war, wirkte es doch abschreckend und demotivierend. Außer Heinrich Heine, der aber schon in Paris lebte, arrangierten sich die im Beschluss genannten (Gutzkow, Wienbarg, Mundt und Laube) mit der Obrigkeit. 8 Es handelt sich dabei um den Abdruck eines Artikels aus dem ersten Heft des MUSEJNÍK von 1838, in dem folgende Periodika vorgestellt werden: 1. MUSEJNÍK, 2. ČASOPIS PRO KATOLICKÉ DUCHOWENSTWO [Zts. für katholische Geistlichkeit] unter der Redaktion von Pešina, 3. PRAŽSKÉ NOVINY [Prager Zeitung], 4. ČESKÁ VČELA unter der Redaktion von Štěpánek, 5. KVĚTY unter der Redaktion von Pospíšil, 6. HRONKA unter der Redaktion von Kuzmany, 7. ČASOPIS TECHNOLOGICKÝ [Technologie-Zeitschrift] unter der Redaktion von Jan Svatopluk Presl, 8. PONAUČNÉ A ZÁBAWNÉ LISTY PRO POLNJ HOSPODÁŘE A ŘEMESLNJ- KY V ČECHÁCH [Belehrende und unterhaltende Blätter für Landwirte und Handwerker in Böhmen], hrsg. von der ökonomischen Gesellschaft zu Prag, 9. KROK unter der Redaktion von Presl und 10. WĚNEC [Der Kranz] unter der Redaktion von Škroup. Steffen Höhne Seit den späten 1830er Jahren lässt sich eine weitergehende Erosion des mit dem Namen der Karlsbader Beschlüsse verknüpften Systems repressiver Restauration beobachten, was sich insbesondere in immer offeneren politischen Debatten und Diskussionen zunächst der Leipziger Zeitungen und Verlage belegt. Leipzig wurde zudem bevorzugter Exilort vieler österreichischer Intellektueller, durch die dann das Österreich-Thema in das Zentrum des politischen Diskurses gerückt wurde. Ein öffentlichkeitswirksamer Diskurs um Fragen der Nationalität ist die Folge, die gerade für die Habsburger Monarchie in der Vorphase der 1848er Revolution eine wichtige Bedeutung erhalten sollten. Für die tschechischen Intellektuellen bot sich zudem die Möglichkeit der Umgehung der Zensur, indem man problematische Texte in Wien einreichte, wo die Zensur, was tschechische Texte anbelangt, nicht so streng war bzw. Texte nachdruckte, die zuerst in Wien veröffentlicht waren (HROCH 1999: 252). Wirft man unter diesen Bedingungen den Blick nach Böhmen, so muss die besondere Rolle Prags als Zentrum der publizistischen Auseinandersetzungen 9 wie als Zentrum der übernationalen Vermittlung hervorgehoben werden. Dabei zeigen sich für die tschechische wie deutschböhmische Öffentlichkeit gravierende Unterschiede. Zwar ist auch die tschechische Presse von der Zensur betroffen, allerdings ging es für die Wiedererwecker ja überhaupt erst um den Aufbau einer literarisch-publizistischen Öffentlichkeit, wobei die tschechischen Intellektuellen sich im Einklang mit der österreichischen Regierung sahen; sie betonten zumindest wie Ludwig Ritter von Rittersberg immer wieder die Loyalität ihrer nationalkulturellen Bestrebungen. Hier muß ich besonders hervorheben, daß die vorurtheilsfreie Humanität der österreichischen Regierung abermals keinen Anstand genommen hatte, das Entstehen eines öffentlichen Instituts mit slawisch-nationalen Tendenzen zu billigen und zu unterstützen. Prüft man nun den Geist, welcher dadurch unverhüllt ans Licht getreten ist, liest man die Texte dieser meisterhaften čechischen Chöre, welche von Anfang bis zu Ende von Liebe und Verehrung für den Landesfürsten und sein erhabenes Haus, so wie für die theure Heimath wiederhallen, so muß jeder unparteiische Beurtheiler eingestehen, daß die Pflege der Gesangskunst auf keine wirksamere und erfolgreichere Art mit der Beförderung jener Gefühle verbunden werden könnte, welche für den Herrscherstamm erwünscht, für die Richtung des öffentlichen Geistes in der Nation aber heil- 9 Neben den für die tschechische Nationalbewegung wichtigen Institutionen (Nationalmuseum, Kgl. böhmische Gesellschaft der Wissenschaften) existierten in Prag vier Verlage, in denen auch tschechische Texte publiziert wurden: Verlag Bohumil und Ondřej Haase (seit 1798), in dem die PRAŽSKÉ NOVINY und die PRAGER ZEITUNG herausgegeben wurden; der Verlag Karl Medau, der die PRAŽSKÉ NOVINY und ČESKÁ VČELA (ab 1846) herausgab; der Verlag Martin Neuretter (geistliche Literatur und Jugendliteratur) und der Verlag Václav Spinka (patriotische Literatur). Neben Prag ist Hradec Kralové durch den Verleger Jaroslav Pospíšil ein weiteres Zentrum der tschechischen Publizistik. 67

34 68 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST bringend sein müssen. Oder könnte sich vielleicht wirklich irgend ein vernünftiger Mensch im Ernste einbilden, daß es möglich sei, durch deutsche Gesänge auf Čechen einen günstigeren und tieferen Eindruck hervorzubringen? Die wohlwollende Weisheit der Regierung auf einer Seite, und auf der andern die dankbare Anerkennung der Čechen sind so einleuchtend, daß man nicht ermangeln kann, die besten Folgen davon zu erwarten. (RITTERSBERG : 337) 10 Gleichermaßen lässt sich auf deutschsprachiger Seite in Böhmen zunächst nicht von einer direkt politischen Presse sprechen, auch wenn in der tschechischen wie deutschen Journalistik erste vorsichtige Andeutungen politischer Reflexion auftauchen. Der Diskrepanz zwischen liberalem Anspruch auf Öffentlichkeit und praktizierter staatlicher Repressionspolitik suchten die Autoren mit Pseudonymen und Anonymisierung (nebst fingierten Verlagsorten) zu entgehen, seit den späten 1830er Jahren bot sich aber für die deutschböhmischen Intellektuellen mit der Verlagsstadt Leipzig eine Alternative. Hierhin kamen u.a. Moritz Hartmann, Alfred Meißner, Adolf Wiesner, der Prager Jakob Kaufmann, der Brünner Rudolf Hirsch, der Budweiser Franz Schuselka. Leipzig wurde zu einem Zentrum der jungböhmischen Opposition, dort boten sich die Publikationsmöglichkeiten, die in der Heimat versagt blieben, so in Karl Herloßsohns KOMETEN 11, in Gustav Kühnes EUROPA 12 und in den GRENZBOTEN des Pragers Ignaz Kuranda, 13 dem Evangelium, so Landesmann in einem Brief an Hartmann im März Der publizistische deutschböhmische Vormärz spielte sich somit nur zu einem Teil in Böhmen ab Ähnlich auch Karel VINAŘICKÝ ( : 194): Eine weise Censur hemmt bei uns nicht den Fortschritt der Wissenschaft und wahren Aufklärung. Wir zweifeln aber auch, daß irgend einem böhmischen Literator je der Gedanke beifiel, etwas Irreligiöses, Unmoralisches und der bestehenden Ordnung Widerstrebendes zu schreiben. Unsere Literatur entwickelt sich unter der Aufsicht der Staatsbehörde, und hat den gerechten Anspruch, eine natur- und gesetzgemäße Erziehungs- und Bildungsanstalt einer Volksmasse von acht Millionen Seelen in Böhmen, Mähren, Schlesien und Oberungarn genannt und als solche gewürdigt zu werden. 11 Der Prager Karl Herloßsohn kam 1825 nach Leipzig, 1830 gründete er den KOMETEN, den er bis zu seinem Tode 1848 redigierte. Herloßsohn, Carl/Kaufmann, Jacob (Hgg.): DER KOMET. Ein Unterhaltungsblatt für die gebildete Lesewelt. Leipzig (ab 1843 mit dem Untertitel: Conversationsblatt für gebildete Stände; ab 1845 mit dem Untertitel: Unterhaltungsblatt für gebildete Stände). 12 Kühne, Gustav (Hg.): EUROPA. CHRONIK DER GEBILDETEN WELT. Leipzig ( in Stuttgart, ab 1841 in Karlsruhe und Baden hrsg. v. A. Lewald). 13 Kuranda, Ignaz (Hg.): GRENZBOTEN. Brüssel/Leipzig 1841; Leipzig (ab 1848 hrsg. v. Gustav Freytag und Julian Schmidt). 14 Dies gilt für die österreichische Literatur insgesamt, wie LENGAUER (1989: 43) nachweist: Das literarische Leben der dreißiger und vierziger Jahre in Österreich ist [...] bestimmt von der Entwicklung der literarischen Öffentlichkeit Deutschlands. Siehe ferner RIETRA (1980). Steffen Höhne In den 1830er und 40er Jahren verläuft die publizistische Auseinandersetzung um die nationale Problematik noch nicht als Programm, sondern eher als Versuch zur Stärkung und Verfestigung von nationaler Gruppensolidarität. Allerdings zeichnet sich schon in diesen Jahren eine gewisse Radikalisierung ab, die in einer engen Beziehung zu der allmählichen Erosion der Karlsbader Beschlüsse steht, konnte doch eine noch so strikte Pressegesetzgebung die Verbreitung von unliebsamen Schriften nicht gänzlich verhindern. Die von Metternich erstrebte Entpolitisierung ließ sich immer weniger aufrechterhalten. Hinzu kommen Veränderungen durch die Modernisierung des Herstellungsverfahrens, die neu entwickelte Schnellpresse beispielsweise ermöglichte größere Auflagen, der Ausbau des Verkehrsnetzes, vor allem der Eisenbahn, sorgte für eine schnellere Verbreitung von Periodika. Langfristig zeigten sich die Kontrollmechanismen der Zensur als nicht mehr ebenbürtig. Ein allgemeiner politischer Nationalisierungsschub wurde zwar insbesondere durch die Rheinkrise 1840 ausgelöst, erinnert sei an die patriotische Rheinliedlyrik von Becker (Der deutsche Rhein) und Schreckenberger (Die Wacht am Rhein), aber auch an das Dombaufest in Köln. 15 Doch schon zuvor kommt es durch die ungarische Magyarisierungspolitik zu einer Radikalisierung der ungarischen Slawen, eine Entwicklung, die auch in OST UND WEST aufmerksam verfolgt wird, wovon zahlreiche Artikel zeugen. Diese ungarnkritischen Artikel 16 stammen von dem langjährigen Korrespondenten, dem Graner Rechtsgelehrten Karl Rumy, der sich gegen die sprachliche wie soziale Marginalisierung und Verachtung des Slowakischen in Ungarn wendet und das Recht der Slowaken auf Entwicklung ihrer Sprache und Kultur verteidigt, die zudem nicht den Interessen der Ungarn zuwiderliefe, da sich wahrer Patriotismus durchaus mit Kosmopolitismus verbinden lasse. Rumy kritisiert insbesondere Versuche, die Volkssprache zu unterdrücken. Den Kroaten ihre Mundart zu 15 Damals war gerade, in ähnlicher Weise wie für Vollendung und Ausbau des Kölner Domes, eine energische Agitation im Gange, die die Mittel für das großartigste Hermannsdenkmal Bandels aufbringen sollte. Wie der Kölner Dom in seiner Vollendung als Denkmal deutscher Einheit, so wurde das Hermannsdenkmal als Erinnerungszeichen an die Befreiung vom Joche der Fremdherrschaft aufgefaßt. Es war ein Denkmal des Deutschtums im eminentesten Sinne des Wortes. (WITTNER 1906: 78) 16 Von Rumy stammen folgenden Beiträge: Aufrichtiges Geständnis eines magyarischen Gelehrten über den fremden Ursprung vieler magyarischer Wörter, und patriotischer Wunsch (OST UND WEST : 64); Unbefangenes Urtheil eines Magyaren über die Verachtung fremder Sprachen (OST UND WEST : 174); Beitrag zur Schilderung des Nationalcharakters der Magyaren (OST UND WEST : 216); Hartes und ungerechtes Urtheil eines Magyaren über die Slowaken in Ungarn (OST UND WEST : 358); Urtheil eines unbefangenen magyarischen Literators über die deutsche Sprache, Journalistik und Literatur in Ungarn (OST UND WEST : 422); Aus Ungarn (OST UND WEST : 11); Controlle des Ultra-Magyarismus (OST UND WEST : 27); Thót nem ember (OST UND WEST : 320). 69

35 70 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST verbieten wäre das gleiche, wenn man von Österreichern oder Bayern verlangte, die Schriftsprache Luthers anstelle ihrer Dialekte zu gebrauchen. 3. Publizistik im Dienst der kulturellen Vermittlung Dies ist der Kontext, in dem Rudolf Glaser, Schwager von Karl Egon Ebert, die Redaktion von OST UND WEST übernimmt. 17 Bei dem Periodikum, einer typischen Herausgeberzeitung, die konzeptionell eng mit Glaser verbunden ist, auch wenn dieser sich mit eigenen Beiträgen zunächst eher zurückhält, steht der Anspruch der kulturellen Wechselwirkung im Zentrum. Inhaltlich erfassen OST UND WEST literarische Texte, allgemeine kulturelle und kulturpolitische Mitteilungen, historische Darstellungen und Biographien, Reiseskizzen und Länderberichte sowie Übersetzungen vor allem aus den slawischen Sprachen. Einen Schwerpunkt bilden ferner Artikel über literarische Entwicklungen vor allem in Böhmen (s. HOFMANN 1957). Im Gegensatz zu den Periodika, die die eigene Kultur präsentieren und legitimieren wollen, geht es hier um die kulturelle Vermittlung. 18 Gegen eine zunehmende eigenkulturelle Abgrenzung und nationale Identifikation bei wechselseitiger Abgrenzung zwischen Tschechen und Deutschen steht das Programm von OST UND WEST, mit denen ein interkultureller Diskurs zwischen europäischem Osten und Westen, i.e. Tschechen und Deutschen initiiert werden soll. In der Ankündigung zum ersten Heft 1837 heißt es: Immer ähnlicher werden die Interessen der gebildeten Völker, immer mehr verschwindet ihre räumliche und geistige Entfernung, und Alles, was diesen Zweck befördert, wird mit großer Gunst aufgenommen. Möge dieser auch einer neuen literarischen Unternehmung zu Theil werden, welche nicht ausschließlich, aber doch vorzugsweise dazu bestimmt ist, eine literarische Vermittlung zwischen dem slawischen Osten und Deutschland zu stiften, und somit einen Beitrag zu der sich jetzt bildenden Weltliteratur zu geben. Welches Land könnte mehr dazu geeignet sein, als Böhmen mit seiner halb slawischen, 17 Sabina berichtet in seinen Erinnerungen über die Gründung: In Prag traf man indessen Vorbereitungen zur Herausgabe einer neuen deutschen Zeitschrift, deren vorzüglichste Richtung in der Verbreitung von Mitteilungen über die Slawen überhaupt und Böhmen insbesondere liegen sollte. Ein Herr J. Sambs, ein einfacher deutscher Postbeamter, hatte die Absicht, sein kleines erspartes Kapital, das sich auf einige hundert Gulden belief, in einem deutschen Zeitungsunternehmen anzulegen [...]. Durch glücklichen Zufall fand er zugleich in der Person des Herrn R. Glaser einen Redakteur [...]. In dieser Stellung folgte Glaser der Empfehlung, der Zeitschrift womöglich eine slawische Richtung zu geben. Den Titel Ost und West schlug der damalige Professor Exner vor [...]. (zit. in HOFMANN 1957: 33) 18 Das von Paul Aloys Klar herausgegebene Jahrbuch LIBUSSA setzt einen ähnlichen Anspruch wie OST UND WEST: Der Umstand, daß es bisher an einem gemeinsamen Vereinigungspunkte aller vaterländischen Talente fehlte, hat mich bewogen, einen solchen anzudeuten, wobei mich der innige Wunsch beseelt, daß mein Unternehmen ein dem theuern Vaterlande erfreuliches sein möge. Wie ein Vater, wenn er die blühende Reihe seiner Kinder überblickt, soll es seine begeisterten Dichter vereint vor sich sehen und von Jahr zu Jahr sich ihrer immer reicheren Entwicklung freuen. (LIBUSSA 1842: V) Steffen Höhne halb deutschen Bevölkerung, Böhmen, die Gränze des europäischen Ostens und Westens, ein Land, reich an Literatoren, die aller slawischen Dialecte kundig sind. [...] Doch nicht bloß östliche, sondern auch westliche Blüten, von deutschen Autoren als Gegengabe für die östliche dargeboten, wollen wir bringen, und da der Ernst der Zeit dies fordert, so werden sich durch die Gewinde der Poesie auch Früchte der Wissenschaft ziehen. (GLASER 1837) OST UND WEST stellen sich in einen argumentativen Kontext, der deutlich vorbzw. übernationale Züge trägt und der seit Woltmann bzw. Goethe und Varnhagen [1830] mit der Rezension zur Museumszeitschrift als ein allerdings zunehmend marginalisierter, bohemistischer Paralleldiskurs die öffentliche Diskussion bereichert (vgl. HÖHNE 2002). Zwar lassen sich auch beispielsweise bei Palacký Ansätze erkennen, die man im bohemistischen Sinne deuten könnte: Nastala zagisté giž ta doba we wšeobecném děginstwu, ze wšecky mjstnj hráze w duchownjm žiwotě gednotliwých národů wždy klesagj a mizegj, že swobodná, ustawičná i rychlá wýměna myšlének, idej a citů koná se mezi přednjmi národy europeyskými wšude, zakládagjc tjmto způsobem. Ač rozdílnými gazyky, wšak gen gednu literaturu wyššj, europeyskau, a někdy také celoswětskau. Který národ k wýměně této nic wlastnjho nepřinášj, ten ani w počtu wzdělaných národů se nepočjtá, i gest gakoby ho nebylo. Nám tedy gest se přičiniti, abychom i w tomto ohledu slušného mjsta národu swému mezi ostatnjmi dobyli a pogistili [...]. (PALACKÝ 1837: 7f.) Schon ist der Zeitpunkt in der Weltgeschichte eingetreten, da alle Scheidewände im geistigen Leben der einzelnen Völker immer mehr zusammensinken und verschwinden, da sich allenthalben ein freier fortwährender und schneller Austausch von Gedanken, Ideen und Gefühlen unter den vornehmsten Völkern Europas herstellt, und auf diese Weise, wenngleich in verschiedenen Sprachen, doch nur eine, höhere, europäische, ja einst eine Weltliteratur begründet. Ein Volk, welches zu diesem Austausch nichts beiträgt, das wird gar nicht zu den gebildeten Völkern gezählt, und es ist, als ob es nicht existierte. An uns ist es demnach, uns anzustrengen, um auch in dieser Beziehung unserem Volke unter den übrigen einen angemessenen Platz zu erobern und zu sichern. Allerdings geht Palacký von einer in nationaler Hinsicht distinkten Position aus, schließlich solle jedes Volk seinen originären Anteil zur allgemeinen Bildung beitragen und eben nicht, wie bei Goethe und Varnhagen, Teil einer ü- bergeordneten böhmischen Kultur bleiben. Inwiefern werden aber OST UND WEST ihrem idealistischen Anspruch gerecht? Neben Versuchen, vor allem kulturelle Erträge der slawischen Kulturen in Übersetzung zu präsentieren und dadurch dem deutschsprachigen Publikum bekannt zu machen, finden insbesondere Autoren aus Böhmen und Mähren in der Zeitschrift ein Podium Zum Inhalt von OST UND WEST vgl. Hofmann (1957). 71

36 72 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST Neben der rein literarischen Ebene findet man Texte, die unmittelbar auf das wachsende nationale Konfliktpotential in Böhmen reagieren und die in mehr oder weniger plakativer Weise an die bohemistische Tradition anknüpfen, wie sie Glaser im Vorwort von 1837 formuliert hatte. Zumeist handelt es sich dabei um gebrauchslyrische Texte, die in diskurssemantischer Sicht aufgrund ihres Wirkungsdefizits folgenlos blieben. Als Beispiel mögen hier einige Strophen aus Johann Hilles Mein Vaterland ( : 391) dienen, ein lyrisches Produkt, welches mit der Metaphorisierung des Landes einsetzt und damit die Geschlossenheit des böhmischen Kessels assoziiert, aus dem sich geographischklimatisch das Spezifische des Landes und seiner Bewohner ableiten lässt: O schönes Land, umwacht von Bergtitanen, Auf deren Stirn die flücht ge Wolke ruht, Entrückt des Nordens eisigen Orkanen, Entrückt des Südens sengend heißer Glut! Die fünfte Strophe greift mit Hilfe der Metapher der slawischen Linde und deutschen Eiche die ethnische Divergenz im Lande auf, die im Sinne einer bohemistischen Lösung in landespatriotischer Tradition nivelliert wird: Zwei Bäume wurzeln tief in deinem Herzen, Sie breiten weithin ihre Arme aus, Ein Zwillingspaar, gezogen unter Schmerzen, Emporgerungen schwer aus blut gem Strauß. Die siebte Strophe verstärkt die Warnung vor den desintegrativen Tendenzen, appellativ rückt das Brudermordmotiv ins Zentrum: Wer könnt der Wurzeln Riesenknoten lösen, Die das Geschick auf höh rem Wink geschürzt? Ist s nicht der Frevel größter je gewesen, Daß Kain den Abel mörderisch gestürzt? Die letzte Strophe verstärkt die landespatriotisch begründete, emotionale Bindung an das gemeinsame Vaterland: O schönes Land, wo solche Bäume blühen! O schönes Land, wo solcher Epheu sprießt! Für dieses Land, o Brüder! laßt uns glühen, Fürs Böhmerland, das ew ger Friede küßt! Der Topos der Böhmischen Brücke soll zum programmatischen Leitmotiv von OST UND WEST wie überhaupt derjenigen Intellektuellen und Künstler avancieren, die übernationale Positionen zu behaupten versuchen (vgl. MAIDL 2002). Allerdings weisen gerade tschechische Intellektuelle in OST UND WEST in eine völlig andere Richtung. Allein schon die ausführliche Würdigung der Königinhofer Handschrift, eine enthusiastische Eloge auf die Handschrift und ihren Finder, der von der Vorsehung und einem holden Genius geleitet wurde Steffen Höhne und dessen Freude wuchs, als er sah, daß er [der Text] böhmisch sei, [...] (KALINA : 219) weist eher auf den nationalen Diskurs als einen supranationalen. Karel Vinařický verwendet den Brücken-Topos in der Semantik einer Integration von West- und Südslawen im Rahmen einer tschechoslowakischen bzw. austroslawischen Solidarität, nicht im Sinne eines übernationalen bohemistischen Ausgleichs. Böhmen sei ein gar nicht großes Land, merkwürdig aber durch seine Geschichte wie durch seine natürliche Beschaffenheit, viel versprechend für die Zukunft, durch eine allmälige, ruhige, naturgemäße Entwickelung seiner sich verjüngenden geistigen und industriellen Kräfte. Auf diese fängt die böhmische Literatur an, einen nicht unbedeutenden und thätigen Einfluß zu äußern. Sie ist das natürliche Bildungsmittel eines Volkes, das drei Viertheile von Böhmen und Mähren, den größten Theil von Ober-Ungarn, in beträchtlicher Zahl selbst die Hauptstadt des Kaiserthums (an ), nun auch einige Orte in Ober-Oesterreich, die an den Budweiser Kreis gränzen, dann Parzellen in Oesterreichisch- und Preußisch-Schlesien bewohnt, demnach einer Volksmasse von fast acht Millionen Seelen neben noch andern acht Millionen stamm- und sprachenverwandten Slawen in Galizien, im südlichen Ungarn, in Slavonien, Kroatien, Steiermark, Kärnthen, Krain und Dalmatien. (VINAŘICKÝ : 110) 20 Die postulierte Brückenfunktion wird geradezu auf eine neue sprachnationale Basis übertragen. Im Kontext einer solchen Konzeption kommt der Literatur eine zentrale integrative Dimension in eigenkultureller Hinsicht zu, der Karel Sabina eine zentrale Rolle im Hinblick auf die Ausbildung nationaler Eigentümlichkeit zuordnet: Die schöne Literatur ist gegenwärtig der Prüfstein, nach welchem das literarische Leben eines Volkes beurtheilt wird, und zwar nicht mit Unrecht, da nur dort, wo bei reicher Productivität auch Eigenthümlichkeit hervortritt, von einer Nationalliteratur die Rede sein kann, diese Eigenthümlichkeit aber im Gebiete der Belletristik am unzweideutigsten sich herausfinden läßt. [ ] Am Anfang dieses Jahrhunderts trat die schöne Literatur der Böhmen in zeitgemäßer Form wieder öffentlich auf, und nahm an Publicität immer zu, bis auf die jüngsten Tage [...]. (SABINA : 10) Der zerschmetterte Čechismus wird gar mit Leben erweckt, und, kaum ausgeforscht unter seinen Händen, begann das scheintodte Gerippe sich plötzlich zu regen; es hob sein ergrautes Haupt rüstig empor, und stand aufgerichtet da [...]. (KOPECKÝ : 189) hebt F. Humhal in einem Rückblick ganz im Sinne des Kollárschen Wechselseitigkeitskonzepts die literarische Entwicklung der slawischen Völker hervor, wenn er das erfreuliche Literatur- Leben und Weben der Čecho-Slawen [betont]. Nicht nur in der Čechen- 20 Der Artikel des Dorfpfarrers Karel Vinařický erschien bereits 1841 auf Französisch im ALMANACH DE CARLSBAD (HOFMANN 1957: 132). 73

37 74 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST Hauptstadt Prag wird das Literaturfeld bearbeitet; auch slawische Brüder in Mähren, Nord-Ungarn (Slowakei) und Schlesien tragen ihr Schärflein bei uns und sie umfaßt nur ein geistiges Band die Sprache, dieses so theure von unsern Vorfahren uns hinterlassene Kleinod. (HUMHAL : 40) Dennoch wird die kulturelle Entwicklung in Böhmen nicht nur positiv gesehen. Karel Sabina beklagt die Desiderata im böhmischen Buchhandel: Die Schriftsteller würden schreiben, das Publikum kaufen; aber die böhmischen Buchhändler, mit geringer Ausnahme, haben zu wenig Industrie und Sinn für Unterhaltungen, die zu ihrem Vortheile und des Vaterlandes Ehre gereichen würden, und daher stammen die langsamen Fortschritte der čechischen Literatur. (SABINA 1844: 411f.) Gerade Karel Sabina darf als einer der wichtigsten Mitarbeiter von Rudolf Glaser gelten, immer wieder finden sich von ihm neben literarischen Werken vor allem Essays, in denen er sich programmatisch mit der literarischen und literaturpolitischen Situation in Böhmen auseinandersetzt befasst sich Sabina mit den schwierigen Anfängen der tschechischen Literatur: Man täuschte sich in keiner Hinsicht, wenn man vor Jahren in der neuerdings erstandenen Literatur der Čechen die Vorspiele einer umfassenden Thätigkeit und die Keime bedeutender Kräfte erkannte. [...] Die Literatur mußte und muß sich noch häufig den Anforderungen eines dem innersten Wesen der Wissenschaft entfremdeten Philisterthums beugen, muß an dem Starrsinn der Einen und der Stumpfheit der Andern ihre Kräfte versuchen. (SABINA : 154) Sabina weist gerade auf den Zwang, die neue Literatur in den ländlichen Regionen zu entwickeln, betont aber auch das spezifisch autochthone, von deutschen Einflüssen Unabhängige, widerlegt damit den im deutschen Vormärz gängigen Kulturtopos, nach dem die tschechische Kultur lediglich ein Derivat der deutschen sei: Die Resultate, die sich aus dem Ganzen ziehen lassen, dürften auch für Böhmens Kulturgeschichte von Bedeutung sein, und bei dem gegenwärtig so häufig vorkommenden Gerede über die Kultivirung des Čechenlandes stellen wir die einfache Frage: Wer anders hat für die Čechen in kulturhistorischer Beziehung gesorgt, als sie selbst? Durch wessen Bemühung drang das Licht der Wissenschaft in das Böhmenland? Gewiß durch keine fremde. Die čechische Kultur war ein nationales Urgewächs, das durch fremde Luft sich wohl einzelne Farbentöne aneignen konnte, das aber aus eigenem Boden Nahrung und Kraft sog und üppig emporwuchs. (SABINA : 223) Doch auch literarisch bedeutsamere Autoren finden einen Platz in OST UND WEST, so beispielsweise in Form einer frühen Übersetzung von Němcovás Skizzen aus der Umgebung von Taus, ein Text, der als Ergänzung zu dem Werk von Josef Rank empfohlen wird, da dieser die deutschen Bewohner beschreibt, Němcová dagegen die Böhmen: Ueber die Berge des Böhmerwaldes kamen wir eine Strecke jenseits der Grenze. Welche ein Unterschied! Dort begrüßten Euch nur die böhmischen Kinder: Gelobt sei Jesus Christus! Ein Stückchen Weges weiter gafft Euch ein deutsches Gesicht an und grüßt nicht, wenn Steffen Höhne selbst der König von Baiern vorüber führe. Da sind die Felder anders bearbeitet, andere Hütten, ja Alles ist anders. (NĚMCOVÁ : 50) Übernationale Gemeinsamkeiten eröffnen dagegen die Apologien Karel Hynek Máchas, dessen Werk im Vormärz einem Wirkungsdefizit unterlag, da sich sein Werk offenkundig nicht in ein final angelegtes Konzept von Nationalliteratur integrieren ließ (vgl. LANGER 1994, 1999, 2000). Bereits im September 1839 drucken OST UND WEST Gedichte Máchas in der Übersetzung von Sabina, am folgt Friedrich Bachs Gedicht Am Grabe Karl Macha s, 1842 hebt Vinařický Máchas Aufsehen erregenden Máj hervor, 1846 findet Burg Pürglitz Aufnahme. Die deutlichste Aufwertung stammt aber unzweifelhaft von Karel Sabina, der in der Beilage zu OST UND WEST Nr. 12 die ideologische Rezeption Máchas verwirft und den poetischen Individualismus verteidigt: [...] man warf ihm Skepticismus vor [...]; man zergliederte das Gedicht und suchte das Skelett irgend eines moralischen oder überhaupt eines Verstandes-Satzes als Grundidee herauszufinden [...]. (SABINA 1840: im Original ohne Seitenangabe) 21 Allerdings darf die Tragweite solcher dem Weltliteraturkonzept verpflichteten Positionen nicht überschätzt werden, die tagespolitischen Konflikte überlagern auch in OST UND WEST die Gemeinsamkeit der Gebildeten, die in bestenfalls illusionärer Weise auf die fundamentalen Umbrüche der Zeit reagieren. Ein pathetischer Aufruf zur Verbrüderung mit dem Fazit, ein gemeinsames Vaterland zu errichten, erscheint aus dem Rückblick vielleicht weltfremd, weist aber wenigstens auf alternative Handlungsoptionen: Nicht mehr als Fremdling im eigenen Vaterlande wird der deutsch redende Böhme angesehen, brüderlich reicht ihm der Čeche die Rechte; beide fühlen, daß sie nur eines Landes Kinder, daß sie durch Bande des Blutes längst verschwistert sind. [...] mit Schmerz blickt, wer nur des deutschen Wortes mächtig ist, auf die verlorene Zeit und schreitet rüstig zur Erlernung der zweiten Muttersprache. (EDLEBACH ) Gerade in literarischen Essays wie in denen von Sabina dokumentiert sich auch in OST UND WEST jener grundlegende Wandel der Presse seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, der sich als eine Zunahme von Räsonnement und Reflexion beschreiben lässt. Kontroversen um gesellschaftliche Zustände werden in 21 Wenn die Weltanschauung, die dieser Dichter von Beruf in seinem Werk entwickelte, mit jener der gewöhnlichen Menge nicht übereinstimmt, so ist seine Poesie dabei keineswegs beeinträchtigt, ja sie gewinnt an Eigenthümlichkeit. Das Wesen der Poesie liegt in dem dichtenden Individuum. (SABINA 1840: Nr. 12) Mácha wird in diesem Kontext von der Tagesschriftstellerei, dem Terrain der vaterländischen Journalistik, abgegrenzt: Ein poetischer Gedanke, und eine glückliche Bearbeitung desselben macht noch keinen Dichter von Beruf, auch da nicht, wo mannigfache Bildung und leichte Handhabung der Sprache den Mangel einer poetisch durchgebildeten Persönlichkeit verdecken, wie es bei mehreren der neuböhmischen Literaten der Fall sein mag. [...] Die Idee einer hohen Vaterlandsliebe scheint die vielen aufkeimenden Talente Böhmens zu durchglühen, und üppige Blüten versprechen reichliche Früchte. (SABINA 1840: Nr. 12) 75

38 76 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST den Medien ausgetragen. Betrachtet man Argumente als Schlüssel für die Analyse heterogener Haltungen, dann erscheinen die Beiträge tschechischer Intellektueller in OST UND WEST von dem Bemühen um Abgrenzung von einer dominanten deutschen Referenzkultur geleitet zu sein. Tschechische Literatur (und natürlich auch deutsche) ist nicht nur geographisch konnotiert, schließlich kann aus einer schlichten Ordnungskategorie nur dann eine Sinnkategorie werden, wenn durch Attribuierung eine pragmatische Erweiterung erfolgt: tschechische Literatur beispielsweise als Ausdruck von Mentalität im Sinne des Herderschen Volksgeistes, als aktives Element einer symbolisch vorgestellten Nationalliteratur bzw. deren Überlieferung. Auf diese Weise erfolgt dann auch die Integration im Sinne kognitiver Übereinstimmung nach innen. Man geht somit nicht fehl, wenn man konstatiert, das OST UND WEST von wichtigen tschechischen Mitarbeitern erfolgreich als Podium im Interesse der tschechischen nationalen Wiedergeburt eingesetzt wurde. 4. Die Politisierung von Ost und West Die zunehmende Nationalisierung in Habsburg hängt wie erwähnt zu großen Teilen von einer verstärkten ungarischen Magyarisierungspolitik seit den späten 1830er Jahren ab, führte diese Politik doch zu einer Radikalisierung der in Ungarn lebenden Slawen, deren intellektuelles Zentrum sich mehr und mehr nach Prag verlagert. Slowaken wie Ján Kollár und Pavel Jozef Šafárik [wirklich?]stehen an der Spitze der tschechisch-slawischen Emanzipationsbewegung. Die verstärkten Magyarisierungsbestrebungen in den damals ungarischen Gebieten der Slowakei und Kroatiens, die sich in einer rigiden ungarischen Sprachpolitik dokumentieren, u.a. war die Magyarisierung des Schulunterrichts und der Gottesdienste beabsichtigt, bleiben nicht ohne Rückwirkung auf Böhmen. Selbst OST UND WEST, ein Periodikum, das sich als kulturhistorische und -politische Zeitschrift tagespolitischer Kontroversen enthalten wollte, verstrickt sich ab Mitte der 1840er Jahre zunehmend in nationalpolitische Auseinandersetzungen. Am kommt es zu einem kommentarlosen Abdruck eines Artikels aus den Hamburger ORIGINALIEN zum Nationalstolz: Der Nationalstolz setzt eine gewisse Beschränktheit voraus. Nur Beschränktheit kann einen Grund zum Ueberheben über andere darin finden, daß diese Andern einem fremden Volksstamm angehören; Nationalstolz tritt am schärfsten bei denen hervor die am wenigsten von andern Völkern wissen und außer ihrer Muttersprache keine verstehn. Der Deutsche ist beinahe ganz frei von Nationalstolz, und doch gibt es kaum einen achtungswertheren Nationalcharakter als den deutschen. Der Deutsche ist für den Stolz zu kopfhell und in zu lebhaftem Verkehr mit fremden Völkern; er lernt das Verdienstliche derselben kennen und schätzen. Der Handel macht den Deutschen vertraut mit ihren Vorzügen in materieller Hinsicht und seine Sprachkenntnis schließt ihm ihre geistigen Schätze, welche die Literatur zu Tage fördert, auf. Je mehr sich Völker isoliren, desto fester wurzelt Nationalstolz. Isoliren begünstigt die Unwissenheit. [...] Sei stolz darauf, mein deutsches Volk, daß du nicht stolz bist! Laß Steffen Höhne deine Gesinnung immerhin verketzern, lasse dir Mangel an Patriotismus nachrufen! [...] Verlache fremden Nationalstolz und diene ihm nicht [...] Geißle den Nationalstolz mit Satyre, stelle das Hohle desselben an das Licht und bleibe frei davon aber wahre dein Nationalgefühl. (OST UND WEST : 356) Der Hamburger Text passt ungeachtet einer explizit formulierten Selbstüberhebung der Deutschen über andere Völker durchaus zum Duktus und zum Konzept von OST UND WEST, das es ja schon 1837 von Willibald Alexis programmatisch formuliert wurde, 22 steht aber konträr zur aktuellen tschechischen Diskussion. Karel Havlíček Borovský fühlte sich von diesem Artikel sogar persönlich angegriffen, was seine Replik in der von ihm herausgegebenen ČESKÁ VČELA belegt: wir selber sind stolz auf unser Volkstum, auf unseren Namen Tscheche, deshalb aber verachten wir nicht andere Völker, außer jenen, welche in ihr Volkstum selbst keinen Stolz setzen. [...] Seine Stunde (Ost und West) hat geschlagen, der Boden schwindet unter ihm, und unsere Sonne geht auf. (ČESKÁ VČELA 1846: 244) Hier zeigt sich bereits die semantische Wirkung national codierter Ethnonyme, verbirgt sich doch in ihnen ein repräsentatives Ensemble von Wert- und Identifikationsbegriffen, die zwar inhaltlich unbestimmt sind, aber quantitativ präsent im Diskurs und eben sozialgeschichtlich von höchster Relevanz. Die Diskussion um die Bedeutung der Ethnonyme nimmt auch in OST UND WEST zunehmend Raum ein. Etymologische Gedankenspiele sind bekanntlich nicht untypisch für Phasen nationalsprachlicher Aufwertung, 23 an deren Ende die Identifikation eines Sprachcharakters mit einem Volks- oder Nationalcharakter steht. Entscheidend ist hier aber die Verwendungsgeschichte, geht es doch um einen Individuierungsanspruch, mit dem die Herkunft privilegiert werden soll. Mit Hilfe der einfachen ethnischen Kategorie (Tscheche, Deutscher) wird zudem das Trennende betont, zumal sich aus der Ethnisierung konkrete naturrechtliche Forderungen ableiten lassen. 24 In OST UND WEST wird dagegen ein 22 Alexis äußert sich in einer Epistel an den Redakteur zunächst skeptisch über die Gründung einer neuen Zeitschrift, da der Markt gesättigt zu sein scheint und ein extremer Partikularismus beobachtet wird, der es Periodika mit übergreifendem Ziel besonders schwer mache. Dennoch wird er aufmerksam, da vorzugsweise das Vaterland Böhmen und der Aspekt der Vermittlung ins Auge gefasst werde: Die Zeit des Nationalhasses scheint allüberall ihrem Erlöschen nahe. Es verträgt sich mit der Nationalwürde, auch an große Momente eigener Schmach mit Ruhe zu denken, und die geschlagenen Wunden der Vorzeit schmerzen nicht mehr. (ALEXIS 1837: 2f.) 23 Die etymologische Argumentation folgt Tacitus, der Böhmen von Bojer, also vom Territorium ableitet. Und daraus folge: Der Volksnamen Böhmen kann daher wohl nicht als eine Verdeutschung von Čechy angenommen werden, weil man sonst annehmen müßte, daß die Uebersetzung einige Jahrhunderte älter sei als das Original. (OST UND WEST : 63) 24 Dem Unifizierungsideal erliegt noch Alois Hofmann (1957: 74), wenn er der übersteigerten Polemik Havlíčeks gerade für den Fall eine Berechtigung einräumt, in dem diese auf die national amphibischen Elemente unter den böhmischen Spießbürgern gemünzt sei! 77

39 78 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST alternativer Integrationsbegriff zur Gruppenbildung präferiert. Mit der Festlegung des Terminus Böhmen auf die Gemeinschaft der Einwohner des Landes stellt man sich in die territorial-landespatriotische Tradition: Alles was in Böhmen lebt ist Böhme. (OST UND WEST : 63) In diesem Kontext liege auch die Motivierung für die Benennung Deutschböhme : Böhme, weil in Böhmen lebend, aber deutsch redender Böhme. 25 Es liegt somit, wenn auch nicht in einer ausgesprochenen Absicht der Individuen, so doch im Geiste der deutschen Sprache die schöne Tendenz Spaltungen zu vermeiden. (OST UND WEST : 63) Die Benennung Čechen wird dagegen aufgrund ihrer ethnisch-exklusiven Semantik verworfen: Als man jedoch zuletzt aus der Gesammteinwohnerschaft [sic] von Böhmen, also den Böhmen in genere, den deutschen Bestandtheil ausschied und ihn nach seiner Stammesherkunft, mit einer Betonung, Deutsche nannte, erübrigte wohl nichts anderes, als auch den andern Theil mit dem ihm nach der Abkunft zukommenden Namen, nämlich Čechen zu nennen. (OST UND WEST : 63) Dennoch bleibt nicht nur das semantische Konfliktpotential offenkundig, weshalb der Artikel mit der illusionären Hoffnung schließt, es mögen doch sowohl Deutsche als Čechen wackere Böhmen sein. Damit dürfte der bohemistische Traditionskontext deutlich geworden sein, den Rudolf Glaser mit OST UND WEST vertritt. Aus einer übernationalen Perspektive wird jegliche nationale Überhebung verworfen, die kritischen Sicht von Nationalstolz beibehalten: Stolz ist bei Individuen wie bei Völkern lächerlich; die Verdienste unserer Vorfahren sind nicht unsere Verdienste, und haben wir selbst etwas Tüchtiges gethan, so ziemt uns ebenfalls Bescheidenheit, die wir auch bei allen Männern, welche wirklich Großes geleistet, finden, und das [sic]sich recht gut mit Selbstgefühl vereinigen läßt. (GLASER : 383) Nun wird von tschechischen Intellektuellen ein um das andere Mal gerade die Pflicht zur Verteidigung der Nationalsprache und -kultur hervorgehoben, und dazu gehört, nicht nur bei Havlíček der Stolz auf die Nationalität. Insofern verkennt Glaser die Bedeutung von nationalen Geltungsmustern, zumal seine idealistische Sicht, beispielsweise die Annahme eines symmetrisch verteilten Bilingualismus in Böhmen, den Kommunikationsrealitäten nicht entspricht: [...] in Böhmen leben ja die zwei Stämme im innigsten Verkehr mit einander, die Böhmen wissen recht viel von andern Völkern, [...] sprechen oder verstehen die zwei Landessprachen, ja die Böhmen zeichnen sich vor allen Völkern durch ihre linguistischen Kenntnisse aus und die Philologie ist vielleicht die stärkste Seite der böhmischen Literatur. (GLASER : 384) 25 Andererseits bot die Kategorie Böhmen die Möglichkeit, an das historische (böhmische) Staatsrecht (das Konzept der alten tschechischen Staatlichkeit) anzuknüpfen: Als Böhmen waren Češi unmittelbare Erben und Fortsetzer des einst mächtigen und einflußreichen Königreichs Böhmen und der historischen böhmischen ständisch-politischen Nation, während sie als Czechen für eine slawisch sprechende ethnische Gruppe in Böhmen (beziehungsweise in Österreich oder in Deutschland) gehalten werden konnten. (KOŘALKA 1993: 41) Steffen Höhne Ein Sakrileg begeht Glaser auch mit seiner kritischen Einstellung gegenüber dem Wiedergeburtsmythos. Aus Anlass eines Artikels in der PRAŽSKÉ NOVINY (Nr. 61/1848), in dem in Form einer Krankheitsgeschichte mit allmählicher Genesung die národní obrození beschrieben wird, äußert Glaser seine Skepsis: Welch ein Reichthum von bisher noch nie wahrgenommenen pathologischen Erscheinungen in diesem wahrhaft einzigen Bulletin über die Todeskrankheit, Rettung und allmälige Reconvalescenz der Nation. Sie war schon mausetodt, ein Leichnam und lag doch noch erst in den letzten Zügen [...]. (GLASER a: 51) Glaser geht es dabei vor allem um die Destruktion des Opfer-Topos, der allerdings auf den Seiten von OST UND WEST selbst immer wieder thematisiert worden ist (vgl. z.b. KOPECKÝ 1838), schließlich stellt er im Hinblick auf die Konstitution antagonistischer Positionen ein wichtiges Begründungsmuster dar: Wer würde es überhaupt glauben, daß irgend eine Nationalität ein so schwaches und hinfälliges Ding sei, daß sie, ehe es man sich versieht, verschwinden und dagegen wieder auch von dem schwachen Athem einiger Wenigen zu einer richtigen Flamme angefacht werden könne. (GLASER a: 51) Bedenkt man die philologische Komponente der tschechischen Emanzipation, dann lässt sich ermessen, welch ein Tabubruch hier erfolgt, wird doch das eigentliche Selbstverständnis der tschechischen Intellektuellen in Frage gestellt: Die Nationalität kann durch einige Federn nicht erhalten, durch Papier nicht gestützt werden, sie steht auf besseren Fundamenten. (GLASER a: 51) Glaser hat offenkundig die Tendenzliteraten im Sinn, jüngere Wiedererwecker, Nationaläskulape, die mangels Bildung und Talent die Nation für tot erklären, um dann als ihre literarischen Retter auftreten zu können. Die čechische Nationalität aber darf Euch insbesonderheit keine Sorge machen; sie beruht auf einem Volksstamm, dem man eben keine Lebensschwäche ansieht [...]. (GLASER a: 55) Eine weitere Kontroverse entwickelt sich um eine statistische Untersuchung von Georg Norbert Schnabel, 26 da darin der Sprachzugehörigkeit sowohl deutsch oder böhmisch (= tschechisch) als auch böhmisch-deutsch angegeben werden konnte. Für die 21 Prager Pfarreien wird die Sprache böhmischdeutsch vermerkt, also liege keine Möglichkeit der statistischen Differenzierung vor. Darüber hinaus kritisiert Wiesner das Verfahren, da alle diejenigen, die eine deutsche Bildung haben, dem deutschen Ethnikum zugerechnet werden. 26 Auf einen ersten Verriss von Anton Wiesner Statistická křivda Čechům [Statistisches Unrecht wider die Tschechen] in den KVĚTY (1848: 42) folgt eine Replik von Schnabel zunächst in der PRAGER ZEITUNG ( ). Fortgesetzt wird der Disput in OST UND WEST, Wiesner, A.: Ein Wort zur Verständigung des Hrn. Gubernialraths und Prof. der Rechte Dr. Schnabel. In: OST UND WEST Nr. 17 ( : 67), Nr. 18 ( : 71); Schnabel, G. N.: Abgedrungene Erwiederung. In: OST UND WEST Nr. 24 ( : 94 96), Nr. 25 ( : 99f.). 79

40 80 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST Aus dem Gesagten ist jedem klar, daß H. Verfasser nach seinem bekannten Grundsatz, wer deutsch sprechen könne, gehöre den Deutschen an, die deutsche Bevölkerung in Böhmen um vermehrt hat. (WIESNER : 67) Schnabel kontert seinerseits mit einer Polemik, die Gründe für die Angriffe liegen demnach in Versuchen, Unfrieden und Feindschaft zu säen, in einer intendierten Verdrängung der anderen Nation, der Absicht, eine Abneigung gegen das Deutsche bei den Jüngeren zu erzielen und schließlich den Zugang zu einer höheren (= deutschen) Bildung zu verhindern, ein Gegenangriff, den er ausdrücklich gegen eine tendenziöse Publizistik richtet: [...] daß [...] ich damit jene Aeußerungen in vaterländischen öffentlichen Blättern gemeint haben wollte, welche eine gewisse ausschließliche oder doch prädominirende Berechtigung der Čechen zur staatsrechtlichen Existenz in Böhmen auszusprechen scheinen. Oder sind wohl Aeußerungen der Art: Die Čechen sind das heimathliche Volk in Böhmen, die Deutschen sind eingewanderte Ausländer, die Deutschen halten sich in Böhmen auf oder wohnen da, die Čechen sind hier in ihrer Heimath, darum muß man auch die Čechen nicht Čechen, sondern Böhmen nennen. Die anders sprechen, seien heulende Wölfe in Schafskleidern. sind wohl, frage ich, Aeußerungen der Art geeignet dazu, Frieden zu erhalten [...]? (SCHNABEL : 99) Schnabel, Jurist und Statistiker, der zudem nach 1848 auch Vorlesungen auf Tschechisch hielt, verteidigt darüber hinaus seine Quellen und Methoden: Wo die Bevölkerung einfach als eine gemischte d.i. zum Theil aus Čechen, zum Theil aus Deutschen bestehend angegeben war, rechnete ich die Gesammtseelenzahl [sic] den beiden Nationen zu gleichen Theilen an. (SCHNABEL : 95) Ferner verwirft er die Gleichsetzung von Sprache und Nationalität, nur die Abstammung könne eine angemessene statistische Kategorie zur Bestimmung von Nationalität bilden: Aber es hätte mich doch bedünken wollen, daß die erlernte Sprache und die in derselben erlangte Bildung für das praktische Leben allmälig eine Umwandlung der Nationalität zur Folge haben könne und müsse. Denn ich vermochte mir es sonst nicht zu erklären, wie so manche unserer Landsleute, deren čechische Familiennamen eine entschieden čechische Abstammung verrathen, dennoch gegenwärtig durch und durch Deutsche sind und wieder umgekehrt, wie es vollständige Čechen mit rein deutschen Namen geben kann. (Schnabel : 95f.) Die Auseinandersetzung dokumentiert vor allem das letztlich vergebliche Bemühen, objektive Tatsache (im Sinne von nicht-sozialen Kategorien) zu finden, auf deren Grundlage Nationalität eindeutig zu bestimmen wäre. Ein bekanntlich prinzipiell fragwürdiges Bemühen, bieten doch Kategorien der Sprache und Abstammung keine hinreichende Gewähr! Weitere kulturpolitische Kontroversen, in die OST UND WEST involviert waren, entwickelten sich um die Gründung einer tschechischsprachigen Gewerbeschule sowie um den Stellenwert der deutschen Philosophie. Aus Platzgründen können diese hier nicht behandelt werden. Steffen Höhne 5. Das Ende der Zeitschrift Stehen also OST UND WEST als Paradigma vormärzlicher literarischer Vermittlung im Zentrum konsensuellen Handelns, so ist andererseits allein die Existenz eines Periodikums wie OST UND WEST ein Indiz für die zunehmend eigenkulturell-nationale Identifikation in den böhmischen Ländern, ist die Zeitschrift doch als Versuch der Vermittlung zwischen zwei als divergent wahrgenommenen Kulturen zu verstehen. Zwar wird bis in die Zeit der Revolution hinein in vielen Beiträgen der Konsens bemüht, doch mit der Option für Frankfurt, d.h. dem Anschluss Österreichs und damit Böhmens an Deutschland, 28 werden auch in OST UND WEST die fundamentalen Interessendivergenzen deutlich, an denen das Periodikum letztlich scheitern muss. Selbst Glaser befürchtet angesichts nationaler Konflikte völlig neuen Ausmaßes die Heraufkunft eines neuen imperialen Zeitalters ethnischer Prägung: In Europa überwiegt offenbar an Zahl der slawische Stamm den germanischen; aber unter den Völkern sind hinwieder die größten an Zahl und die unvermischtesten die Franzosen und Deutschen. In Zukunft dürfen wohl in Europa nur diejenigen Völker große Geltung erlangen und behaupten welche mehr als 30 oder 40 Millionen zählen. Wir bedauern die kleinen Völker; mögen sie noch so viel Talent besitzen und noch so viel Energie entwickeln, solches Gewicht nach außen und eine solche Stufe der Bildung in Wissenschaft und Kunst können sie doch nicht erreichen als die großen Völker. (GLASER : 195) Dennoch hält Glaser gerade für Böhmen an dem Prinzip eines nationalen Ausgleichs fest, eine interkulturelle Vermittlung kann die einzige Perspektive für Tschechen und Deutschböhmen bilden: Die Verwebung kann nicht inniger gedacht werden, und die von der Vorsehung diesem Lande beschiedene Aufgabe ist offenbar das germanische Element mit dem slawischen zu vermitteln, die Blüte des Osten mit der Blüte des Westens auszutauschen. [...] Mögen doch endlich einmal alle Nationalitäten zu ihrer Geltung kommen, damit der Sprachenstreit aufhöre, sich alle Völker als Kinder einer Familie erkennen und das höchste Ziel der Menschheit, Humanität zu erreichen. (GLASER : 195) Die letzte Ausgabe von OST UND WEST erscheint am , Rudolf Glaser zieht sich danach enttäuscht und in seinen Vermittlungsbemühungen gescheitert aus der Öffentlichkeit zurück. Der Anachronismus von OST UND WEST lässt sich gerade in der schon erwähnten Fehleinschätzung liberaler Intellektueller ablesen, die mit Hilfe konstitutioneller Rechte die Frage der Nationalität 28 So der Neffe Eberts, Karl Viktor Hansgirg. Die Forderung Hansgirgs für den Anschluss an Deutschland, die zwar den Slawen ihre nationale Entwicklung im Rahmen eines deutschen Nationalstaats zusichert, steht dabei in der Tradition imperialer Mitteleuropaideen, wie sie bei Schuselka u.a. vertreten wurden. Zu den Vorteilen eines Anschlusses an Deutschland nennt Hansgirg: Wir haben uns geistig und materiell gekräftigt, gestählt und gehoben; wir sind dann von der Nord- und Ostsee bis Innerösterreich, längs der Elbe, Moldau, Donau, Mur und Drau für denselben Gedanken, dieselbe Freiheit gewappnet und bilden einen einzigen riesigen Armeekeil durch beinahe ganz Mitteleuropa. (HANSGIRG : 181) 81

41 82 Nationale Antagonismen in Böhmen. Zum Programm von OST UND WEST und deren separierendes Potential marginalisieren zu können glaubten. So verkennt Glaser die zunehmend nationalistischen Tendenzen in ihrer Bedeutung; sieht er doch als deren Ursache eine nicht vorhandene Verfassung: Ich erkenne als geheimes Agens, als treibendes Prinzip dieser Trennungsbestrebungen ein Element das von jeher unserem Vaterlande die größten Uebel zugefügt hat, und das noch immer ungemein tätig ist, eine wahrhaft volksgemäße Gestaltung unserer Constitution zu hindern es ist das aristokratische Element das von den ältesten Zeiten her die böhmische Geschichte beherrscht [...]. (GLASER b: 197) Der pragmatisch-diskursiven Dynamik der nationalen Konzepte (Volk, Nation) und deren wirkungsmächtiger Verbindung mit dem historischen Denken in der Tradition von Herder konnte sich OST UND WEST nicht entziehen. Andererseits wird Glaser einem Grundprinzip eines freien Diskurses gerecht, wenn er OST UND WEST als Podium versteht, auf dem unterschiedliche Interessen und Weltanschauungen um Einfluss auf die Gestaltung kultureller und kulturpolitischer Entwicklungen konkurrieren. Dass dies auf den Seiten von OST UND WEST möglich war, verleiht dem Periodikum den Status einer wichtigen kulturhistorischen Quelle des böhmischen Vormärz. Genau so folgerichtig erscheint aber auch die Einstellung der Zeitschrift in einer Zeit, in der die nationalistisch gestützte Ideologisierung sich endgültig durchzusetzen begann. OST UND WEST scheitern bei der Konstituierung einer böhmischen Identität in einer Zeit, in der dafür keine Basis mehr bestand. Insofern kam das Blatt zu spät. Literatur ALEXIS, Willibald (1837): Eine Epistel an den Redakteur. In: Ost und West (Prag), 1 4. EDLEBACH, A. v. (1848): Čechen und Deutsch-Böhmen. In: Ost und West Nr. 35 (Prag), 139. GERHARDS, Jürgen/NEIDHARDT, Friedhelm (1991): Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze. In: S. Müller-Doohm, K. Neumann-Braun (Hgg.), Öffentlichkeit Kultur Massenkommunikation. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg, GIESEN, Bernhard/JUNGE, Kay (1996): Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der Deutschen Kulturnation. In: Ders. (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit I, 3. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp, GLASER, Rudolf (1837): [Ankündigung zum 1. Jahrgang 1837]. In: OST UND WEST (PRAG). [im Original ohne Seite] Steffen Höhne GLASER, Rudolf (1846): Entgegnung. In: Ost und West Nr. 96 (Prag), 383f. GLASER, Rudolf (1848a): Zeitschriftenlese. In: Ost und West (Prag), 51f., 55. GLASER, Rudolf (1848b): Zeitbetrachtungen. In: Ost und West Nr (Prag), 195, 197f. GOETHE, Johann Wolfgang v./varnhagen v. Ense, Karl August [1830]: Monatsschrift der Gesellschaft des vaterländischen Museums in Böhmen. In: Ästhetische Schriften V Über Kunst und Altertum V-VI, Hg. von A. Bohnenkamp (=Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche I. Abt. Bd. 22). Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag, GROß-HOFFINGER, Anton J. (1845): Die neuesten Gefahren für den Staat. Mit besonderer Beziehung auf den österreichischen Staat. Denkschrift an einen österreichischen Staatsmann. Leipzig/Meißen: F.W. Goedsche. HANSGIRG, Karl Viktor (1848): Einige Worte über die Beziehung Böhmens zum deutschen Bunde. In: Ost und West (Prag), 181f. HILLE, Johann (1843): Mein Vaterland. In: Ost und West Nr. 98 (Prag), 391. HÖHNE, Steffen (2002): Der Bohemismus-Diskurs zwischen 1800 und 1848/49. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien- Slowakei NF 8 (2000). Praha: Nakladatelství Lidové noviny, HOFMANN, Alois (1957): Die Prager Zeitschrift Ost und West. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-slavischen Verständigung im Vormärz. Berlin: Akademie Verlag. HOHENDAHL, Peter Uwe (2000): Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs. Stuttgart/Weimar: Metzler. HROCH, Miroslav (1999): Na prahu národní existence [An der Schwelle der nationalen Existenz]. Praha: Mladá fronta. HUMHAL, F. (1844): Literatur der Čechen im Jahre In: Ost und West Nr , 13, 16. Prag. KALINA, Josef Jaroslav (1844): Die Königinhofer Handschrift. In: Ost und West (Prag), 219f., 223f., 227, 231, 235f., 239f., 244, 247, 251. KOPECKÝ, Dalibor (1838): Hegemonie neuböhmischer Literatur. In: Ost und West (Prag), 176f., 189f., 189f. KOŘALKA, Jiří (1993): Nationsbildung und nationale Identität der Deutschen, Österreicher, Tschechen und Slowaken um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Ders., H. Mommsen (Hgg.), Ungleiche Nachbarn. Demokratische und nationale Emanzipation bei Deutschen, Tschechen 83

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43 Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín Marek Nekula 1. Der Slavín und die Walhalla Als Josef Dobrovský ( ), Urvater der wissenschaftlichen Slavistik, die deutsch geschriebene Zeitschrift Slawin (1806) herausgab, in der allen Slaven, v.a. aber den Austro- und Südslaven Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte und wo die Slaven sozusagen unter sich sein sollten, 1 konnte er nicht ahnen, dass sich der Begriff Slavín im 19. Jahrhundert semantisch und ideologisch stark an die germanische Walhalla anlehnen und sich genauso auf die Ruhestätte der verdienten Tschechen reduzieren wird, wie sich die deutsche Walhalla bei Regensburg auf die Deutschen beschränkte. Was die Etymologie des Wortes betrifft, sind die etymologischen Wörterbücher des Tschechischen sehr zurückhaltend. Der Eintrag Slavín kommt darin kaum vor. Fest steht, dass es es sich im Tschechischen um einen Neologismus nach dem unproduktiv gewordenen Wortbildungsmuster mit dem Suffix -ín wie in včel-ín (,Bienenstock ), vepř-ín (,Schweinestall ), krav-ín (,Kuhstall ), hřebč-ín (,Pferdestall ) handelt, 2 der die Bedeutung,Ort, auf dem die sláva/ Sláva, d.h. Ruhm bzw. die Göttin Sláva/Ruhm weilt bzw. die Slaven weilen bekommt. Ich lasse offen, ob sláva als eine formale Anspielung auf lat. slavus bzw. dt. Slave und Slavín als,ort, wo sich Slaven versammeln, zu verstehen ist (so wohl bei Dobrovský), oder ob so wohl spätestens seit Jan Kollár sláva bzw. Sláva hier als,ruhm bzw.,die slavische Göttin Sláva (,Ruhm ) und Slavín als der,ort des (slavischen) Ruhms bzw. der,ort, wo die rühmlichen Slaven der slavischen Göttin Sláva (,Ruhm ) begegnen verstanden werden kann. Da diese Bedeutung von Slavín sich semantisch stark an die deutsche Walhalla angelehnt hat und davon auch ideologisch geprägt wurde, kristallisiert sich diese Bedeutung von Slavín wohl erst im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus, wobei Slavín als,ewige Ruhestätte rühmlicher Slaven allein für die Tschechen reserviert bleibt und der Begriff Slave bei der Konzeption des konkreten Slavín auf die Tschechen zentriert wird, die stellvertretend auch andere Slaven repräsentieren (sollen). Unberücksichtigt lasse ich außerdem, ob slavný (,berühmt ) etymologisch mit slaviti, sloviti und slovo (,Wort ) und Slovan (,Slave ) etymologisch mit slavný (,berühmt ) oder svoboda bzw. sloboda (,Freiheit ), vgl. auch Slobodan, zusammenhängt (HOLUB/LYER 1978: 407, 408, 424), auch wenn deutlich wird, dass die missliche Lage der tschechischen Nation, die ihre volle, auch 1 ŠIMEČEK (2003: 78) nennt daher die Zeitschrift Slavín im Kontext seiner Darstellung von Dobrovskýs kultureller Konzeption des Austroslawismus, die einen böhmischen Schwerpunkt aufweist. 2 ŠLOSAR (1996: 120), MACHEK (1957: 452).

44 88 Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín politische Freiheit zu Anfang des 19. Jahrhunderts nicht in der gelebten Realität, sondern allein im Traum vom ewigen Leben der Nation, das dem Tode trotzt, erlebte bzw. erleben konnte, gerade durch die zweite Deutung sehr gut kompensiert wird. Das Motiv des Schlafes, für die Ideologie der (tschechischen) nationalen Erweckung bzw. Wiedergeburt so zentral, taucht dagegen in der deutschen Form Schlav(e) für den,slaven bereits im 16. Jahrhundert auf und bleibt darin bis ins 18. Jahrhundert erhalten (vgl. PFEIFER 1995: 1300). Die Walhalla ist laut der nordgermanischen Mythologie, wie sie in der Edda lesbar wird, der Sitz des höchsten Gottes Odin (und der anderen Götter), in dem die gefallenen und von den Walküren erwählten Krieger vereint ruhen dürfen. Die deutsche Walhalla bei Regensburg stellt im Kontext der antinapoleonischen Kriege eine spezifische Modifikation der germanischen Walhalla dar, durch die sich wie auch im Falle der Befreiungshalle bei Kehlheim in der geschichtsträchtigen, mit dem Nibelungenlied verbundenen Gegend die deutsche nationale Bewegung zum Wort meldet. 2. Die Walhalla bei Regensburg oder das Heroische Man möchte fast nicht glauben, dass der wesentlichste Impuls für den tschechischen Slavín weder von der tschechischen bzw. der slavischen Mythologie noch vom französischen Pantheon, sondern von der deutschen Walhalla bei Regenstauf nahe Regensburg ausgegangen ist und zwar gerade in der Zeit, in der die Abgrenzung gegenüber dem Deutschen in der tschechischen nationalen Wiedergeburt immer deutlicher wurde. Denn was ist Walhalla? In der Regensburger Variante der Walhalla, in der die Walküren mit den Siegesgöttinnen (Victoria) verschmelzen, ist es ein Pantheon der Männer und Frauen deutscher Zunge, die sich um die geistige und politische Größe der deutschen Nation verdient gemacht haben. Der Plan zur Regensburger Walhalla wurde bereits im Jahre 1807 von dem damals zwanzigjährigen Kronprinzen Ludwig von Bayern gefasst, 3 der die Bildnisse der rümlich vereinten Teutschen und dadurch stellvertretend die deutsche Nation in einem Ehrentempel, dessen Name 1807 von Johannes von Müller vorgeschlagen wurde, vereinen wollte. In den Jahren , als Napoleon den Höhepunkt seiner Macht erlebte und diese die deutschen Könige und Fürsten spüren ließ, wurden Büsten Heinrichs I., Ottos des Großen, Konrads II., Friedrichs des Großen und Maria Theresias sowie der Dichter Albrecht von Haller, Friedrich Gottlieb Klopstock, Gotthold Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe, der Musiker Joseph Franz Haydn und Christoph Willibald Gluck und der Philosophen Gottlieb Wilhelm Leibnitz und Immanuel Kant geschaffen. Der klassizistisch anmutende Bau sollte also nicht zuletzt 3 Die nachfolgenden Jahresangaben stützen sich auf den Amtlichen Führer zur Walhalla aus dem Jahre Marek Nekula auch die Größen der deutschen Klassik beherbergen. Im Laufe der Zeit kamen auch die Helden der antinapoleonischen Kriege und anderer Befreiungskriege wie des Krieges der nördlichen, deutschen Niederländer hinzu. So sind in der Regensburger Walhalla der Geist und das Schwert vereint, neben den Dichtern auch Könige und Fürsten, Generäle und Feldmarschälle. Die Siegesgöttinnen und Walküren, die sich im Mittelpunkt jeder Büstengruppe befinden, verkörpern verschiedenartig erreichte, v.a. aber erfochtene Siege. Vereint wird in der Walhalla nicht nur der Geist und das Schwert, sondern auch die Geschichte und die Gegenwart sowie die vielen unterschiedlichen Regionen, in denen damals bzw. jemals deutsch gesprochen wurde. Im Jahre 1814 wurden die deutschen Architekten aufgerufen, ihre Entwürfe einzureichen. Den Auftrag bekam schließlich Leo Klenze ( ), der im Jahre 1826, ein Jahr nach Ludwigs Inthronisierung als Ludwig I. von Bayern, für den Bau einen Platz nahe Donaustauf ausgesucht hatte. Ende der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts war der Bau vollendet, die feierliche Eröffnung fand am 18. Oktober 1842 statt. Damals betrug die Zahl der Verherrlichten bereits 160, d.h. 96 Büsten und 64 Tafeln mit Inschriften. Im Testament aus dem Jahre 1859 vermachte König Ludwig I. von Bayern die Walhalla Deutschland, seinem großen Vaterlande, womit der herausragende Wert der Regensburger Walhalla in der deutschen Kulturgeschichte markiert werden sollte. Bereits die Wahl des Ortes, an dem die Walhalla gebaut wurde, ist als kulturelles Zeichen zu erkennen. Der Berg, auf dem sie steht, ragt über die Naturlandschaft hinaus und bildet im Heideggerschen Sinne den ästhetisch wirksamen Höhepunkt des natürlichen Gipfels, während die Positionierung des Kunstwerkes oben auf dem Berg zu dessen semiotischem Gehalt wird. Da die Walhalla, in der der Einheitsgedanke zelebriert wird, zugleich in den Dialog mit der geschichtsträchtigen Kulturlandschaft tritt, deren ästhetisch wirksamen Höhepunkt sie bildet, und zwar mit der Donau, die das Nibelungenlied assoziiert, 4 und mit Regensburg, im 9. Jahrhundert der Residenz der Karolinger, bekommt diese Positionierung noch eine zusätzliche Dimension. Der in der mythischen Walhalla vorweggenommene Einheitsgedanke, der in der deutschen Geschichte immer wieder aufgegriffen wurde und gerade nach der Auflösung des Römischen Reiches deutscher Nation im Jahre 1806 eine besondere Bedeutung bekam, sollte durch den Aufbau der neuzeitlichen Walhalla verwirklicht werden. Das Zyklopenmauerwerk des Unterbaues mit Anspielungen auf Etrurien, Ä- gypten und Mesopotamien unterstreicht neben der Altertümlichkeit vor allem die Mächtigkeit des die deutsche Nation symbolisierenden Bauwerkes. Der am 4 Donau ist jedoch auch der Fluss, der Walhalla mit dem Schwarzen Meer und Asien verbindet, wo die Germanen so die damalige Überzeugung, der sich Klenze anschließt in Zentralasien mit Griechen und Italikern ihren gemeinsamen Ursprung hatten. Vgl. TRAE- GER (1991). 89

45 90 Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín eigentlichen Bau benutzte weiße Marmor unterstreicht die Erhabenheit des durch die Akropolis inspirierten und im dorischen Stil ausgeführten Tempels, dessen Maße sich an die des Parthenon anlehnen. Die darin enthaltenen heroischen Persönlichkeiten werden den Göttern gleich geehrt, die Nation wird hier durch sie zur neuen Gottheit, die in jedem einzelnen Mitglied der Nation von der Vergangenheit bis hin zur Gegenwart weilt. Die Reliefdarstellungen im Innenraum stellen die Urgeschichte der Germanen und ihre Götterwelt dar. Die nördliche Giebelgruppe erinnert an die denkwürdige Schlacht im Teutoburger Wald (9 n. Ch., Hermann der Cherusker). Die südliche Giebelgruppe schildert die Errichtung des Deutschen Bundes nach der Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft. Die Aufnahme neuer Büsten wie der von Martin Luther, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ludwig van Beethoven usw. erfolgte zunächst ohne große Aufmerksamkeit, doch seit Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts nahm jede Erweiterung die Form eines Staatsaktes von überregionaler Bedeutung an, worin sich wieder die besondere Bedeutung dieses Baus in der modernen deutschen Kultur- und Nationalgeschichte spiegelt. 3. Der Slavín bei Liběchov oder das Groteske Ausgerechnet diese durch und durch deutsche oder deutschgermanische Walhalla wurde zum Vorbild für den tschechischen Slavín. Das Wort und der Begriff Slavín gehen dabei auf keine urslavischen oder urtschechischen heidnischen Sagen oder Heldenlieder zurück. Das Wort ist künstlich geschaffen und bedeutet, wie bereits oben ausgeführt, etwa,ein Ort, auf dem die slavische Göttin Sláva (,Ruhm ) weilt und die,rühmlichen Slaven vereint sind ähnlich wie die rümlich vereinten Teutschen in der Walhalla. Der Slavín als Bau wurde dabei weder vom böhmischen König noch vom altböhmischen Adel, sondern von Anton Veith ( ) ins Leben gerufen, einem Deutschen, der Tschechisch erlernte und im Jahre 1833 von seinem Vater Jakob das Schloss Liběchov geerbt hatte. Sein Vater war ein einfacher Weber, der sich hocharbeitete und zu einem der reichsten Männer Böhmens wurde. Das Schloss Liběchov wurde unter seinem exzentrischen Sohn zum wichtigen kulturellen Zentrum mit überregionaler Bedeutung, das in Zeitschriften und Zeitungen wie OST UND WEST, PRAG, POUTNÍK, ČESKÁ VČELA, TÝDENNÍK und MORAVSKÉ NOVINY regelmäßig kommentiert wurde. So weilte bei Veith z.b. Josef Navrátil ( ), der im Schloss u.a. Fresken nach Karl Egon Eberts ( ) böhmisch-nationalem Heldengedicht Wlasta (1829) anfertigte, das auf Motiven der slavischen Urgeschichte basierte. Auch der Philosoph und Logiker Bernard Bolzano ( ) u.a.m. waren bei Veith zu Gast. 5 Veiths belesener Bibliothekar František Matouš Klácel ( ) veranlasste den in den 5 Die wichitgsten Daten zu Anton Veith sind in den großen tschechischen Enzyklopädien u.a. enthalten, zu Veith und Liběchov vgl. v.a. LORENZOVÁ (1991). Marek Nekula Jahren realisierten romantisch anmutenden Bau der künstlichen Grotte namens Blaník, in der Václav Levý ( ), zunächst als Koch, später als Bildhauer angestellt, Skulpturen schlafender Ritter in den Sandstein einmeißelte. Die Blaniker Ritter sollen so eine Legende aus dem 15. Jahrhundert in dem Moment aufwachen, in dem es um Böhmen, von allen Seiten umzingelt, am schlechtesten steht. Vom Heiligen Wenzel angeführt, sollen sie Böhmen retten. Da sich aber die Tschechen im 19. Jahrhundert vom Heiligen Wenzel, der in dieser Zeit nicht mehr als Nationalpatron und Patron der tschechischen Sprache, sondern vielmehr als ein national indifferenter Landespatron empfunden wurde, allmählich distanzierten, wurde die Legende über die Blaniker Ritter in der Grotte bei Liběchov ähnlich wie in der unzensierten Version des Gedichtes Hlas z Blaníku (1836) aus der Feder von F. M. Klácel umgedeutet: an die Stelle des Heiligen Wenzel traten neben Zdeněk Zásmucký ze Zásmuku hussitische Heeresführer wie Jan Žižka und Prokop Holý, 6 was die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer deutlichere Hinwendung der tschechischen Kultur zum Kulturprotestantismus vorwegnimmt. Die Blaník-Legende war übrigens zur Zeit der nationalen Wiedergeburt ein beliebter Stoff. In der Legende von schlafenden und im letzten Moment erwachenden Rittern meinte sich die erwachende und schließlich auch tatsächlich erwachte tschechische Nation wiederzuerkennen. Der Stoff wurde später vom Landschaftsmaler Julius Mařák ( ) aufgegriffen, dessen Bild im tschechischen Nationaltheater in Prag hängt. Auch Zdeněk Fibich ( ) widmete sich in seinem musikalischen Drama Blaník (1877) nach dem Libretto von Eliška Krásnohorská ( ) der Legende. Die im Prozess der tschechischen nationalen Wiedergeburt aktiven Erwecker wurden von Krásnohorská mit den Blaník-Rittern gleichgesetzt. Sie situiert nämlich den Schlaf der Ritter in die Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg, die im Sinne des tschechischen Wiedergeburtsmythos als die Zeit der Finsternis bezeichnet wird, das Erwachen in die Zeit des ausgehenden 18. und angehenden 19. Jahrhunderts. Bei Liběchov wird der wichtige und für den Wiedergeburtsmythos so prägende Stoff in seiner Bedeutung erkannt und sogar verbildlicht. Der Felsenkomplex bei Liběchov wurde um expressive Skulpturen Václav Levýs aus den 40er Jahren ergänzt. Gekrönt werden sollte der Baukomplex durch das in der zweiten Hälfte der 40er Jahre im maurischen Stil erbaute schlossartige Denkmal Slavín in Tupadly, von Veith auch Alhambra genannt, wobei der maurische Stil genauso wenig mit der urslavischen bzw. urtschechischen Geschichte zu tun hat wie der klassizistische Bau der Walhalla bei Regensburg mit der germanischen. Der maurische Stil ist einfach eine Allüre des exzentrischen Mäzenen Anton Veith, der kurz davor aus Spanien zurückkam, und vermag wie dies bei der Walhalla gelingt weder zum landschaftlichen Höhepunkt zu werden noch in einen Dialog mit den Sagen zu treten und sich 6 Vgl. u.a. MACURA (1998: 14 47). 91

46 92 Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín als Zeichen zu entfalten. In diesem Slavín sollten Statuen von 21 bedeutenden Tschechen aufgestellt werden. Über die Auswahl 7 entschieden der Historiker (und Politiker) František Palacký ( ) und der spätere einflussreiche Politiker und Palackýs Schwiegersohn František Ladislav Rieger ( ) sowie Václav Hanka ( ), der Entdecker der auch von Johann Wolfgang von Goethe rezipierten Königinhofer Handschrift, sowie der Historiker Josef Erazim Vocel ( ). Zur Mitarbeit wurde der Bildhauer Ludwig von Schwanthaler ( ) aus München eingeladen, der bereits an der Regensburger Walhalla mitwirkte und dessen Arbeit für den tschechischen Slavín angeblich auch Ludwig I. von Bayern mit Wohlwollen verfolgte. Schwanthaler fertigte in den Jahren 1846 bis 1848 Modelle für acht Statuen an. Die Arbeit wurde durch seinen Tod unterbrochen. In Folge der finanziellen Sorgen, des Streites um die Auswahl rühmlicher Männer und Frauen der tschechischen Nation sowie später auch in Folge des Todes des Mäzenen blieb die tschechische Walhalla bei Liběchov nur ein Torso. Fertig gestellt, d.h. von Ferdinand Miller in München in Bronze gegossen, wurden im Jahre 1847 zunächst die Statuen von Eliška Přemyslovna ( ) mit der Inschrift ELISABETHA REGINA und von Přemysl Otakar II. ( ) mit der Inschrift OTACARUS II. REX IN FORTITUDINE CIVITATUM REGNI STABILITAS ATQUE TRANQUILLITAS. Im Jahre 1848 folgte Libussa, die Schlüsselfigur der Grünberger Handschrift und damit der tschechischen Kunst und der politischen Programmatik des 19. Jahrhunderts. Libussa hält den Plan vom Vyšehrad in der Hand und wird durch die Inschrift URBEM CONSPICIO FAMA QUAE SIDERA TANGET begleitet. Im Jahre 1850 wurde dann Jiří z Poděbrad ( ) mit der damals vielsagenden, die böhmische Autonomie symbolisierenden Inschrift GEORGIUS REX fertiggestellt; zu diesem Zeitpunkt war allerdings die Hoffnung auf die Neuaufwertung des böhmischen Königreiches minimal. Erst nach dem Tode von Anton Veith wurde im Jahre 1851 die Statue von Přemysl Oráč mit der Inschrift PŘEMYSL DUX fertiggestellt, im Jahre 1861 die des ersten Prager Erzbischofs Arnošt z Pardubic ( ), im Jahre 1867 die des Hl. Wenzel, um den der Auswahlausschuss stritt, und im selben Jahr auch die des wohl wichtigsten humanistischen Schriftstellers und Gelehrten Bohuslav Hasištejnský z Lobkovic ( ). Vor dem Tode Anton Veiths wurden die Statuen dem Vaterländischen Museum (später Nationalmuseum) vermacht und im Jahre 1891 vom Museumsgebäude am Graben ins Pantheon des Nationalmuseums auf dem Wenzelsplatz übertragen, wo sie bis heute gemeinsam mit anderen Statuen ausgestellt sind. 8 Geplant waren in Tupadly auch Statuen anderer historischer Persönlichkeiten. Bezeichnenderweise findet man unter den fertigen Statuen keine herausragen- 7 Zur Entstehungsgeschichte vgl. auch LORENZOVÁ (1991). 8 Die Statuen können im Nationalmuseum besichtigt werden. Marek Nekula den Philosophen, Künstler oder Schriftsteller des 18. oder 19. Jahrhunderts. Teils gab es sie im engen sprachnationalen Sinne nicht, weil sich die böhmischen Komponisten, Maler und Gelehrten nicht unbedingt über die Sprache identifiziert haben, teils lebten sie noch, so dass sie kaum ins nationale Pantheon aufgenommen werden konnten. Die tschechische nationale Bewegung war zu dieser Zeit noch sehr jung, auf keinen Fall hat sie wie die deutsche bedeutende Generäle und Feldmarschälle hervorgebracht. So blieb der tschechische Slavín ein Torso, geradezu so sah es Josef Václav Frič, der Anführer des Prager Pfingstaufstandes im Jahre 1848 eine lächerliche Miniatur eines Tempels, in dem der slavische Ruhm zelebriert werden sollte. Auch wenn der tschechische Slavín durch die Regensburger Walhalla angeregt wurde, konnte der Kontrast zwischen den beiden Denkmälern nicht größer sein. Und das ist nicht nur auf die Opposition germanisch vs. slavisch zurückzuführen, die František Palacký im Vorwort zum ersten Teil seiner tschechisch verfassten Dějiny národu českého v Čechách a v Moravě (1848) als Achse der tschechischen Geschichte entwirft, bzw. auf die Opposition deutsch vs. tschechisch, die im Jahre 1848 in der tschechischen Absage und der deutschen Zusage gegenüber dem Frankfurter Nationalversammlung den Einheitsbegriff böhmisch endgültig ablöst. So steht die an den Staatsakt erinnernde Initiative eines deutschen Aristokraten, des bayerischen Kronprinzen und späteren Königs Ludwig I. von Bayern, der etwas skurrilen Privatinitiative eines des Tschechischen immerhin mächtigen deutschen Plebejers gegenüber, der dank des geerbten Reichtums zum exzentrischen Mäzenen des tschechischen Slavín werden konnte. Einerseits die Erhabenheit und Monumentalität der akropolisartigen Walhalla, die sich mit den Gedanken der deutschen Klassik ergänzt und bewusst in die geschichtsträchtige Landschaft eingebunden wird, andererseits die maurische Allüre eines durch eine Ferienreise nach Spanien inspirierten Neureichen, der das Schlösschen Slavín im romantischen Komplex künstlicher Grotten aufbauen lässt, ohne im Stande zu sein, den Slavín zur landschaftlichen Dominante zu machen und ihn in den Dialog mit der Kulturlandschaft einzubinden. Es ist für diese Zeit geradezu bezeichnend, dass der heroische Inhalt durch die romantische Gestaltung groteske Züge annimmt, was in der tschechischen nationalen Wiedergeburt etwa bei der Gründung der tschechischen wissenschaftlichen Zeitschrift KROK, die in Wirklichkeit kein wissenschaftliches Publikum hatte des Öfteren vorkommt. Schließlich stehen in der Walhalla herausragende historische Persönlichkeiten neben denen, die sich erst vor kurzem für die deutsche Nation verdient gemacht haben: Philosophen, Schriftsteller, Künstler und Gelehrte neben Politikern, Königen, Kaisern, Generälen und Marschällen. Im Slavín finden sich nur sagenhafte und weit entfernte historische Persönlichkeiten: Keine, die für die Zeit nach der Schlacht am Wießen Berg stehen könnten, keine zeitgenössischen Könige und Kaiser, Generäle und 93

47 94 Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín Feldmarschälle, 9 nicht einmal rümliche Wissenschaftler, Schriftsteller oder Künstler tschechischer Zunge. Als ob man die damals europaweit berühmten Gelehrten wie Josef Dobrovský ( ), Komponisten wie Franz Xaver Duschek/Dušek ( ), heute zumindest als Prager Gastgeber von Wolfgang Amadeus Mozart bekannt, Jan Václav Antonín Stamic ( ) und Kar(e)l Stamitz ( ) oder Josef Mysliveček ( ) bzw. Maler wie Antonín Mánes ( ) vergessen müsste, nur weil sie sich böhmisch und nicht im sprachnationalen Sinne tschechisch identifiziert haben und ihre Kinder wie Quido Manes Tschechisch selbst in ihren Namen abgelehnt haben. Die hemmende Rolle der nationalen Werte in der tschechischen Literatur und Kunst, die von keinem Genie durchbrochen werden, weil sich dieses nicht ästhetisch, sondern (sprach)national beweisen muss, attestiert der tschechischen Kultur in seinem Schema zur Charakteristik kleiner Literaturen auch Franz Kafka, 10 der Jahre später unweit von Liběchov in Schelesen seinen Genesungsurlaub verbrachte und aus eigener Erfahrung den später errichteten Slavín auf dem Vyšehrad kannte. Groß und klein könnte das Motto für diese zwei wichtigen Denkmäler heißen, die besser als alles Andere den im Vergleich mit Deutschland verspäteten Anfang der tschechischen nationalen Bewegung und ihren Zusammenhang mit der deutschen nationalen Bewegung kennzeichnen und die nicht zuletzt auch die Größe und die damalige Stellung der sprachnational verstandenen tschechischen Nation reflektieren. Nicht zufälligerweise ist hier die Rede vom Slavín und nicht etwa vom Čechýn. Die Tschechen nehmen sich nämlich kompensatorisch zunächst als Slaven wahr. Selbst Josef Jungmann ( ) denkt ernsthaft darüber nach, das Russische als,tschechische Schriftsprache zu akzeptieren. 11 Auch heute noch kann das halb vergessene Schloss Slavín in Tupadly manches über die deutsche und die tschechische Kultur aussagen. Während die Walhalla vom bayerischen Staat gepflegt und durch neue Initiativen weiter gestaltet und vielleicht auch daher nach wie vor besucht wird und im Zusammenhang mit den neuen Statuen von Konrad Adenauer und Sophie Scholl für Diskussionen sorgt, wurde das Schloss in Tupadly Anfang dieses Jahrzehnts bei einer Immobilienfirma für USD angeboten, als ob man sich einen tschechischen, am wichtigen Denkmal der tschechischen Nationsbildung interessierten Kunden wie z.b. den tschechischen Staat nicht einmal vorstellen könnte, wofür allerdings auch die Tatsache spricht, dass das Schlösschen Tupadly in den Gesamtdarstellungen der Baukunst in Böhmen so gut wie fehlt. 9 In die Walhalla konnten bis 1912 solche Persönlichkeiten aufgenommen werden, deren Tod 10 Jahre zurücklag, danach betrug die Frist 20 Jahre. 10 Dazu u.a. NEKULA (2002). 11 Zu dieser etwas überraschenden Behauptung vgl. KOŘALKA (1996: 35). Marek Nekula 4. Der Slavín auf dem Vyšehrad oder die Märtyrer Doch während das Projekt in Tupadly so kläglich scheiterte, wurde der etwas später in Angriff genommene Slavín auf dem Vyšehrad zum Erfolg und im wahrsten Sinne des Wortes zur Ruhestätte der rümlichen und um das Tschechentum verdienten Tschechen. Der zweite Slavín, der sich ideell auf den ersten stützt, wurde durch den im Jahre 1862 von František Palacký gegründeten Verein Svatobor ins Leben gerufen und von diesem Verein bis 1970 auch verwaltet. Neben dem Namen, der Grundidee und dem Gründungsvater ist der Vyšehrader Slavín auch durch Václav Levý, dessen Kreuz bei der Ausgestaltung der Gruft Slavín verwendet wurde, mit dem in Tupadly verbunden. Nach 1970 wurde der Slavín vom tschech(oslowak)ischen Staat verwaltet, im Jahre 1992 übernahm die Stadt Prag die Verantwortung, wobei über die durch das Begräbnis auf dem Slavín ausgezeichneten Persönlichkeiten seit 1970 das Kultusministerium entscheidet. Der zweite Wurf war auch deswegen so erfolgreich, weil der Verein Svatobor für den neuen Slavín einen Ort wählte, der der glücklichen Wahl des Ortes für die deutsche Walhalla nichts schuldig blieb. Denn der Vyšehrad gab dem tschechischen Slavín hinreichend Stoff und Rückhalt für historische Reminiszenzen, intertextuelle Anspielungen und sonstige semiotische Spiele. Der Vyšehrad war nicht nur eine der ältesten Siedlungsstätten Böhmens, die bereits auf den Münzen Boleslavs II. nachweislich belegt ist, und der Ort, aus dem Libuše/Libussa laut der Legende den künftigen Ruhm Prags prophezeite, was im 19. Jahrhundert als Ruhm (,sláva ) des slavischen Prag verstanden wurde, sondern hier wurde vom Přemyslidenfürsten Vratislav II. ( ) um 1070 ein steinerner Fürstenpalast erbaut, der im Jahre 1085 gar zum Königspalast wurde und auch noch unter Soběslav I. ( ) der Sitz des böhmischen Herrschers blieb. Hier gab es nicht nur eine Münzstätte, sondern hier gibt es auch die älteste erhaltene romanische Rotunde Prags, die dem Hl. Martin geweiht wurde, sowie die 1074 gegründete romanische Dombasilika und die Kapitelkirche des Hl. Petrus und Paulus, in deren Krypta böhmische Könige und Fürsten begraben werden sollten und im Falle von Vratislav II., Soběslav I., Soběslav II. und Konrad auch begraben wurden. Erst nach dem Neubau der Prager Burg wurde die Residenz im Jahre 1140 zurück auf die Prager Burg übertragen. Der Propst der Vyšehrader Kapitelkirche ist allerdings Kanzler des böhmischen Königs Vladislav II. ( /3) geblieben. Ins Zentrum des kollektiven Bewusstseins rückte der Vyšehrad definitiv im Jahre 1347, als Karl IV. ( ) anordnete, dass die Krönungszeremonie der böhmischen Könige auf dem Vyšehrad ihren Anfang nehmen soll. Im Jahre 1364 ließ er die Vyšehrader Burg auch neu befestigen und den Palast und den Dom renovieren und gotisch umbauen. Der um den Vyšehrad gesponnene historische Faden wurde im 19. Jahrhundert nicht erst durch den Verein Svatobor aufgegriffen. Nach Macura (1983) ist der Vyšehrad eines der deutlichsten 95

48 96 Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín ikonographischen Embleme der tschechischen nationalen Wiedergeburt. Der Vyšehrad taucht durch das Libussa-Motiv sowohl in der deutschsprachigen als auch in der tschechischen Literatur und Kultur immer wieder auf. Der Libussa- Stoff kehrte nicht zuletzt dank dem Text Die Fürstentafel in Johann Gottfried Herders Stimmen der Völker in Liedern ( bzw. 1807) ins kollektive Bewusstsein zurück. Selbst die im Jahre 1818 entdeckte Grünberger Handschrift / Zelenohorský rukopis mit dem Fragment von Libussas Gericht, die später auch von den national bewussten Tschechen als Fälschung anerkannt wurde, orientierte sich daran. Die Handschrift ist in deutscher Übersetzung erst 1840 als Buch erschienen. Bereits im Jahre 1819 schrieb jedoch Eduard von Lannoy die Oper Libussa, die in Brünn uraufgeführt wurde. Im Jahre 1822 folgte ihm Joseph Karl Bernhard, der für die Oper Libussa, Herzogin der Czechen ein Libretto schrieb. Im Jahre 1825 komponierte Conradin Kreutzer ( ) nach dem Libretto von Karl Josef Bernau die nach der sagenhaften Herzogin benannte Oper. 12 Die für die schließlich nicht realisierte böhmische Krönungsfeier im Jahre 1872 bestimmte Oper Libuše von Friedrich/Bedřich Smetana ( ), die nach dem deutschen Libretto von Josef Wenzig komponiert, von Ervín Špindler später ins Tschechische übersetzt und am 11. Juni 1881 (wiederholt im Jahre 1883) im tschechischen, vom Libussa- Kult geprägten Nationaltheater feierlich aufgeführt wurde, hatte also etliche Vorläufer. Johann Karl August Musäus ( ) nahm den Libussa-Stoff in entstellter Form in seine fünfbändigen Volksmärchen der Deutschen ( ) auf, auch Clemens Brentano ( ), der auf dem böhmischen Schloss Bukovany Schlossherr war, dramatisierte ihn auf Anregung Josef Dobrovskýs in Die Gründungs Prags (1815). Karl Egon Ebert schrieb nicht nur das bereits erwähnte Heldengedicht Wlasta (1829), 13 sondern auch das Gedicht Vision auf dem Wyschehrad. Auch Franz Grillparzers ( ) Drama Libussa (1872, entstanden in den 40er Jahren) und Adalbert Stifters ( ) Roman Witiko ( ) können in diesem Zusammenhang genannt werden. 14 Schließlich trugen gleich zwei beliebte böhmische Periodika, J. G. Meinerts Zeitschrift und Paul Aloys Klars Jahrbuch, den Titel LIBUSSA. Diese enge Verbindung von Vyšehrad und Libussa kommt auch später zum Ausdruck, als im Jahre 1945 die Statuengruppen von Ctirad und Šárka und von Záboj und Slavoj von der während des Prager Aufstands beschädigten Palackýbrücke auf den Vyšehrad übertragen wurden. Diese von Josef Václav 12 Zum Libussa-Motiv in der Oper vgl. u.a. TROJAN (2003) und MACURA (1998). 13 Ebert dürfte u.u. von Wolfgang Adolf Gerles ( ) Text Das Frauenregiment ausgegangen sein, der in Volksmärchen der Böhmen (1819, reprint 1976) erschien. Für diesen Hinweis danke ich Václav Maidl. 14 Zu Libussa in der deutschen und tschechischen Literatur vgl. auch MACURA (1998: 88 96). Marek Nekula Myslbek ( ), dem Schöpfer der Reiterstatue des Hl. Wenzel auf dem Wenzelsplatz, Anfang der 80er Jahre geschaffene und in den Jahren ausgeführten Statuen, die Motive aus den mit Libussa verbundenen Sagen aufgreifen, säumten die Palackýbrücke als Gegenentwurf zu den katholischen, mit der Rekatholisierung nach der Schlacht am Weißen Berg verbundenen Heiligen auf der Karlsbrücke. So ist Libussa auch hier ein Teil nicht nur der kulturellen, sondern auch der politischen Programmatik geworden. Nach Karel Hynek Máchas ( ) Pouť krkonošská (1833, Wanderung zum Riesengebirge) war der Vyšehrad pustý (,öde, verlassen, einsam ). Die Burgruine wird gar so in Máchas Gedicht Cesta z Čech (Reise aus Böhmen) zur Metapher des böhmischen/tschechischen Landes ( česká zem ), worin sich die spezifisch tschechisch geprägte romantische Spannung zwischen der rühmlichen Vergangenheit und der öden Gegenwart widerspiegelt. 15 Ferdinand von Saar ( ), der Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts Prag kennenlernte, machte den Vyšehrad zum Schauplatz seiner Erzählung Innocens (1865) und hielt ebenfalls den damaligen, eher heruntergekommenen Zustand des Vyšehrader Friedhofs fest. In dieser Zeit erhält der künftige Slavín auf dem Vyšehrader Friedhof konkrete Formen. Der öde Vyšehrad verwandelt sich durch die romantische Geste in den durch rühmliche Tschechen bevölkerten Slavín. Vyšehrad und Libussa, auf die der eingangs erwähnte Josef Václav Frič ( ) in seinem Drama Libušin soud (1861) eingeht, werden zu kämpferischen Symbolen der slavisch/tschechisch gedeuteten böhmischen Staatlichkeit, der auch von den Zeitgenossen gewünschten kulturellen und politischen Autonomie, des slavischen/tschechischen Prag. Das romantische Motiv der Burg (Vyšehrad) tritt in den Hintergrund und das Motiv der personifizierten fürstlichen Würde (Libussa) dringt in den Vordergrund. Die Einbettung Libussas in der Kunst der Generation des tschechischen Nationaltheaters ist dann so vielseitig und die Vereinnahmung Libussas durch die tschechische politische Programmatik dieser Zeit so intensiv (s. oben), dass Libussa aus der deutschsprachigen Kultur Böhmens nach 1860 so gut wie verschwindet. Auf dem derart sagenumwobenen Vyšehrad, dem einstigen Sitz des böhmischen Königs Vratislav II. und unweit der Krypta der böhmischen Fürsten, werden auf Anregung des Propstes Václav Štulc ( ) auf dem Friedhof Ehrengräber rümlicher Tschechen und Tschechinnen errichtet: das erste davon für Václav Hanka ( ), der nicht nur mit der Königinhofer, sondern auch der Grünberger Handschrift (Libussas Gericht) aufs Engste verbunden war. Bald danach folgte das Grabmal von Božena Němcová ( ). Als im Jahre 1869 das Grabmal für sie errichtet worden war, wird es vor dem Hintergrund ihrer für die nationale Zwecke als leidvoll und märtyrerhaft interpretierten Biographie immer wieder demonstrativ mit einem Dor- 15 Zum Burgruine-Motiv vgl. HRBATA (1999: 36). 97

49 98 Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín nenkranz geschmückt: Ein Zitat ihrer angeblichen Geste beim Begräbnis Karel Havlíček Borovskýs ( ) auf dem Friedhof in Prag-Olšany, auf dessen Sarg Němcová einen mit Lorbeer durchflochtenen Dornenkranz legen sollte. 16 Das,Leiden der tschechischen Nation, für die Němcová als tschechische Schriftstellerin und eine der Protagonisten der bürgerlich-nationalen Revolution des Jahres 1848 bei der Errichtung des Grabmals steht, nahm jedoch weder mit dem Jahre 1848 noch mit dem Dualismus ein Ende: die,erlösung wurde so durch das christliche Emblem der Dornenkrone in die Zukunft projiziert und von ihr erwartet. Der kleine Friedhof wurde schrittweise erweitert. In den Jahren wurde die Gruft Slavín errichtet, deren Name sich später auf den gesamten Vyšehrader Friedhof ausweitete. Die Errichtung der Gruft wurde durch Bemühungen des Dechanten Mikuláš Karlach und die finanzielle Unterstützung Peter Fischers, des Bürgermeisters der Stadt Smíchov, möglich. Die architektonische Ausgestaltung des Friedhofs, der Gruft und der Arkaden im Stil der Neorenaissance geht auf Antonín Wiehl zurück, den Schüler und Nachfolger Josef Zíteks ( ), des Architekten des Museums in Weimar ( ) und des tschechischen Nationaltheaters ( ), was durchaus etwas über die damalige Bedeutung des Slavín aussagt. Die Neugestaltung des Vyšehrader Friedhofs ist außerdem im Kontext der Baumaßnahmen zu sehen, durch die die barocke Ausgestaltung der Kirche (Turm 1678) auf dem Weg des neogotischen Umbaus durch Josef Mocker zurückgestellt bzw. auf dem Weg der Regotisierung des Innenraums durch František Mikeš entfernt wurde (Türme 1902). Solche Regotisierungen sowie Bauten im Stile der Neorenaissance wie im Falle des tschechischen Nationaltheaters (die Renaissance mit der Bedeutung,Wiedergeburt hat in dieser Zeit eine spezifische Bedeutung erhalten) sind in dieser Zeit keinesfalls zufällig. 17 Das Barock als Stil der katholischen Bauten nach der Schlacht am Weißen Berg symbolisierte so der tschechische nationale Leidensmythos die Zeit der Finsternis, während die Gotik als Stil der Zeit galt, in der Prag unter Karl IV. zum europäischen Macht- und Kulturzentrum geworden war, und die humanistische Renaissance als Stil der Zeit angesehen wurde, in der die tschechische Sprache und der böhmische Staat ihre Blütezeit erlebt haben sollten. Während also die Theaterbauten des deutschen Bürgertums in Brünn, Prag oder Karlsbad im damals schicken Stil des Neobarocks ausgeführt wurden, wurde derselbe Stil bei den repräsentativen Bauten des tschechischen Bürgertums geflissentlich gemieden. Auf einem semiotisch so prominenten Ort wie der Vyšehrad bzw. Slavín konnte es nicht anders sein. 16 Zu den beiden Topoi in der tschechischen Literatur und Kultur, im Falle Božena Němcovás bei František Halas und Jaroslav Seifert; vgl. MACURA (1998: ). 17 Zu Baumaßnahmen in Prag in einem breiteren Kontext vgl. v.a. MAREK (1995). Marek Nekula Die Dominante der Gruft, die 44 Zellen enthält, bildet die beflügelte Statue des Genius des Vaterlandes, der sich über einen Sarg beugt. In der späten Antike hielt man den Genius für den unsterblichen Beschützer eines Menschen von seiner Geburt bis zum Tode, der über das menschliche Schicksal wacht. Der Genius des Vaterlandes ist aber sicherlich mehr als ein unsterblicher Beschützer des Menschen. Es ist die Gottheit selbst, die über das Schicksal des Vaterlandes und der so auserwählten Nation wacht. Vaterland und Nation werden dadurch personifiziert und weisen Eigenschaften eines sterblichen Organismus auf, werden jedoch durch ihren Genius, ihren Geist und ihre Seele, unsterblich. Zusammen mit den Statuen des trauernden und des siegreichen Vaterlandes von Josef Mauder ( ) wird darin eine Anspielung auf den Auferstehungsmythos der tschechischen Nation sichtbar. Dieser wird u.a. im Triptychon Drei Zeitalter der Kunst bildlich dargestellt, das die Allegorien Das goldene Zeitalter der Kunst (glückliches Kind, der Genius der Nation mit einer Frauengestalt in der Libussa-Manier), Der Niedergang der Kunst (gefesseltes Kind mit einer trauernden Frau) und Die Wiederauferstehung der Kunst (seine Fesseln zerreißendes Kind mit einer Frauengestalt, die das tschechische Nationaltheater auf der Hand hält) umfasst. 18 Die Inschrift Obwohl sie gestorben sind, sprechen sie weiter ist in der Symbolik des Wortes, des Sprechens und der Sprache eingebettet, die im 19. Jahrhundert bei der Selbstfindung der tschechischen Nation eine so wichtige Rolle spielte. Das Pantheon des tschechischen Nationalmuseums wurde bei der Fertigstellung des Gebäudes im Jahre 1890 eingerichtet. Es beherbergt Gemälde und Büsten mit Motiven aus der tschechischen Geschichte. Neben Gelehrten und Heiligen sind auch frühere böhmische Könige und Fürsten im Pantheon. Dies gilt nicht für den Vyšehrader Slavín, auf dem mit Ausnahme von František Palacký und František Ladislav Rieger konsequent keine Politiker, sondern nur Schriftsteller, Maler, Sänger, Gelehrte, Schauspieler und andere Kulturschaffende begraben wurden. Wiederholt spielen nun Schriftsteller und Philologen (Karel Hynek Mácha, Božena Němcová, Julius Zeyer, Václav Hanka...) eine Schlüsselrolle, worin sich einerseits die besondere Bedeutung des Wortes in der tschechischen Kultur widerspiegelt, andererseits die Tatsache, dass die tschechische Kultur und insbesondere die Literatur bis zur Entstehung der Tschechoslowakei sowie in der Zeit der von außen destruierten tschechischen Staatlichkeit (Protektorat, Normalisierung...) auch politische Aufgaben erfüllten bzw. erfüllen sollten, die sonst durch politische Institutionen und Parteien wahrgenommen werden. Nicht nur im Fehlen von Politikern und der herrschenden Elite besteht der Unterschied zur Regensburger Walhalla. Diese ist durch das Vermächtnis des bayerischen Königs zur offiziellen Gedenkstätte geworden, während der tschechische,volksnahe Slavín vom Verein Svatobor 18 Eine Gesamtdarstellung der Bildmotive im Nationaltheater versucht PRAHL (1999). 99

50 100 Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín bis zur erzwungenen Auflösung des Vereins im Jahre 1970 (Wiederbelebung im Jahre 1990) betreut wurde. Die auf die Akropolis anspielende Walhalla ist außerdem als eine Ehrenhalle konzipiert, in der die unsterbliche Gottheit weilt und der Sieg der lebendigen und zur Gottheit werdenden Heroen gefeiert wird. Vom menschlichen Leiden, das die heroischen Siege begleitet, wird in der Walhalla abstrahiert. Das Leiden wird nur von einer Walküre verkörpert, die den durch Opfer errungenen Sieg allegorisch personifiziert. Der konkrete Tod tritt hier in den Hintergrund, während der Friedhof Slavín diesem Tod und dem konkreten menschlichen Leid geweiht ist. Dies ist nicht nur durch den Ort bestimmt, der allerdings so bewusst gewählt wurde. Denn die Kategorien des Leidens und des Todes bzw. der Finsternis und des Schlafes sind bei der Selbstreflexion der eigenen leidvollen Geschichte und der eigenen Kultur, die gerade so auferstanden bzw. erwacht ist, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung. Der Dornenkranz Božena Němcovás ist daher kein Zufall. Auch das Grab Karel Čapeks ( ), des ersten Opfers des Münchner Abkommens, stellt das persönliche Leiden als nationales dar. Das Grabmal hat die Form einer Martersäule, an der die Abbildung Christi oder des/der Heiligen durch das tschechoslowakische Staatswappen ersetzt wurde. Mit Blick auf die Motive des Leidens, des Todes und des Trauerns, die auf dem tschechischen Slavín im Unterschied zur Walhalla im Vordergrund stehen, ist bezeichnend, dass in der Gruft im Jahre 1901 als erster gerade Julius Zeyer ( ), der wohl bedeutendste tschechische Neoromantiker begraben wurde. Denn neben seinem Gedichtszyklus Vyšehrad (1880), in dem er eine mythologische, durch die Götter des slavischen Pantheons belebte Epopea schuf, zog Zeyer in Jan Maria Plojhar (1891) eine Parallele zwischen dem leidenden und auferstanden Böhmen (Čechy) und der Kreuzigung und Auferstehung Christi. Zu Julius Zeyer und seinem Paradigma der tschechischen Geschichte bekennen sich auch Vertreter der tschechischen Decadence, die allerdings den Slavín als Handlungsort ihrer Gespräche und Romane meiden. Sie verbinden es, so in Miloš Martens ( ) Dialog Nad městem (1917, Über die Stadt) oder im Roman Jiří Karáseks ze Lvovic ( ) über Manfred Macmillen (1907), mit dem Weißen Berg (Bílá hora), wo 1620 die berühmt berüchtigte Schlacht stattfand, oder mit dem Altstädter Ring, wo die aufständischen böhmischen Stände 1621 hingerichtet wurden. Ihnen ist der Vyšehrad doch noch zu sehr mit Libussa und dem Nationalen in der Kunst, von dem sich die Moderne in ihrem Manifest aus dem Jahre 1895 lossagte, verbunden. Bezeichnenderweise ist aber Franz Kafka gerade das Vyšehrader Grabmal Václav Beneš Třebízskýs ( ), des tschechischen historischen Schriftstellers im Stile Alois Jiráseks, das von František Bílek ( ) realisiert und Žal (Leid) benannt wurde, eine bleibende Erinnerung an Marek Nekula den Slavín geblieben. 19 Kafka erkennt übrigens die Bedeutung vom Vyšehrad als tschechischem Gegenentwurf zum Hradschin, damals dem Symbol der offiziellen (habsburgischen) Macht, auch in seinem vielbeschworenen Zitat: Prag lässt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muss man sich fügen oder. An zwei Stellen müssten wir es anzünden, am Višehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, dass wir loskommen. 20 Auch wenn der Slavín im Unterschied zur Walhalla in die Gesamtanlage auf dem Vyšehrad eingebunden ist und keine von Weitem sichtbare Dominante bildet, wird er dank seiner Situierung in der Hauptstadt doch noch intensiver in den zeitgenössischen Diskurs eingebunden und instrumentalisiert als die deutsche Walhalla. So werden im Jahre 1938 nach der Abtretung der Sudetengebiete die menschlichen Überreste Karel Hynek Máchas ( ), des wohl größten Dichters der tschechischen Romantik, aus Leitmeritz nach Prag überführt. Die Rückkehr wird von Vladimír Holan in seinem Gedicht Návrat Máchův in Září (1938) und von Vítězslav Nezval in Óda na návrat Karla Hynka Máchy in Pět minut za městem (1940) apostrophiert. Nach der Errichtung des Protektorats wird Mácha auf dem Vyšehrader Slavín begraben, wobei sein,begräbnis zur Manifestation des tschechischen Widerstandes gegen das durch das nationalsozialistische Deutschland installierte Regime wird. Das einstige schwarze Schaf der tschechischen Kunst, das zu wenig patriotisch war, und das einstige Vorbild und der Vorläufer der tschechischen Surrealisten wird u.a. mit Blick auf seine Verse in diesem Kontext zum tschechischen Nationaldichter par excellence: Po modrém blankytu bělavé páry hynou, lehounký větřík s nimi hraje; a vysoko v daleké kraje bílé obláčky dálným nebem plynou, a smutný vězeň takto mluví k ním: Vy, jenž dalekosáhlým během svým co ramenem tajemným zemi objímáte, vy hvězdy rozplynulé, stíny modra nebe, vy truchlenci, jenž rozesmutnivše sebe, v tiché se slzy celí rozplýváte, vás já jsem posly volil mezi všemi. Kudy plynete u dlouhém dálném běhu, i tam, kde svého naleznete břehu, tam na své pouti pozdravujte zemi. Ach zemi krásnou, zemi milovanou, kolébku mou i hrob můj, matku mou, 19 Zum Kontext dieses Hinweises vgl. u.a. NEKULA (2002). 20 KAFKA (1966: 14). Kafka geht jedoch auch auf andere national polarisierte Prager Monumente ein und distanziert sich vom der sprachnationalen Programmatik, vgl. NEKULA (2003). 101

51 102 Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín vlasť jedinou i v dědictví mi danou, šírou tu zemi, zemi jedinou! [...] (MÁCHA 1986: 36; kursiv M.N.) Weißliche Dünste im Azur vergehen, mit ihnen spielt ein Lüftchen leise und in der Höh zu ferner Reise die weißen Wolken durch den Himmel wehen, und der Gefangene spricht sie traurig an: Die ihr mit euerer weiten Bahn Gespann wie mit geheimem Arm die Erde fasset, zerfloßne Sterne ihr, des Himmelblaues Schatten, ihr trauernden, die ihr im wehen Selbstermatten als Tränen still euch niederrinnen lasset, euch wählt ich mir zu Boten unter allen. Wohin ihr immer ihre Wege windet, wo immer ihr dann eur Ufer findet, dort grüßt die Erde mir auf eurem Wallen. Die schöne Erde [Land], die geliebte Erde [Land], die Wiege und das Grab, die Mutter mein, das Land [Vaterland], verliehn, daß es mein Erbe werde, das weite Land, alleinig und allein! (MÁCHA 2000: 235; kursiv M.N.) 21 Bei der Demonstration am 28. Oktober 1939 anlässlich des Gründungstages der Tschechoslowakei wurde etwas später der Student Jan Opletal ( ) tödlich verletzt. Sein Begräbnis am 15. November 1939 wurde zu einer mächtigen emotionalen Kundgebung gegen die Okuppanten, die eine Terrorwelle gegen die tschechische Intelligenz und die Schließung der tschechischen Hochschulen am 17. November 1939 zur Folge hatte. Da auf dem Vyšehrader Friedhof nicht wie in der Walhalla die Heroen symbolisch gefeiert, sondern die Märtyrer begraben und betrauert werden, ist es nur konsequent, dass Jan Opletal hier seine letzte Ruhestätte fand. Die Gefahr, dass der Verein Svatobor auch den Studenten Jan Palach ( ), der 1969 durch seinen Selbstmord gegen die sog. Normalisierung nach dem Einmarsch der Sowjets protestierte, so ehren würde, wurde im Jahre 1970 durch die Auflösung des Vereins gebannt. Daher erscheint es noch einmal konsequent, dass zumindest ein Teil der Demonstranten im Zusamenhang mit der Manifestation am 17. November 1989, die die samtene Revolution einleitete, den tschechischen Slavín und das Grab Jan Opletals aufsuchte. Von dem mit der Studentenbewegung verbundenen Studentenwohnheim Albertov, wo der offizielle Teil der Demonstration stattfand, brach dann ein Teil der Demonstranten Richtung Wenzelsplatz, dem Sterbeort Jan Palachs, auf. Die jüngsten Märtyrer der tschechischen Nation haben so diese unheroische, seitens der Studenten nicht gewaltsame und seitens der Ordnungsmacht um so gewaltsamer bekämpfte Demonstration beglei- 21 Im Tschechischen Original liest man jedoch zem auch als,land und vlast bzw. vlasť eindeutig nur als,vaterland. Marek Nekula tet. Auch die Walhalla beherbergt übrigens eine Studentin: auf diese Weise soll an die heroische Tat Sophie Scholls erinnert werden. Literatur BENEŠOVÁ, Zdeňka et al. (Hg.) (1999): Národní divadlo historie a současnost budovy. History and Present Day of the Building. Geschichte und Gegenwart des Hauses. Praha: Národní divadlo. BROD, Max/KAFKA, Franz (1989): Eine Freundschaft. Briefwechsel. Frankfurt/ Main: S. Fischer. ČERNÁ, Marie (1964): Václav Levý. Praha. FRIČ, Josef Václav (1861): Libušin soud [Libussas Gericht]. Genf. FRIČ, Josef Václav ( /1957, 1963): Paměti [Erinnerungen]. Bd. 1, 3. Praha: SNKLU. HANSKE, Horst/TRAEGER, Jörg ( ): Walhalla. Ruhmestempel an der Donau. Ein Bilderband. Regensburg: Bernhard Bosse Verlag. HEIDEGGER, Martin (1936/1990): Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart: Reclam. HERDER, Johann Gottfried (1893): Herders Werke. Bd. 1: Stimme der Völker. Volkslieder nebst untermischten andern Stücken. Hg. v. H. Meyer. Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft. HODROVÁ, Daniela (1993): Román zasvěcení [Initiationsroman]. Jinočany: H & H. HODROVÁ, Daniela et al. (1997): Poetika míst [Poetik der Orte]. Jinočany: H & H. HOLUB, Josef/LYER, Stanislav ( ): Stručný etymologický slovník jazyka českého [Kurzes etymologisches Wörterbuch der tschechischen Sprache]. Praha: SPN. HRBATA, Zdeněk (1999): Romantismus a Čechy [Romantismus und Böhmen]. Jinočany: H & H. JIRÁSEK, Alois ( ): Z Pamětí samotářových [Aus den Erinnerungen eines Einzelgängers]. In: Zvon 7, KLÁCEL, František Matouš (1836, 1837): Lyrické básně [Lyrische Gedichte]. Bd Brno: Rudolf Rohrer. KAFKA, Franz (1966): Briefe Hg. von M. Brod. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. 103

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53 Die deutsche Walhalla und der tschechische Slavín kula, J. Rogall (eds.), Deutsche und Tschechen. Geschichte Kultur Politik. München: Beck Verlag, Walhalla. Amtlicher Führer. Hg. v. Staatlichen Hochbauamt Regensburg. Regensburg: Bernhard Bosse Verlag ZEYER, Julius (1880/ ): Vyšehrad. Praha: Československá grafická unie. ZEYER, Julius (1891/1908): Jan Maria Plojhar. Übersetzt von Friedrich Hlaváč. Praha: Otto. Das Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Leseund Redehalle der deutschen Studenten in Prag Josef Čermák 1. Prag im Zeitalter der Assoziationen In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte Prag, wie man weiß, den Eindruck einer eher deutschen Stadt. Die Oberschicht der Gesellschaft, die Bürokratie der k. und k. Landesämter, das Militär, die Industrie, die leitenden Kräfte des Hochschulwesens waren österreichisch geprägt. Das tschechische Prag war eine Stadt der Dienstleistungen, eine Stadt von Bediensteten, kleinen Handwerkern und Gewerbetreibenden. Die tschechische Intelligenz, vaterländisch engagiert, meistens vom Lande stammend und durch das aufklärerische und frühromantische Gedankengut Europas sowie durch das ständig präsente ruhmreiche Erbe der böhmischen Geschichte geprägt, führte damals ein sprachliches Doppelleben. Patriotisch gesinnte Literaten schrieben für ihr Volk, vornehmlich für die Landesbevölkerung, für den Bauernstand, im schlichten Tschechisch amüsante und zugleich erbauliche Prosastücke und unterhaltsame Gebrauchspoesie, die sehr oft zum öffentlichen Deklamieren bestimmt war. Die höheren Bestrebungen, z.b. auf dem Gebiet der Philosophie oder Wissenschaft, mussten dagegen die tschechischen Intellektuellen etliche Jahrzehnte lang durch das Medium der deutschen Sprache ausdrücken, was nicht nur aus ihren wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch aus ihrem gegenseitigen Briefwechsel zu ersehen ist. Die tschechische Sprache bemühte sich zwar, eine Fachterminologie mit bewundernswerter Erfindungskraft mittels vieler Neologismen hervorzubringen, die uns heute durchaus natürlich vorkommen, doch war dieser Entwicklungsprozess nicht schnell genug, um mit den kulturellen Bedürfnissen der Zeit Schritt halten zu können. Der Frühling der Völker, das Jahr 1848, öffnete auch für die beiden Ethnien Prags neue Perspektiven. Die Aufhebung mehrerer einengender Gesetze, Anordnungen und Vorschriften in der österreichischen Monarchie ließ auch Prag aufatmen. Zum Beispiel ermöglichte die nun gestattete größere Bewegungsfreiheit vor allem der tschechischen Landesbevölkerung eine unbehinderte Einwanderung in die Landesmetropole, wo es für sie unter anderem größere und bessere Arbeitsmöglichkeiten gab, die die rapide Industrialisierung der Stadt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts bot. Eine vielleicht noch größere Befreiung brachte die neue politische Situation den Juden vom Lande, als im Jahre 1848 in der Monarchie außer anderen ihr Leben einschränkenden Hindernissen das schmähliche Familiantengesetz aufgehoben wurde, das jahrzehntelang die Anzahl der jüdischen Familien im Lande regulierte. Nur der älteste Sohn der Familie durfte heiraten, und zwar nur nach dem Tode des Vaters, was 106

54 108 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle im praktischen Leben zur Folge hatte, dass die meisten jüdischen Familien, z.b. auch die von Kafkas Vorfahren, viele uneheliche Kinder besaßen. Das Bild Prags hat sich am Anfang der zweiten Jahrhunderthälfte wesentlich geändert. Vor allem änderte sich das quantitative Verhältnis der deutschjüdischen und der tschechischen Bevölkerung sehr schnell zugunsten der Tschechen, was im politischen Verhalten und im alltäglichen Umgang beider Lager Folgen hatte. Die wachsende Disproportion der nationalen Kräfte in Prag produzierte auf beiden Seiten Stimmungen, die zum Nährboden des sich immer stärker steigernden Nationalismus wurden. In der ersten Etappe wies der tschechische Nationalismus konstruktive Züge auf, er strebte nach Konstituierung einer entwickelten nationalen Gesellschaft, die mit den Nachbarn im Rahmen gegenseitigen Respekts, bestimmter moralischer Regeln und unter Anerkennung bestimmter unanfechtbarer Wertmaßstäbe ohne Aggressivität wetteifern wollte. Ein tragisches Paradox besteht darin, dass der Nationalismus in seinem späteren Stadium beiderseits eine destruktive, den Nachbarn gefährdende Gestalt annahm, und zwar in der Zeit, als seine ursprünglichen, die Konstitution einer hochentwickelten nationalen Gesellschaft postulierenden Ideen in den meisten Bereichen des Gesellschaftslebens bereits Realität waren. Zu erwähnen bleibt, dass die Juden in Prag im Wettkampf der beiden anderen Nationalitäten zu jeder Zeit eine Zwischenposition einnahmen. Sprachlich und was die Bildung betrifft, waren sie in der Mehrheit deutsch orientiert, deutsch assimiliert. Von den Tschechen in Prag wurden sie einfach für Deutsche gehalten. Deshalb drohte ihnen von dieser Seite nicht nur Antisemitismus, sondern sie wurden auch durch zeitweilige Ausbrüche des antideutschen oder viel öfter noch antiösterreichischen Hasses bedroht. Politisch schwankten die Prager Juden zwischen den beiden nationalen Gesellschaften, je nach dem, welche von ihnen gerade im Prager Rathaus regierte, besonders in der Zeit, als die Kräfte der beiden Lager annähernd gleich waren. Man konnte damals seine Nationalität freiwillig wählen, ähnlich wie es bei der Wahl einer politischen Partei der Fall ist. Entscheidend sollte die Umgangsprache sein, derer man sich bei der Ausübung seines Berufs bediente, also beispielsweise nicht die Muttersprache oder die politische Gesinnung. Der Vater von Franz Kafka änderte zum Beispiel einige Male seine nationale Angehörigkeit, was ohne Zweifel mit der momentanen Zusammensetzung des Stadtrates und Hermann Kafkas tschechisch-deutsch-jüdischer Klientel zusammenhing. Franz, welcher in seinem Amt von diesen atmosphärischen Einflüssen nicht abhängig war, gab sich immer als Deutscher aus. Die Abschaffung der letzten Überreste des feudalen Rechts in der Monarchie um das Jahr 1848 und später der Anfang des liberalen Zeitalters brachten ferner die Vereinigungsfreiheit. Schon der Begründer der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag Hieronymus Roth schrieb im Jahre 1856 im einleitenden Wort zum Halle-Gedenkbuch: Wir leben in dem Zeitalter der Josef Čermák Associationen [...] 1 Bereits im Jahre 1848 und dann nach der Ära des Bachschen Neoabsolutismus in den 1860er Jahren entstand auch in Prag eine Menge von tschechischen, deutschen und deutsch-jüdischen Vereinen. Einer von diesen Vereinen, der uns hier interessieren soll, war die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag. 2. Die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag Auch diese Korporation war ein Kind des Revolutionsjahres 1848 und zugleich der zweitälteste (nach der Teutonia) und überhaupt wichtigste deutsche Studentenverein in Prag, wo sich im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte eine Menge von kleineren Hochschulstudentenvereinen bildete. Die Lese- und Redehalle als Zentralverein der Prager deutschen Studentenschaft war also keine isoliert stehende Institution, und zwar nicht einmal im internationalen Maßstab. Sie hatte ihre Namensschwestern z.b. in Wien, in Darmstadt, Hamburg oder Czernowitz in der Bukowina, mit welchen sie regelmäßig Kontakt unterhielt, 2 und sie hatte zudem ein tschechisches Pendant, den Akademický čtenářský a řečnický spolek (Akademischer Lese- und Redeverein), der jedoch nur bis 1889 bestand. Die Lese- und Redehalle existierte kontinuierlich fast 100 Jahre bis zum zweiten Weltkrieg. 3 Es handelte sich um einen Verein der Prager deutschen Hochschulstudenten, welcher jedoch eine viel breitere, ganz Böhmen, Mähren und Schlesien einschließende Wirkungsbasis hatte. Außer den ordentlichen (wirklichen) Mitgliedern, d.h. außer den zur gegebenen Zeit studierenden, verband er später unter dem heiteren Namen alte Herren auch ehemalige Studenten jeden Alters. 4 Außerdem vereinigte die Halle viele Ehrenmitglieder, beitragende Mitglieder, Spender und Gönner nicht nur aus der Prager deutschen und deutsch-jüdischen Prominenz und aus den Ländern der böhmischen Krone, sondern auch aus dem deutsch sprechenden Ausland. Die Anzahl der wirklichen Mitglieder schwankte je nach der Situation außerhalb und innerhalb der Halle zwischen 200 und Unter den Funktionären der Halle waren auch später öffentlich bekannt oder sogar berühmt gewordene 1 Gedenkbuch , aufbewahrt im Archiv der Karlsuniversität Prag (= AKU). 2 Im 62. Jahresbericht der Lese- und Redehalle über das Jahr 1910/11 wird eine lange Reihe von europäischen Städten und Persönlichkeiten (z.b. Thomas Mann, Wilhelm Raabe, Hermann Sudermann) genannt, mit denen die Halle im Schriftenaustausch steht. 3 Über die Geschichte und die gegenwärtige Ordnung des Archivs der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag informiert die Dissertation des tschechischen Historikers Antonín Slavíček (1975). Eine Kurzfassung des ersten Teils dieser Arbeit erschien unter dem Titel Z dějin spolku Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag v období in Acta Universitatis Carolinae Historia Universitatis Carolinae Pragensis, tomus XVII, fasc Die Satzung des Vereins ist in den als Selbstdruck herausgegebenen Satzungen der Leseund Redehalle der deutschen Studenten in Prag, Prag 1912, enthalten. 109

55 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Persönlichkeiten, z.b. der Schriftsteller und Urheber des Begriffs Masochismus Leopold Ritter von Sacher-Masoch (Schriftführer 1852), Professoren der Prager deutschen Universität, der Rechtswissenschaftler Horaz Krasnopolski (Vorstandstellvertreter und Bibliothekar 1865) und der Altphilologe Alois Rzach (Schriftführer, Bibliothekar und Archivar ), die Dichter Friedrich Adler (Schriftführer, Redehalleleiter, Obmann und Obmannstellvertreter ) und Hugo Salus (Obmannstellvertreter 1892), der völkisch antisemitische Journalist und Politiker Karl Hermann Wolf (Schriftführer, Obmann und Redehalleleiter ), der Literaturhistoriker und Universitätsprofessor Rudolf Wolkan (Zeitungsverweser und Schriftführer und Archivar 1884), der Übersetzer und Jurist Bronislav Wellek (Ausschussersatzmann 1892) oder der Brentanoschüler und Mitglied des Prager philosophischen Louvrezirkels Alfred Kastil (Redehalleleiter und Obmann ). Der Ausschuss des Vereins bestand aus 12 Mitgliedern, welche durch unbedingte Mehrheit ihren Obmann und Obmannstellvertreter für die Dauer eines Semesters (eines Halbjahres) wählten. Das Wintersemester dauerte vom 1. Oktober bis Ende Februar, das Sommersemester vom 1. März bis Ende September. Der im Februar abtretende Ausschuss hatte den Jahresbericht, welcher seit 1864 regelmäßig herausgegeben wurde, der Vollversammlung druckfertig zur Genehmigung vorzulegen. Ehrenmitglieder wurden auf Vorschlag des Ausschusses in der Vollversammlung ohne Verhandlung ernannt. Alter Herr konnte jeder sein, der dem Verein mindestens 4 Semester als ordentliches Mitglied angehört hat. Die Farben des Vereins waren schwarz-rot-gold. Der Gründer der Halle Hieronymus Roth stammte aus Trautenau im Riesengebirge, wo er später zum Bürgermeister gewählt wurde, von Beruf war er Jurist. Für seine Verdienste im preußisch-österreichischen Krieg wurde er in den Ritterstand erhoben, im Jahre 1897 ist er in Niederösterreich gestorben. Im Vereinsgebäude in der Krakauergasse 14 in Prag-Neustadt hatte er ein Gedenkrelief. 5 Während ihrer 100jährigen Existenz musste die Halle mehrmals umziehen. Ihr erster Sitz war in der Hibernergasse Konskriptionsnummer 998 II (SLA- VÍČEK 1975: 53). Noch im selben Jahr 1849 zog sie in die Altstädter Karlgasse Nr. 185 I um. Nach 7 Jahren übersiedelte sie im August 1856 in die Dominikanergasse (heute Husova) in das Haus Nr. 352 II. Im Jahre 1861 musste sie diese Räume wegen Umbau verlassen und auf Intervention des Statthalters wurden ihr Räume im sog. Stockhaus auf dem Altstädter Obstmarkt zugewiesen, im Haus Nr. 560 I des Grafen Forgás, des ehemaligen Statthalters von Böhmen. Da auch hier die Raumnot bald spürbar wurde die Bibliothek enthielt bereits Bände wurden im Jahre 1868 im Kleinschen Haus Nr auf dem Stephansplatz (heute Malostranské náměstí) auf der Klein- Josef Čermák seite 7 Räumlichkeiten angemietet. 6 Im Jahre 1875 zog die Halle wieder wegen Raummangel in die Ferdinandstrasse 20 um, wo sie bereits 10 geräumige Zimmer zur Miete hatte und wo sie bis 1889 blieb. Dann übersiedelte sie in derselben Strasse in das Haus Nr. 12, wo sie bis 1904 bleiben konnte. In dieser Zeit verwand die Halle alle Mühe darauf, ihr eigenes Haus zu bauen. Weil aber die durch eine Hausbaulotterie angesammelten Mittel nicht ausreichten, wurde schließlich 1904 ein älteres Haus in der Krakauergasse 14 (1362 II) gekauft. Nach 55 Jahren ihrer Existenz hatte also die Halle ihr eigenes Vereinshaus, in welchem sie bis 1912 ihren Sitz hatte. Da aber der Verein für den notwendigen Umbau des Gebäudes nicht genug Geld hatte, entschloss sich der Ausschuss, das Haus im Jahre 1912 zu verkaufen und in das Deutsche Studentenheim in der Mariengasse (heute Opletalova) 34 umzuziehen. Hier konnte die Halle nur bis zum Jahr 1922 bleiben, weil das Haus dann niedergerissen wurde. Sie zog dann in das neue Gebäude des Deutschen Studentenheimes in derselben Strasse um, die jetzt umbenannt Lützowstrasse hieß, in das Haus Nr. 38. Nach der deutschen Besetzung des Landes hörte der Verein de facto auf zu existieren. Doch in der Zeit des Krieges spielte sich in dem Vereinssitz noch ein tragikomisches Finale ab. Der erste Anlass zur Gründung der Prager Lese- und Redehalle und der Studentenvereine in Europa überhaupt ist in München zu suchen. Er soll indirekt mit der Geliebten des Königs Ludwig I., mit der spanischen Tänzerin Lola Montes, zusammenhängen, deren Eingreifen in Regierungsangelegenheiten einen großen Unwillen bei den bayerischen Studenten erregt haben soll, so dass sie von ihnen öffentlich auf der Strasse angegriffen und misshandelt wurde. Als der erzürnte König zur Entgeltung die Münchener Universität geschlossen hatte, kamen von den Studenten geführte Straßenunruhen zum Ausbruch, die nicht nur die Wiedereröffnung der Universität, sondern auch den Erlass eines neuen Universitätsstatuts zur Folge hatten, welches auch die Bewilligung enthielt, Studentenvereine zu gründen. Dieses Münchener Statut wurde dann in ganz Europa appliziert und wurde auch zur rechtlichen Grundlage der in Wien und dann in Prag im Jahre 1848 gegründeten Studentenvereine. Die Lese- und Redehalle und ihr tschechisches Pendant, der Akademický čtenářský a řečnický spolek, von welchen es schwer zu sagen ist, welches früher als das andere entstand die Entstehungsprozedur beider Vereine deckt sich zeitlich fast auf den Tag, sind die allerwichtigsten. In diesem Zeitraum entstanden jedoch viele andere, rein tschechische und rein deutsche, aber auch gemischte deutsch-tschechische Vereine, ein konkreter Beweis, dass beide Nationalitäten um 1848zumindest für kurze Zeit politisch übereinstimmen konnten. 5 Die Abbildung des Reliefs findet man im Bericht der Lese- und Redehalle (weiter nur BLRH) 1904/ Diese Angaben entstammen dem Büchlein des Hallefunktionärs JUC Viktor Wilhelm Russ (1862: 9 19) und Antonín Slavíček (1975: 7f.). 111

56 112 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Die Halle, wie man sie verkürzt nannte, wurde von einem Ausschuss geleitet, welchem ein Obmann vorsaß, dem mehrere weitere Funktionäre beistanden, deren Zahl, Titulatur und Kompetenz sich im Laufe der Jahre änderten. Die stabilsten waren: der Obmannstellvertreter, ein oder zwei Schriftführer, ein bis drei Bücherwarte, ein bis vier Kassierer (Säckelwarte), der Redehalleleiter, der Zeitungsverwalter, der Begünstigungsberichterstatter und der Rechnungsprüfer (Revisor). Weiter wurde die Halle in Sektionen, später Abteilungen genannt, gegliedert, die kleinere Gruppen von Studenten eines Faches (z.b. Literatur und Kunst, Altphilologie, Chemie, Physik, Medizin usw.) vereinigten. Ihre Existenz und ihre Zahl richtete sich nach dem momentanen Interesse der Mitglieder. Auch die Abteilungen hatten ihre Leitung und ihre kleinen Funktionäre. In der Abteilung Literatur und Kunst betätigten sich in den Jahren z.b. Max Brod, Oskar Pollak und eine kurze Zeit sogar Franz Kafka (als Kunst- und Literaturberichterstatter). Das Ziel der Lese- und Redehalle war, die deutschen Hochschulstudenten Böhmens auf das öffentliche Leben in der Zukunft vorzubereiten, damit sie parallel zu ihrer Universitätsbildung bestimmte Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, welche die Alma mater in erforderlichem Maße nicht bieten konnte. Die Tätigkeit der Halle umfasste zwei Schwerpunkte Die Lesehalle Der erste Schwerpunkt der Halle war ihre in einem der ersten Jahresberichte als Nerv unseres geistigen Vereinslebens bezeichnete Bibliothek. Nach bescheidenen Anfängen in der Jahrhundertmitte (1200 Bände) wurde sie nach 80 Jahren, um das Jahr 1930, mit ihren über Bänden nach der Universitätsbibliothek im Klementinum zur zweitgrößten Bibliothek Prags. Außerdem lag im Lesesaal der Bibliothek eine äußerst reiche Auswahl einheimischer und ausländischer, populärer und fachwissenschaftlicher, literarischer und künstlerischer Zeitschriften und Zeitungen zur freien Verfügung, die nicht nur Belehrung, sondern auch poetische Inspiration vermittelten, wie es bei der Münchener Zeitschrift KUNSTWART im Fall des jungen Oskar Pollak und Franz Kafka nachweisbar war. 7 Wie die umfangreichen Berichte über die Sitzungen des Bibliothekausschusses im Protokollbuch der Bibliothek bezeugen, erfreute sich die Bibliothek der Lesehalle über den ganzen Zeitraum der größten Unterstützung. Vorschläge der Abteilungsausschüsse und ihrer Mitglieder zum Einkauf neuer Bücher wurden detailliert diskutiert. Ebenfalls wurde wegen permanenten Geldmangels umfangreiche Korrespondenz mit deutschen und öster- 7 Dass der KUNSTWART und sein Herausgeber Ferdinand Avenarius im deutschen Prag mit Interesse verfolgt wurden, belegt der Vortrag von PhDr. Victor Josse Ferdinand Avenarius und seine lyrische Dichtung 'Lebe!' in der Abteilung für Literatur und Kunst (44. BLRH 1894/95). Josef Čermák reichischen Verlagen und kulturellen Institutionen in ganz Europa geführt mit dem Ziel, erforderliche Bücher und Zeitschriften kostenlos zu erhalten. 8 Die alljährlich publizierten Berichte der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag 9 widmen der Bibliothek viel Aufmerksamkeit. Von den detailliert dokumentierten Übersichtstafeln erfahren wir die Höhe der Bücherbestände in einzelnen Fachgebieten sowie die Gesamtzahl der aufbewahrten Bände zum Abschluss jedes Jahres. Der Vergleich dieser Endzahlen ergibt einen durchschnittlichen alljährlichen Zuwachs von ca Bänden, den man größtenteils den in- und ausländischen Geschenkgebern zuschreiben muss. Aus den statistischen Tafeln ersieht man über die inhaltliche Gliederung der Bestände, wie umfangreich die einzelnen Fächer vertreten waren. Die Belletristik und ihr Schwerpunkt deutsche Klassik hatten begreiflicherweise Übergewicht, dann folgten Rechtswissenschaft und Politik, weiter Medizin, Geschichte, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, Naturwissenschaften, Kunstgeschichte, Philosophie, fremde und alte Sprachen, Geographie usw. Gut vertreten war ferner Stenographie. Eine selbständige Abteilung bildete die Goethe- Schiller-Literatur und um dem Wunsch des Halleausschusses im Todesjahr Bismarcks 1898 nachzukommen seit 1899 auch die Bismarck-Literatur 10, was zweifellos mit dem Aufstieg der nationalistischen Stimmungen in der Zeit der Badeni-Krise im Zusammenhang stand (Franz Kafkas Gliedcousin und ehrgeiziger Funktionär der Halle Bruno Kafka war ebenfalls ein Bismarckverehrer, er hielt im Jahre 1903 den Vortrag Bismarcks nationalökonomische Anschauungen auf dem Boden der Halle.) 8 Dass das Ergebnis dieser Bittgesuche oft nicht erfolgreich war, bezeugt z.b. die Briefantwort des Leipziger Verlags Teubner vom : Es wird in letzter Zeit so oft mit diesen oder ähnlichen Wünschen von verschiedenen Seiten an mich herangetreten, dass ich mich genötigt sehe, dieselben ausnahmslos abschlägig zu beantworten. (AUK, Korrespondenz der LRH) 9 Die Jahresberichte der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag (im ff. Berichte) sind nur lückenhaft im Archiv der Karlsuniversität und in der Nationalbibliothek (Klementinum) in Prag erhalten. Ihre inhaltliche Anordnung wurde im Laufe der Jahre kaum geändert. Dem eigentlichen Jahresbericht wurde später wie es auch bei den damaligen Jahresberichten der böhmischen Gymnasien üblich war ein Aufsatz eines mit der Halle freundschaftlich verbundenen Wissenschaftlers oder eines prominenten Studenten vorgesetzt. Der Jahresbericht selbst enthält immer den Bericht über die Tätigkeit des Halleausschusses und einzelner Abteilungen samt den Namen aller beteiligten Funktionäre, weiter den Bericht des Redehalleleiters, den statistischen Nachweis der Bibliothekbestände, eine ausführliche Liste der zur Verfügung gestellten in- und ausländischer Zeitschriften und eine regelmäßig aktualisierte Liste der lebenden und verstorbenen Ehrenmitglieder, der beitragenden Mitglieder, der alten Herren und der zurzeit aktiven wirklichen Mitglieder. 10 Durch Ausschussbeschluss wurde im Mai ein neues (das 29.) Fach in der Bibliothek begründet, das lediglich Werke von und über Otto von Bismarck enthalten soll. Im Lauf der Zeit wurden es insgesamt 90 Bände (51. BLRH 1899/1900: 29). 113

57 114 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Im Jahre 1903 hat der Bibliothekar der Halle Leo Egerer einen zahlenmäßigen Test zum Thema Was lesen die deutschen Studenten Prags? erarbeitet, indem er die von den Mitgliedern gemachten Entleihungen aus der Abteilung Schöngeistige Literatur analysierte. Die zehn meistgelesenen Schriftsteller waren: Emile Zola, Arthur Schnitzler, Adolf Wildbrandt, Lew Tolstoi, Hermann Sudermann, Gerhart Hauptmann, Henrik Ibsen, Marie von Ebner-Eschenbach, Guy de Maupassant, Marcel Prévost. Die Reihenfolge entspricht in vielen Fällen der allgemeinen Beliebtheit dieser Autoren in der Zeit und sie entspricht auch gewissermaßen den Themen der in der Redehalle gehaltenen Vorträge. Einige beliebte Autoren der Vorkriegszeit blieben jedoch noch unterrepräsentiert: D Annunzio steht als 20. in der Reihe, Hamsun als 32., Maeterlinck als 39., Thomas Mann als 43. und Dostojevski sogar erst als 49. Der in Böhmen am Anfang des Jahrhunderts sehr beliebte Heinrich Mann ist auf der Liste der ersten 100 Namen noch überhaupt nicht vertreten. Leider hat sich weder die Bibliothek der Halle noch ihr kompletter Katalog erhalten. Ab und zu konnte man nach dem zweiten Weltkrieg in Prager Antiquariaten Bücher mit dem Hallestempel finden, vereinzelt sind sie auch heute noch in Prager Bibliotheken anzutreffen. Eine annähernde Vorstellung von der Qualität der Hallebibliothek kann ein Auszug aus ihrem Katalog vom Jahre 1930 geben, welcher in Form einer gedruckten Broschüre erschien. 11 Dieser kleine Bruchteil des Gesamtkatalogs bietet bestimmt kein objektives Bild von den Fonds dieser riesigen Bibliothek, er gibt jedoch wahrscheinlich eine Vorstellung von den Büchern, die man zu dieser Zeit für wichtig oder aktuell, interessant und empfehlenswert hielt. Wie erwartet, waren deutsche Klassiker, oft durch ihre gesammelten Werke, reichlich vertreten. Die Auswahl der neueren deutschsprachigen Literatur zeugt von der zeitbedingten Beliebtheit bestimmter Autoren. Die deutschen Autoren, je nach Anzahl der im Auszug angeführten Bücher, heißen diesmal: Heinrich Mann, Jakob Wassermann, Arthur Schnitzler, Thomas Mann, Frank Wedekind, Detlev von Liliencron. Von den Prager deutschen Autoren sind im Bibliotheksauszug fast alle Bedeutenderen vertreten, an erster Stelle Hugo Salus 12, an zweiter Franz Werfel. Die beliebtesten Autoren der ausländischen Literatur waren August Strindberg und Lew N. Tolstoi, weiter folgten Fjodor M. Dostojevski, George Bernard Shaw, Ivan S. Turgenev, Mark Twain und Anton P. Tschechow. Also vor allem Skandinavier, Russen und Angelsachsen, bei welchen der Dichter Walt Whitman nicht 11 Auszug aus den Hauptkatalogen der Bücherei der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag, Prag 1930, Selbstverlag des Vereins. 12 Der Dichter Hugo Salus gehörte zu den treuesten Gönnern der Halle: zuerst als Funktionär, dann als Festredner bei vielen festlichen Veranstaltungen und Teilnehmer an allen Jubiläumsfeiern bis kurz vor seinem Tode. Seine als Prolog vorgetragenen Gelegenheitsgedichte und der Halle gewidmeten Ansprachen wurden mehrmals in den BLRH publiziert. Josef Čermák fehlt. Die romanischen Literaturen sind schwächer vertreten von den modernen eigentlich nur Emile Verhaeren. Bücher aller dieser Autoren wurden am Anfang des Jahrhunderts auch im breiteren Prager deutsch-jüdischen Kulturmilieu häufig gelesen, was sich durch den Briefwechsel, die Tagebücher, durch die Memoiren, Kritik und Essayistik der Zeit mehrfach belegen lässt. Die Nachbarliteratur, die tschechische, war in den Regalen der Hallebibliothek kaum zu finden. Das konnte mehrere Gründe haben: von politischen bis zu praktischen wie begrenzte Kenntnis der Sprache und Konkurrenz durch viele tschechische Bibliotheken in der Stadt. Doch finden wir einen tschechischen Autor: Jaroslav Vrchlický mit 5 Büchern, dank Bronislav Wellek, einem Wiener Tschechen und seinerzeit aktiven Hallemitglied, der Vrchlický ins Deutsche übersetzte Die Redehalle Der zweite Schwerpunkt des Vereins lag in der Redehalle und war mit umfangreicher Vortragstätigkeit, Debattenabenden, verschiedenen Kursen, Ausstellungen und Teilnahme an Theatervorstellungen verbunden. Im Jahre 1911 hat ein Redehallefunktionär namens Stümmer eine Bilanz von Kulturaktivitäten der Abteilung für Literatur und Kunst in den Jahren vorgelegt. In diesem Zeitabschnitt wurden insgesamt 179 Vorträge, 13 Konzerte, 18 Debattenabende, zwei Ausstellungen und drei Theateraufführungen veranstaltet (RAPPORT , Eintrag Nr. 132). Andere Abteilungen wiesen ähnliche Aktivitäten auf. Da die Vortragenden nicht selten ziemlich hohe Honorare forderten und die Halle sich in fortwährender Geldnot befand, musste die betreffende Abteilung fast immer viel Engagement aufbieten, um die Bewilligung des Halleausschusses zu erhalten. In bestimmten Fällen mussten die Abteilungsmitglieder dem Halleausschuss, wenn dieser einen zu geringen Zuspruch befürchtete, sogar eine finanzielle Garantie aus eigener Tasche geben. Als 1904 Detlev von Liliencron in der Redehalle vorlesen sollte, haben die Mitglieder der Abteilung Literatur und Kunst insgesamt 300 Kronen gesammelt. Hugo Salus als reicher alter Herr trug mit 120 Kronen bei, die armen Studenten Brod und Kafka mit 20 und 10 Kronen. Nicht unerheblich war die Studentenfürsorge der Halle. Sie betraf die Wohnungs- und Arbeitsvermittlung. Den bedürftigen Studenten wurde regelmäßig Geldverdienst durch Vermittlung verschiedener Hilfsarbeiten in den Prager deutschen Familien, Unternehmen und Institutionen ermöglicht. Es handelte sich vorwiegend um Betätigungen als Hauslehrer, Erzieher, Sprach-, Musikoder Stenographielehrer oder um verschiedene Gelegenheitsarbeiten. Dazu wurde das so genannte Nachweisungsinstitut für Verwertung geistiger Arbeit Studierender errichtet. 115

58 116 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle 3. Chronologischer Abriss 3.1. Die Jahre Die hoffnungsvollen Anfänge der Halle in den ersten zwei Jahren nach 1848 wurden in den 1850er Jahren von aufgezwungener Passivität und Einschränkung aller Aktivitäten der Ära Bach abgelöst. Der Ausschuss und die Sektionen standen unter permanenter Polizeiaufsicht. Die Aktivität der Halle musste sich ausschließlich auf die Bibliothek beschränken, die Tätigkeit der Redehalle wurde polizeilich verboten. Keine der für eine breitere Öffentlichkeit bestimmten Publikationen wurde zugelassen, man konnte nur ein internes Album eine Art Samizdat mit kleinen Beiträgen der aktivsten Hallemitglieder pro domo sua zusammenstellen. 13 Ferner durfte man sich nur in kleinen Zirkeln von Studenten mit rein unpolitischen Themen befassen (z.b. klassische deutsche Literatur oder Geschichte der Reformation in Böhmen), bzw. praktische Bildungskurse der Stenographie, Mathematik, Mineralogie oder der französischen oder englischen Konversation veranstalten. 14 Es ging daher in der Zeit der 1850er Jahre vor allem um die Erhaltung der E- xistenz, erst in den 1860er Jahren unter einer verfassungsgemäßen Regierung konnte man an die Erneuerung der Ende der 1840er Jahre projektierten Aktivitäten denken. Die Wiederbelebung verlief jedoch nur zögernd. Gesuche um Wiederbewilligung der Redehalletätigkeit wurden mehrmals amtlich abgelehnt. Erst 1868, als das neue Statut der Halle genehmigt wurde, wurde auch die Tätigkeit der Redehalle bewilligt, welche ab dieser Zeit jahrzehntelang gut funktionieren und eine wichtige Rolle im Prager deutschen Kulturleben spielen sollte. Ein anhaltendes Problem der Halle war die Zusammenarbeit beider Landesnationalitäten. Um die Jahrhundertsmitte ging es hauptsächlich um die Lösung praktisch-organisatorischer Fragen, politisch war das gegenseitige Verhältnis noch nicht zugespitzt, die Traditionen des alten harmonisierenden Landespatriotismus waren noch lebendig. Im Februar 1849 tagten beide Studentenlager zwar zum letzten Mal gemeinsam, aber auch im Laufe der folgenden zwei 13 Die Konzeption des Albums sollte sich nach diesen leitenden Gesichtspunkten regeln: [...] der erste Teil enthielte Gedichte, Novellen, Humoresken u.s.w., der zweite Teil Wissenschaftliches von allgemeinem Interesse, das jedoch durch das Neue seiner Behandlungsart oder durch die Besonderheit des Materials den Vorwurf des Dilettantismus vermeiden sollte. [...] Die eingehenden Arbeiten sollten sich jedes lokalen oder zu beschränkten Interesses entäußern und im Hinblick auf die Drucklegung verfasst sein. (RUSS 1862: 20). Die ganze Vorbereitung des Albums strebte in der Zeit des Verbots aller Redehalletätigkeiten einer künftigen Publikation zu, die leider nie zustande kam. 14 Trotzdem gelang es ausnahmsweise das Verbot zu übertreten. Am las z.b. MUC M. Popper über den deutschen Roman des 19. Jahrhunderts in der Halle (RUSS 1862: 19). Eine Ersatzmöglichkeit in dieser Zeit der Verbote bot der Halle ihre erfolgreiche öffentlich veranstaltete Akademie, welche am auf der Sophieninsel stattfand und bei der eines ihrer ältesten Ehrenmitglieder Carl von Holtei seine Gedichte vortrug. Josef Čermák Jahrzehnte wurden von beiden Seiten Vorschläge zur Bildung einer einzigen Organisation der Prager Studentenschaft eingereicht, die jedoch jedesmal erfolglos blieben. Die Lese- und Redehalle sowie der tschechische Akademische Lese- und Redeverein sahen sich zwar ursprünglich in einer utraquistischen Tradition, sie inkorporierten immer auch Mitglieder der anderen Landesnationalität. Die Hauptursache der Ablehnung einer Fusion lag auf der deutschen Seite in der Befürchtung, dass bei der rapiden demographischen Veränderung zugunsten der Tschechen in Prag eine Gleichberechtigung der beiden Nationalitäten in dem Verein nicht mehr erreicht werde. Sie zog deshalb die friedliche Koexistenz einer tschechisch-deutschen Vereinigung vor. Auch gegen die praktische Seite einer potentiellen Vereinigung gab es in der Halle Vorbehalte, z.b. im Blick auf die Bibliotheken: Die deutsche wäre aus Gründen der Sprachkompetenz allen Mitgliedern nützlich, eine tschechische dagegen nur den tschechischen. Der friedlichen Koexistenz und einer effektiveren Zusammenarbeit der beiden Ethnien standen aber auch nationalistische Vorurteile im Wege, was ein Schreiben des tschechischen Naturwissenschaftlers Jan Evangelista Purkynĕ vom 8. November 1862 an die Halle dokumentiert, in welchem er sich genötigt fühlt, seine Teilnahme an der Schiller-Feier abzusagen: Meine Herren Commilitonen, So sehr ich im Herzen das Andenken des großen Schillers ehre, an dessen Geiste ich mich erleuchtet, an dessen schönem, rein menschlichem Gemüthe innigst erwärmt habe so viel ich auch einsehe, dass Ihre an mich gerichtete Einladung zur heutigen Schiller-Feier Ihnen und mir zu Ehre gereicht, so muss ich doch das Bedauern ausdrücken, dass ich daran nicht Theil nehmen kann. Meine Überzeugungen über allgemeine Nationalrechte verbieten mir dieses. Mögen Sie nicht glauben, dass hier eine Scheu vor gewissen Zeloten meiner Nation mit ins Spiel komme. Ich verachte Zeloten jeder Art, bei welcher Nation immer. Es ist ein anderes, trauriges ahnungsvolles Gefühl, welches mich dieses Jahr auch an den vielfachen andern Gedächtnisfeiern dieses meines Vaterlandes nicht Theil nehmen liess. Sie werden mir erlassen es hier auszulegen. Vielleicht erleb ich, so es Gottes Wille ist, noch die schöne Zeit, wo wir Alle ohne Eifersucht alle Gedächtnisfeiern, die sich auf unser schönes Vaterland und deren ruhmbekrönte Verstorbene beziehen, zusammen feiern werden. Ihr aufrichtiger Freund J. Ev. Purkyně. 15 Das konstitutionelle Jahrzehnt, die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts, brachte dem öffentlichen Leben der tschechischen sowie der deutsch-jüdischen Ethnie eine neue Dynamik. Die freieren politischen Umstände trugen auf beiden Seiten zur Gründung verschiedenster Vereine bei, welche sich manchmal stark politisch profilierten. Die natürliche Reaktion der Prager Deutschen auf das geänderte Kräfteverhältnis, durch den Zustrom der tschechischen Landesbevölkerung in die Metropole verursacht, war ein sich verstärkender Bedarf, sich 15 Abgedruckt bei Roland La Garde, Aus dem Archiv der Lese- und Redehalle III, (65. BLRH 1913/14: 5). 117

59 118 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle auf eigenem Boden, um das Deutsche Haus (Deutsches Casino) am Graben, als Stütze des deutschen Kulturlebens in Prag, zu versammeln. In dieser Bastei des Prager Deutschtums waren mit der Zeit mehr als 200 deutsche Vereine organisiert. Die Prager deutsch-jüdische Gesellschaft zog sich nach dem Jahre 1860 in die Innenräume der Stadtmitte in Cafés, Theater-, Konzert-, Leseund Vortragssäle und Zeitungsredaktionen zurück. Die letzte öffentliche kulturelle Manifestation war die von der Karlsuniversität organisierte Schiller-Feier anlässlich des 100. Jubiläums des Dichters im Jahre 1859 mit einem Fackelzug zu Mozarts Bertramka. Die Halle beteiligte sich an dieser großen Feier, veranstaltete aber auch eine interne Feier im Vereinslokal, bei welcher der Entschluss gefasst wurde, die Bibliothek mit dem Namen Schillers zu dekorieren und in der Bibliothek eine eigene Schiller-Abteilung einzurichten, die sowohl die Schöpfungen des Meisters selbst, als alle ihn und seine Werke betreffenden Schriften enthalten soll (RUSS 1862: 20). Schillers geistiges Erbe wurde in prägnanter Formulierung des Goetheschen Zitats Seine durchwachten Nächte haben unseren Tag erhellt zu einer der ideellen Stützen der Halle. Die Schiller- Feier wurde dann zu einem bleibenden Brauch. Schon nach drei Jahren, 1862, veranstaltete die Halle eine weitere interne Feier, zu welcher auch Professoren der Prager Universität und der Technischen Hochschule, unter ihnen auch Purkyně, eingeladen wurden. Seinen Entschuldigungs- (bzw. Absage-)Brief bezeichnet sein späterer Herausgeber als denkwürdig und interessant (65. BLRH 1913/14: 18). Kurz vor dieser Schiller-Feier fand am 22. März 1862 im Saale des damaligen Luxushotels de Saxe in der Hibernergasse eine großangelegte Goethe-Feier anlässlich des 30. Todestages des Dichters statt, bei welcher die Umwandlung der Schillerbibliothek in eine Schiller-Goethe- Bibliothek beschlossen und ebenfalls urkundlich niedergelegt wurde (65. BLRH 1913/1914: 18). Das Selbstverständnis der Prager deutsch-jüdischen Inselgesellschaft wurde nach 1848 problematisch. Sprachlich und kulturell mit dem deutschsprachigen Ausland verbunden, war sie einerseits immer stärkeren politischen Einflüssen von dieser Seite ausgesetzt, andererseits musste sie sich mit der steigenden internen Spannung auseinandersetzen, welche zwischen dem liberalen, freisinnigen Deutschtum vorwiegend der Prager deutschsprachigen Juden und dem deutsch national gesinnten Deutschtum der Nichtjuden, der hauptsächlich aus den böhmischen Randgebieten stammenden Mitglieder, herrschte. Die komplizierte Gestaltung und Entwicklung der nationalen und politischen Identität der Prager Deutschen spiegelte sich in der Geschichte der Lese- und Redehalle wider. In den ersten Jahrzehnten war ihre Verbundenheit mit Österreich stark und maßgebend, wir Deutsche in Österreich kann man in den Halledokumenten aus dieser Zeit oft lesen. In der Zeit des preußisch-österreichischen Krieges z.b. ertrugen die deutsch-jüdischen Mitglieder der Halle die preußische Okkupation nur mit großem Unwillen. Mit den Jahren steigerte sich jedoch der Ein- Josef Čermák fluss reichsdeutscher Studentenvereine auf die Halle, die auch vor allem ihr Ausschuss viele Grundsätze des nationalen Bewusstseins und der national politischen Strategie deutscher Kommilitonenvereine übernahm. Diese Einflüsse bedeuteten eine wesentliche Unterstützung des deutsch-national und später völkisch und antisemitisch gesinnten Flügels der Hallemitgliedschaft und verschärften auch die Beziehungen des Vereins zur zweiten Landesnationalität. Vor allem aber widersprachen sie der Gesinnung des liberalen Flügels der Halle, in welchem die jüdischen Mitglieder ein Übergewicht hatten. Die jüdischen Studenten bemühten sich immer, eine möglichst politisch neutrale Stellung einzunehmen und sie standen in einer mehr oder weniger getarnten Opposition zur offiziellen Politik des Halleausschusses. Sie waren auch stärker loyal proösterreichisch orientiert. Mit der Zeit wurden die zwei Strömungen innerhalb der Halle unvereinbar Die Jahre Die Jahre brachten einen wesentlichen Aufstieg aller Aktivitäten der Lese- und Redehalle und ihre erste Blütezeit. Sie wurde von namhaften, geistig und politisch oft unterschiedlich orientierten Persönlichkeiten der deutschen Kultur und Industrie im In- und Ausland materiell und politisch unterstützt, wobei viele Prominente regelmäßig wie früher und auch später zu Ehrenmitgliedern des Vereins ernannt wurden, z.b. Karl Egon Ebert, Karl Holtei, Franz Grillparzer, Alfred Meissner, Alfred Klaar, Fritz Reuter, Josef Viktor Scheffel, Hugo Salus, Christian Ehrenfels, Johannes Brahms, Franz Brentano, Richard Strauss, Ernst Mach, Walter Rathenau, Peter Rosegger, Paul Heyse, Gerhart Hauptmann, Ricarda Huch, Thomas Mann, Erwin Guido Kolbenheyer, Karl Hans Strobl, ferner namhafte Wissenschaftler wie August Schleicher, Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf oder August Sauer, wobei manche von ihnen mit der Halle eng verbunden blieben. Manche ausländische Gönner hielten den Prager Studentenverein in der Zeit des immer stärker werdenden Nationalismus für eine nie klar definierten Gefahren ausgesetzte Vorhut des Deutschtums. Diese abstrakte Rhetorik spiegelte sich oft auch in den offiziellen Äußerungen des Halleausschusses. Ihr Vokabular wimmelte von unheilverkündenden Andeutungen, von Ausdrücken und Redewendungen wie Kampf, Widerstand, Rettung, Beharrlichkeit auf jede Gefahr hin, Gefahren von außen treten heran usw. Aber nie wird die Gefahr, der man Widerstand leisten und vor welcher man sich retten soll, konkret, klar und deutlich benannt Ausnahmsweise klar und konkret schreibt in dieser Hinsicht der deutsche Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel in seinem Dankbrief vom anlässlich seiner Ernennung zum Ehrenmitglied der Halle: [...] Mit dem herzlichsten Wunsche, dass es Ihren tapferen patriotischen Bestrebungen gelingen möge, deutschen Geist und deutsche Sitte inmitten des tobenden Slavismus kräftig aufrecht zu erhalten, und mit Ausdrucke der herzlichsten Sym- 119

60 120 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Charakteristisch ist in dieser Hinsicht das Grußwort in Versen, das Fritz Reuter bereits in den 1860er Jahren an die Halle schickte: Ohn Fleiss kein Preis,/ ohn Kampf kein Sieg,/ kein Fried ohne Krieg./ Drum kämpfet wacker im deutschen Böhmen,/ kein Teuffel soll den Sieg euch nehmen (56. BLRH 1904/05: 15). Noch lange wurden in offiziellen Proklamationen des Ausschusses die Worte von Franz Grillparzer aus dem Jahre 1866 zitiert, als er zum Ehrenmitglied der Halle ernannt wurde: Seit das Latein aufgehört hat, die gelehrte Welt zu beherrschen, war Böhmen deutsch und ist deutsch und wird deutsch bleiben. Sollte selbst die Regierung für einen Augenblick ihre,mission in dieser Beziehung vergessen, so ist die Gewalt der Dinge viel größer als alle Regierungen [...]. (zitiert noch im 62. BLRH 1910/11: 61) In der Geschichte der Prager Lese- und Redehalle spiegelt sich auch die politische Entwicklung der Prager deutschen und jüdischen Minorität und ihre Problematik im 19. Jahrhundert wider. Verschiedene Einflüsse und Gegenströmungen gerieten in permanente Auseinandersetzung: das deutsche Nationalbewusstsein mit dem österreichischen Patriotismus und der Monarchie verpflichteten Loyalität, der separierende Nationalismus mit dem universalistischen Humanismus aufklärerischer Provenienz, die freisinnig liberal proklamierte Toleranz mit dem Antisemitismus, zuletzt biologisch rassistischer Färbung. Diese Antagonismen waren, wie es sich nach und nach zeigte, viel stärker als der deutsch-tschechische Widerstreit, der die nächstliegende Gefahr für einen deutschen Verein im böhmischen, sich rasch tschechisierenden Prag bedeuten sollte. Bereits in ihrem ersten Jahr 1869 brachte die erneuerte Halle 45 Vorträge in 7 Sektionen und viele Diskussionsabende. Im Schuljahr 1875/76 waren z.b. die Sektion für moderne Sprachen und die Sektion für Literatur und Kunst sehr aktiv. Bei den Sitzungen, welche, wie auch später, an jedem Sonntag stattfanden, wurden in der Gruppe von 18 Mitgliedern der Sprachensektion zehn Vorträge mit einem breiten Themenkreis abgehalten. Der Jurastudent Siegfried Merkler trug mit vier Vorträgen bei: Réflexions relatives à une langue universelle, Les éléments heterogènes de la langue française, Il vantaggio dello studio di lingue straniere und L âge d or de la littérature française. E. Glaser, Student der Technischen Hochschule, hielt ebenfalls vier Vorträge: Die holländische Sprache mit Rücksicht auf die plattdeutsche Mundart, Literarische Denkmäler der niederländischen Sprache, La nature au point de vue de la jouissance und Les argots des diverses nations. Die übrigen zwei Vorträge hielt der Jurastudent E. Hruza: La philosophie et la morale dans l histoire und I trovatori, la lor vita, poësia e storia. Auch in anderen Abteilungen der Redehalle wurden Vorträge von Studenten zum Zwecke der Ergänzung ihrer Hochpatien, welche das neu aufblühende deutsche Reich für das deutsch bleibende Österreich empfindet [...]. (BLRH). Josef Čermák schulbildung und Vervollkommnung ihrer rhetorischen Fertigkeiten gehalten. Externe Fachleute wurden bis zum Ende des Jahrhunderts nur in Ausnahmefällen eingeladen. Auch die Sektion für Literatur und Kunst wies im erwähnten Jahre 1875 ein großes Vortragsprogramm auf. An zwölf Sonntagssitzungen wurden zehn Vorträge, ausschließlich von Philosophie- und Jurastudenten, gehalten. Dabei wurden zentrale Themen der allgemeinen Literatur- und Kunstwissenschaft und theoretische Fragen der Theaterwissenschaft bevorzugt: Was ist Kunst? Was ist ihr Zweck? Darf sie auch das Hässliche darstellen? (PhC Carl Tumliř), Die Kunst als Organismus (JUC Menzel), Über antike, mittelalterliche und moderne Kunst (JUC Menzel), Warum verdient die Literatur der Griechen das Epitheton originell und vollendet? (PhC Joseph Schnabel), Das Verhältnis der Poesie zur Geschichte (JUC Ernst Weise), Geschichte und historisches Drama (PhC Joseph Schnabel), Bühne und Drama (JUC Julius Ungar), Gleichberechtigung der Charakteristik und Handlung im Drama (JUC Julius Brandeis), Geschichte des deutschen Hexameters und Pentameters (PhC W. Toischer) und Einige Worte zu Platens Andenken (Vortrag zum Todestag von PhC Carl Tumliř). Außerdem gab es in diesem Jahr Vorträge in allgemeinen Versammlungen, wobei Literatur und humanistische Fächer auch vertreten waren, z.b. Grillparzer und seine Stellung in der Weltliteratur (JUC Julius Ungar) oder Entwicklung und Bedeutung des deutschen Romans (PhC Wenzel Hierke). 17 Nach 1868 wurden die mit 5 und 0 endenden Jubiläen der Halle regelmäßig gefeiert. Als sie im Jahre 1873 ihr 25. Jubiläum feierte, nahmen viele Persönlichkeiten der deutschen Kultur aus dem Ausland und Repräsentanten der deutschen Universitäten teil. Ihr 50. Gründungsjubiläum im Jahre 1898 wurde am 25. November mit großem Aufwand und einer Festaufführung von Schillers Wilhelm Tell auf der Bühne des Neuen Deutschen Theaters gefeiert. Schauspieler der Wiener, Münchner, Berliner und Dresdner Theater wirkten mit, 18 das Spiel wurde mit einem Prolog des Prager Schriftstellers und ehemaligen Hallefunktionärs Alfred Klaar eingeleitet. Das Jubelfest wurde unter der Ägide eines Festausschusses veranstaltet, dem August Sauer, ein deutschnational gesinnter Repräsentant der Prager deutschen Germanistik, die Dichter Friedrich Adler und Hugo Salus und Chefredakteur des PRAGER TAGBLATTS Heinrich Teweles angehörten. Eine Festschrift, die den Prolog Klaars zu Wil- 17 Alle auf das Jahr 1875 bezogene Angaben sind dem Protokollbuch der Halle (nicht paginiert) entnommen (AUK). 18 In den Hauptrollen traten auf: als Reichsvogt Hermann Gessler Karl Wiene vom Kgl. Hoftheater in Dresden, als Wilhelm Tell Josef Nesper vom Kgl. Schauspielhaus in Berlin, als Freiherr von Attinghausen Josef Lewinsky vom K. u. k. Hofburgtheater in Wien, als Arnold von Melchthal Georg Reimers vom Hofburgtheater in Wien, als Tells Gattin Hedwig Olga Lewinsky vom Hofburgtheater in Wien, als Bäuerin Armgard Clara Ziegler, Ehrenmitglied der Kgl. Hofbühne in München. 121

61 122 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle helm Tell beinhaltet, erinnert als dauerndes Andenken an diesen Galaabend. Das Jubiläum verlief in einer für das nationalbewusste Prager Deutschtum günstigen politischen Situation, im Klima der nachklingenden Badeni-Krise, welches eine Welle von Nationalismus in beiden Lagern des Landes eskalieren ließ. Mit der 50. Gründungsfeier nahm die zweite Blütezeit der Halle ihren Anfang, die bis zum ersten Weltkrieg dauern sollte. Das 60. Jubiläum der Halle im Jahre 1908 verlief im Zeichen des Prager Lieblings Wolfgang Amadeus Mozart, dessen Zauberflöte das Neue Deutsche Theater am 27. November für die Halle aufführte. In der Rolle der Königin der Nacht trat Margarethe Siems auf. Den Prolog trug der Schauspieler des Wiener Deutschen Volktheaters Ferdinand Onno vor, ein treuer Gönner des Vereins, welcher mehrmals bei literarischen Veranstaltungen der Halle mitwirkte. Bereits drei Monate früher hatte die musikalische Sektion der Halle dem Mozart-Jubiläum mit einem Kammermusikabend beigetragen, bei welchem Mozarts Streichquartett Nr. 8 und Dvořáks Streichquartett op. 96 gespielt wurden. Am Jubelfest, das anlässlich der Novemberfeier stattfand, nahmen u.a. hohe akademische Funktionäre teil, unter ihnen auch Prof. Samuel Steinherz, ein am Anfang des Jahrhunderts aus Wien auf die Prager deutsche Universität berufener Historiker, dessen Wahl zum Rektor später in den 1920er Jahren Anlass zu antisemitischen Unruhen auf der Universität und zu seiner Amtsenthebung gab. Als der Feierzug mit illustren Gästen in prächtig geschmückten Kutschen den Graben entlang fuhr, begannen tschechische Zuschauer zu lärmen. Der Jahresbericht beschreibt dieses Ereignis mit einer kontrastreichen Ausführlichkeit: Kaum wurden nun die ersten Wagen auf dem Graben sichtbar, erhoben die tschechischen Demonstranten ein ohrenbetäubendes Johlen, schwangen die Stöcke, fielen den Pferden in die Zügel und verstellten in gewaltigster Weise den Weg. Die Studenten hatten den denkbar wüstesten Angriffen und einer wahren Flut roher Beschimpfungen Stand zu halten. Aber ihre vornehme, gelassene Ruhe bot einen schönen und erfreuenden Kontrast zu dem grenzenlos erregten Fanatismus der Menge, die sich so wenig beherrschen vermochte, dass man die Studenten bespuckte und sie mit Eiern, Kartoffeln und ähnlichen Gegenständen bewarf. Nur mit grösster Mühe gelang es der Wache, den Wagen eine langsame Weiterfahrt durch die dichtesten Massen der Exzedenten zu ermöglichen. (60. BLRH 1908/09: 28) Auch die Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jubiläums des Vereins im Jahre 1908 verliefen nicht reibungslos. Die Halle, in welcher jüdische Studenten eine Mehrheit hatten und den intellektuellen Kern des Vereins bildeten, musste sich jahrelang gegen immer heftigere Attacken von Seiten antisemitisch eingestellter Studentenvereinigungen stellen. So wurde die Teilnahme an der Feier des 60. Hallejubiläums von den völkisch und antisemitisch orientierten Studentenvereinen, Korporationen und Burschenschaften lange Zeit vorher boykottiert. Diese begründeten ihre Nichtteilnahme an den Feierlichkeiten mit ihrer antisemitischen Einstellung und rieten auch den reichsdeutschen Vereinen von einer Teilnahme ab, was zur Folge hatte, dass sich viele mit ihren Prager Josef Čermák Kommilitonen solidarisierten und fernblieben. Am heftigsten wurde die Halle von der Liedertafel der deutschen Studenten in Prag und von einigen rechts stehenden Prager Burschenschaften angegriffen. Die Halle musste sogar das Rektorat der Prager deutschen Universität um Hilfe und Schutz bitten. 19 Die Teilnahme an den Jubiläumsfeiern und ihr Verlauf war deshalb eher bescheiden. Und es zeigte sich endgültig, dass die größte Gefahr dem Verein von den Menschen und Institutionen drohte, welche dieselbe Sprache hatten. Auch die 65. Jubiläumsfeier der Halle im Jahre 1913 wurde bescheiden gefeiert, sie bestand eigentlich nur in einem Festkommers. Die späteren Jubiläumsfeiern in der Tschechoslowakei der 20er und 30er Jahre fanden in einem völlig anderen politischen Kontext statt, ihr kultureller Beitrag war von geringer Bedeutung. Im Laufe der Vorkriegsjahre wurden viele Persönlichkeiten der deutschen Kultur von der Halle mit Feierveranstaltungen, Vorträgen und Debattenabenden geehrt. Im Jahre 1899 bot sich die Gelegenheit, das 50. Geburtsjubiläum des größten deutschen Literaturklassikers Johann Wolfgang von Goethe zu feiern. Es war eine Feier mit großem Glanz, an der sich wieder das Neue Deutsche Theater mit seinem Direktor Angelo Neumann beteiligte. Am 21. November wurde im Theater eine Feier veranstaltet, 20 deren erster Teil drei kleinere Werke des jungen Goethe aus den 1770er Jahren bildeten: der prosaische Einakter Die Geschwister und drei dramatische Fragmente in Versen: das mythologisch-philosophische Bruchstück Prometheus und zwei kleine dramatische Werke, das spöttisch-komische Künstlers Erdewallen und der ernste Meister- Jünger Dialog Apotheose, den man in Goethe-Ausgaben unter dem Titel Des Künstlers Vergötterung findet. Von den mitwirkenden Schauspielern des Neuen Deutschen Theaters sind wenigstens zu nennen: Max Freiburg (Wilhelm), Hermann John (Prometheus), Paula Winkler (Marianne, Pandora), Wilhelm von Wymetal (Fabrice, Merkur), Richard Tauber (Der Künstler). Der Abend wurde mit einem Konzert unter Mitwirkung von den Kammersängern Mary Münchhoff und Paul Bulss fortgesetzt, die zehn von Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn-Bartholdy und Karl Löwe vertonte Gedichte Goethes vortrugen. Der Galaabend wurde diesmal mit Beethovens Ouverture zum Prometheus und mit einem Prolog des Prager deutschen Dichters Hugo Salus eröffnet. Am nächsten Tag, dem 22. November, fand auf dem Boden der Halle eine gesprochene Goethe-Feier mit zwei Vorträgen statt: Hans Molischs 19 Siehe die umfangreiche Korrespondenz der LRH mit dem Rektorat der deutschen Universität in Prag (AUK). 20 Im 51. BLRH 1899/1900: 33, würdigt der 1. Schriftführer der Abteilung Literatur und Kunst Franz Josef Kisch diesen Goethe-Abend: Der erste Abend des Festes war dem jungen Goethe gewidmet, und sage ich dem deutschen Theatervereine, der in liebenswürdigster Weise sein schönes Haus für unsern Zweck zur Verfügung stellte, wie auch dem Director Angelo Neumann, der kein Opfer und keine Mühe scheute, um den Abend zu einem glänzenden zu gestalten, herzlichsten Dank! 123

62 124 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Goethe als Naturforscher und Gustav C. Laubes Goethes Beziehungen zu Deutsch-Böhmen, welche dann mit dem Prolog von Salus im nächsten Jahresbericht der Halle veröffentlicht wurden (51. BLRH 1899/1900: 3 23). Am selben Tage wurde zu Goethes Ehre ein Goethe-Kommers, d.h. eine feierliche Kneipe abgehalten, welcher auch viele ausländische Gäste beiwohnten. Zweimal, in den Jahren 1876 und in seinem Todesjahr 1886, wurde Josef Victor Scheffel gefeiert, Autor des damals erfolgreichen historischen Romans Ekkehard, ein beim liberalen Bürgertum des 19. Jahrhunderts sehr beliebter Schriftsteller. Im Jahre 1878 wurde der 80. Geburtstag des deutschen Schriftstellers Karl von Holtei, eines Ehrenmitglieds und alten Freundes der Halle, und im Jahre 1881 dasselbe Jubiläum des Prager Prosaikers, Dichters und Dramatikers Karl Egon Ebert und das 100. Todesjahr des besonders bei den böhmischen Juden sehr populären Gotthold Ephraim Lessings gefeiert. 1883, im Sterbejahr Richard Wagners, wurde eine große Gedenkfeier veranstaltet und auch Martin Luther gefeiert. Ein Jahr darauf 1884 fanden Shakespeare- Feierlichkeiten statt. Im Jahre 1887 erlebte die Halle zwei Gedenkfeiern: den 100. Geburtstag von Ludwig Uhland und das 100. Jubiläum der Prager Uraufführung von Mozarts Don Giovanni. Im Jahre 1888 wurde Hans Kudlich geehrt, der im Jahre 1848 im Wiener Reichsrat die endgültige Abschaffung der bäuerlichen Fronarbeit vorgeschlagen hat. Von den Nichtdeutschen stand um die Jahrhundertwende Charles Darwin in den radikal denkenden Studentenkreisen als Revolutionär der Naturwissenschaft hoch im Kurs. Anlässlich seines 10. Todestages im Jahre 1892 wurde die aktuelle Bedeutung seines Werkes in einer Vollversammlung der Halle mit einem Festvortrag gewürdigt. Nicht nur runde Jubiläen, auch gegenwartsnahe Anlässe bestimmten von Zeit zu Zeit die kulturellen Veranstaltungen der Halle. Zweimal in fünf Jahren wurde eine Heinrich Heine-Feier durchgeführt: die erste im Januar 1900, an welcher die Dichter Friedrich Adler und Hugo Salus als Ehrengäste und Josef Adolf Bondy, ein anderer Prager, als Redner teilnahmen, und die zweite im Wintersemester 1905/1906, bei welcher sich besonders Herr Dr. Manning durch glänzende Rezitation mehrerer Gedichte hervortat (57. BLRH 1905/06: 23). Im Mai 1905 wurde der Todestag Schillers mit einer in grossem Stil angelegter Gedenkfeier geehrt (57. BLRH 1904/05: 16 17). Im November 1909 wurde in der Halle aus Anlass des 60. Geburtstages des ehemaligen Abteilungs-Obmannes Fritz Mauthner im Vortragssaale eine Mauthner-Feier veranstaltet, bei welcher der Prager Redakteur Herr Ludwig Steiner die Festrede hielt (61. BLRH 1909/10: 66). Das Jahr 1911 brachte das Jubiläum des 100. Todestages eines Schriftstellers, der in den deutschen intellektuellen Kreisen Prags sehr geschätzt wurde: Heinrich von Kleist. Die Mitglieder der Halle hatten damals sehr gute Kontakte zum Prager Deutschen Landestheater (früher und jetzt wieder Ständetheater), sie haben sogar an zwei Aufführungen mitgewirkt, im Oedipus von Sophokles Josef Čermák und im Drama von Arthur Schnitzler Der junge Medardus. Im Gegenzug hatte die Theaterverwaltung zwei Schauspieler, Fräulein Gertrud Hackelberg und Herrn Friedrich Hölzlin, für die studentische Kleist-Feier freigestellt. Unter Mitwirkung dieser beiden jungen Mitglieder des Landestheaters 21 und mit einer Einleitung des Privatdozenten Spiridion Wukadinovič wurde dem Publikum eine Komposition von Auszügen aus den dramatischen Texten Kleists vorgelegt: aus Käthchen von Heilbronn (3 Szenen), Hermannsschlacht (6 Szenen), Robert Guiskard (1 Szene) und Penthesilea (1 Szene). Der Schauspieler Hölzlin hat an der Zusammensetzung des Programms mitgearbeitet, sein Änderungsvorschlag (Guiskard einzureihen und die Verteidigungsrede des Strahl aus der Hermannsschlacht wegzulassen) wurde aufgenommen. 22 Das 100. Geburtsjubiläum des Erzählers und Dramatikers Otto Ludwigs wurde am mit einer schlichten Feier (64. BLRH 1912/13: 80) geehrt, bei welcher Dr. Hilde Schulhof über das Leben und Schaffen des Dichters sprach und Dr. Karl Thumsen Bruchstücke aus dessen Erzählwerk (Heiterethei und Zwischen Himmel und Erde) und Dramatik (Fräulein von Scuderi) vortrug. Am 1. März 1913 feierte die Halle den 100. Geburtstag Friedrich Hebbels. Wie in ähnlichen Fällen, wenn man einen größeren Zuspruch erwartete, wurde auch diese Geburtstagsfeier im Spiegelsaal des Deutschen Casinos am Graben veranstaltet. Der Obmann der Sektion für Literatur und Kunst berichtete darüber im Jahresbericht der Halle: Am 1. März 1913 veranstaltete die Abteilung aus Anlass der hundertsten Wiederkehr von Friedrich Hebbels Geburtstage im Spiegelsaale des Deutschen Hauses eine schlichte Gedenkfeier. Prof. Dr. Friedrich Hirth aus Wien fesselte durch mehr als zwei Stunden seine Hörer mit einem überaus geistvollen Vortrage, der durch die erstmalige Wiedergabe von bisher unveröffentlichten Briefen des Dichters an seinen Hamburger Verleger Campe ganz besondere Bedeutung erhielt. (65. BLRH 1913/14: 54) 21 Zu dieser Zeit war eine beiderseitige Zusammenarbeit der Hallemitglieder mit dem Landestheater üblich. Das bezeugt z.b. ein Brief der Direktion des Landestheaters an die Halle vom : Die sehr geehrten Mitglieder der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten haben bei der Aufführung des Oedipus in so dankenswerter und künstlerisch ernster Weise zum Erfolg des Oedipus beigetragen, dass die Direktion die Hoffnung ausspricht, die geehrten Herren noch als Mitwirkende bei der Aufführung des Jungen Medardus begrüßen zu dürfen. Dieses große Werk des heimischen Dichters Arthur Schnitzler stellt besonders hohe Ansprüche an die Leistungsfähigkeit eines Theaters. 22 Die Veranstaltung wurde auch im 63. BLRH 1911/12 vom Obmann der Abteilung Literatur und Kunst Hanns Anton Krau positiv gewürdigt: Erste Pflicht, mehr noch als dies, edle, wahre Herzenssache bedeutete es uns, Heinrich von Kleists 100. Todestag (21. November) in stiller, würdiger Feier zu ehren. Schön und vornehm war der Verlauf: In knappen, treffenden Worten entwarf Priv. Doz. Spiridion Wukadinovič ein großzügiges Bild von Kleists Leben und Schaffen; und als der stürmische Beifall verrauscht, erstanden des Dichters Worte selbst vor den lauschenden Hörern. Fräulein Gertrud Hackelberg und Herr Friedrich Hölzlin, die beiden jüngsten Mitglieder unserer deutschen Landesbühne, lasen Szenen aus dem Käthchen von Heilbronn, Phentesilea (!) und dem mächtigen Fragmente Robert Guiscard ; auch ihnen ward reiche, laute Anerkennung zuteil. 125

63 126 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Die Vortragsaktivität der Redehalle hat ohne Zweifel einen wichtigen Beitrag zur Prager deutschen Kultur geleistet. Die Vortragenden rekrutierten sich nur zum kleineren Teil aus dem unmittelbaren Umkreis der Halle, aus ihrer Mitgliedschaft und aus der Prager deutschen Universität. Trotz vieler bereits erwähnten Schwierigkeiten gelang es in bestimmten Zeitabschnitten unter glücklicher Konstellation der Abteilungsfunktionäre, wichtige und berühmte Persönlichkeiten der Literaturwelt, der Philosophie und Wissenschaft, auch der bildenden Kunst und Musik, vom In- und Ausland zum Rednerpult eines Studentenvereins zu bringen. Auch die Themenauswahl gebietet Achtung durch ihre durchdachte Dramaturgie und ihr aktuelles Interesse. Es wäre zu lang, alle wichtigeren Vorträge, Vorlesungen und Debattenabende während der langjährigen Tätigkeit der Halle aufzuzählen und zu kommentieren. Deshalb nur die allerwichtigsten. Selbst die Funktionäre der Sektion für Literatur und Kunst waren in der Regel sehr aktiv. In den 1870er Jahren ist vor allem Heinrich Teweles zu nennen, damaliger Obmann der Sektion, späterer Cheflektor des Prager Tagblatts, glänzender Feuilletonist, Vorstand des deutschen Schriftstellervereins Concordia und nach dem Tod Angelo Neumanns Intendant des Neuen Deutschen Theaters. Der Jurastudent Teweles hielt 1875 und 1877 insgesamt sieben Vorträge mit großer thematischer Spannweite (Ein Kapitel aus Schopenhauer, Der deutsche Roman im 19. Jahrhundert, Der Roman als Kunstform, Der ungarische Roman u. a.). In den 1880er Jahren hielt der Philosophiestudent Richard Rosenfeld in zwei Semestern des Jahres 1887 vier Vorträge (Über das Werk Die Emigrantenliteratur von Georg Brandes, Über E. A. Poe, Dichtkunst und Schauspielkunst, Henrik Ibsen). Unter den externen Rednern zählte der Dichter Detlev Freiherr von Liliencron, ein Liebhaber Böhmens (wo er oft weilte) und Vortragsreisender, im deutschen Prag um die Jahrhundertwende zu den beliebtesten Autoren. Er war binnen des Jahres 1904 zweimal auf dem Programm der Redehalle: zuerst mit seiner Vorlesung am 19. April, dann mit einem Vortrag über ihn am 1. Dezember, der Vortragende ist nicht bekannt. Im ersten Fall musste die Leitung der Abteilung, der auch Brod und Kafka angehörten, den Halleausschuss, welcher einen finanziellen Verlust befürchtete, um Zustimmung zu der Vorlesung ersuchen und einen Garantiefonds bereit stellen. 23 Die Vorlesung Liliencrons fand im Spiegelsaal des Deutschen Casinos, welcher wie aus der Korrespondenz der Halle ersichtlich ist den Studenten um den für deutsche Vereine festgesetzten Betrag von 60 K zur Verfügung gestellt wurde. Gleichzeitig hat die Di- 23 Die Zuschrift der Abteilung an den Halleausschuss vom : Die Abteilung für Literatur und Kunst ersucht um Zulassung einer Vorlesung Detlev v. Liliencron, deren Kosten sie laut beiliegenden Garantiefondes zu tragen bereit ist. Josef Čermák rektion beschlossen, diesem Ihren Unternehmen in Ansehung des Zweckes desselben eine Spende von 10 K zukommen zu lassen. Maximilian Harden, Begründer der Wochenschrift ZUKUNFT, Befürworter der Autoren, die zur Zeit seiner beiden Vorträge in Prag in den Jahren zwischen 1900 und 1912 besonders populär waren (Ibsen, Strindberg, Tolstoi, Dostojevski) hielt den ersten Vortrag am 24. November 1900 über Den alten Ibsen. Den meisten Vorträgen dieser Art und Qualität, die in der Halle gehalten wurden, widmete die Prager deutsche Presse Aufmerksamkeit, d.h. die deutsch nationale BOHEMIA und das liberale PRAGER TAGBLATT. Diesmal war das Referat im PRAGER TAGBLATT außerordentlich ausführlich und lobend besprochen und die Halle hat einen wesentlichen Teil dieser Rezension in ihren Jahresbericht übernommen. 24 Den zweiten Vortrag hielt Harden im März 1912 auf Einladung der Prager Concordia im Rudolfinum. Dieser hinterließ eine interessante Spur u.a. in einem Tagebucheintrag Franz Kafkas (KAFKA 1990: 397). Bereits zwei Jahre zuvor, im Jahre 1910, wollte die Halle Harden zu einem Vortrag einladen. Die Verhandlung, welche der Redakteur der BOHEMIA, der Schriftsteller, Literaturhistoriker, Publizist und Übersetzer Paul Wiegler vermittelte, ist allem Anschein nach an Hardens unannehmbaren Bedingungen gescheitert. 25 Als am in der Sektion Literatur und Kunst wiederholt der Antrag gestellt und angenommen wurde, Maximilian Harden für einen Vortrag zu gewinnen, war es leider zu spät, da Harden höchstwahrscheinlich seinen März-Vortrag bereits der Concordia zugesagt hatte. 26 Frank Wedekind, Dramatiker, Schauspieler und Schriftsteller, ein provozierender Theaterautor um die Jahrhundertwende, erregte auch in Böhmen großes Aufsehen, später sogar unerwartet in einem kulturpolitischen Zusammenhang, als Franz Werfel im April 1914 im PRAGER TAGBLATT seine Glosse, eine Proklamation zur Aufführung von Wedekinds Erdgeist im Prager tschechischen Intimen Theater, publizierte, in welcher er die ältere liberale Generation der Prager Deutschen scharf verurteilte und der jungen Generation der Tschechen die Hand reichte, womit er zugleich auf der tschechischen Seite eine heftige Polemik entfachte (hierzu ČERMÁK 2000a). Die Prager Erstaufführung der 24 Siehe den 52. BLRH 1900/01, Redehallebericht, 66 68, wo man u.a. lesen kann: [...] der Charme seines Wesens schaffte den Zuhörern des übervollen Saales einen Genuss, der alles in den Schatten stellte, was man früher in diesem Saale je erlebt hatte. Es scheint eine Regel zu sein, die nur selten Ausnahmen erleidet, dass die Schriftsteller, welche die schärfsten Federn schreiben, im persönlichen Verkehr die liebenswürdigsten Menschen sind. 25 Das lässt wenigstens ein Brief Paul Wieglers an die Halle vom vermuten: [...] Würden Sie jetzt sie kämen damit einem Wunsche Hardens entgegen direkt an ihn schreiben? Also dass Sie ihn zu einem Vortrag mit jetzt zu vereinbarendem Thema einladen, dass Sie 600 Kronen Honorar bieten und dass Sie nach dem Vortrag ein Bankett mit geladenem Publikum zu veranstalten gedenken? Harden wird Ihnen sofort antworten. (AUK) 26 Protokollbuch der Sektion für Literatur und Kunst , Eintrag vom

64 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Tragödie Erdgeist (im Tschechischen immer nur als Lulu übersetzt), in der Wedekind in der Rolle des Redakteurs Schön und seine Frau Tilly als Lulu gastierten, 27 fand jedoch bereits am 1. Februar 1912 im Neuen Deutschen Theater statt. Die Studenten der Halle nutzten diese Gelegenheit und luden Wedekind zu einer Lesung ein, die am nächsten Tag stattfand. Wedekind war damals ein attraktiver Modeautor und die Abteilung für Literatur und Kunst zog im Falle einer zu großen Nachfrage sogar eine Wiederholung im Prager Landestheater in Erwägung. 28 Wedekind las aus seinem neuesten Drama Schloss Wetterstein (1910). Seine Lesung wurde im Jahresbericht gewürdigt: Am 2. Feber endlich erschien Frank Wedekind am Vortragspulte unseres Vereinsaales und die Vorlesung seines neuesten Dramas,Schloss Wetterstein zeitigte einen wahrhaft ungeheueren Erfolg [...] der Saal war bis aufs letzte Plätzchen gefüllt. Publikum und Kritik anerkannten einmütig das Wagnis dieser überhaupt ersten Vorlesung des jüngsten Bühnenwerkes eines heiss befehdeten, verzweifelnd kämpfenden, ringenden Dichters. (63. BLRH 1911/12: 74) Das PRAGER TAGBLATT sprach von der Erfüllung einer edlen Pflicht seitens unserer Akademiker, in der BOHEMIA fand Paul Wiegler emphatische Worte des Lobes. Und Wedekind selbst dankte tiefbewegt für eine Stunde, in der er sich glücklich gefühlt hatte (63. BLRH 1911/12: 74). Die Veranstaltung wurde als ein großer moralischer Erfolg der Halle im Protokollbuch gewürdigt. Der Reinertrag der Vorlesung in Höhe von 108 Kronen überstieg das übliche Niveau. 29 Heinrich Mann, ein produktiver Erzähler, Dramatiker und Essayist, wurde zu einem Gastvortrag zeitgleich mit dem sudetendeutschen, in Schönhof bei Podersam (Podbořany) geborenen Dichter und Erzähler Josef Johann Horschick eingeladen. Mann las vor den Hallestudenten am Auszüge aus seinen Romanen (59. BLRH 1907/08: 49, 51). Im Stammbuch der Halle hinterließ er den Eintrag: Froh der ihm entgegenbrachten Sympathie Heinrich Mann. 30 Seine engeren, auch kulturpolitisch sehr wichtigen Kontakte mit Prag und Böhmen, die bisher nicht genügend erforscht sind, datieren aus der Zeit des ausgehenden Weltkriegs, als er in Prag seinen auch politisch sehr wichtigen Zola-Vortrag hielt. Josef Čermák Stefan Zweig war zweimal zu Gast in der Halle. Beim ersten Besuch am 3. März 1907 hinterließ er nur seine Unterschrift im Stammbuch des Vereins. Zum zweiten Mal kam er als Förderer und Übersetzer des belgischen Dichters Emile Verhaeren. Nach einer ziemlich komplizierten Terminabsprache fand der Vortrag schließlich am Sonntag, den 7. März 1910 um 5 Uhr nachmittags statt. 31 Zweig sprach im Vereinssaal in der Krakauer Gasse, nach dem Vortrag über Emile Verhaeren rezitierte er eigene Übersetzungen von dessen Lyrik. 32 Im Stammbuch der Halle erinnert der am eingetragener Aufruf Die neue Schönheit in den neuen Dingen! an seinen zweiten Besuch. Von besonderer Wichtigkeit für die Beziehungen von Karl Kraus zu Böhmen ist der Vortrag in der Halle am 12. Dezember Die Halle brachte Kraus zum ersten Mal nach Prag, zum ersten von seinen insgesamt 95 Vorträgen, die er in folgenden mehr als 25 Jahren in den böhmischen Ländern hielt (KRO- LOP 1994: 119). Den Studenten der Halle gebührt der Verdienst, diese einmalige Initiative ergriffen zu haben. Willy Haas, der in der Zeit kurzfristig Obmann der Abteilung für Literatur und Kunst war und den Verein bald verließ, schreibt sich zwar in seinen Memoiren diesen Verdienst zu, aber in Wirklichkeit ist er auch einem anderen, weniger begabten, aber viel fleißigeren Funktionär der Abteilung und in dieser Zeit Redehalleleiter namens Robert A. Jokl zuzuordnen. 33 In den Jahren 1910/11, als Haas und Jokl im Vorsitz der Abteilung für Literatur und Kunst zusammenarbeiteten, stiegen die Aktivitäten der Sektion wesentlich an. Die grundverschiedenen Naturen und Fähigkeiten der beiden konnten sich gut ergänzen, wobei Haas auch im Hinblick auf sein Alter ein gebildeter, begabter und ehrgeiziger Literat war, während Jokl als fleißiger Funktionär ohne größere literarische Begabung geeignet war, Vorschläge zur Einladung prominenter Gäste aus In- und Ausland planmäßig vorzubereiten und die damit verbundene organisatorische Arbeit zu verrichten. Ihr größtes gemeinsames Werk war ohne Zweifel die Verwirklichung des ersten Vortrags von Karl Kraus in Prag. An der Einladung von Karl Kraus wurde bereits ein halbes Jahr vorher gearbeitet. Ein Brief Jokls an Haas vom bestätigt Jokls Initiative, 27 Dieser Premiere hat auch Franz Kafka beigewohnt und seinen nüchternen Eindruck von ihr mit einer dreitägigen Verspätung niedergeschrieben (KAFKA 1990: 368). 28 Ein Eintrag im Protokollbuch der Sektion für Literatur und Kunst vom : Verhandlungen über den Vortrag Wedekind. Falls die Nachfrage für den Vortrag sehr groß sein sollte, wird an Guttmann und an die Direktion des Landestheaters herangetreten werden, um eine Wiederholung zu ermöglichen. 29 Auch Wedekind hat sich im Stammbuch mit zwei Versen verewigt: In der Stunde, da der Wunsch sich sicher fühlt,/ hat er schon so gut wie ausgespielt. 30 Stammbuch , Eintrag vom (AUK) Zweigs Brief an die Halle vom : Der Nachmittag scheint mir für einen Vortrag ungleich sympathischer, zumal in den Faschingsmonaten, die der Literatur feindlich sind. 32 In Prag war Zweig wie die meisten prominenten ausländischen Gäste Prags im Hotel Blauer Stern am Graben untergebracht. Er wollte sich vom Studentenfunktionär Bruno Kisch, dem späteren Medizinprofessor in Köln, abholen lassen, damit wir durch die schönen Strassen Prags gemächlich in die Krakauergasse gehen können. (Zweigs im Hotel geschriebener Brief an die Halle, welcher leider erst am Montag den 8. März eingetroffen ist.) 33 Über Jokl, seine Freundschaft mit Haas und ihre gemeinsame Wirkung in der Halle mehr bei ČERMÁK (2000a). 129

65 130 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle zugleich aber auch eine gewisse Untertänigkeit gegenüber Haas, 34 seinem künftigen Chef, dem er sich offensichtlich auch nach Haas Weggang von der Halle Anfang 1911 als Redehalleleiter zur Verfügung stellte: Da Du jetzt voraussichtlich Leiter der Sektion für Literatur und Kunst wirst, kannst Du ja die Sache bereits so weit standhaft in die Hand nehmen und, falls von irgend einer Seite Einwendungen erhoben werden sollten, Dich hinter mich stecken. Wir erhalten vom Konzertbureau Guttmann eine Mitteilung, in welcher es uns anzeigt, dass es die Vertretung Karl Kraus habe und ich glaube 250 Mark verlange. Falls wir aber J. V. Jensen oder Kellermann bei uns lesen liessen (oder Roda-Roda), würde er es billiger machen. Ich schrieb darauf einen Brief an Karl Kraus, in welchem ich den Wortlaut des Schreibens des Konzertbureaus Guttmann getreu wiedergab und hinzusetzte, dass wir kein Schacherverein sind und uns an solche Anerbieten prinzipiell nicht einlassen. Er möge uns selbst seine Bedingungen mitteilen [...]. (ČERMÁK 2000a: 132) Karl Kraus hat allem Anschein nach wegen der Sache der Bedingungen nicht reagiert, da die Leitung der Sektion am im Rahmen der Vorbesprechungen für Vortrag Karl Kraus die Bedingungen des Konzertbureaus Guttmann diskutierte. 35 Bei diesen Sitzungen findet man übrigens öfter Vorschlagsinitiativen von Jokl: Bei der Sitzung am , an welcher auch Willy Haas ausnahmsweise teilnahm, schlug Jokl u.a. folgende Einladungen vor: der französischen Konsul in Prag (= Paul Claudel), Herman Bang, Karl (!) Schnitzler, Richard Schaukal, Ferdinand Onno, Christian Ehrenfels und drei Wochen später sogar einen Kleistgedenktag und ein Zyklus Prager deutscher Autoren. 36 Es bleibt zu erwähnen, dass die genannten Autoren wirklich angesprochen wurden und dass die meisten in der Halle auch mitwirkten. Der erste Auftritt von Karl Kraus vor den Prager Studenten in der Krakauergasse 14 war triumphal, wie auch dem Eintrag des damaligen Redehalleleiters Jokl im Jahresbericht zu entnehmen ist: Das grösste Interesse des Prager Publikums hatte der Vortrag des Herausgebers der Wiener,Fackel Karl Kraus ausgelöst, der sich im Rahmen seiner Vortragsturnée [!] durch Deutschland der Abteilung zur Verfügung gestellt hatte. Vor einem übervollen Saale las Karl Kraus am 12. Dezember einige Kapitel aus seinen gesammelten Prosaschriften, der,chinesischen Mauer sowie aus den,aphorismen. Begeisterter Beifall erscholl nach der fast 2½stündigen Vorlesung dem bekannten Satyriker [!], über den sogar die Presse sich lobend aussprechen musste. (62. BLRH 1910/11: 67) Ansonsten war der erste Vortragsaufenthalt von Kraus in Prag für die Funktionäre der Halle mit kleineren Unannehmlichkeiten verbunden. Kraus hatte näm- 34 Ein Bild ihrer wechselseitigen Beziehung und ihrer Entwicklung bieten Jokls 24 Briefe an Haas aus den Jahren Mehr darüber bei ČERMÁK (2000a). 35 Protokollbuch der Sektion für Literatur und Kunst , Eintrag vom Protokollbuch der Sektion für Literatur und Kunst , Eintrag vom Josef Čermák lich im voraus telegrafisch zwei gute Plätze nebeneinander bestellt. 37 Als er ankam, waren die Karten nicht beim Portier des Hotels Blauer Stern am Graben, wo er untergebracht war, hinterlegt, Kraus eilte darauf hin verärgert ins Hallegebäude in der Krakauer Gasse. 38 Haas (1958: 25f.) schreibt in seinen Memoiren, dass er damals Kraus eine zweite Vorlesung in der Halle versprach, dass aber die Protektoren der Halle, die gegen Kraus stark voreingenommen sein sollten, seinen Vorschlag abgelehnt haben. Er deutet an, dass dieser Umstand zu seinem Austritt aus der Halle beitrug. Tatsächlich hat er zwei Jahre später, Anfang Januar 1913, nicht den zweiten, sondern bereits den vierten Prager Vortrag von Kraus gemeinsam mit dem Dichter Franz Janowitz organisiert (ČERMÁK 2000a: ). Der Wiener Dramatiker und Erzähler Arthur Schnitzler durfte im Programm des Prager deutschen Studentenvereins am Anfang des Jahrhunderts schon wegen der schockierenden Wirkung einiger seiner Dramen in ganz Mitteleuropa nicht fehlen. In Österreich waren sie, wie gerade das Drama Professor Bernhardi, wegen Verletzung der zu wahrenden öffentlichen Interessen zuerst verboten und kamen erst Jahre später zur Aufführung oder wurden sogar, wie das skandalumwitterte Drama Der Reigen in Deutschland, gerichtlich auf die Anklagebank gebracht. Am las der Wiener Schauspieler Ferdinand Onno Schnitzlers Professor Bernhardi in Prag mit einem Erfolg, den das PRAGER TAGBLATT mit lobenden Worten würdigte: Die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten hat ihren vielfachen Verdiensten um das geistige Leben des deutschen Prag ein neues hinzugefügt: sie hat das letzte Werk Arthur Schnitzlers, dessen Aufführung in Österreich verboten wurde, unserem Publikum vermittelt, indem sie Ferdinand Onno zur Rezitation der Komödie einlud. Am 29. November hatte die Uraufführung,Professor Bernhardis in Berlin stattgefunden; und schon am 3. Dezember lauschten im übervollen Spiegelsaal des Deutschen Hauses mehr als 600 Hörer der klaren, jede geistige Phase der Dichtung durchdringenden Vorlesung des Dramas durch Ferdinand Onno, den immer noch unvergessenen Liebling des Prager Publikums. Der hervorragende Erfolg war der hervorragenden Veranstaltung würdig; es darf zu den literarischen Ruhmestaten unseres Vereins gezählt werden, das Meisterwerk unseres größten zeitgenössischen va- 37 Der Wortlaut des Telegramms von Kraus: Erbitte zwei gute Plätze nebeneinander, Blauer Stern, wo Sonntag eintreffe. Kraus. (RAPPORT , Eintrag Nr. 416) 38 Mitteilung des Hallemitglieds Mislivetschek an Jokl im Rapportbuch : Soeben (1/4 5 h) war Karl Kraus da und erkundigte sich nach 2 Karten. (Hast Du selbe, o Jokl, schon zum Portier ins Hotel geschafft?) Karl Kraus äußerte auch noch einige Wünsche betreffs der Belautigung während der einzelnen Vortragsnummern; bitte, Jokl, frage ihn nochmals darnach. Ferner wünscht er durch das Zeitschriftenzimmer u. Bücherausgabe (also womöglich vollst. getrennt vom übrigen Publikum) zum Vortragstisch zu gelangen! Auch äußerte er sich über die widerlichen Reklamnotizen Guttmanns. Schade, dass Du nicht anwesend warst!! Du sollst morgen Montag, nach 12 h im Blauen Stern telephonisch nachfragen, wo Er zu finden ist! Möchte mit dem Redehalleleiter Rücksprache nehmen! Die ganze Geschichte war furchtbar peinlich, der Karten wegen nämlich! JUC Misliwetschek 131

66 132 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle terländischen Dichters in lebendigem Worte einer erlesenen Hörerschaft vorgeführt zu haben. (64. BLRH 1912/13: 79) Arthur Schnitzler selbst hat am der Halle einen Dankbrief geschickt: Mit Vergnügen habe ich von dem Erfolg gelesen und gehört, den Ferdinand Onno in Ihrem Verein mit der Vorlesung des,professor Bernhardi erzielt hat und danke Ihnen noch besonders für Ihr liebenswürdiges Telegramm, für das freundliche und erfreuliche Interesse, das Sie auch diesem, meinem neuesten Werke entgegengebracht haben. Fast in derselben Zeit formulierte Franz Kafka, der Schnitzlers Dramen und Prosa, mit Ausnahme von dessen anfänglichen Arbeiten, für schlechte Literatur hielt, in einem Brief an seine künftige Verlobte Felice Bauer, die, wie es scheint, Schnitzler mochte und gerade seinen Professor Bernhardi auf der Berliner Bühne beabsichtigte zu sehen, seine negative Einstellung (KAFKA 1967: 299). Die Beziehung der Halle zu Gerhart Hauptmann war immer mit besonderer Verehrung und Bewunderung verbunden. Bereits im Jahre 1892 hielt Emil Goldmann auf einer Vollversammlung des Vereins den Vortrag Gerhart Hauptmann, welcher im Jahresbericht abgedruckt wurde (44. BLRH 1892/93: 3 23). Im Jahre 1899 hielt Josef Adolf Bondy in der Halle einen Vortrag über Fuhrmann Henschel, das aktuelle Drama Hauptmanns, am Georg Pick über Hauptmanns Märchen und später im selben Jahr Max Wertheimer über Hauptmanns unlängst erschienenes Scherzspiel Schluck und Jau trat die Halle mit Hauptmann brieflich in Kontakt und machte ihn mit den grundlegenden Gedanken des Vereins bekannt. 39 Im Jahre 1912, als Hauptmann den Nobelpreis erhielt, wurde er zum Ehrenmitglied der Halle gewählt, was er mit einem Dankbrief quittierte, welcher dann unter den Funktionären und Mitgliedern der Halle zirkulierte (siehe Rapport 1912/13, Eintrag Nr. 1186). Schließlich galt Gerhart Hauptmann zu Beginn des Jahrhunderts in Böhmen als größter deutscher Schriftsteller der Gegenwart. Als die Halle am 6. November 1913 anlässlich ihrer 65. Stiftungsfeier eine Hauptmann- Veranstaltung im Rudolfinum organisierte, bei welcher Berthold Held das Festspiel in deutschen Reimen, das neueste Werk Hauptmanns (1913), vorlas, war die Aufnahme beim Publikum erwartungsgemäß positiv: Die Vorlesung von Gerhart Hauptmann,Festspiel durch Berthold Held. Mehr als 600 Hörer konnten am 6. November im Rudolphinum die rhetorische Meisterschaft Berthold Helds dem zur Rezitation der szenischen Bemerkungen das Mitglied des Kgl. deutschen Landestheaters Herr Friedrich Hölzlin assistierte in schrankenloser Bewunderung anerkennen. (65. BLRH 1913/14: 55) 39 Aus dem Brief vom : Der ergebenst gefertigte Verein, seit dem Jahre 1848 der Zentralverein der Prager deutschen Studentenschaft, betrachtet es in erster Linie als seine Aufgabe, den Angehörigen der beiden deutschen Hochschulen die Mittel zu ihrer geistigen Ausbildung zu bieten. (Korrespondenz der LRH [AUK]). Josef Čermák Die Halle verwirklichte diese Veranstaltung als eine Protestaktion gegen die Absetzung des in Knittelversen geschriebenen Werkes, das zum Gedenken an die Freiheitskriege entstand, vom Programm der Breslauer Festspiele: Als Gerhart Hauptmanns Festspiel infolge schleichender Umtriebe dunkler Mächte vom Plane der Breslauer Festspiele abgesetzt wurde, glaubte der Ausschuss ganz im Einverständnis mit der Mitgliedschaft zu handeln, wenn er, wie alle, für die freie Kunst und freie Wissenschaft eintreten, Deutschlands grösstem Dichter seine Huldigung darbrachte und ihm unvergängliche Verehrung zusicherte. (65. BLRH 1913/14: 22) 40 Bei dem Festkommers der Halle nach der Veranstaltung im Rudolfinum las Held Hauptmanns Festspiel erneut. 41 Auch nach dem Kriege wurde Hauptmann in Böhmen sowie auf der deutschen als auch auf der tschechischen Seite sehr geschätzt. Als er im Jahre 1921 in Prag weilte, wurde er am 15. November zum Ehrendoktor der Prager deutschen Universität promoviert. Das war selbstverständlich auch für die Halle ein großes Ereignis, deren Funktionäre die Erlaubnis bekamen, ihr Ehrenmitglied zur feierlichen Promotion zu begleiten. 42 Die Hallemitglieder haben dann abends zu Hauptmanns Ehren einen improvisierten Fum veranstaltet, bei welchem Hauptmann eine Eintragung im Gedenkbuch der Halle hinterließ: Die ideelle Verbindung mit der Halle. Gerhart Hauptmann. Ein Jahr später, am 15. November 1922 feierte die Halle den 60. Geburtstag des größten lebenden deutschen Dichters mit Ruhm und Stolz. 43 Hauptmann blieb auch weiter in Verbindung mit der Halle. In der erregten Zeit ihres 75. Jubiläums schickte ihr der Dichter am 26. April 1933 einen etwas verschlüsselten Glückwunschbrief aus Rapallo: 40 Ins Stammbuch schrieb Held bei dieser Gelegenheit ein Zitat vom Hauptmanns Festspiel: Wir sollen von dem nicht seitab schwanken,/ dem wir Dasein und Größe verdanken. 41 Der Kommers war doppelt bedeutsam; einerseits feierten wir das 65. Stiftungsfest [...] andererseits wurde durch die Vorlesung des viel angefochtenen Festspiels durch Regisseur Berthold Held in würdiger Weise der großen Ereignisse von 1813 gedacht. (65. BLRH 1913/14: 27) 42 Eine erhebende Feier bildete für uns die Promotion unseres Ehrenmitgliedes Gerhart Hauptmann zum Ehrendoktor unserer Universität. Nachdem eine Deputation des Ausschusses schon am ersten Tage der Anwesenheit des großen Dichters, dessen großes Interesse und tiefes Verständnis für die Prager deutsche Studentenschaft (man) bei einem Begrüßungsbesuche festzustellen Gelegenheit hatte, nahm der Ausschuss korporativ an einem Begrüßungsabend teil, an dem der Obmann in einer Ansprache dem Gefühl des Zusammenhanges zwischen unseren Idealen und dem Schaffen unseres Dichterfürsten Ausdruck verlieh. Nach längeren Verhandlungen, für deren vernünftige Führung dem Ausschuss vom Rektorat die Anerkennung ausgesprochen wurde, erreichten die Chargierten der Halle die Erlaubnis, ihr Ehrenmitglied bei der feierlichen Promotion in Vollwichs begleiten zu dürfen, ein historischer Augenblick der Hallegeschichte, da unsere Farben den größten deutschen Dichter zur größten Ehrung unserer Universität geleiteten. (70. BLRH 1921/22: 33f.) 43 Am 15. November beging der größte lebende deutsche Dichter Gerhart Hauptmann, den wir stolz sind, als Ehrenmitglied zu führen, sein sechzigstes Wiegenfest. (BLRH 1922/23: 35) 133

67 134 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Der berühmten Lese- und Redehalle deutscher Studenten in Prag zum hundertsiebzigsten Stiftungsfest alle feierlichen Glückwünsche! Hundertsiebzig Semester Bestand durch Tag und Nacht, Sommer und Winter, Meeresstille und Sturm, Regenbögen und Sonnenschein Bestand aus deutscher Wesenskraft, fordert in der Stunde des Innewerdens vor allem Dankbarkeit. Auch der Stolz meldet sich. Aber was braucht es Stolz, wo Kraft sich durch sich selbst bestätigt?! Die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten zu Prag, sie blühe weiter durch die Jahrhunderte als Trägerin wahrer, tiefer, schlichter, tapferer deutscher Wesenheit! Gerhart Hauptmann. 44 Die Beziehungen der Prager deutsch-jüdischen Enklave zu befreundeten und geistesverwandten Literaten aus Wien waren besonders eng. Egon Fridell, Wiener Kabarettist, Theaterkritiker und Chargenschauspieler, geistreicher Essayist und Kulturhistoriker, hielt am einen Vortrag in der Halle mit dem interessanten Thema Der nervöse Mensch. Der Jahresbericht würdigt seine Leistung: Und wiederum ein ganz anderer, großer und vielseitiger Dichter und Mensch trat am 18. Februar an das Rednerpult der Halle. Dr. Egon Fridell, der geistvolle Altenberg-Interpret, der feinempfindende Schriftsteller, der so oft seine blitzenden, blendenden Wortkristalle an Heiterkeit, Erfreuung und Erfrischung suchende Kabarett-Besucher munter verstreut, enthüllte den Pragern einen neuen Schatz aus dem Schmuckkästlein seines reichen verblüfften Wissens.,Der nervöse Mensch lautete der Titel seines Vortrages; doch was die dankbaren Hörer seinen klaren, geistvollen Worten entnahmen, war eine mächtige, freisinnige Synthese des modernen Menschen überhaupt. (63. BLRH 1911/12: 75) Auch der in Wien geborene und in München lebende Herausgeber, Essayist, Lustspielautor, Novellist und Übersetzer Franz Blei wurde im Jahre 1908 von der Halle eingeladen. Im Sommersemester 1909 las er im Spiegelsaal des Deutschen Hauses aus seinem Werke vor (61. BLRH 1909/10: 66). Vorträge berühmterer Gäste oder solche, die größeren Zuspruch versprachen, wurden seit einiger Zeit außerhalb der Halle veranstaltet. Es gab aber auch ziemlich viele Fälle, bei denen die Einladung zu einem Auftritt in der Halle scheiterte. Das war z. B. der Fall bei Hermann Hesse im Jahre 1911, also wieder in der Zeit, als die Aktivität der Abteilung für Literatur und Kunst das Tandem Haas Jokl leitete. Im Oktober dieses Jahres präsentierte die Neue akademische Vereinigung für Kunst und Literatur in Brünn, die im Jahre 1920 zum Brünner Schwesterverein der Prager Halle wurde, dem Ausschuss der Redehalle den Wunsch Hesses, im Anschluss an seine Brünner Vorlesung auch in Prag zu lesen. 45 Es scheint, dass Prag positiv reagierte, aber der 44 Die Abschrift des Briefes befindet sich in der ungeordneten Hallekorrespondenz (AUK). 45 Der Brief vom , dem ehrenfesten Ausschuss der LRH adressiert, lautet: Herr Hermann Hesse teilte uns mit, dass er in unserer Vereinigung lesen möchte. Wir erlauben uns anzufragen, ob Sie geneigt wären im Anschluss an eine Brünner Vorlesung eine solche in Prag zu veranstalten, wodurch sich die Honorarforderungen für beide Teile bedeutend günstiger gestalten würden. Herr Hesse hat auch den Wunsch geäußert, in Prag zu lesen. Herr Hesse befindet sich augenblicklich auf einer Reise nach Indien und wir bitten Sie, uns Josef Čermák nächste (und letzte) Brief der Brünner lässt vermuten, dass die ganze Sache im Sande verlief. 46 Am 9. Oktober 1910 entwarf der neugewählte Redehalleleiter (und Schriftführer der Abteilung für Literatur und Kunst) Robert A. Jokl in der Sitzung seiner Sektionsleitung den künftigen Arbeitsplan der Redehalle und schlug mehrere Kandidaten vor, die zu Vorträgen eingeladen werden sollten, darunter den französischen Konsul zu Prag. 47 Am 12. Oktober wurde Paul Claudel, welcher damals nach seiner chinesischen und vor seiner deutschen Mission in den Jahren das Konsulat in Prag bekleidete, zu einem Vortrag in der Halle brieflich eingeladen. Er hat jedoch die Einladung in einem französisch geschriebenen Brief an den Obmann der Sektion Willy Haas abgelehnt mit der Begründung, dass er als französischer Diplomat nur bei einer französischen Institution, bei der Alliance Française, einen öffentlichen Vortrag halten könne (siehe ČERMÁK 2000a: 137f.). Die Halle musste auf Claudels Vortragskunst verzichten, aber Haas, ein wahrer Kontaktkünstler, hielt die Beziehung zu Claudel aufrecht und traf ihn in Hellerau bei Jakob Hegner, welcher Claudels Dramen aufführte. Die Meinungsverschiedenheit in der Beurteilung religiöser Fragen führte schließlich zu einer Polemik zwischen dem damals 22jährigen Haas und dem bereits weltberühmten Claudel über die Eigenart von Claudels Katholizismus auf Grund eines Aufsatzes von Haas im Innsbrucker BRENNER (HAAS 1913), die dann ihre Fortsetzung in ihrem Briefwechsel fand. Auch den missglückten Versuch um eine Gastlesung der deutschen Dichterin Else Lasker-Schüler musste das Duo Haas Jokl hinnehmen. Im Herbst 1911 schickte ihnen Lasker-Schüler drei Briefe (der eine trägt sogar die Gruppenadresse Haas Werfel Jokl) und ein improvisiertes Briefgedicht, welches mit ihren Namen und mit ihrer künftiger Prager Vorlesung jongliert. Der Anlass zu dieser Veranstaltung soll, wie Haas berichtet, viel früher entstanden sein, bei seinem Besuch in Berlin in seiner Gymnasialzeit, als er dort als Oberprimaner die Dichterin kennen lernte und ein langes Nachtgespräch mit ihr führte. Der Verwirklichung der Absicht in der Halle standen wahrscheinlich finanzielle Forderungen der Autorin im Wege, dazu hat Jokl, welcher im Benehmen und Verhandeln oft eine gewisse Ungeschicklichkeit und Unbeholfenheit an den Tag legte, möglicherweise Missverständnisse verursacht, die ihm die extravagante Dichterin übel nahm (ČERMÁK 2000a: ; BINDER 2002). Ihre Ihren Entscheid mitzuteilen, da wir mit Herrn Hesse schon diesbezüglich verhandeln. Mit treudeutschem Gruß und Handschlag unterzeichnet Emil Richter, Präses, und Fritz Taussig, Schriftführer. 46 Der Antwortbrief vom lautet: In Beantwortung Ihres letzten Schreibens in Angelegenheit der Vorlesung Hermann Hesse teilen wir Ihnen mit, dass wir über Termin und Honorarforderungen selbst noch nichts wissen und werden Sie davon rechtzeitig verständigen. 47 Protokollbuch der Sektion für Literatur und Kunst , Eintrag vom

68 136 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Vorlesung wurde dann ein Jahr später unter einer anderen Flagge, im Prager Klub deutscher Künstlerinnen, veranstaltet. Der Abend erregte nicht nur auf der deutschen, sondern auch auf der tschechischen Seite Aufmerksamkeit. Der tschechische Schriftsteller František Langer, einer der Mittler zwischen den Landeskulturen, berichtete über die Vorlesung in einer prominenten tschechischen Zeitschrift und schrieb, dass die Autorin ihre Verse so rezitierte, dass sie aus ihnen kurze melodische Ganzheiten bildete, welche sie vielmehr sang als las (ČERMÁK 2000c: 57). An der Honorarfrage ist auch die Einladung von Roda-Roda im Jahre 1914 gescheitert, da die geforderten zuerst 600, dann 400 Kronen dem Verein augenscheinlich überdimensioniert schienen. In bestimmten Zeitabschnitten öffnete sich die Halle mehr der Welt und es gelang ihr nicht nur, ausgezeichnete Vortragende aus dem Umkreis der Prager deutschen Universität, sondern sogar prominente und aktuell interessante Persönlichkeiten für einen Auftritt zu gewinnen. Diese Öffnung des Vereins begann bereits in den 1890er Jahren, und die Halle wusste ihre Bedeutung für ihren Namen außerhalb des Landes zu nutzen, z.b. als sie im Jahre 1892 von zwei prominenten ausländischen Gästen, dem dänischen Literaturwissenschaftler und Kritiker Georg Brandes und dem reichsdeutschen materialistischen Philosophen Ludwig Büchner, Bruder des bekannten Schriftstellers, besucht wurde. 48 Auch der dänische Erzähler, Dramatiker und Essayist Herman Bang las am 14. April 1908 aus seinem Roman Mikaël (1904) vor dem Prager Publikum. Der Jahresbericht betonte in seiner Würdigung Bangs die tiefe Beziehung zu Prag: Am 14. April las Hermann [!] Bang Teile seines Romans,Michael im Rahmen der Abteilung für Kunst und Literatur. Dieser Abend war wohl einer der bedeutsamsten Autorenabende, welche die Halle je veranstaltete, nicht nur was die Persönlichkeit des Vortragenden anbelangt, sondern auch durch den Umstand, dass Hermann Bang tiefere Beziehungen an Prag fesseln, von denen er in interessanter Weise zu einem gespannt zuhörenden Publikum sprach. (60. BLRH 1908/09: 75) Dieser Eindruck wird durch den Eintrag Bangs im Stammbuch der Halle am bestätigt: Prag, wo der Moldau grüne Wellen, von Akazzien überschattet, dahingleiten und Hradschin, der steinerne König Böhmens, wie ein ewiges Denkmal der Schönheit herrscht Prag, nimm für alle Zeiten meinen Dank und meine Liebe hin Das Ansehen, dessen sich die Lesehalle auch außerhalb unseres engeren Vaterlandes erfreut, kam zweimal zu erhebendem Ausdrucke, als Männer wie Georg Brandes und Ludwig Büchner bei ihrer Anwesenheit in Prag, Ersterer am 17. Juli, letzterer am 4. Dezember 1892, uns die Ehre ihres Besuches erwiesen. (44. BLRH 1892/93: 32) 49 Stammbuch , Eintrag vom , er bezeugt u.a., dass Bang sich damals mehrere Tage in Prag aufhielt. Josef Čermák Dieses Stammbuch enthält Einträge Grußworte, der Gelegenheit angemessene eigene oder fremde Zitate oder durch die augenblickliche Stimmung der Schreibenden oder durch die geistig-politische Lage der Prager deutschjüdischen Minorität inspirierte Sinnsprüche oder bloße, meistens nur datierte Unterschriften prominenter Gäste, die an den Veranstaltungen der Halle mitwirkten oder teilnahmen. So reflektiert Georg Brandes bei seinem Besuch ( ) die Beziehung zwischen Humanität und Nationalität: Nationalität und Humanität sind gewöhnlich wie die beiden Eimer am Brunnen; wenn stark für die Nationalität gefochten wird, leidet in der Regel die Humanität darunter. Man merkt es an der studierenden Jugend im deutschen Reich. Ich wünsche der deutschen Jugend in Böhmen dazu Glück, dass sich bei ihr Nationalität und Humanität auf das schönste vereinen. 50 Bereits ein Jahr vor Brandes, am , hat der mährisch deutsche Schriftsteller Jakob Julius David die Halle besucht und ein Gedicht von sechs Zeilen ins Stammbuch geschrieben. Auch das Werk von Richard Dehmel, einem ziemlich häufigen Gast in Prag, fand das Interesse der Halle. Der Dichter las am aus seinem Werk und hinterließ im Stammbuch einen Vierzeiler ( ): Lasst uns gern einander lauschen,/ innerst grenzenlos gesellt,/ Sinn und Seele gastfrei tauschen,/ so wird kleine große Welt. Am hielt Rudolf A. Jokl im Rahmen der internen Vorträge, die zur Pflege der Rhetorik beitragen sollten, ein kurzes Referat über Dehmel mit Verlesung seiner Gedichte. Der blinde Prager Dichter und Mitglied des Brodschen vierköpfigen Prager Kreises Oskar Baum schrieb ins Stammbuch in Blockschrift sein persönliches Credo ( ): Das Mitleid ist etwas, das überwunden werden muss. Der Wiener Schauspieler Ferdinand Onno, welcher in der Halle oft als Rezitator und Vorleser mitwirkte, griff bei seinem Stammbucheintrag ( ) zu zwei Versen aus dem Schleier der Beatrice von Arthur Schnitzler, aus dessen Werken er in Prag rezitierte: Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit./ Und noch der nächste Augenblick ist weit. Franz Werfel trug in das Stammbuch ( ) in der Zeit seines anfänglichen meteorhaften poetischen Aufstiegs, welchen jedoch die Halle erst mit einiger Verspätung wahrnahm, eines von seinen damaligen dichterischen Axiomen: Doch über allen Worten/ verkünd ich, Mensch: Wir sind! Franz Werfel. 51 Sein Vortrag wurde mehrmals verschoben und musste anderen Veranstaltungen Platz machen. Er fand am 11. Januar 1913 im Deutschen Haus statt, der Jahresbericht registrierte ihn mit einem kurzen wohlwollenden Kommentar: Einen heimischen jungen Poeten zu fördern war der Zweck des nächsten Vortrags. Franz Werfel, der mit seinem Erstlingswerke,Der Weltfreund bei der gesamten Presse einen ganz 50 Stammbuch , Eintrag vom Stammbuch , Eintrag vom

69 138 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle außerordentlichen Erfolg errungen hatte, las am 11. Jänner im Spiegelsaale vor einem überaus distinguierten Publikum eine Reihe bisher noch unveröffentlichter Gedichte, sowie einen gedankentiefen, formvollendeten Einakter,Die Versuchung. (64. BLRH 1912/13: 79) Andere prominente Gäste der Halle haben das Stammbuch nur um ihre datierte Unterschrift bereichert: Franz Brentano ( ), Detlev von Liliencron ( und ), der Wiener Erzähler und Dramatiker, Neffe von Theodor Herzl, Raoul Auernheimer ( und ) oder Karl Kraus ( ), als er seinen ersten Vortrag in Böhmen in der Halle hielt. Einen einzigartigen Eintrag hat im Stammbuch der Halle 1891 ein exotischer Gast hinterlassen: der spanische Opernkomponist Tomás Bretón Hernández. Bretóns Oper Die Liebenden von Teruel [Los amantes de Teruel], ein nach dem romantischen Theaterstück von Juan Eugenio Hartzenbusch komponiertes Musikwerk, wurde im selben Jahr auf der Bühne des Neuen Deutschen Theaters unter persönlicher Beteiligung des spanischen Autors aufgeführt. Bei dieser Gelegenheit hat Bretón auch die Halle besucht, in ihr Stammbuch fünf Verse aus dem Stück eingetragen 52 mit einer pathetischen Zuschrift: ein begeisterter Bewunderer der sehr gelehrten Gesellschaft Lese- und Redehalle der deutschen Studenten (un admirador entusiasta de la cultísima Sociedad LRH). Das Stammbuch hat einen großformatigen, prächtig geschmückten Ledereinband, auf dessen Vorderseite die Ziffer 1848 auf einem schwarzrot-goldenen Wappen steht, welcher von einem Blumenornament im goldenem Rahmen umkreist ist. Die Halle führte aber noch ein ähnliches, jedoch viel schlichteres und weniger offizielles Gedenkbuch , in welchem die wichtigsten von dem Verein veranstalteten gesellschaftlichen Ereignisse verzeichnet wurden: inner- und außerhalb der Halle durchgeführte Versammlungen aller Art, Festkneipen, sog. Commers und Fum, gemütliche Abende der alten Herren, sog. konstituierende Ausschusssitzungen, Abschiedsabende für verdiente Funktionäre, Begrüßungsabende zu Ehren prominenter Gäste, ebenfalls Gelegenheitsgedichte, ausnahmsweise auch kulturelle Aktivitäten der Halle, vor allem in den letzten Jahren ihrer Existenz, als die Jahresberichte ausblieben. 4. Die Prager deutschen Mitglieder und Autoren Den größten Anteil am Leben der Halle hatten und zur Triebkraft ihrer kulturellen Aktivitäten wurden die aus der deutsch-jüdischen Minorität stammenden liberalen, deutsch freisinnigen Studenten, aus welchen sich später auch die 52 Es mi amor de tal manera So beschaffen ist meine Liebe, que si perdo la esperanza, dass wenn ich die Hoffnung verliere, morirá mi triste cuerpo mein trauriger Körper wird sterben, pero siempre amará el alma; aber meine Seele wird immer lieben; es mi amor de tal manera. so beschaffen ist meine Liebe. 53 In AUK unter der Signatur IIC4 aufbewahrt. Josef Čermák Elite der Prager deutschen Kulturgesellschaft rekrutierte. Zu den Stützen der kulturellen Aktivitäten der Halle gehörten zwei aus Böhmen stammende, dem Studentenverein jahrelang treu beistehende Mitglieder, die als deutschsprachige Juden der tschechischen Welt gegenüber offen eingestellt waren und mit Prag lebenslang verbunden blieben: Die Dichter Friedrich Adler und Hugo Salus. Beide waren Hallefunktionäre in ihrer Studienzeit, Adler in den 1880er, Salus in den 1890er Jahren, beide nahmen auch in späteren Jahren regelmäßig an Veranstaltungen der Halle teil, beide stellten ihr Werk der Halle zur Verfügung, schrieben sogar für die Jubiläumsfeiern der Halle eigens Gelegenheitsgedichte oder einleitende Worte, die in den Jahresberichten zu finden sind. Der dritte, ebenfalls lebenslange Gönner der Halle und treue Teilnehmer und Mitarbeiter an ihren Veranstaltungen war Alfred Klaar, ein in Prag geborener, später in Berlin lebender Literaturhistoriker, Professor an der Prager deutschen Universität, Journalist und Theaterkritiker. Seine Vorträge bei den Studenten, seine Festrede zum Jubiläum des Kaisers Joseph II. (siehe KLAAR 1881), welches von den Deutschen in der Monarchie mit Errichtung vieler Statuen und Denkmäler gefeiert wurde, die dann nach dem ersten Weltkrieg von tschechischen Nationalisten in einigen Städten Westböhmens unter Krawallen mit Gewalt beseitigt wurden, und seine Prologe zu den Hallefeierlichkeiten wurden immer in den Jahresberichten des Vereins oder sogar separat abgedruckt. In diesem Zusammenhang muss auch die Halleaktivität eines Mannes erwähnt werden, welcher eine wichtige Rolle in der Biographie Franz Kafkas spielt, des späteren leitenden Direktors in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt Robert Marschner. Auch er war in den 1880er Jahren als Jurastudent aktives Mitglied und Funktionär der Halle, zuerst als Schriftführer und Leiter einer Abteilung der Bibliothek, dann im Jahre 1887 kurze Zeit als Obmannstellvertreter und 1888 als Revisor. Im Jahre 1903 habilitierte sich Marschner an der Technischen Hochschule in Prag für Versicherungsrecht (BINDER 1979: 447). Als er 1915 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde, sandte ihm die Halle ihre Glückwünsche, die er mit einem Dankbrief vom entgegennahm, in dem er mit inniger Freude die Anerkennung seiner Verdienste quittierte, mitten in der praktisch-wirtschaftlichen Tätigkeit das Interesse der akademischen Jugend an der im Deutschen Reiche entstandenen sozialen Versicherung zu wecken. 54 Marschner blieb der Halle wahrscheinlich bis zu seinem Tode treu, noch 1928 findet man ihn auf der Liste der alten Herren im Jahresbericht. 55 Ein anderer Gönner der Halle aus diesem Kreis war Christian Freiherr von Ehrenfels. Er stammte aus Österreich, lebte aber in Prag seit 1896, als er mit 37 Jahren auf die Prager deutsche Universität als Professor der Philosophie und 54 AUK, Korrespondenz der LRH 1915, der Brief vom Robert Marschner, JUDr., Advokat, Prof. Prag (BLRH 1928/29: 50) 139

70 140 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Psychologie berufen wurde. Er war in ständigem Kontakt mit der Halle durch Teilnahme an ihren Debattenabenden, durch Vorträge, die er hielt z.b. Die Wertschätzung der Kunst bei Wagner, Ibsen und Tolstoj am auch im PRAGER TAGBLATT besprochen (52. BLRH 1900/01: 69), Das Drama als Erkenntnismittel am (64. BLRH 1912/13: 79), oder durch einleitende Worte zur Aufführung seines Theaterstückes Die Sternenbraut (1912) am er schrieb insgesamt fünf Bühnenstücke bzw. durch die Rede zur Richard-Wagner-Feier am Eine wichtige Rolle spielte Ehrenfels später, Anfang der 20er Jahre, in den Streitgesprächen über die Stellung der Deutschen im tschechoslowakischen Staate. Auch für Max Brod, der sich zur Lebensaufgabe machte, die Prager deutsche Kultur mit der Kultur der deutschsprachigen Welt und mit der tschechischen Nachbarkultur in Beziehung zu setzen, sogar die besten Werte der tschechischen Musik und Literatur in deutschen Ländern heimisch zu machen und zu fördern, bedeuteten die Jahre in der Halle die erste Station seiner geistigen Bildung und öffentlichen Wirkung. Vornehmlich machte er auf sich als Vortragender und als leidenschaftlicher Diskutant aufmerksam. Bereits als 18jähriger Jurastudent fing er an, hier Vorträge zu halten. Bei dem Vortrag Schicksale und Zukunft von Schopenhauers Philosophie (1902) sollte seine Freundschaft mit Kafka nach einer freundlich polemischen Auseinandersetzung anfangen. Später folgten weitere Vorträge: Einiges über Kritik ( ) (54. BLRH 1902/03: 43), 57 Grillparzers Humor ( ). Den Inhalt seines Vortrags über Kritik hat der Berichterstatter Fuchs im Protokoll-Buch der Sektion zusammengefasst: Der Vortragende gibt zuerst einen allgemeinen Überblick über das Werden der Kritik, kommt herauf auf ihren Zweck und auf ihr Ziel zu sprechen. Hierauf beleuchtet er den jetzigen Stand derselben auf allen Gebieten der Kunst, besonders auf dem der Philosophie. Durch zahlreiche Beispiele sucht er einerseits ihre Unzulänglichkeit, anderseits den Mangel an Objectivität derselben zu erweisen und schließt mit einem Satz Kants, in welchem dieser Philosoph bessere Zeiten für die Kritik in der Zukunft herbeisehnt. (54. BLRH 1902/1903) 58 Im Jahre 1903 beteiligte sich Brod an einem Vorlesungszyklus heimischer Autoren, die diesmal repräsentativ vertreten waren: Friedrich Adler, Gustav Meyrink, Hedda Sauer, Heinrich Teweles, Emil Faktor, Theaterkritiker der BOHEMIA, Paul Leppin, Oskar Wiener und andere. Brod las Texte von Meyrink und Wiener. Aber auch der seit seiner Jugend unglaublich agile Brod verbrachte in der Halle nicht viel mehr als die pflichtgemäßen vier Semester in 56 Professor von Ehrenfels herrliche Rede zur Richard Wagner-Feier gehört zu dem Allerschönsten, was der große Künstler und Gelehrte seinen Hörern geschenkt hat. (64. BLRH 1912/13: 79) 57 Nach Beendigung des Vortrages fand eine Debatte statt, bei der die Frage, ob eine Kritik überhaupt zweckdienlich sei, erörtert wurde. 58 Der Protokolleintrag fügt noch hinzu, dass der Vortrag sehr gut besucht war. Josef Čermák den Jahren Er bekleidete in der Sektion für Literatur und Kunst und in der musikalischen Abteilung verschiedene Funktionen, vom 2. Kassierer bis zum Obmann. Die Jahresberichte und Protokollbücher verzeichnen seine lebhafte Teilnahme an Vortragsdiskussionen und Debattenabenden. Allem Anschein nach steuerte er einer der höchsten Funktionen im Halleausschuss zu. Aber überall stand ihm, wie er selbst gesteht, der um drei Jahre ältere Bruno Kafka, ein Gliedcousin von Franz Kafka im Wege, welcher auf dem Boden der Halle eine unerreichbare Karriere begann, die ihn zur Universitätsprofessur und später sogar zum Ministersessel brachte. Die bereits erwähnten Umstände haben Brod am 21. September 1905, inmitten des Semesters, veranlasst, seine Obmannfunktion mit einer pauschalen Begründung niederzugelegen und auf seine Mitgliedschaft in der Halle zu verzichten: Löblicher Ausschuss, zu meinem Bedauern sehe ich mich genötigt, in Folge zahlreicher Arbeiten auf die Obmannstelle der Abteilung für Literatur und Kunst zu verzichten. Indem ich höflichst um Annahme meiner Demission für den Rest des laufenden Semesters ersuche, verbleibe ich in vorzüglicher Hochachtung, Max Brod. Seinen in der Halle verbrachten Lebensabschnitt fasst er in seiner Autobiographie zusammen: Abseits von diesem Froschmäusekrieg lernte ich in der Sektion Franz Kafka kennen. Es war weitaus der wichtigste Beitrag, den die Halle für meine weitere Entwicklung zu leisten hatte. (BROD 1960: 140) Als externer Mitarbeiter blieb Brod jedoch mit der Halle jahrelang in Verbindung. Am las er Texte aus seinen Novellen, am desselben Jahres trug er dort unter dem Titel Im Reiche der neuen Schönheit ein Essay über das Werk von Jules Laforgue vor. Doch war seine Abneigung gegenüber der Halle spürbar: Als er im Jahre 1910 für die Vorlesung seiner Gedichte bei einer Matinee 30 (dann 25) Kronen forderte, reagierte die Leitung der Halle empört: [...] der Ausschuss verweigert die Subvention von 25 K für den Vortrag Max Brod, da noch niemals ein Prager Schriftsteller als Gast der Halle ein Honorar verlangt hat. 59 Es handelte sich dabei um einen Vortrag über Max Brod von Kurt Hiller, welcher damals Brod verehrte, Frl. Medelsky sollte danach Brods Gedichte rezitieren. Hillers Vortrag wurde jedoch zuerst verschoben, dann ganz abgesagt. Als im Schuljahr 1903/04 Oskar Pollak, damals der engste Freund Franz Kafkas, Prag und damit seine Funktion als Kunstberichterstatter der Sektion Literatur und Kunst verließ und Max Brod Obmann dieser Sektion wurde, trat 59 Protokollbuch der Sektion für Literatur und Kunst , Einträge vom und

71 142 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Franz Kafka bestimmt wider seinen Willen 60 und mit Oskar Pollaks und Brods Zutun der Halle bei und übernahm Pollaks Stelle zuerst als Kunstberichterstatter, später als Literaturberichterstatter. Kafka blieb nicht viel länger als ein halbes Jahr auf diesem Posten und seine Tätigkeit hat nur wenige Spuren hinterlassen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass in dem bisher wenig erforschten Archiv der Halle noch etwas von ihm oder über ihn vorliegt. Vor 1890 waren die Altphilologie und die klassische deutsche Literatur das überwiegende Interessengebiet der philologischen Fächer der Halle. Um die Jahrhundertwende konzentrierte sich das Hauptinteresse auf die neuere Literatur des Naturalismus und der Neoromantik und allmählich auch auf die zeitgenössische Literatur des Frühexpressionismus. Die Referate in der literarischen Sektion kreisten in der Zeit um das Werk von Friedrich Hebbel, Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler, Detlev von Liliencron, Frank Wedekind, Gustav Meyrink, Rainer Maria Rilke, von den Nichtdeutschen um Ibsen, Strindberg, Bjørnson, Tolstoi, D Annunzio. Die Jahre um die Jahrhundertwende und vor dem ersten Weltkrieg waren in den humanistischen Fächern der Halle die produktivsten. Vor allem von den Studenten der Alt- und Neustädter Gymnasien Prags wurde der Geist der humanistischen Bildung der Halle übermittelt. Fast alle Finken versuchten sich literarisch und künstlerisch zu betätigen, ungeachtet dessen, ob sie dafür wirklich talentiert waren oder nicht, auch wenn ihre Zukunftspläne in andere Richtung zielten. Künftige Juristen, Naturwissenschaftler, Ärzte oder Ökonomen widmeten sich in ihren Studienjahren leidenschaftlich dem erhebenden Hobby, Gedichte, Erzählungen, Essays oder kritische Aufsätze zu schreiben oder über Literatur- und Kunstthemen Vorträge zu halten. Nur wenigen von ihnen wurde das Schreiben zum Beruf (Journalisten) oder sogar zur Berufung, für die meisten blieb es nur eine Sünde ihrer Jugendzeit. Auch ein unmusischer Hallefunktionär wie Bruno Kafka hielt 1899 als neu immatrikulierter Hochschüler in der Abteilung für Literatur und Kunst einen Vortrag über Die Sonderstellung des niederdeutschen (mecklenburgischen) Schriftstellers Max Dreyer in der realistischen Literatur. Jedenfalls kann man in den frühen Arbeiten einiger später berühmt gewordener Hallemitglieder ihre ersten schöpferischen Schritte ausfindig machen. Den nächsten Umkreis der Halleanhänger und -förderer bildeten natürlich die Prager oder in Prag heimisch gewordenen Studenten. Zweifellos war es Max Brod, der auch Franz Kafka zur kurzfristigen Einsetzung in die Leitung der Literatur- und Kunstsektion verhalf, Emil Utitz, Kafkas Mitschüler auf dem Altstädter Gymnasium, eifriger Diskutant bei den Hallevorträgen und späterer Professor der Ästhetik auf der Universität in Halle, oder Felix Weltsch, lang- 60 Wie unbekannt Kafka der Halle in der Zeit sein musste, bezeugt die Tatsache, dass er im 55. BLRH 1903/04 zuerst als Jura-, später als Philosophiestudent, im ersten Falle sogar als einziger ohne Vornamen, in der Aufzählung der Funktionäre figuriert. Josef Čermák jähriges Mitglied der Halle und einer der drei engsten Freunde Kafkas, Philosoph und späterer Bibliothekar der Prager Universitätsbibliothek. Oskar Baum, der dritte von den vier Autoren des Brodschen Prager Kreises, der blinde Dichter des Uferdaseins, wie das Jahresbüchlein berichtet, hielt im Wintersemester 1908/09 einen Vortrag über Max Brod in der Halle (60. BLRH 1908/09: 75), am 31. März [1912] las er vor einer zahlreichen Hörerschaft seine Gedichte, Novellen und ein Romankapitel (64. BLRH 1912/13: 79). Er blieb in ständigem Kontakt mit den Studenten ebenso wie das vierte Mitglied des Kreises Felix Weltsch. Oskar Pollak, ein begabter Philosophiestudent, Kafkas erster Freund und Lebensvorbild, welcher sich später als Kunsthistoriker und Kenner der italienischen Renaissance- und Barockkunst einen Namen machte und der leider im ersten Weltkrieg gerade an der italienischen Front gefallen ist, hielt als 19jähriger am 9. Dezember 1902 einen Vortrag unter dem Titel Ästhetische Kultur in der Halle. Der Berichterstatter Fuchs fasste den Inhalt des Vortrags im Jahresbericht zusammen: Angehend von der japanischen Ausstellung Emil Orliks 61 kommt Herr Pollak auf den Mangel unserer Zeit für Ästhetik, die das Schöne immer fern sieht, aber für die Natur in der nächsten Umgebung keinen Sinn hat. Der Vortragende bespricht den Mangel an Kultur Cultur im Gegensatze zur Civilisation und zeigt an den Japanern, wie überlegen diese uns sind. 62 Danach entbrannte eine lebhafte Diskussion, an der besonders Max Brod und Emil Utitz, teilnahmen und welcher auch Franz Kafka beiwohnte. Und wie es in der Redehalle üblich war, meldeten einzelne Mitglieder zum Abschluss ihre nächsten Vorträge. Nach dem Vortrag Pollaks, dem 25 Hörer, darunter 6 Damen (eine bemerkenswerte Rarität in der Zeit!) beiwohnten, meldete sich auch Franz Kafka mit einem Vortrag unter dem Titel Japan und wir. 63 Das Thema entspricht, wie man sieht, nicht nur dem die Halle momentan beherrschenden Interesse, sondern es reflektiert auch das Maß des damaligen Einflusses von Oskar Pollak auf Kafka, welcher gerade in dieser Zeit um seine Lebensorientierung rang. Leider fehlt jede Information, ob bzw. wann Kafka seinen Vortrag in der Halle hielt. Im fraglichen Zeitraum schließt das Protokollbuch ab, anschließende Hefte sind nicht erhalten. Ein Zusammenspiel von einigen Vortrags- und Ausstellungsaktivitäten in den letzten zwei Monaten des Jahres 1902, also in der Zeit enger Freundschaft zwischen Kafka und seinem Mitschüler vom Altstädter deutschen Gymnasium Oskar Pollak, ermög- 61 Emil Orlik gehörte zu den Gönnern der Halle. Das bezeugt eine Notiz im 51. BLRH über das Jahr 1899/1900 (1900): Ferner schenkte uns Meister Orlik ein Wagnerbild, das die Sammlung berühmter deutscher Männer, die die Halle bereits besitzt, um ein Künstlerisches besonders hochstehendes vermehrt. 62 Protokollbuch der Sektion für Literatur und Kunst , Eintrag vom Ibidem. 143

72 144 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle licht uns einen kleinen Einblick in das biographisch so spärlich dokumentierte Leben Franz Kafkas in dieser Zeit. Das Interesse einer kleinen Gruppe von Hallemitgliedern, darunter des früh mit 25 Jahren verstorbenen Max Horb, Oskar Pollaks und wie wir jetzt wissen auch Franz Kafkas, war in dieser Zeit auf die Probleme der damals in ganz Europa bewunderten fernöstlichen Kunst, vor allem Japans, gerichtet. Der erste Anstoß kam von der Emil Orlik- Ausstellung. Diese Ausstellung hat Max Horb dazu inspiriert, einen Vortrag über die japanische Ausstellung Orliks anzumelden, den er dann am in der Halle hielt. Horb, ein späteres Mitglied der Malergruppe Osma (Die Acht), hielt seinen Vortrag vor 18 Zuhörern, unter welchen Brod fehlte. Der Berichterstatter hat seine Leistung im Protokollbuch kurz gewürdigt: Herr Horb bespricht die einzelnen Abteilungen dieser Ausstellung in ausführlicher Weise und feiert Orlik als vielseitigen Meister, der durch seine Ausstellung auch seiner engeren Heimat den Beweis seines Könnens geliefert hat. In der folgenden Diskussion handelt es sich mehr um principielle Fragen über die jetzigen Kunstanschauungen als um das vorliegende Thema, wenn auch gerade die Eigenart Orliks unmittelbar den Anlass zu denselben bot. 64 Nicht einmal die Kunst wurde also in dieser Zeit in der Halle vernachlässigt. Hugo Steiner kommentierte 1899 in seinem Vortrag eine in der Halle veranstaltete Ausstellung im nächsten Jahr, am , sprach er zum Thema Fliegende Blätter und Simplicissimus Brennpunkte deutscher Karrikatur. Was die Musik betrifft, muss an ein außerordentliches Ereignis erinnert werden. Im März 1912 hielt Arnold Schönberg eine Gedenkrede an den vor zwei Jahren verstorbenen Gustav Mahler vor den Studenten. Schönberg, Schüler und dann auch Schwager von Alexander Zemlinsky, welcher als Chefdirigent des Neuen Deutschen Theaters lange Jahre in Prag lebte, und ein bei der frühexpressionistischen Generation beliebter Autor des Pierrot lunaire oder der Pélleas und Melissande, dessen Erwartung viel später ihre Weltpremiere in Prag hatte, hatte in der Zeit enge Beziehungen zum Prager Musikleben. Schönbergs Gedenkrede an Mahler hat, dem Eintrag im Jahresbericht nach, einen außerordentlichen Eindruck auf das Publikum gemacht: Was Arnold Schönberg mit seiner wunderbaren Gedenkrede auf Gustav Mahlers Leben und Schaffen, was er mit dieser Hymne voll Glut und edler Begeisterung seinen Hörern geschenkt hat; der nicht enden wollende Jubel nach dem Ausklange seiner Worte, die Aufführungen der Prager und Wiener Presse, welch letztere neben ihren hiesigen Vertretern den kundigen Mahlerinterpreten Paul Stefan zu diesem Vortrage entsandt hatte, mag es ihm besser gesagt haben, als wir es vermöchten. Arnold Schönbergs Huldigung vor den Manen seines grossen Meisters wird jedem unvergesslich bleiben, der sie vernommen. (64. BLRH 1912/13: 79) Nicht einmal die Neuigkeit namens Film blieb in der Vorkriegszeit in der Halle unbeachtet. Im März 1914 korrespondierte sie mit der bekannten Pariser Firma Pathé Frères, Kinematographen und Films, welche die Zusendung 64 Protokollbuch der Sektion für Literatur und Kunst , Eintrag vom Josef Čermák von 2000 m. wissenschaftlichen Films versprach und ein Verzeichnis lieferbarer Filme beilegte. Paul Kisch, der konservativ eingestellte Bruder von Egon Erwin Kisch, ein den Tschechen nicht besonders zugetaner Prager, war ebenfalls ein treuer Anhänger der Halle. Mit Emil Utitz hielt er am einen Vortrag über Schnitzlers Reigen. Im Juni 1913 wandte sich Kisch brieflich mit einem Vorschlag an die Halle, eine Anthologie von Aussprüchen berühmter Deutscher über uns, Deutsche in Österreich herauszugeben. Die Reaktion des Halleausschusses lässt sich nicht ermitteln. In den 20er Jahren hat Kisch, wie so viele andere vor ihm und nach ihm, 65 der Halle Bücher, darunter die gesammelten Werke etlicher Klassiker, geschenkt. Paul Leppin war ebenfalls zu Gast in der Halle, und zwar nicht nur, als er dort aus dem eigenen Werk las wie am Im Jahre 1900 hatte er einen Vortrag über Rainer Maria Rilke gehalten und aus dessen Dichtungen gelesen. Paul Wiegler, ein Berliner, in Prag langjährig als Redakteur der BOHEMIA tätig, ein hochgebildeter und hochgeschätzter Mentor der jüngeren Autoren, war in ständigem Kontakt mit der Halle. Er vermittelte ihr von Zeit zu Zeit auch Verbindung mit ausländischen deutschen Autoren (z.b. mit Harden). Am 31. Januar 1910 hielt er vor zahlreich erschienenem Publikum den Vortrag Nietzsche-Epilog, in welchem er das Werk und das Leben Nietzsches nach abschließenden Veröffentlichungen darlegte (61. BLRH 1909/10: 66). Auch der Prager Lyriker und Erzähler Oskar Wiener war mit der Halle jahrelang in Verbindung. Am trug er dort z.b. eigene Gedichte vor. Wie erwähnt spielte Willy Haas trotz seiner sehr kurzen Mitgliedschaft in der Halle in den Jahren eine wichtige Rolle. In Zusammenarbeit mit Rudolf A. Jokl entfaltete er eine weitgefächerte Tätigkeit, die vor allem auf das Ausland gerichtet war und mit seinen eigenen Gegenwarts- und Zukunftsplänen zusammenhing. Durch Vermerke im Protokollbuch der Halle ist es z.b. belegt, dass Haas bereits im November 1910 an die Wiener Tänzerin Grete Wiesenthal schrieb und sie zu einer Veranstaltung in der Halle einlud, welche im Mai 1911 stattfinden sollte, was Wiesenthal jedoch ablehnte. Doch wurde ihr Auftritt auf der Sophieninsel in Prag ein Jahr später unter der Regie von Haas verwirklicht, und zwar am literarisch-musikalischen Abend der von ihm geleiteten Herdervereinigung, bei dem Hugo von Hofmannsthal seine Gedichte vortrug und Grete Wiesenthal zu Johann Strauss Frühlingsstimmen und Donauwalzer und Franz Liszts Rhapsodie Nr. 2 tanzte (siehe KAFKA 1990: 379, Kommentarband 105). Haas, kurzfristig der Obmann der Sektion Literatur und 65 Von den bekanntesten sind zu nennen: Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann, Oskar Spengler, Schultze-Naumburg, Carl Sternheim, Arthur Schnitzler, Ricarda Huch, Franz Werfel, Oskar Wiener, Albert Schweizer, Léon Bloy, A. Fabre-Luce, Luigi Pirandello, Alban Berg, Sven Hedin, Fridjof Nansen, Josef Pfitzner u.a. 145

73 146 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Kunst, und seinem bürokratisch fleißigen, von ihm unterschätzten Famulus Jokl gelang es in dieser Zeit, namhafte ausländische Autoren anzusprechen und in vielen Fällen für die Halle zu gewinnen (u.a. Karl Kraus, Frank Wedekind, Stefan Zweig, Richard Dehmel oder Egon Fridell). Als Haas die Halle am verließ vielleicht aus Überdruss an den inneren Zuständen der Halle, sicher aber, weil ihn die Herausgabe der HERDER-BLÄTTER stark beanspruchte und er einen größeren Spielraum brauchte. Seine Beziehungen zur Halle hat er jedoch nicht abgebrochen. So lud er die Hallemitglieder oft zu von ihm organisierten Veranstaltungen ein und sorgte für freie Eintrittskarten. In allen Abteilungen des Vereins wurden darüber hinaus interne Vorträge der wirklichen Hallemitglieder gehalten. Sie machen uns mit damaligen, oft merkwürdigen Interessen und ersten öffentlichen Schritten mancher später anerkannter Persönlichkeiten bekannt. Als typisches Phänomen des damaligen Studentenlebens müssen literarische Versuche und ihre Präsentation in Form von Vorlesungen und Vorträgen im Vereinshaus betrachtet werden, die der Prager deutsch-jüdischen Minorität den Ruf eines Literaturvolkes einbrachte. Nur wenige konnten ihr literarisches Talent umsetzen, den meisten stand die Ernüchterung in einem bürgerlichen Beruf bevor. So endete z.b. der literarische Jugendrausch des agilen und ehrgeizigen Jokl in der Mikrobiologie bei der Erforschung von Algen in den Seen und Gewässern des Böhmerwalds (ČERMÁK 2000a: ). 66 Auch der in Prag geborene künftige Gestaltpsychologe von Weltruf, Max Wertheimer, zeigte in seiner Studienzeit breite Interessen, welche den zahlreichen Vorträgen, die er in den Jahren in der Halle hielt, zu entnehmen sind: Das Vermächtnis (1898), Über das Romantische in der modernen Seele und Über einige Grundbegriffe der Kunst (1899), Neues vom Büchermarkt und Zwei Charaktere: Fürst Krapotkin(!) und Strindberg (1900), Wolzogen s Überbrettl (1901), Schluck und Jau (1902). Wenn man die Biographien der Mitglieder aller Sektionen der Halle verfolgen würde man fände auch künftige Nobelpreisträger unter ihnen, könnte man erfahren, welche eigenartigen Wege vom Jugendtraum zur Alltagsrealität der späteren Jahre führen. Nur einem kleinen Teil der jungen Musensöhne wurde, wie gesagt, die dauernde Gunst der Musen zuteil. Aus der Literatur- und Kunstabteilung der Halle war es außer den bereits genannten z.b. der Jura- 66 Auch Jokl versuchte eine Zeit lang den Pegasos zu besteigen, er schrieb z.b. Gelegenheitsgedichte für dienstliche Vereinsbücher. Zur Probe einige Verse aus seiner Einführung zum Rapportbuch 1911/12, den Kollegen im Ausschuss zu ernsthafter Beherzigung [...] anlässlich der Einweihung des neuen Rapportbuche : Freunde, in den schwülen Sommertagen, / die in manchem Herzen angebrochen, / lasst uns alle, alle einig sein! [...] Eintracht sei das Wort der ernsten Mahnung. / Da dies neue Buch euch, Freunde, weiht, / und in freudig zuversichtiger Ahnung / sprech es für die neue bess re Zeit. Das Rapportbuch diente dem amtlichen Verkehr der Ausschussmitglieder untereinander. Unpassende und politische Rapportbucheinträge wurden vom Pressereferenten infolge ungebührlichen Inhalts konfisziert. Josef Čermák student Ernst Rychnovsky, Musikforscher und Publizist (Vortrag Böhmens Schauspielerleben im 17. und 18. Jahrhundert am , Richard Wagner in Prag am in der musikalischen Abteilung der Halle), der Jurastudent Lothar Moretzky (auch Morecki), 67 später Literaturhistoriker und Feuilletonist (sein Vortrag Individualität Hamerlings am betraf besonders das Epos Ahasverus in Rom; der Jahresbericht notiert, dass Max Brod, welcher die Zusammenfassung als Berichterstatter niederschrieb, nach diesem Vortrag lebhaft diskutierte 68 ) oder Max Milrath, der später am eigene Dichtungen in der Halle vorlesen durfte und im Bericht als Prager Schriftsteller (59. BLRH 1908/09: 49) erwähnt wird. Aber auch die Hallemitglieder, welche später ihre Fachinteressen in andere Richtungen steuerten, hinterließen mit ihren Vorträgen wenigstens ein beweiskräftiges Zeugnis von den Lieblingsthemen und Lieblingsautoren damaliger Hallestudenten. Um die Jahrhundertwende war es ganz bestimmt Ibsen (Richard Pollak: Ibsens Baumeister Solnes, 1899; Walter Altschul, Medizinstudent, späterer Dozent der Röntgenologie an der Karlsuniversität: Die Verwertung des Nibelungenstoffes bei Ibsen und Wagner, 1902; Paul Soudek: Ibsen und D Annunzio, 1902), Gerhart Hauptmann (Emil Goldmann: Gerhart Hauptmann, 1892; Josef Adolf Bondy: Fuhrmann Henschel, 1899; Georg Pick: Hauptmanns Märchendramen, 1902), Detlev von Liliencron (Hans A- rens: Poggfred von Detlev von Liliencron, 1900) und Friedrich Hebbel (Otto Epstein: Friedrich Hebbel und die Modernen, 1899), weiter der bereits erwähnte Gabriele D Annunzio, Bjørnstjerne Bjørnson (Arnold Spitzer: Björnsons Drama Über unsere Kraft und das religiöse Motiv, 1903) oder Maurice Maeterlinck (Max Milrath: Die Mystik und Monna Vanna, 1902, über Maeterlincks im selben Jahr im Original erschienenes Drama) Die Halle und die Tschechen Die Frage drängt sich auf, ob und wie die Kultur des Nachbarvolkes, die tschechische, im Programm der Redehalle vertreten war. In einer Stadt, in der zwei oder vielmehr drei Kulturen Jahrhunderte lang zusammenlebten, war der Bedarf an informativer Kenntnis der Nachbarkultur allseits viel geringer, als es bei den im wahrsten Sinne des Wortes fremden Kulturen der Fall ist. Aber was das höhere Niveau des kulturellen Zusammenlebens, die gegenseitige geistige Anregung und Beeinflussung, betrifft, da wurden mit der Zeit immer mehr Hindernisse durch den sich steigernden und verbreiternden Nationalismus einer geistigen Symbiose in den Weg gestellt. Desto mehr muss man aus heuti- 67 Beide letztgenannten Autoren findet man z.b. bei Friedrich Jaksch, Lexikon sudetendeutscher Schriftsteller, Reichenberg Protokollbuch der Sektion für Literatur und Kunst 1899/1903, Eintrag vom Alle genannten Angaben sind den BLRH über die angeführten Jahre entnommen. 147

74 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle ger Sicht die Rolle der nicht gerade zahlreichen Mittler zwischen den Prager Kulturen würdigen. Zu dieser Mittlerrolle waren vor allem Juden vorbestimmt, die lange Zeit in der Lese- und Redehalle zahlenmäßig dominierten und die freisinnig liberal gesinnt, zu den Tschechen freundschaftlich oder wenigstens neutral eingestellt und oft beider Sprachen mächtig waren. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten sie zuerst eine knappe, nach der Spaltung im Jahre 1892, als die deutschnational gesinnten Studenten die Halle verließen, eine überwiegende Mehrheit. Da aber der Halleausschuss, der mit dem deutschnational denkenden bürgerlichen Stadtpatriziat eng verbunden war und in welchem die Juden, besonders die ungetauften, nicht gern gesehen wurden, fast immer der Politik des reichsdeutschen Studentenverbandes und seiner Vereine folgte, fühlten sich die jüdischen Mitglieder genötigt, eine opportunistische Stellung einzunehmen. In der Halle betätigten sie sich hauptsächlich auf untergeordnetem Niveau in den Sektionen, in denen sie ihre frühreifen Talente zur Geltung bringen konnten. Nur von Zeit zu Zeit kamen aus ihrem Umkreis Vorschläge, die Spitzenwerke der tschechischen Kultur ins Programm der Halle einzugliedern, Vorschläge, die meistens auf Widerstand des Halleausschusses stießen. Wenn man die heikle Stellung der deutsch-jüdischen Halle im böhmischen Nationalitätenkampf und das oft angespannte Verhältnis zwischen dem Ausschuss und den Sektionen in Betracht zieht, lässt sich die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der Halle zu den Tschechen leicht erraten. In den Jahren vor 1892 waren die Beziehungen ziemlich neutral. Noch im Jahre 1893 ist es z.b. Bronislav Wellek, einem Wiener bzw. teilweise in Prag lebenden Tschechen, Vater von Albert und René Wellek, noch ohne Probleme gelungen, eine zweiteilige Vorlesung aus dem Werk des damals von den Tschechen höchst geschätzten und von ihm übersetzten Dichters Jaroslav Vrchlický unter dem Titel Einige Übersetzungen aus Vrchlickýs Gedichten in der Halle durchzuführen. Schlimmer erging es Vrchlický zehn Jahre später, gerade in der Zeit, als Bruno Kafka in der Halle regierte und Brod als Funktionär der Abteilung tätig war. Am sollte der Vortrag von Oskar Fuchs über Jaroslav Vrchlický stattfinden. Auf der vorangehenden Vollversammlung der Halle gab jedoch der Literaturberichterstatter Rosenheim bekannt, dass der Obmannstellvertreter des Halleausschusses Bruno Kafka diese Veranstaltung trotz der Befürwortung des Literaturberichterstatters nicht genehmigt habe. Rosenheim stellte gleichzeitig den Antrag, dem Herrn Obmannstellvertreter die Missbilligung zum Ausdruck zu bringen. Diesen Antrag ließ aber der Redehalleleiter Adler nicht zu und löste die Sitzung auf. 70 Dasselbe Schicksal erfuhr der Vorschlag, einen Vortrag über die Königinhofer und die Grünberger Handschrift durchzuführen, welche damals eine langjährige heftige, die breitesten Kreise der tschechischen Nation in Aufregung versetzende Polemik verursachten. Josef Čermák Kurz gesagt, in den Jahren um die Jahrhundertwende war das offizielle Verhältnis der Halle zu den Tschechen von ziemlichem Desinteresse bzw. Antipathie geprägt, wenn auch, besonders bei vielen Juden, aus lediglich rein opportunistisch-taktischen Gründen. Die persönlichen Beziehungen vieler Hallemitglieder zu den Tschechen waren dagegen durchaus freundschaftlich und ihr Interesse an der tschechischen Kultur spontan und aufrichtig, so dass manche von ihnen später sogar zu Mittlern zwischen den beiden Kulturen wurden, wie z.b. Max Brod oder Franz Kafka. Die Distanz zu den Tschechen baute sich in der Halle bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, und zwar, wie bereits gesagt, nicht so sehr aus Überzeugung als aus taktischen Gründen. Gemeinsame Aktivitäten mit den Tschechen wurden aufgegeben, eine der letzten fand im Jahre 1868 statt. Es handelte sich dabei um eine rein unpolitische Beantragung einer Eisenbahnfahrkartenermäßigung für Studenten, die von der Halle und vom tschechischen Akademischen Lese- und Redeverein gemeinsam eingereicht wurde. Die Distanz zu den Tschechen war besonders den deutschen Juden Prags, die den intellektuellen Kern der Halle bildeten, nach dem langen, problemlosen Zusammenleben unangenehm. Aber sie mussten dem verstärkenden Einfluss der reichsdeutschen Studentenvereine standhalten, welche die immer zahlreicheren völkisch gesinnten Mitglieder aus den Randgebieten Böhmens in die bisher national und politisch tolerante Halle hineinbrachten. Die tschechische Karte wurde in dieser Situation zu einem Entspannungsventil im internen Konflikt der Halle, bei welchem die grundlegende ideologische Profilierung und Programmorientierung des Vereins auf dem Spiel stand: Sollte die Halle, obgleich sie sich politisch im Nationalitätenkampf nie sehr engagiert hatte, alldeutsche Ideen akzeptieren, oder sich wie bisher auf ihr kulturelles Bildungsprogramm konzentrierten, was in der aktuellen Situation die Gefahr eines Mitgliederschwundes bedeuten konnte? Der Halleausschuss beschloss bereits im Jahre 1870 salomonisch, dass lediglich deutsche Studenten Mitglieder der Halle sein können, was auch mehr oder weniger der Realität entsprach. Die Separierung der beiden Nationalitäten lag ohnehin in der Luft: 1869 wurde die Technische Hochschule in Prag in die tschechische und die deutsche geteilt, 1882 die Karlsuniversität. Eine tschechenfreundlichere Stimmung begann in der Halle in den Jahren vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs, als die junge frühexpressionistische Generation die nationalen Vorurteile zu überwinden bereit war und die jungen Leute beider Lager sich wieder die Hände reichten. Am 2. April 1914 wurde die Halle in einem tschechisch geschriebenen Brief an den kollegialen Ausschuss vom Svaz československého studentstva (Verband der tschechoslowakischen Studentenschaft) zur Beteiligung an einer gemeinsamen Protestversammlung eingeladen: 70 Alle genannten Angaben sind den BLRH über die angeführten Jahre entnommen

75 150 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Wir teilen Ihnen höflichst mit, dass wir in der nächsten Zeit nach Ostern eine große Manifestationsversammlung zur Verbesserung der Verhältnisse in der Universitäts-Bibliothek veranstalten. Der vollständig unzureichende Platz zum Studium, die schlechte Katalogisierung, die nicht hinreichende Zahl von Dienern usw. neben anderen gleich akuten Mängeln berührt gleich schwer die tschechische wie die deutsche Studentenschaft und wir setzen voraus, dass keinerlei Hindernis zu einer gemeinsamen Manifestation der Hochschulstudentenschaft beider Nationalitäten für diese unentbehrliche Forderung besteht. Wir wenden uns daher an Sie, kollegialer Ausschuss, mit der freundlichen Einladung, sich an unserer Manifestation zu beteiligen, die durchaus eine gemeinsame wäre, sowie an vorangehenden Beratungen hiezu. Gezeichnet Otto Placht, Vorsitzender Die Antwort des Halleausschusses ist unter den Schriftstücken des Hallearchivs leider nicht erhalten. Tschechische Literatur, nicht einmal die in deutscher Übersetzung, war, wie schon gesagt, in der reichhaltigen und vielbesuchten Bibliothek der Halle nicht zu finden, mit Ausnahme einiger Bücher von Jaroslav Vrchlický in deutscher Übersetzung, die zweifellos Bronislav Wellek spendete. In den 20er Jahren standen jedoch im Lesesaal einige tschechische Zeitungen und Zeitschriften zur Verfügung: LIDOVÉ NOVINY, NÁRODNÍ LISTY, NÁRODNÍ POLITIKA, RUDÉ PRÁVO, PRÁVO LIDU, PŘÍTOMNOST, SVĚTOZOR. In den Protokoll-Büchern findet man von Zeit zu Zeit tschechische Desiderata der Vereinsmitglieder, im Jahre 1906 wird z. B. die ČECHISCHE REVUE von Arnošt Kraus angefordert. Vereinzelt wird auch der Besuch einer tschechischen Kulturveranstaltung empfohlen, im Jahre 1911 z.b. die tschechischen Passionsspiele im Smichower Operettentheater. 6. Die Spaltung Doch nicht die tschechische Problematik, sondern die jüdische Frage bildete Anfang der 1890er Jahre die unmittelbare Ursache für die Spaltung der Halle. Längere Zeit bereits lagen in der Halle zwei Lager im Konflikt: der liberale Flügel mit überwiegender jüdischer Mehrheit, der mit der Prager deutschjüdischen Minorität verbunden war, welche die kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Elite des Prager Deutschtums repräsentierte, und der deutschnationale, nationalistisch und antisemitisch orientierte Flügel, welchem hauptsächlich Studenten aus niederen Schichten der Randgebietsbevölkerung angehörten. Der Streit eskalierte Anfang der 1890er Jahre. Die Nationalen versuchten die Halle von innen zu zersetzen, sie boykottierten damals die Jubiläumsfeier des Dichters Theodor Körner und organisierten eine eigene. Doch bei dem entscheidenden Wahlakt gewann der liberale Flügel, der auch von der deutschen Universität und vom Deutschen Haus unterstützt wurde. Die Unterlegenen gründeten gleich darauf im Jahre 1892 die Germania, einen Verein deutschnationaler Hochschüler, der jedoch auf amtliche Anordnung gleich umbenannt werden musste und lediglich Verein deutscher Hochschüler hei- Josef Čermák ßen durfte. Nur ein Jahr später, 1893, wurde der akademische Verein Maccabaea gegründet, nach sechs Jahren in Bar Kochba. Verein jüdischer Hochschüler in Prag umbenannt, welcher zionistische, national gesinnte jüdische Studenten vereinigte und eine weitere Abnahme der Hallemitglieder zur Folge hatte. Durch die Spaltung im Jahre 1892 verlor die Lese- und Redehalle nicht nur die führende Stellung als Zentralverein, sondern sie musste auch mit einem langjährlichen Ringen um den Einfluss auf die deutsche Studentenschaft Prags rechnen. Die Einleitung des Obmanns im Jahresbericht über das Jahr 1892 schildert diese Lage ziemlich klar: Wieder ist ein Jahr in der Geschichte unseres Vereins, der gegenwärtig in das 90. Semester tritt, verflossen, ein Jahr, in welchem die Verhältnisse in der deutschen Studentenschaft Prags nach außen hin eine tiefgreifende Änderung erfuhren. Ein Theil der Studentenschaft hat versucht, die unserem Vereine schon durch sein Alter und seine Größe zukommende Bedeutung dadurch zu schmälern, dass die Gründung eines Gegenvereins unternommen wurde, welcher, obzwar bloßer Parteiverein, sich doch Verein der deutschen Hochschüler nennt: es ist die antisemitische Germania. Dies ist in dürren Worten das tief zu bedauernde Ergebnis eines Processes, welcher, mit seinen Anfängen weiter zurückreichend, vor etwa drei Jahren acut wurde, das innere Leben der Prager deutschen Studentenschaft unheilvoll beeinflusste und schließlich in der obenerwähnten Spaltung sein vorläufiges Ende fand. Unmittelbare Veranlassung derselben war der bei den Ausschusswahlen der Jahre 1890 und 1891 erfochtene Wahlsieg jenes Theiles der Mitgliedschaft, welcher ohne Berücksichtigung des Glaubensbekenntnisses für die Gleichberechtigung sämtlicher Mitglieder eintrat. Ob aber diese Veranlassung zugleich als sachlicher Beweggrund für jenen schwerwiegenden Schritt anzusehen sei, das zu verneinen wird kein ruhiger und unparteiischer Beobachter Bedenken tragen. Denn was immer die Gegner der Lesehalle auch behaupten mögen, niemals in den verflossenen Jahren wurde von Seiten des Ausschusses etwas unternommen, das geeignet war, die Lesehalle ihrer hohen Bestimmung: ein Centralverein der Prager deutschen Studentenschaft zu sein, zu entfremden und sie zu einem Parteivereine umzugestalten; niemals wurde auch nur um eines Haares Breite von jenen Grundsätzen abgewichen, deren leuchtendes Dreigestirn die Gründung unseres Vereines im glorreichen Befreiungsjahre 1848 bestrahlte, unter welchem die deutsche Studentenschaft Prags seit nahezu einem halben Jahrhunderte in Freud und Leid geeinigt beisammen stand: den Grundsätzen des Deutschtums, der Freiheit und des Fortschrittes. Jeder deutsche Student, welcher diese obersten Principien als die seinigen anerkennt, mag vertrauensvoll auch heute noch in der Lesehalle ihre studentische Verkörperung erblicken. Nochmals sei es hier auf das nachdrücklichste erklärt: Die Principien unseres Vereines sind die alten geblieben, und deshalb werden wir auch nach wie vor den stolzen Titel eines Centralvereins der deutschen Studentenschaft Prags als den unseren betrachten, und weder die Zahl der Secessionisten, noch die Gleichstellung der Lesehalle mit ihrem Gegenvereine, von welcher Seite dieselbe auch immer erfolgen möge, sind imstande, uns denselben zu rauben. Die Prager deutsche Gesellschaft sowohl wie die besten Männer des deutschen Volkes in Böhmen, darunter vor allem unsere verehrte Professorenschaft, haben in dieser Sache längst entschieden: sie stehen treu zur Lesehalle, und wenn dereinst eine geeinigte Generation der deutschen Studenten Prags diesen unseligen Zwiespalt, sowie die Stellung, welche der Ausschuss der Lesehalle zu demselben eingenommen, einer historisch-unbefangenen Prüfung unterwerfen wird, so darf der Ausschuss ruhigen und reinen Gewissens ihrem Urtheilsspruche entgegensehen: er kann nur zu seinen Gunsten ausfallen. Möge diese ersehnte Einigung recht bald erfolgen, und die ganze deutsche Studentenschaft sich wieder zusammenfinden auf dem Boden der gemeinsamen nationalen Arbeit, zum Heile nicht nur unseres Vereines, sondern des gesamten Deutschtums in Böhmen! 151

76 152 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Die Germania wurde vor allem von den Landschaftsvereinen aus dem deutschen Grenzgebiet unterstützt, die Halle von den Prager deutschjüdischen Kreisen. Die Halle war finanziell relativ gut abgesichert und ihre Wirkung wurde besonders durch ihre einmalige Bibliothek gestärkt, die Germania musste neu aufgebaut werden. Die Zahl der Mitglieder war immer Gegenstand des Streites zwischen den beiden Korporationen, um die Jahrhundertwende war sie annähernd gleich. Doch immer wieder wurde der Versuch unternommen, freisinnige Mitglieder anderer Prager deutschen Korporationen zur Halle herüberzuziehen, was übrigens eine allgemeine Angewohnheit des politischen Ringens der deutschen Studentenvereine in Prag war. 71 Viel Öl wurde durch die Sprachverordnungen des Grafen Badeni im Jahre 1897 ins Feuer gegossen, die nicht nur starke Unruhen, zuerst auf der deutschen und nach deren Aufhebung sechs Monate später wieder auf der tschechischen Seite heraufbeschworen, sondern sie einigten auch für einige Zeit das ganze deutsche Lager von den Liberalen bis zu den extrem Nationalen. Die Halle stand dadurch für kurze Zeit mit der Germania in einer Reihe. Die rechts stehenden Studenten wurden damals zunehmend vom nicht mehr religiös, sondern biologisch und rassistisch verstandenen Antisemitismus beeinflusst. Um davor verschont zu bleiben, bemühte sich die Leitung der Halle in der angespannten Atmosphäre nationalistischer Reibungen reichsdeutsche Symbole zu benutzen, was wiederum nicht nur die Tschechen provozierte, sondern auch die österreichische k. und k. Polizei zum Eingreifen zwang Interne Streitigkeiten Um die Jahrhundertwende vertiefte sich auch die Kluft zwischen dem Halleausschuss und den einzelnen Sektionen. Während die Leitung nach außen oft eine servile Politik führte und den ambitiösen Ausschussmitgliedern dadurch zum gesellschaftlichen Aufstieg verhalf, wurde in den Abteilungen kulturell wertvolle Arbeit vollbracht, für die in manchen Fällen der Halleausschuss das größte Hindernis darstellte. Davon legen inneramtliche Protokoll- und Korrespondenzbücher und schriftliche Berichte ein gutes Zeugnis ab. In der Abteilung für Literatur und Kunst war eine solche Aktivität besonders in zwei Zeitabschnitten wahrnehmbar, in den Jahren , als Oskar Pollak und Max Brod mit ihren Freunden die Arbeit der Sektion beeinflussten, und in den Jahren , als einige Studenten aus dem Freundeskreis Franz Werfels (z.b. Robert A. Jokl, Willy Haas, Paul Stein, Ernst Deutsch, Fritz Pollak) sich 71 Im 58. BLRH 1906/07: 43f. liest man z.b.: Gemeinsam mit den befreundeten Korporationen unternahm der Ausschuss die in Aussicht gestellten Schritte in Bezug auf den Verband der Studierenden an der k. k. deutschen Technischen Hochschule und führte ihm eine größere Zahl freisinniger Mitglieder zu, um die angestrebte Vertretung der freisinnigen Studentenschaft im Ausschusse zu erreichen. Josef Čermák um eine breit angelegte, europäisch orientierte Tätigkeit bemühten. Die Aktivitäten der Halle waren stets durch ein Handicap gekennzeichnet: Die aktive Mitgliedschaft der meisten Funktionäre erstreckte sich höchstens auf die Dauer ihres Studiums, durchschnittlich beschränkte sie sich aber auf vier Semester. Aus den Archivakten lässt sich ersehen, dass die Funktionäre vor wichtigeren Prüfungen um Dispens in der Ausübung ihrer Funktion ersuchten oder sogar die Funktion niederlegten. Einen vielleicht zu kritischen Bericht über die inneren Verhältnisse in der Halle in der Zeit seiner Mitgliedschaft ( ) gibt Max Brod in seiner Autobiographie Streitbares Leben: Nun hatte die Halle ein seltsames Auskunftsmittel gefunden, um scheinbar demokratisch zu bleiben und dennoch den Zusammenhang mit den nationaldeutschen Kreisen, namentlich mit den Professoren der Hochschulen, nicht zu verlieren. Das war der Halle-Ausschuss. In den wurden gesiebte Kommilitonen gewählt, meistens Nichtjuden. Von Juden nur solche, die entweder getauft waren oder aus den reichsten Familien stammten, übrigens nur in beschränkter Anzahl. Der Halle-Ausschuss war gewissermaßen ein Verein im Verein, er bestimmte die ganze Politik des Vereins [...] er repräsentierte auf Banketten, Festkneipen, Bällen und Tagungen, durch seine Verbindung mit den Professoren betrieb er auch schon berufliche und jedenfalls gesellschaftliche Streberei. Für die Prüfungen war es nicht ohne Bedeutung, mit den Professoren und ihren Damen geselligen Verkehr zu haben. Grossbürger, Industrielle, die über die oder jene Anstellung entschieden, standen gleichfalls dem Halle-Ausschuss nahe. Man wurde als Ausschussman in ihre Familien eingeführt. An alledem hatten die gewöhnlichen Halle-Mitglieder keinen Anteil. Der Ausschuss bildete gleichsam eine Klasse für sich. Die Ausschussmitglieder verkehrten nicht mit den übrigen Mitgliedern. Stets blieb das Ausschusszimmer abgesperrt, es hatte einen separaten Eingang. Im Ausschusszimmer tagte und amüsierte sich die Kaste der Herrschenden, der Reichen und wegen des Reichtums Angesehenen, ein Normalmitglied hatte das Ausschusszimmer nicht zu betreten. Lächerlich streng waren Kasteneinteilung und Kastenstolz im alten deutschen Prag, in dem die gesellschaftlichen Über - und Unterordnungen genauest nach dem Einkommen der Väter und nach unklaren, absichtlich im Verschwommenen gehaltenen Grundsätzen der Rassenreinheit abgestuft waren. (BROD 1960: 139f.) Im weiteren beschreibt Brod seine Teilnahme an jener kleinen Revolte gegen den Halle-Ausschuss anlässlich der Lesung Liliencrons, die bereits erwähnt wurde. Ansonsten ist sein nach langen Jahren geschriebenes Zeugnis der ausführlichste Bericht über die Halle am Anfang des Jahrhunderts: Die Halle, so wurde sie kurz genannt, war ein merkwürdiges Gebilde. Sie bestand aus der Finkerschaft, die (außer dem Band) keine couleur trug, also keine bunten Kappen, und die sich auch sonst nicht burschenschaftlich betätigte: keine Kneipen, keine Bestimmungsmensuren, keinerlei Kommers eine amorphe Masse also, der ich auch angehörte. Diesen wackeren Zivilisten standen, in derselben Halle organisiert, die strammen schlagenden Verbindungen gegenüber, die Farben zeigten und gern mit dem Säbel rasselten, nach eigentümlichen straffen Vorschriften, die denen der reichsdeutschen und Wiener, Grazer etc. ähnlich waren. [...] Für viele (darunter auch für mich) war die Halle ein einfacher Leserverein [...] Die Bibliothek der Halle war wohlgewählt und um ihrer Aktualität willen berühmt. Immer up to date. In dem Vereinszimmer gab es zweierlei: sehr viele Zeitungen aus aller Welt und die vortrefflichen Butterbrote, die das Vereinsfaktotum, Herr Müller, dick und reichlich strich. Es war angenehm, beim Genuss dieser beider Lebensgaben am Fenster zu sitzen und 153

77 154 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle vom ersten Stock auf das bewegte Leben der Ferdinandstrasse hinabzuschauen [...] Hier fand ich all das Herzbewegende, das ich suchte und brauchte [...]. (BROD 1960: 137f.) Auch über die problematische Stellung der Halle im Prager Nationalitätenkampf weiß Brod manches zu sagen: Der Zudrang der jüdischen Studenten zur Halle war natürlich gewaltig, und die Machthaber des Vereins hatten damit viel zu tun, dass der Verein deutsch-liberalen, will sagen: nicht vollständig jüdischen Charakter behielt. Die unwürdigen Mittel, die man dabei anwandte, kamen mir, da ich zu den gewissermaßen Privilegierten gehörte, während meiner Studienjahre nur sehr allmählich zu Bewusstsein. Zunächst schwamm ich im allgemeinen Strom der Assimilation getrost mit, die meiner vollständig deutschen Erziehung entsprach [...]. Es war durch die besondere Schichtung der Prager Studentenschaft bedingt, dass für die Halle die Gefahr bestand zu verjuden, wie man es grausam und verächtlich genug ausdrückte. Eine grosse Zahl der aus Deutschböhmen in die Landeshauptstadt einströmenden Studenten war antiliberal gesinnt, sie trat gar nicht in die Halle ein, sondern direkt in die Germania - und auch unter den Prager autochthonen Deutschen war das liberale Prinzip im Rückgang begriffen [...]. (BROD 1960: ) Dass die Halle zu einem Sprungbrett für die Karriere werden konnte, kann man am Beispiel von Bruno Kafka, dem Gliedcousin von Franz Kafka zeigen, welchen weder Franz noch Max Brod mochten. Dieser ambitiöse Mann trat der Halle im Jahre 1899 bei und stieg sehr schnell zu den höchsten Funktionen auf. Als Hallefunktionär kam er mit dem Vorschlag, ein neues Hallegebäude zu erbauen, 72 und da es nicht genug Geld gab, eine Baulotterie zu veranstalten, 73 die K einbringen sollte. Er fuhr an der Spitze einer Delegation nach Wien zu Gesprächen, die erfolgreich waren, und weil das Geld für einen Neubau immer noch nicht reichte, besorgte er ein entsprechendes Haus in der Krakauer Gasse, wohin die Halle aus der Ferdinandstrasse im Jahre 1904 übersiedelte und wo sie bis zum Jahre 1912 blieb. Bruno Kafka, ein zum Deutschtum assimilierter Jude, zählte zu den Männern, welchen ihre große Aktivität in der Halle zu einer Karriere verhalf, die im gegebenen Fall im Ministersessel endete. Er war weder tschechen- noch judenfreundlich. Als er im Jahre 1903 die Funktion im Ausschuss der Halle niedergelegt hatte, wurde ihm das außerordentliche Recht verliehen, das Ausschussband 72 Die Beschreibung und die Bilddokumentation (Lichtbilder) des beabsichtigten Gebäudes sind im 56. BLRH 1904/05 und in der Broschüre Unser Haus. Sonderabdruck aus dem Bericht über das Jahr 1904 zu finden. 73 Bruno Kafka ist es gelungen, für das Exekutivkomitee der Hausbaulotterie das ganze Praesidium des Ehrenausschusses der Halle zu gewinnen, in der Zusammensetzung: Prof. Dr. Christian Ehrenfels, Prof. Dr. Anton Marty, Adalbert Ritter von Lanna, Großindustrieller, Herrenhausmitglied, Dr. Wilhelm Mercy, Herausgeber des Prager Tagblatt, Angelo Neumann, Direktor des deutschen Landestheaters, Emil Orlik, Hofrat Prof. Dr. Alfred Pribram, Prof. Dr. Alois Rzach, Dr. Hugo Salus, Prof. Dr. August Sauer, Heinrich Teweles, Chefredakteur des Prager Tagblatt, Prof. Dr. Robert Zuckerkandl. Entnommen dem Bericht des Exekutivcomités der Hausbaulotterie der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag. Josef Čermák weiter tragen zu dürfen. Er blieb sein ganzes Leben lang mit der Halle verbunden. Das Porträt, das Brod in seinem Erinnerungsbuch zeichnet, ist jedoch von persönlicher Antipathie gekennzeichnet, die nicht eingestandene Rivalitäten widerspiegelt für die beiden äußerst aktiven und ehrgeizigen Männer war mit Sicherheit nicht genug Platz unter einem Dach: Ein seltsamer Umstand: Der junge Mann, der im Ausschuss tonangebend war und als kluger Stratege unter Akademikern und Professoren allgemein, auch bei den Gegnern, viel galt, war gleichfalls ein Kafka, war Franz Kafkas Gliedcousin: Bruno Kafka. Die Väter der beiden waren richtige Cousins. Er trat mir überall, wo es studentische Meinungsverschiedenheiten gab, entschieden in den Weg, sein Einfluss war hundertfach stärker als der meine [...] Er war getauft und ein erklärter Feind alles Jüdischen. Hochmütig, ironisch, mit spanischer grandezza, dabei aber sarkastisch in seinem gefährlichen Witz, der den Gegner der Lächerlichkeit preisgab, wie eine finstere Wolke machte er seinen Weg, der ihn zu reicher Heirat, zum Professorat als Nachfolger des berühmten Horaz Krasnopolski, 74 zur Verfasserschaft des Kommentars zum Bürgerlichen Gesetzbuch, zum Abgeordnetensitz als Vertreter der Prager liberalen Deutschen in der ersten Tschechoslowakischen Republik und schließlich zum Ministersessel führte [...] Wie sich alles Gute und Heilsame, das mir in der Studentenzeit widerfahren ist, an die Namen meiner beiden Freunde Felix Weltsch und Franz Kafka wie an meine Freundin Elsa Taussig [...] knüpft, so war alles Hemmende, Störende mit der Figur Bruno Kafkas verbunden [...] Franz bewunderte den energischen Bruno, wie er alles Lebensvolle, Vitale hoch verehrte. Doch näherte er sich ihm nicht, worin nicht bloss Nüchternheit, sondern eine Art stille Kritik lag. (BROD 1960: 141f.) Doch Brods Darstellung des korrupten Halleausschusses und seines unfreundlichen Verhältnisses zur Mitgliedschaft scheint übertrieben zu sein, oder es musste sich die Atmosphäre im Verein in den folgenden Jahren verändern. Das Rapport-Buch der Halle , welches dem amtlichen Verkehr der Ausschussmitglieder untereinander bestimmt war, gibt ein anderes Zeugnis von dem Verhältnis des Ausschusses zu den Mitgliedern. Es scheint viel freundlicher, lockerer und heiterer zu sein. Das Rapport-Buch wird nämlich von Zehn Geboten für die Mitglieder des Ausschusses der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag eingeleitet, die im heiteren satirisch parodistischen Ton geschrieben sind: 1. Ich bin der Obmann der Halle, der dich herausgeführt hat aus der Mitte der Mitgliedschaft, auf dass du einen würdigen Platz im Ausschuss findest. 74 Über diesen im Jahre 1908 verstorbenen Professor des Zivilrechtes an der Prager deutschen juristischen Fakultät hat Bruno Kafka einen im 60. BLRH (1908/09: 5 14) und 1909 auch separat erschienenen Nekrolog publiziert unter dem Titel Horaz Krasnopolski. Ein Nachruf von Dr. Bruno Kafka, Privatdozenten an der deutschen Universität in Prag. 155

78 156 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle 2. Du sollst nicht hinüberschielen weder in die Germania, noch in die Bar Kochba noch in die Akademia! Du sollst im Ausschusszimmer stets das Band tragen! 4. Du sollst an jüdischen Feiertagen nicht amtstunden! 5. Ehre Kafka und Pazaurek 76, auf dass du lange im Ausschuss bleibest und es dir wohlergehe auf Erden! 6. Du sollst für alle entliehenen Bücher Zettel ausfüllen! 7. Du sollst Hallegelder binnen 48 Stunden abliefern! 8. Du sollst nicht totschlagen die Zeit durch Müssiggang in der Halle! 9. Du sollst das Dienstmädchen des Müller...!!! 10. Du sollst nicht Gelüste tragen nach den Mädchen, die da wohnen in der Krakauergasse Nr. 15. Niedergeschrieben Brachmond /Nissan/ 19.(4) 1910 /5667/ vom damaligen 1. Kassier Unterschrift [Popper?] In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg wies die Aktivität der Halle steigende Tendenz auf und der Ausschuss hatte vor, ihre Tätigkeit durch Veranstaltung von Vorträgen das Ansehen der Halle nach außen tatkräftig zu fördern (65. BLRH 1913/14: 54), was der Weltkrieg leider verhinderte. Während des Krieges wurde die Aktivität der Halle unter der Leitung von Hans Kolben beschränkt. Die Herausgabe von Jahresberichten wurde unterlassen, auch die Dokumentation aus dieser Zeit entfällt praktisch. Das erste im Kriege gefallene Mitglied war ein Prager Student der Technischen Hochschule, wahrscheinlich ein Jude, namens Fritz Raubitschek (RAPPORT , Eintrag Nr. 83). In der Korrespondenz aus dieser Zeit findet man viele Feldpostkarten und Briefe der an die Front eingerückten Hallemitglieder, aus welchen man die Hingabe an das österreichische Vaterland und den Glauben an den Sieg seiner Waffen entnehmen kann. Das muss man besonders bei den Juden nicht nur der patriotischen Familienerziehung und Schulbildung anrechnen, sondern auch der Angst vor den russischen Waffen, vor den Pogromen von seiten der Kosaken, die durch die Nachrichten und Erlebnisse der galizischen Flüchtlinge verbreitet wurde. Deshalb meldeten sich so viele Juden freiwillig in die österreichische Armee, deshalb zeichneten so viele von denen, die nicht eingerückt sind, z.b. auch Franz Kafka, hohe Kriegsanleihen. Die Halle hat sogar die deutschen Heerführer Ludendorff und Hindenburg zu ihren Ehrenmitgliedern ernannt (SLAVÍČEK 1975: 79). Am 28. Januar 1916 fand ein Gedenkabend für gefallene Dichter in der Halle statt die traurige Notiz darüber beendet das Stammbuch Akademia hieß der Lese- und Redeverband christlicher Hochschüler. Ihr Sitz war unweit der Halle in der Nebengasse Ve smečkách Fritz Pazaurek war ein langjähriger ( ) und einflussreicher Hallefunktionär, als Kassierer in derselben Zeit wie Brod und Kafka, dann als Obmann der Abteilung für Literatur und Kunst in der Halle tätig. Im Juni 1913 hat die Halle Pazaurek zu Ehren einen Abschiedsabend veranstaltet, an dem auch Bruno Kafka teilnahm. In den 20er Jahren lebte Dipl.-Ing. JUDr. Pazaurek in Wiener-Neustadt. Josef Čermák 7. Die Nachkriegsjahre Das Kriegsende und die Entstehung der Tschechoslowakischen Republik stellten das Prager Deutschtum vor eine völlig veränderte Situation. Als bisheriges Staatsvolk wurden die Deutschen im neuen Staat auf einmal zur Minorität. Nur vier deutsche Studentenvereine Prags haben den Weltkrieg überlebt und drei von ihnen, die deutsch nationale Germania, die katholische Akademia und ein Sängerverein, haben sich nach dem Kriege vereinigt und gegen die Halle gestellt. Auch die inneren Verhältnisse in der Lese- und Redehalle haben sich in den 1920er und besonders in der ersten Hälfte der 1930er Jahre entscheidend geändert. Die Tätigkeit der Halle fällt in dieser Zeit eher in die politische als in die kulturelle Geschichte. Mehr als die deutsch-tschechischen Spannungen kam die seit Jahrzehnten existierende interne Auseinandersetzung zwischen dem freisinnigen, liberal kosmopolitischen, humanistisch toleranten, überwiegend kulturell orientierten und dem deutschnational, völkisch und antisemitisch, überwiegend politisch orientierten Flügel zum Vorschein. Der freisinnig gesinnte Teil, welcher u.a. aus den deutschjüdischen Mitgliedern, Anhängern und Förderern der Halle aus Prag und aus den Städten des böhmisch-mährischen Binnenlandes bestand, bemühte sich, die seit der Gründung des Vereins im Jahre 1848 mehr oder weniger eingehaltenen Grundsätze, einschließlich des Grundsatzes des Bekenntnisdeutschtums, im politischen Profil und im Programm der Halle zu wahren. Den deutsch-nationalen Teil bildeten vor allem die aus dem deutschen Grenzgebiet stammenden Studenten. Er radikalisierte sich immer mehr in eine völkisch-antisemitische Richtung, zog seine politische Kraft und Strategie aus dem reichsdeutschen Ausland und steuerte der Verkündung des Rassendeutschtums zu. Diese zwei politisch entgegengesetzten Strömungen und Programmauffassungen waren auf die Dauer unversöhnlich nicht einmal die Opposition zu den nun regierenden Tschechen konnte sie, im Unterschied zu der Zeit vor der Jahrhundertwende, veranlassen, auch nur kurzfristig miteinander Frieden zu schließen. Deshalb kann man in diesen Jahren in den kulturellen Aktivitäten der Halle, teilweise sogar parallel, ideologisch völlig entgegensetzte Veranstaltungen bemerken. Dieser Kampf der beiden verfeindeten Tendenzen in den kritischen 1920er und besonders 1930er Jahren spiegelt getreu das Drama der politischen Entwicklung in Mitteleuropa wider. Einen Ausweg aus der moralpolitischen Bedrängnis nach der Niederlage im Krieg und nach dem Verdikt des Versailler Abkommens bemühte sich der Chef der Prager Germanistik Professor August Sauer in seiner herausfordernden und emotionalen Festrede vor den Studenten am Eröffnungskommers im Wintersemester 1920/21 anzudeuten: Haben wir Ursache uns zu freuen? Ich sage offen: Nein! Das deutsche Volk liegt besiegt und geknechtet zu Boden, eine Beute aller Welt, und wir sind ein Teil dieses Volkes. Blicken Sie an den Rhein, der einst ein deutscher Strom war und an dessen Ufern jetzt eine siegestrunkene Soldateska barbarisch haust; blicken Sie nach Danzig, wo einst die stolzen Flaggen des 157

79 158 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle deutschen Reiches flatterten und das man nun zum Freistaat versklavt hat. Blicken Sie nach Südtirol, wo des Vogelweiders helle Gestalt einst heitere Wacht hielt und nun durch Dantes düsteres Profil in den Schatten gestellt ist, blicken Sie, wohin Sie wollen: überall dasselbe traurige Bild. Sauer sieht die einzige Hoffnung in der deutschen Jugend, wobei die Alten helfen sollen. Die mittlere Generation soll übersprungen werden. Er schließt seinen Appell: In Ihre Hand ist die Zukunft Ihres Volkes gegeben. Retten Sie davon in eine neue bessere Zeit hinüber, was sich retten lässt [...] Seid getreu bis in den Tod und ich werde euch die Krone des Lebens schenken. Also sprach der Herr. Aber die Nachkriegsanfänge der Halle verliefen bei weitem nicht eindeutig in diese Richtung. Nachdem ihr Antrag eines Übereinkommens mit dem Leseund Redeverein Germania von diesem in seiner Vollversammlung mit Stimmenmehrheit abgelehnt wurde, wurde die herkömmliche Programmorientierung der Halle wieder stärker akzentuiert. Das bezeugt auch der erste Nachkriegsbericht: Die Grundlage unseres Vereins ist sich in allen Wandlungen der Zeit stets gleich geblieben. Wie im Jahre 1848, so halten wir auch heute an dem Ziele fest, den deutschen Studenten Prags ein Sammelpunkt zu sein und sie zu tüchtigen Gliedern unseres Volkes heranzubilden. Wir werden jeden willkommen heißen, der dabei mithelfen will, wir wollen jedem deutschen Studenten an den Prager Hochschulen Gelegenheit geben, sich mit allen Strömungen des Geisteslebens vertraut zu machen und alles Trennende zurückzustellen. (68. BLRH 1919/20: 5f.) Der lexikalische Wandel vom Zentralverein zu Sammelpunkt ist dabei von großer Bedeutung und für die neue Situation des Vereins symptomatisch. Die Arbeit der Redehalle wurde bereits Ende des Jahres 1919 wieder mit grossem Einsatz aufgenommen. Während zweier Monate wurden in verschiedenen Sektionen insgesamt 20 Vorträge gehalten, so genannte große, deren Autoren externe Fachleute waren, und Hausvorträge, die ausgewählte Studenten besorgten. So konnte man Doz. MUDr. Hugo Hecht, einen Klassenmitschüler Franz Kafkas, über Geschlechtskrankheiten sprechen hören, Prof. Ludwig Spiegel zum Thema Der alte und der neue Staat, Prof. Josef Payer Josefinismus und die tschechische Literatur, Ministerialrat Prof. Richard Kukulas Persönliche Erinnerungen an Anzengruber, Hammerling und Rosegger oder den Dichter Hugo Salus mit einer Lesung eigener Dichtungen. Auch die vortragenden Studenten bemühten sich, aktuelle Themen beizusteuern: JUC Franz Bäcker Das neue tschechoslowakische Ehegesetz oder JUC Anton Fischer Die sozialpolitischen Bestimmungen der Friedensverträge. Ferner wurde ein kleines Hausorchester (mit einem gemieteten Klavier) gegründet und zwei Tschechischkurse, ein Englischkurs und ein Französischkurs eröffnet. So ist eine Fülle von Arbeit geleistet worden, konstatiert die Redehalleleiterin PhC Lisl Winternitz es sollte längst erwähnt sein, dass erst jetzt, in der Nachkriegszeit Frauen als wirkliche Mitglieder und Funktionäre in die Halle eintreten konnten. Josef Čermák Im Schuljahr 1919/20 wurde auch die Tätigkeit der im Jahre 1908 gegründeten Sektion für nationale Schutzarbeit erneuert. Die Schutzvereine waren eines der stärksten Mittel des Nationalitätenkampfes in den böhmischen Ländern auch die Tschechen hatten im sprachlich gemischten Grenzgebiet in der Vor- und Nachkriegszeit parallele Organisationen. Aber die Halle schritt auf diesem Gebiet wohlbedächtig voran, womöglich im Einklang mit ihren Vorkriegsgrundsätzen. Damals, im Schuljahr 1909/10, veranstaltete sie eine Ausstellung der Schutzvereine, die erste ihrer Art in Deutschösterreich. Allerdings, schreibt der damalige Jahresbericht, musste auf die Teilnahme jener Schutzvereine verzichtet werden, welche angeblich den Rassenstandpunkt vertreten und deshalb nicht allen Deutschen den Eintritt ermöglichen, sodass von deren Einladung Abstand genommen wurde. (61. BLRH 1909/10: 58) Die Reibungsflächen des Nationalitätenkampfes blieben nun dieselben wie vor dem Kriege, nur dass die Gegner ihre Stellung tauschten sowie den Umfang ihres Machtpotentials und ihre Vorgehensweise. 77 Die Maßnahmen zur Schutzarbeit, auf die jetzt immer größere Betonung gelegt wurde, verschärften auf beiden Seiten den Nationalitätenstreit. Auch die Halle wurde für diese Rolle planmäßig vorbereitet. Dr. Kolberg hielt dort z. B. im Jahre 1922 den Vortrag Der deutsche Student und die nationale Schutzarbeit, und zwar im Zusammenhang mit anderen Vorträgen und polemischen Debatten über die Stellung der Deutschen im neuen Staat. Aber nicht immer waren diese Schutzaktivitäten im militanten, das Zusammenleben beider Nationen polarisierenden Geist geführt. Peter Rosegger, ein Ehrenmitglied der Halle, hat um das Jahr 1910, in der Zeit der Prager Schutzvereinausstellung, eine Hilfsaktion für deutsche Schulen an der Sprachgrenze ausgeschrieben und organisiert, an welcher die Halle mitzuarbeiten versprach. Das Ethos der Hilfsaktion hat er wie folgt formuliert: Ich bin der Zuversicht, dass wir die große Aktion glücklich durchführen. Nicht politisch, nicht zu Trotz und Feindseligkeit gegen unsere nationalen Gegner, nur aus Liebe zur Sache, zu unserem Volke und seiner Kultur. (65. BLRH 1913/14: 17f.) Die Stellung der deutschen Minorität in der Tschechoslowakischen Republik wurde nach dem Kriege natürlich auch zur Zentralfrage der Halleaktivitäten. Die Flammen dieser Streitfrage schlugen z.b. im Sommersemester 1922 empor anlässlich des Vortrags des Prager Professors Christian Ehrenfels, eines österreichischen, in Prag ansässigen jüdischen Gestaltpsychologen, über die Deutschen im tschechoslowakischen Staat. Der Jahresbericht referiert ziemlich ausführlich: 77 Eine Beschwerde der Abteilung für nationale Schutzarbeit vom Schuljahr 1912/13: Gegen die Anstellung bzw. Belassung tschechischer Diener an den Prager deutschen Hochschulen wurde Stellung genommen, da die herrschenden Verhältnisse geeignet sind, den nationalen Charakter dieser Hochschulen und das Prager Gesamtdeutschtum auf das schwerste zu schädigen. (64. BLRH 1912/13: 75) 159

80 160 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Ferner fand ein Vortrag Prof. Dr. Ehrenfels über die Deutschen im tschechoslowakischen Staat statt; hierbei muss hervorgehoben werden, dass die Ausführungen des Vortragenden, der auf Spenglers Pessimismus, die abendländische Kultur betreffend, fußend, für das Verhalten der Sudetendeutschen diesem Staat gegenüber Folgerungen zog, die im schärfsten Gegensatze zur Politik der Deutschen im tschecho-slowakischen Staate stehen, in den Reihen unserer Mitgliedschaft wie auch bei der Leitung des Vereins lebhaften Widerspruch erregten, ein Umstand, der sofort in der auf den Vortrag folgenden Debatte zum Ausdruck kam. Unsere Absicht, einen deutschen Politiker über das gleiche Thema noch im Sommersemester sprechen zu lassen, konnten wir leider bisher nicht verwirklichen, doch besteht die Gewähr, dass zu Beginn des kommenden Wintersemesters dieser in Aussicht gestellte Vortrag abgehalten werden wird. Dieser Vortrag fand unter demselben Titel wie derjenige von Ehrenfels, nur mit umgekehrten Vorzeichen, statt und wurde vom Senator Prof. Ludwig Spiegel gehalten. In den 1920er und in der ersten Hälfte der 1930er Jahre war in den kulturellen Aktivitäten der Halle, welche in dieser Zeit unvergleichlich schwächer als vor dem Krieg waren, während ihre Politisierung durch die Nach-Versailles- Stimmungen im Vormarsch begriffen war, der Zusammenstoß beider geistig und politisch grundverschiedenen Richtungen offenkundig. Die freisinnige, hauptsächlich von jüdischen Mitgliedern vertretene Richtung bemühte sich in ihrer politisch immer komplizierteren Lage Verbündete zu suchen und zögerte in dieser Zeit nicht, sogar zu sozialistisch orientierten Veranstaltungen, Vorträgen und Debattenabenden zu greifen. Schon im Jahre 1919 wurde in Prag die sozialdemokratisch orientierte Freie Vereinigung sozialistischer Akademiker gegründet und 1922 die sog. Marxistische Arbeitsgemeinschaft als deutsche Sektion der tschechischen Kostufra (Komunistická studentská frakce) (SLAVÍČEK 1975: 104f.). So wurde im Jahre 1921 ein äußerst gelungener Abend junger Dichter veranstaltet (69. BLRH 1920/21: 9) 78, an welchem der 21jährige, schon kommunistisch organisierte und im KP Apparat tätige Prager Franz Carl Weisskopf und der erst 16 Jahre alte Teplitz-Schönauer Melchior Vischer teilnahmen. Ein Jahr später hielt der Berliner Philosoph Walter Kühne einen Vortrag über Hegels Nationalphilosophie, Marxens ökonomischen Materialismus und Steiners Dreigliederung (70. BLRH 1921/22: 19). 79 Ende der 1920er Jahre, im Schuljahr 1928/29, sprach Dr. Oskar Engländer über das Thema Böhm-Bawerk und Marx. 80 In fesselnder und klarer Rede, schreibt man im Jahresbericht, wies 78 Außer der beiden Genannten nahmen am Abend noch Hubert Gerold, Hans Gerhard Scholz, Herbert Ulbricht und K. G. Verannemann teil. 79 Hier auch eine kurze Notiz: Vor kurzem sprach vor einem leider zu kleinen Kreise unser ordentliches Mitglied med. Gabriel Abt über seine Erlebnisse im Bolschewikenstaate in ganz vortrefflicher Weise. (19) 80 Oskar Engländer war ein Prager deutscher Ökonom, er beteiligte sich z. B. am 1. Band des dreibändigen Handbuches der Finanzwissenschaft (1926). Eugen von Böhm-Bawerk ( ) war ein österreichischer Ökonom und Politiker. Die betreffende Polemik mit Karl Marx ist in seiner Schrift Zum Abschluss des Marxschen Systems (1926) enthalten. Josef Čermák der Vortragende nach, dass das Marxsche System trotz des Vorwurfes Böhm- Bawerks ein in sich geschlossenes Ganze darstelle. Langanhaltender Beifall der trotz der späten Jahreszeit zahlreich erschienenen Zuhörerschaft dankte ihm für seine in gleicher Weise interessanten und anregenden Ausführungen. (77. BLRH 1928/29: 30) Auch die unübersehbare Annäherung des freisinnigen Flügels der Halle an die Tschechen in den 1920er und besonders in der ersten Hälfte der 1930er Jahre zeugt von seinem Bedürfnis Verbündete zu finden. Am 1. Juli 1922 veranstaltete die Halle im Deutschen Haus eine Totenfeier zum Gedenken seines ermordeten Ehrenmitglieds, des deutschen Außenministers Walter Rathenau. Am 12. Januar 1923 hat Albert Schweizer die Halle mit seinem Besuch beehrt. Sein Vortrag war mit einem geselligen Abend verbunden. Der Jahresbericht verzeichnet dieses Ereignis: 12. Jänner sprach Professor Dr. Albert Schweizer (Strassburg) über den Historischen Jesus. Seinem interessanten Vortrag folgte ein großes Publikum. Der Andrang war so groß, dass die Leute bei geöffneten Türen auf Gängen standen. Anschließend Begrüßungsabend im Goldenen Kreuzel. An diesem Abend, an welchen auch ein schlichter Eintrag Schweitzers im Stammbuch der Halle erinnert, 81 nahmen auch einige jüdische Professoren teil, darunter Samuel Steinherz, ein Gönner der Halle, Professor der Geschichte an der Prager deutschen Universität, 1922 als Doyen des Professorenkollegiums zu ihrem Rektor erwählter Wissenschaftler, dessen Wahl den völkisch-national orientierten Studenten Anlass zu Streik und zu antisemitischen Protesten gab. Die Rassenfrage wurde beim Zusammenstoß der Meinungen von den völkisch gesinnten Mitgliedern immer mehr in den Vordergrund gestellt. Immer wieder wurden Versuche gemacht, die Arier und Nichtarier auf den Hochschulen zu segregieren und jüdische Professoren von akademischen Funktionen oder sogar vom Hochschulunterricht zu entbinden. Die Halle hat sich mit einigen, nicht vielen, Prager deutschen Studentenvereinen auf die Seite von Steinherz und der Streikgegner gestellt und einen versöhnlichen Aufruf zu dessen Unterstützung in der Deutschen Hochschulwarte publiziert (ARLT 2001). Prof. Steinherz bestand zuerst auf dem Recht, als Bekenntnisdeutscher anerkannt zu werden und im Rektoramt verbleiben zu können, aber schließlich hat er dem tschechischen Schulministerium seinen Rücktritt angeboten, der jedoch vom Minister Bechyně im April 1923 nicht angenommen wurde. Die ganze Affäre endete mit einem Kompromiss, aus dem aber der deutsch-national, völkisch und antisemitisch orientierte Flügel der Studenten gestärkt hervorging. Dieser hatte die Möglichkeiten einer weiteren Radikalisierung des Hochschullebens erfolgreich erprobt (ARLT 2001: 96, 103f.). 81 Stammbuch , Eintrag vom : Mit besten Wünschen für die Studentenschaft der Lesehalle ihr Albert Schweitzer. 161

81 162 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Eine ähnliche Initiative hat die Halle im Herbst desselben Jahres wieder bei einer antisemitischen Attacke der völkischen Studenten ergriffen. Der Jahresbericht schreibt darüber: Ende September erfolgte eine Eingabe der völkischen Studenten an den akademischen Senat, welche gegen die Berufung des jüdischen Professors Kisch an die Prager deutsche Universität sich wandte und gegen die Professoren Dr. Hugo Hecht und Dr. Oskar Fischer wegen ihres Verhaltens während der Wahlen Stellung nahm. Der damals gebildete Ausschuss der deutschfreiheitlichen Studentenschaft, in welchem die Halle durch die Herren Deml, Schediwy und Littna vertreten war, hat in einer Kundgebung sich gegen diese und gegen zwei später im selben Sinne abgefassten Eingaben gewandt. (72. BLRH 1923/24: 35) Die alte Frage der Einigung der deutschen Studentenschaft in den böhmischen Ländern wurde in der Nachkriegszeit erneut aktuell, wobei jedes Lager der Streitenden dem Worte Einigung eine andere Bedeutung zuschrieb. Die Freisinnigen vertraten traditionell die Auffassung, welche im Vermächtnis des Jahres 1848 wurzelte und Einigung als eine notwendige Aufbewahrung, Entwicklung und Verteidigung von Werten der allgemein anerkannten Traditionen des Deutschtums in Prag und Böhmen proklamierte. Deshalb standen bei ihr kulturelle Interessen und eine defensive Haltung im Vordergrund. Dagegen bemühten sich die Nationaldeutschen immer, die Tätigkeit der Halle den politischen Bedürfnissen und Zielen der aktuellen deutschen Politik in den böhmischen Ländern anzugleichen, die Pluralität der Korporationen und die Unterschiedlichkeit der Grundsätze und Meinungen durch eine auch gewaltsame Unifizierung zu beseitigen und ideologische Prinzipien der rassistischen Theorien im alltäglichen Hochschulleben umzusetzen. Einigung in diesem Sinne des Wortes glich immer mehr Gleichschaltung. Bereits im Jahre 1924 unternahm der nationaldeutsche Verein Germania den Versuch, den Status quo zu ändern und die Vorherrschaft über die ganze deutsche Studentenschaft an sich zu reißen und auf der Basis selbstherrlich ausgeschriebener Wahlen für die Studentenkammer die Studentenschaft beider Prager Hochschulen in eine einheitliche Organisation zu überführen, und zwar unter Einführung von rassischen Kriterien. Im Archiv der Halle hat sich das Konzept einer ablehnenden brieflichen Antwort auf diesen Versuch erhalten: Der Ausschuss der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag bestätigt den Empfang der Kundmachung der von Ihnen ausgeschriebenen Wahlen und lehnt eine Beteiligung an diesen aus angeführten Gründen ab. Die in der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag vereinigte Studentenschaft anerkennt allein als deutsche Studentenschaft an den Prager Hochschulen die Organisation der gesamten an diesen beiden Hochschulen inskribierten deutschen Hörer ohne Unterschied der Konfession und Rassenzugehörigkeit. Es ist daher das aktive und das passive Wahlrecht jedes deutschen Hörers an den obenerwähnten Hochschulen nicht abhängig, ob er christlichen oder jüdischen Glaubensbekenntnisses, ob er arischer oder nicht Josef Čermák arischer Abstammung ist. Allein bestimmend für das Wahlrecht jedes einzelnen Hörers ist dessen deutsche Muttersprache und deutsche Gesinnung. Die in der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag vereinigte Studentenschaft hat ihren Willen zur Bildung dieser Studentenschaft nachdrücklichst und wiederholt klaren Ausdruck verliehen. Sie sieht in der Organisierung der Sudetendeutschen Hörerschaft die Sammlung und Vereinheitlichung der vorhandenen Kraft und Energie zum nationalen und kulturpolitischen Kampf. Sie erklärt auch jetzt wieder ihre Bereitwilligkeit, mit den Vertretern der in Betracht kommenden studentischen Gruppen zwecks endgültiger Lösung der Studentenschaftsfrage zusammenzukommen. Die in der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag vereinigte Studentenschaft legt nachdrücklichst Verwahrung dagegen ein, dass irgendeine studentische Teilgruppe den Titel Deutsche Studentenschaft [Organisation der gesamten deutschen Hörer an beiden Prager Hochschulen] unrechtmäßig führt und in unzustehender Führung dieses Titels Wahlen in die Studentenkammer als Organ dieser Studentenschaft ausschreibt. Die Aktivitäten des völkischen und antisemitischen Flügels waren immer sichtbarer und dringlicher. Das hatte eine negative Auswirkung auf die herkömmlichen Aktivitäten der Halle. Ihre kulturellen Veranstaltungen nahmen ab, die Pausen zwischen ihnen wurden immer größer. Im April 1923, im Jahre des 75. Jubiläums der Gründung der Halle, ist es noch gelungen, ein Festkonzert im Spiegelsaal des Deutschen Hauses zu veranstalten, in dessen Ehrenvorsitz auch die Frau des Rektors Sophie Steinherz saß und bei welchem die Künstler Eva Freund, Ria Krenn, Alexander Zemlinsky und die Deutsche Konzert- und Madrigalvereinigung mitwirkten. Der Reinertrag des Konzertes war mit Kronen beträchtlich (72. BLRH 1923: 27). Im darauf folgenden Jahr 1924 gelang es den Deutschfreisinnigen, den Vortrag des Jurastudenten Armin Günzel über Anatole France zu veranstalten. Aber der Einfluss der Deutschnationalen stieg zusehends. Eine ihrer geistigen Stützen war der in Iglau geborene, in Österreich lebende, aber oft in Prag weilende, nationalistisch und antitschechisch eingestellte Schriftsteller Karl Hans Strobl, welcher den Hochschülern auch als Autor von erfolgreichen Studentenromanen aus dem Prager Milieu imponierte. In den 1920er Jahren kam Strobl dem rechten Flügel der Halle näher. Am 30. Mai 1922 hatte er eine Vorlesung in der Halle, nach welcher ein Begrüßungsabend stattfand, bei welchem Strobl ein Gedicht ins Gedenkbuch der Halle eintrug. 82 Der Jahresbericht kommentiert beide Ereignisse zutreffend: 82 Gedenkbuch (AUK), unpaginiert, Eintrag vom Das Gedicht lautet: Stahl und Stein! / Schlag drein! / So hast du Wärme und Flammenschein. / Härte dir Hand und Herz in Ruh. / Stahl sei du. Gott schickt dir schon die Steine dazu. 163

82 164 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Einen heimischen Dichter, dessen Verherrlichungen des alten Prager Farbenstudenten weit über die Grenzen seiner Heimat gedrungen sind, konnten wir noch vor Semesterschluss bei uns begrüßen und seinen grausigen und humorvollen Erzählungen lauschen. Karl Hans Strobl lehrte uns nach einem Vorlesungsabend auch den echten Geist der alten Burschenherrlichkeit kennen und weilte lange mit uns in feucht-fröhlicher Gemeinschaft. (71. BLRH 1922/23: 31) Eine andere Vorlesung Strobls fand fünf Jahre später 1927 statt: Gemeinsam mit dem Bildungsverein Urania veranstaltete die Halle einen Vortrag ihres Ehrenmitglieds Karl Hans Strobl. Der so besonders unter der studierenden Jugend beliebte Dichter las Ungedrucktes aus eigenen Werken [...]. (76. LRH 1927/28: 57) Der zahlenmäßig immer stärkere deutschnationale Flügel der Halle, welchem frisches Blut einerseits aus dem böhmisch-mährischen Grenzgebiet, 83 anderseits durch organisierte Manipulation aus anderen Prager national orientierten Vereinen, vor allem aus der Germania, zuströmte, bemühte sich, die Organisation der deutschen Studentenschaft in den böhmischen Ländern umzugestalten, wobei die Lese- und Redehalle nicht nur die bisher offiziell anerkannte zentrale Stellung unter den Studentenvereinen verlieren, sondern auch ihre geistige und programmatische Struktur und ihre politische Einstellung grundsätzlich verändern sollte. Dieser Prozess der Zersetzung und Umgestaltung begann bereits im Jahre Das ersehnte Endziel der Hallegegner war die Bildung einer einzigen Studentenorganisation im Lande im Geiste der völkischnationalen Ideologie. Um den einheitlichen Verband politisch wirksamer zu gestalten, sollte er in Form von Ortsgruppen organisiert werden. Im Obmanns- 83 Eine wichtige Rolle im politischen Streit der Studenten innerhalb der Halle spielte zweifellos auch der Gegensatz des städtischen (großstädtischen) und des ländlichen (kleinstädtischen, dörflichen) Milieus ihrer Herkunft in diesen Jahrzehnten. Eine Illustration dazu kann ein Gedicht des Studenten Hans Korger aus den späten 1930er Jahren sein: Studenten So stiegen wir von unsern Bergen nieder. Verweilend manchmal und den Blick voll Hügeln, voll Wald und Bach noch. Wind an unseren Schläfen. Dann später langt die fremde, warme Stadt nach uns. Der Schritt von unsrem Nagelschuh geht hart und weitausholend; Fremdling in den Gassen. Das Kleid gehört zu uns: die Joppe grob in Loden, streng in der Form, geschossen wie zur Abwehr. Alles nur brauchbar. Nur bescheidenes Werk der Hände. Wie junges Volk von Hirten, schwer und schlicht und barhaupt gläubig kommen wir vom rauhen, notnahen Land der fernen Hungerberge und gehen unbeirrbar mitten durch das Tal der fremden Stadt, die über uns nicht Macht hat, weil unsre Stirn das heilige Zeichen trägt. Wir schauen fest. Die Ferne bleibt uns Ziel. Einst kehr n wir wieder in das steinige Land wissend und unverlornen Herzens: weil wir glauben! (84. BLRH 1936/37) Josef Čermák bericht des Jahres 1922 gibt man bekannt, dass die Sudetendeutsche Hallevereinigung, eine Zweigstelle der Halle im böhmischen Grenzgebiet, in Aussig gegründet wurde: [...] die Gründung einer sudetendeutschen Hallevereinigung reicht in das Jahr 1921 zurück und konnte heuer glücklich in Schwung gebracht werden. Die Hallevereinigung stellt sich die Aufgabe, in Ortsgruppen Alt- und Jungakademiker zu vereinigen, die den Hallewahlspruch Deutsch, einig und frei! zu ihrem eigenen gemacht haben. (71. BLRH 1922/23: 36) Auch die Feiern des 75. Bestehens der Halle im Jahre 1923 boten eine Gelegenheit zum Kräftemessen im Verein, welches offensichtlich im Zeichen einer Offensive des deutsch-nationalen Teiles stattfand. Am Vorabend des 22. November fand eine Begrüßungssoiree im Deutschen Haus statt, an welchem auch viele Gäste aus Deutschland und Österreich teilnahmen. 84 Am nächsten Vormittag wurde im Lesesaal der Halle eine Festvollversammlung einberufen, bei welcher die im Saale anwesenden neu ernannten Ehrenmitglieder verkündet wurden, darunter Prof. Bruno Kafka, Senator Ludwig Spiegel und zwei Schriftsteller, Thomas Mann und Erwin Guido Kolbenheyer. Die Festvollversammlung gab am 23. November 1923 auch einstimmig eine Kundgebung heraus, deren nationalistische Töne nicht zu verkennen sind: Die anlässlich des 75 jährigen Stiftungsfestes der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag tagende Festvollversammlung des Vereines vom 23. November 1923 entbietet ihren lieben Kommilitonen aus dem Deutschen Reiche und Deutschösterreich ihre wärmsten und aufrichtigsten Grüße. Sie versichert die reichsdeutschen und österreichischen Kommilitonen ihres aufrichtigsten Mitgefühles, ihrer unverbrüchlichen und unwandelbaren Treue in dem Kampfe, den das deutsche Volk gegen seine hasserfüllten und vor keinem Zerstörungswerk zurückschreckenden Gegner führt. Die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag ist wie bisher gewillt, diesem Gedanken, der heute die Form ist, in der ihr seit dem Jahre 1848 hochgehaltenes großdeutsches Ideal praktisch Ausdruck finden kann, jedes wie immer geartete ideelle wie materielle Opfer zu bringen. Die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag fühlt in sich die Bestimmung des weit ins slavische Gebiet vorgeschobenen Postens für deutsche Kulturarbeit und gelobt in dieser feierlichen Stunde, der Überlieferung des Vereines treu, für Freiheit und Einheit des deutschen Volkes alle ihre Kräfte aufzubieten. Abends fand im Luzernasaal der Festkommers unter ungemein starker Beteiligung der weitesten deutschen Kreise statt. (72. BLRH 1923/24: 32f.) Immer deutlicher spürt man in dieser Zeit, wie der völkisch-nationale Flügel in der Halle Oberhand gewann. Das Kulturprogramm wurde immer dürftiger und vollständig provinzialisiert, auf die heimische Problematik, hauptsächlich auf die Minoritätenfragen begrenzt, während universal angelegte Themen außer Acht gelassen wurden. Der in Defensive befindliche, doch zahlenmäßig stets etwas stärkere deutsch-freisinnige Flügel, welcher zumeist die deutschjüdische Mitgliedschaft repräsentierte und die alte Gründungstradition der Hal- 84 Darunter auch einer der treuesten Ehrenmitglieder der Halle Prof. Alfred Klaar aus Berlin, welcher bereits das dritte Vierteljahrhundertjubiläum der Halle mitfeierte. 165

83 166 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle le zu wahren sich bemühte, glaubte noch am Ende der 1920er Jahre seine Position durch die Betonung seines unanfechtbaren Deutschtums und durch das dementsprechende politische Verhalten zu retten, was unter anderem eine Distanz von den Tschechen und von allem Tschechischen erforderte. Dadurch glaubten die jüdischen Studenten wie die Zukunft zeigte, vergeblich vor dem Antisemitismus geschützt zu sein, welcher für sie jederzeit die größte Gefahr darstellte. Erfolglos bemühten sie sich, auch mit vielen taktischen Manövern, das demokratisch kulturelle Prinzip und das Bekenntnisdeutschtum gegen das völkisch-nationale und biologisch-rassistische Prinzip zu behaupten. Genau ein Jahr nach dem 75. Jubiläum, am 22. November 1924, ist der gesamte Halleausschuss den Satzungen gemäss zurückgetreten. Der neukonstituierte Ausschuss unterschied sich von dem früheren dadurch, dass zum erstenmal seit längerer Zeit wieder Couleurstudenten gewählt wurden (73. BLRH 1924/25: 37). Die fortschreitende politische Radikalisierung war in mancher Hinsicht spürbar. Im Jahre 1926 wurde die Wirksamkeit der Redehalle, des in der Vergangenheit aktivsten Vereinszentrums, geschwächt. Die Tätigkeit der Redehalleabteilung musste infolge des geringen Interesses und ganz besonders wegen der großen materiellen Kosten, welche größere Veranstaltungen erfordern, einigermaßen eingeschränkt werden, (74. BLRH 1925/26: 26) begründete der Jahresbericht heuchlerisch die fortschreitende Umgestaltung des Vereins. In den nächsten Jahren ließ die Aktivität der Redehallesektionen völlig nach. Die Jahresberichte sprechen von einem tiefen Winterschlaf und weisen keine rechte Betätigung auf. Das Amt des Redehalleleiters blieb sogar lange Zeit unbesetzt (76. BLRH 1927/28: 57; 77. BLRH 1928/29: 30). Im März 1926 wurde ein Konzert des Ehrenmitglieds Richard Strauss veranstaltet, das mit einem großen Misserfolg, einem Defizit von Kronen endete. Die optimistische Voraussetzung, dass der Autor in Prag sehr bekannt und beliebt ist, konnte nicht die unzureichende Werbung, die hohen Eintrittskartenpreise und Strauss Honoraransprüche auffangen (SLAVÍČEK 1975: 101). Die Literatur- und Kunstabteilung konnte sich in diesen Jahren mit einem einzigen Vortrag präsentieren. Der Übersetzer und Förderer des Werkes von George Bernard Shaw, welcher in dieser Zeit in Deutschland viel verlegt und gelesen wurde, sprach 1928 über den Deutschen Aufstieg Bernard Shaws. Näheres über den Vortrag ist nicht bekannt, da Mitteilungen über die Veranstaltungen in den Jahresberichten seit dieser Zeit wenn überhaupt vorhanden sehr kurz sind. Die letzte mit einer großen kulturellen Veranstaltung verbundene Feier in der Geschichte der Halle fand anlässlich ihres 80. Gründungsjubiläums, diesmal schon am Anfang des Jubiläumsjahres, am 2. Februar 1928 statt. Trotz der schlechten Erfahrungen mit Strauss Musik wurde im Neuen Deutschen Theater Der Rosenkavalier, eine komische Oper von Richard Strauss, das Libretto von Hugo von Hofmannsthal (beide Ehrenmitglieder der Halle), aufgeführt. Josef Čermák Den Part des komischen Helden, des Barons Ochs auf Lerchenau, sang als Gast Bernard Sternek aus München. Den Prolog, verfasst von Hugo Salus, las Friedrich Hölzlin. Die Festaufführung wurde im Jahresbericht zwar pauschal gelobt, 85 die Wahl dieses Stückes scheint aber nur das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den beiden Flügeln der Halle zu sein. Die Spannung im Innern des Vereins wuchs in folgenden Jahren stets an, im Jahre 1929 trugen dazu auch gegen jüdische Studenten gerichtete Unruhen auf der Universität bei, die sogar Unterbrechungen der Vorlesungen zur Folge hatten. Die völkisch gesinnten Mitglieder bemühten sich immer mehr, ihre Stellung im Verein zu festigen. So musste im Jahre 1929 die Abteilung Auslandund Grenzlanddeutschtum gegründet und im diesjährigen Bericht ein Verzeichnis wichtiger Werke mit dieser Thematik veröffentlicht werden. An erster Stelle strebten die national gesinnten Mitglieder der Vereinigung aller deutschen Studentenvereine Böhmens unter einem Dach zu, was früher oder später den Prestigeverlust und letztendlich auch den Untergang der Halle bedeuten musste. Die Halle wollte ihre Stellung behaupten, indem sie versuchte, die Sektionen der Redehalle, ihre Schmerzenskinder, zu beleben. Aber das gelang nur in den kleineren Abteilungen, in der sportlichen, musikalischen, fotografischen u.ä. Der politischen Spannung im Verein wollten die freisinnigen Funktionäre im Jahre 1930 mit einem Zyklus informativer Vorträge über die deutschen Minoritäten in der Welt begegnen, z.b. Das Deutschtum in der Welt seine Verbreitung und zahlenmäßige Stärke (JUC Hans A. Löw), Das deutsche Südtirol (MUC Anton Kubat), Die Rechtslage des Sudetendeutschtums (JUDr. Benedikt Fuchs), Die Minderheitenfrage in Genf (RNC Walter Kinzel). Ansonsten wurden harmlose Themen für die Vorträge gewählt, z.b. Schlangengift und Giftschlangen (1931). Anfangs der 1930er Jahre war in der kulturpolitischen Strategie der Halle der Versuch des demokratischen Flügels wahrnehmbar, die traditionellen Grundsätze des liberalen Deutschtums in Böhmen neu zu verteidigen. Auf diese Weise wollte man der immer deutlicheren Gefahr eines rechten Radikalismus mit seinem Chauvinismus und Antisemitismus entgegentreten, welchen vor allem die neuen Mitglieder einbrachten und der von reichsdeutschen extremistischen Organisationen verbreitet wurde. Im Jahre 1931, als die völkischen Stimmungen bereits von allen Seiten in die Halle eindrangen, las man im Jahresbericht eine diplomatische Formulierung der Hallebeziehungen zur reichsdeutschen Studentenschaft: 85 Die Festaufführung des Werkes unseres Ehrenmitgliedes Richard Strauss, der uns ein herzliches Glückwunschschreiben übersandte, war eine der schönsten Veranstaltungen, welche die Halle je geboten hat. (76. BLRH 1927/28: 55) 167

84 168 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Das Verhältnis zum deutschen Studentenverband hat sich nicht geändert. Wir werden weiter bestrebt sein, das gute Verhältnis, das uns mit dieser Zentralorganisation aller auf dem Boden der Verfassung stehenden reichsdeutschen Kommilitonen verbindet, zu vertiefen. Auch ein Versuch wurde unternommen, die Fonds der Bibliothek um eine größere Anzahl von Werken der westeuropäischen sowie der tschechischen Literatur zu bereichern: Einen starken Aufschwung nahmen die Abteilung für deutsche, sowie englische und französische Belletristik dadurch, dass eine größere Anzahl von modernen Werken äußerst preiswert gekauft wurde. Auch eine Menge tschechischer Werke wurde angeschafft, was mehr eine Neuerrichtung als eine Erweiterung der tschechischen Abteilung bedeutete, da von früher nur äußerst wenig vorhanden war. Vor allem wichtige Standardwerke der tschechischen Literatur fehlten vorher vollständig und wurden nun eingestellt. (79. BLRH 1930/31: 65) Ein deutliches Zeichen eines Versuchs, die Halle durch eine neue Orientierung zu retten: In den Tschechen sahen nun die Bewahrer der alten Halletradition vor allem jüdische Studenten wieder eher Verbündete als Gegner. Der damalige Redehalleleiter JUC Heinz Hirsch nannte in seinem Bericht etliche Aktivitäten, die eine momentane Wiederbelebung der alten Hallelinie, eine Distanz zur Politik und eine Verschiebung des Schwerpunktes der Aktivitäten zur Kulturarbeit versprachen: [...] es ist mir gelungen, einen viel größeren Prozentsatz an Mitgliedern für das Vereinsleben und die Tätigkeit der Halle zu interessieren, als es früher der Fall war. Es konnte eine ganze Reihe von Sektionen eröffnet und am Leben erhalten werden, von denen die Bridge-Sektion, Ping-Pong und Schachsektion, aber auch die Englische und Tschechische besonders erfolgreich waren [...] Besonders interessant war auch der Debattenabend Demokratie, bei dem die Freie Vereinigung soz[ialistischer] Hochschüler den Kontraredner stellte [...] Es war insbesondere auch mein Bestreben, die Mitgliedschaft selber mit eigenen Vorträgen zu Wort kommen zu lassen. Als wichtigste Veranstaltung in dem Sinne ist der Auslandsdeutsche A- bend anzusehen. Dr. F. H. Fuchs sprach über das Deutschtum in der Schweiz, Robert Fuchs über das Deutschtum in Südamerika und Anton Kubat über das Deutschtum in Russland. Weiter wäre ein Vortragsabend über das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen zu erwähnen, auf dem die Kollegen Löw und Weinberger sprachen. 86 Von Einzelvorträgen erwähne ich einen Vortrag über Walter Rathenau von Robert Fuchs und einen über Mazedonien von E. Weinberger. Im Anschluss dankt Hirsch dem Verein der tschechischen Ingenieure, die uns die englischen und tschechischen Konversationsabende ermöglichten. (80. BLRH 1931/32: 9f.) Interessant sind einige formale Ausdrucksmittel, die jedoch im Kontext der gesellschaftlichen Prozesse spezifische Bedeutung erhielten und besonders in früheren Jahren zum unabänderlichen Bestandteil des Korrespondenzrituals 86 Der Vortrag von Dr. Löw, welcher im Schuljahr 1933/34 stattfand, wird im 83. BLRH 1933/36 nochmals lobend erwähnt: Ein großer Erfolg war der Debattenabend über das Thema Deutsche und Tschechen mit Herrn Dr. Löw als Referenten. Josef Čermák wurden. Ansprachen, Grüße und Abschiedsformeln drückten nicht nur die Konvention der Zeit (manches wurde der Sprache der Burschenschaften entnommen), sondern sie spiegelten auch politische Zusammenhänge ab, sie brachten den Geist der Zusammengehörigkeit, die Nähe oder Distanz des Sprechenden und Angesprochenen oder das Klima der Beziehungen und seine Wendungen zum Ausdruck. So konnte man im Zeitverlauf eine Skala von Ansprachen, Grüßen oder Abschiedsworten verfolgen: Kommilitonen Herren Kollegen Kameraden oder Ehrenfester Ausschuss Löblicher Ausschuss Kollegialer Ausschuss, mit treudeutschem Gruß mit treudeutschem Gruß und Handschlag u.ä. Kennzeichnend ist auch die Beibehaltung bzw. die Abkehr von Tschechismen im damaligen geschriebenen böhmischen Deutsch (z.b. čechisch oder czechisch). Auch mit sprachlichen Ausdrucksmitteln konnte man für seine politischen Vorstellungen und Wünsche optieren. Der freisinnig denkende Teil der Hallemitglieder, welcher lange Zeit eine knappe Mehrheit im Verein hatte, wurde sich in der ersten Hälfte der 30er Jahre, als die Nationalsozialisten in Deutschland nicht mehr nur eine Bedrohung darstellten, sondern bereits die Macht ergriffen, leider zu spät dessen bewusst, dass eine rechtzeitige Zusammenarbeit mit den tschechischen Studentenvereinen und vielleicht auch mit den zuständigen tschechoslowakischen Behörden und Institutionen seine Position stärken und die herankommende interne Krise der Halle hätte abwenden können. Zu den Versuchen um eine verspätete Verbrüderung mit den Tschechen muss man eine gemeinsame Veranstaltung im Jahre 1935 rechnen: Das Sommersemester 1935 war nicht reich an größeren Ereignissen. Es fand in Verbindung mit dem Spolek posluchačů filosofie (Verein der Philosophiehörer) ein Abend deutscher und tschechischer Dichtung statt, auf dem von tschechischer und deutscher Seite Vertreter sprachen. Eine Exkursion zur Baumblüte ins Elbetal fand regen Anklang. Ferner fand eine Führung der Redakteure der Prager Zeitungen durch unsere Bibliothek statt. (83. BLRH 1933/36: 30) Dem Druck der völkischen und nationalsozialistischen Ideologie bemühte man sich auch durch eine breitangelegte Diskussion über Demokratie, eine gerechte Minoritätenpolitik und über Rechtslage und Zusammenarbeit der Minderheiten standzuhalten, an der auch Tschechen und linksstehende Deutsche teilnahmen. Die Annäherung an die Tschechen wurde in dieser kritischen Zeit zum Bestandteil des antitotalitären und gegen Antisemitismus gerichteten Programms der Prager freisinnigen Studentenschaft. Auch hohe akademische Funktionäre vertraten diese Ideen der Zusammenarbeit. Noch im Jahre 1935 nannte der Senator und Rektor der Prager deutschen Universität, Theologieprofessor Karl Hilgenreiner die Halle einen unpolitischen Verein und hob ihre Vermittlerrolle hervor (83. BLRH 1933/36: 31). In seiner Rede zu den Studenten Mitte der 30er Jahre zog er die Bildung nachdrücklich den Waffen vor: Sollen wir Deutschen in dem Wettkampf zwischen den Völkern, der rings um uns jetzt noch 169

85 170 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle mit feindlichen, hoffentlich bald mit friedlichen Waffen geführt wird, uns siegreich behaupten, dann muss unsere Jugend, zumal unsere akademische Jugend, an Wissen wie an Wollen gut gepanzert sein. Hier bleibt den akademischen Verbänden viel zu tun: Sie müssen Erziehungsgemeinschaften im besten Sinne des Wortes sein. (83. BLRH 1933/36: 31) In diesen Kontext gehören auch einige wenige Kulturereignisse der 1930er Jahre, einer Zeit, in der nicht einmal die Kultur vor hasserfüllten Mitteln zurück schreckte. Im April 1932 ehrte die Halle das Jubiläum Goethes mit einer Goethe-Buchausstellung im Deutschen Haus. Am 23. Januar 1935, in der Zeit des ausklingenden Insignienstreites, welcher die Prager Studentenschaft beider Nationalitäten durch seine nationalistische Wucht in Bann hielt, besuchte Thomas Mann, damals bereits nicht mehr in Deutschland lebendes Ehrenmitglied der Halle, gemeinsam mit seiner Frau Katia bei einer der vielen Reisen nach Böhmen den Verein, bevor er ein Jahr später in einem kleinen Dorf Ostböhmens das Heimatrecht und dadurch die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhielt. Ihre Unterschriften im Gedenkbuch und eine Notiz im Jahresbericht, welche nur Manns aufrichtige Bewunderung über die Bücherei der Halle zum Ausdruck bringt, erinnern an dieses Ereignis. Die demokratischen Kräfte in der Halle wollten sich auch in dieser ziemlich hoffnungslosen Lage inmitten der 1930er Jahre noch mit einem attraktiven anspruchsvollen Kulturprogramm behaupten. Ein großer Vortragszyklus Zur Geschichte von Kunst und Wissenschaft und eine Wiederbelebung von Hallesektionen wurden zwar geplant, allerdings nicht verwirklicht. Nach Hitlers Sieg in Deutschland begannen recht schwierige Zeiten für die Halle. Sie geriet unter Druck der rechts gesinnten deutschen Studenten, die sich bemühten, in ihren Reihen Fuß zu fassen und eine Mehrheit zu erlangen, was ihnen schließlich auch gelang. Im Sommersemester 1936 kam es zu einem Umsturz in der Leitung. Dem alljährlich neugewählten Ausschuss wurde aus politischen Gründen das Misstrauen ausgesprochen und eine neue Wahl erzwungen. Inzwischen waren jedoch eine Menge völkisch und antisemitisch gesinnter neuer Mitglieder in die Halle hinübergeleitet worden, so dass das Verhältnis der Kräfte umschlug und die Sudetendeutschen, wie sie sich jetzt nannten, die Wahlen für sich entschieden und die Herrschaft in der Halle endgültig an sich rissen. Die Sieger, im Gefühl historischer Genugtuung, brachten die Hoffnung auf die Endgültigkeit ihres Sieges zum Ausdruck, welche der damalige Obmann Erwin Speck in seinem Bericht auf der Vollversammlung im Festsaal des Deutschen Hauses am 9. Juni 1936 artikulierte: [...] möge die Halle nie mehr den Weg verlassen, der im letzten Semester beschritten wurde und der zur Einigung der gesamten deutsch-völkischen Studentenschaft Prags führt Gedenkbuch , Eintrag unter Nr Josef Čermák Eine Zeit tiefgreifender politischer und organisatorischer Änderungen setzte ein. Vor allem sollten alle deutschen Studentenvereine im Lande vereinigt und ein großer und starker Einheitsverband unter dem Namen Sudetendeutsche Studentenschaft gebildet werden, darüber hinaus sollten die Sektionen der Redehalle aufgelöst werden (84. BLRH 1936/37: 24). 88 Die Ansprache Kamerad wird eingeführt, man spricht von einer Erneuerung des Vereines. Ein Problem stellten die alten Herren, ältere und alte, manchmal hochverdiente und hochgestellte ehemalige wirkliche Mitglieder dar, welche die völkische Umorientierung der Halle eindeutig ablehnten. Schließlich machte man ihre Zugehörigkeit zum Verein von der Bezahlung oder Nichtbezahlung der Beiträge abhängig. Die alten Herren blieben jedoch, soweit es ging, in Opposition zur neuen Leitung der Halle. Die Neuorganisation der Halle fand allerdings auch Unterstützung. Die erste kam von den Prager Professoren Herbert Cysarz, welcher im Jahre 1936 zum Ehrenmitglied der Halle ernannt wurde und den ersten Vortrag in der erneuten Halle über das Thema Der Kampf um die Persönlichkeit 89 hielt, Josef Pfitzner und Prof. Sauder, welche Büchergeschenke für die Bibliothek der Halle überreichten. Die kulturellen Veranstaltungen waren zunächst nur spärlich und eng mit der neu proklamierten Politik der Halle verknüpft. Im Schuljahr 1937/38 wurde ein Abend sudetendeutscher Dichter und ein Abend sudetendeutscher Kunst veranstaltet, allerdings ohne Kommentar im Jahresbericht. Die größte Energie widmete die neue Halleleitung der politisch-ideologischen Revision der Bibliotheksbestände und des Hallearchivs. Ganze zwei Jahre ( ) dauerte dieser Neuaufbau, bis die Periodika im Lesesaal und die Buchbestände der Bibliothek zensuriert und durchgesiebt, unser wertvolles Archiv nach monatelanger Arbeit in Ordnung gebracht (86. BLRH 1937/38: 13) und anstößige Materialien skartiert wurden. Die Jahresberichte referieren über die mühevolle Arbeit nicht ohne Stolz. Über den Lesesaal berichtet der Obmann Franz Ertl in seinem Zeitschriftenbericht noch ziemlich sachlich und zurückhaltend: Auch der Lesesaal musste ein neues Gesicht bekommen, alte Mängel durften nicht weiter mitgeschleppt werden. Der Stand der Zeitschriften wurde gesichtet und überprüft. Ertl gibt nicht an, wie viele Zeitschriften abbestellt wurden, er erwähnt nur, dass 74 Tageszeitungen und Wochenzeitschriften und 367 Monatzeitschriften vorhan- 88 Dass die Sektionen keineswegs den Aufgaben einer Redehalle, die Mittelpunkt im Geistesleben deutscher Studenten sein soll, entsprechen, leuchtet jedem ein! (84. BLRH 1936/37: 24) 89 Der 84. BLRH 1936/37 notiert dazu: Im vergangenen Semester fand als erste Veranstaltung ein Vortrag des Herrn Univ. Prof. Dr. Cysarz über das Thema Der Kampf um die Persönlichkeit statt. Fast alle Würdenträger und Professoren unserer Hochschule gaben uns die Ehre Ihres Besuches. Die Anteilnahme an diesem Vortrag soll außerordentlich stark sein. 171

86 172 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle den seien. Dagegen zeigt der Büchereibericht von Josef Koscharek die Tragik dieser Säuberung in aller Deutlichkeit: Als im Oktober 1936 eine neue Generation in die Halle einzog, die den festen Willen hatte, auch in die älteste und wichtigste Studentenorganisation auf Prager Boden die volkhafte Erneuerung hineinzutragen, waren wir uns alle klar, dass wir gerade in der Bücherei auf große Schwierigkeiten stoßen werden. Vor allem galt es, die Bücherei so auszugestalten, dass sie endlich wieder dem deutschen Volke entspreche. Das Erbe, das wir antraten, sah nach allem andern aus. Die Bucheinstellungen jener Zeit entsprachen nur einer ganz kleinen Clique, die jede Bindung zum Volke und auch zum sudetendeutschen Studenten verloren hatte. Nach einer jahrelangen gründlichen Sichtung können wir heute bereits mit Tatsachen kommen, die wohl am schärfsten gegen die alte Ära sprechen. So z.b. waren die wichtigsten Dichter in schöngeistiger Literatur: Auernheim, Schalom Asch, Andersen-Nexö, Max Brod, Vicki Baum, Henri Barbusse, Fulda, Lion Feuchtwanger, Flake, Oskar Maria Graf, Ernst Glaeser, Georg Hermann, Erich Kaestner, Klabund, Egon Erwin Kisch, Emil Ludwig, Heinrich und Klaus Mann, Meyrink, Mannheimer, Oppenheim, Alfons Paquet, Roda-Roda, Arnold und Stefan Zweig, Sternheim, Felix Salten, Anna Seghers, B. Traven, Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Werfel, Wedekind und Wassermann. Kulturgeschichte war bloß mit Werken von Georg Hirschfeld, Margueritte und Pitigrilli vertreten. Im Fach Politik waren vornehmlich Bücher von Marx, Engels und Kautsky, Lenin, Stalin und Knorin, ja sogar ganz gewöhnliche politische Pamphlete, wie die von Olden und Heiden. In den wissenschaftlichen Fächern lag alles brach darnieder, die Kataloge wurden mangelhaft geführt. Unsere Revisionen ergaben, dass allein in schöngeistiger Literatur fast 1200 Bücher fehlen, über deren Abgang keine weiteren Belege vorhanden sind. So war es denn für die Erneuerung der Halle an Kopf und Gliedern höchste Zeit, wenn Millionenwerte sudetendeutscher Kulturgüter nicht zugrunde gehen sollten. [ ] Im besonderen wurden revidiert die Fächer Germanistik, Jus, Theologie, Musikwissenschaften, Kunst, Kulturgeschichte und schöngeistige Literatur [...] Nach so kurzer Arbeitsfrist sind wir stolz darauf, die großen deutschen Dichter Binding, Blunck, Carossa, Hans Grimm, Hanns Johst und Gerthart Schumann zu unseren Gönnern zählen zu dürfen. Hans Friedrich Blunck hat unserer Bücherei anlässlich seiner Vorlesung in Prag einen Besuch abgestattet und seines großen Interesses an unserer Aufbauarbeit versichert. 90 Zu besonderem Dank sind wir unseren Ehrenmitgliedern Herren Prof. Cysarz und Swoboda 91 und ebenso Herrn Franz Höller 92 verpflichtet, die uns immer mit Rat und Tat beistanden. (85. BLRH 1937/38: [Büchereibericht], 25 [Zeitschriftenbericht]) Die Ergebnisse der Säuberung von Buchbeständen der Bibliothek wurden hier bestimmt nicht vollständig angeführt. Sie beschränken sich auf lebende Auto- 90 Auch Blunck hinterließ am einen Eintrag im Stammbuch der Halle, ein 7zeiliges Gedicht folgenden Wortlauts: Warum du lebtest? / Um die hohen Ahnen / in deinem Blut zu feiern, um das Leben / aus dir und vielen Vätern aufzutragen, / Antwort zu sein auf Gottes Indichfragen und um im Ruf des großen Freiers Tod / zu neuem Sein die Augen aufzuschlagen. 91 Es geht um den Kunsthistoriker, seit 1934 Ordinarius der Kunstgeschichte an der Prager deutschen Universität Karl Maria Swoboda (siehe CANZ 2001). 92 Franz Höller war ein junger sudetendeutscher Dichter aus Graslitz (Kraslice), vgl. BE- CHER (2001: 283). Josef Čermák ren jüdischer Abstammung und linker politischer Einstellung, und bis auf zwei Franzosen und einen Dänen werden nur deutschsprachige Schriftsteller genannt. Das Verzeichnis folgt treu, obwohl im beschränkten Maße, dem reichsdeutschen Vorbild der zu verbrennenden Literaturwerke. Gleichzeitig oder später wurden bestimmt ähnlich ideologisch anstößige lebende ausländische Autoren wie auch deutschsprachige und ausländische Klassiker als unerwünscht aus den Beständen der Bibliothek entfernt. Das alles geschah im immer noch freien tschechoslowakischen Staat, dessen Organe nicht bevollmächtigt waren einzugreifen. In der Tat bemühten sie sich nur, die radikalen Aktivitäten der neuen Halleleitung im Rahmen der Gesetze zu begrenzen. Als die Vollversammlung der Halle beschloss, dass das Vereinsvermögen bei eventueller Auflösung der Halle nicht auf das Deutsche Kasino, wie bisher rechtlich bestimmt, sondern auf den Deutschen Kulturverband übergehen sollte, haben die tschechischen Behörden dieses Gesuch abgelehnt (85. BLRH 1937/38: 13). Ähnlich wurde das Tragen der Farben bei öffentlichen Veranstaltungen den Hallemitgliedern nicht mehr stillschweigend geduldet, sondern untersagt (85. BLRH 1937/38: 13). Ein Eingriff in die internen Angelegenheiten des Vereins von der Seite der tschechischen Behörden durfte jedoch nicht erwartet werden. Schließlich scheiterte auch ihr Versuch, Veranstaltungen, die den Faschismus offen propagierten, zu verhindern, wie die Vorlesung des Präsidenten der Reichsschrifttumskammer Blunck im Deutschen Haus im kritischen Jahr Die pathetisch dankbare Würdigung dieser Vorlesung vom damaligen Hallefunktionär und späteren Gaustudentenführer Willi Bardachzi im Jahresbericht bedarf keines Kommentars: Ein einmaliges Ereignis, dessen Bedeutung weit über den Rahmen unseres Vereines hinausreicht und richtunggebend für die kommenden Semester sein wird, war der Leseabend des Altpräsidenten der Reichsschrifttumskammer Hans Friedrich Blunck im Festsaale des Deutschen Hauses unter Anwesenheit der Spitzen des sudetendeutschen Kulturlebens und vieler hervorragender Persönlichkeiten. Alle die Schwierigkeiten, die sich durch das zuerst verfügte Verbot ergaben, erscheinen mir gering im Vergleiche zu der Bedeutung, die diesem A- bend zukommt. Außerdem wurde uns vom Herrn Dr. Blunck eine derartig hochherzige und opferbereite Hilfe zuteil, für die keine noch so große Dankbarkeit zu gering ist. (85. BLRH 1937/38: 17) Die Aktivität der erneuerten Halle stieg im Jahre 1938 an. Sie radikalisierte sich wie nie zuvor und ordnete zunehmend alle kulturellen Veranstaltungen den politischen Zielen unter. Im Januar hielt der Historiker, Professor der tschechoslowakischen Geschichte an der Prager deutschen Universität Wilhelm Wostry 93 den Vortrag Epochen sudetendeutscher Geschichte, in welchem er dem Jahresbericht nach erstmalig gebrachte Ausführungen vorlegen sollte. In dieser Zeit hat der Bruch der Halle mit ihrer 90jährigen Tradition 93 Zu Wostry mehrere Erwähnungen bei GLETTLER/MÍŠKOVÁ (2001). 173

87 174 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle einen Höhepunkt erreicht, mit dem Erbe des Jahres 1848, welches die politische Gesinnung, das moralische und historische Bewusstsein des liberalen Deutschtums in Böhmen und seine größte Schöpfung, das Phänomen der Prager deutschen Kultur, durch zwei Jahrhunderte hindurch aufrechterhielt. Die Stützen dieses Nachlasses wurden in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre sehr schnell gestürzt und die freiheitliche Botschaft der Halle den pragmatischen Zwecken einer intoleranten, chauvinistischen Politik preisgegeben, die in Kürze viel Schmerz und Unglück verursachen sollten. Die Dokumentation aus dieser Zeit ist im Hallearchiv sehr lückenhaft, die letzte Eintragung ist auf Mai 1938 datiert. Nach der deutschen Besetzung des Landes wurde die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag als eine nun überflüssige Institution aus dem Verzeichnis der Prager Vereine gelöscht. 8. Ein tragikomisches Finale Die Geschichte hielt aber noch einen schlechten Scherz bereit: Im Kriegsjahr 1941 wurde die Tätigkeit der aufgelösten Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag unversehens feierlich neu eröffnet, und zwar durch ein festliches Treffen deutscher Generäle. Bei dieser Feier am Freitag, den 7. März 1941 abends im Langemarkhaus in der Beethovenstrasse 38, wo damals der Sitz der Gaustudentenführung Sudetenland war, las der in Eisenhammer geborene sudetendeutsche Dichter und Publizist Wilhelm (Willi) Pleyer aus seinem Werk. 94 Die Einladung wurde von der Gaustudentenführung Sudetenland versandt und der Einladungskarte wurde eine kurzgefasste historische Würdigung der früheren Halletätigkeit aus nationalsozialistischer Sicht beigelegt, welche vorbildlich als Beispiel flagranter Geschichtsfälschung durch die Sieger dienen könnte: Die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag entstand im Sturmjahr Die Tradition der Akademischen Legion wurde von ihr fortgeführt und sie verkörperte in den Jahren schweren Volkstumskampfes den deutschen Kulturwillen der Prager Studenten. Nach einem vorübergehenden Versuch weltanschaulich fremder Strömungen, die Halle zu erobern, brach im Jahre 1936 wieder eine neue Blütezeit unter Führung nationalsozialistischer Studenten an. In den entscheidenden Jahren des Kampfes in Prag war hier das nationalsozialistische Kulturzentrum der böhmischen Hauptstadt. Nach mühevoller Arbeit erhält die Halle mit der Eröffnung im Langemarkhaus eine würdige Basis für die kommende Arbeit. Die so genannte Eröffnung der Halle war jedoch nur ein politischer Trick, bei dem im Grunde nur der Name mit gutem Klang und alter Tradition missbraucht wurde. Die Tätigkeit der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag wurde in diesem neuen Rahmen keineswegs fortgesetzt. Nach drei mi- 94 Wilhelm Pleyer nahm als Vortragender bereits früher, am , am Abend sudetendeutscher Kunst in der Halle teil und verewigte sich mit einem Zweizeiler im Stammbuch: Nur eines ist groß: das Opfer. / Nur eines ist wirklich: der Kampf! Josef Čermák litärischen Vortragsabenden wurde keine der Öffentlichkeit bestimmte Kulturaktivität mehr ausgeübt. Der Name Lese- und Redehalle wurde einem halbleeren Saal im Langemark-Gebäude mit spärlichen, schlecht aufgestellten Möbelstücken verliehen, welcher dann als Gesellschaftsraum und Vergnügungslokal dem Prager Offizierskorps und der Studentenoligarchie diente. Die einzige Verbindung mit der alten Halle bildete eine Handvoll Studentenfunktionäre, die ihr in ihren letzten Jahren zum Untergang verhalfen und inzwischen zu hohen Funktionären der Gaustudentenführung wurden, die gerade im Langemarck-Gebäude residierten. Ungeachtet dessen behauptet Wolfgang Wolfram von Wolmar in seinem den Prager deutschen Studenten gewidmeten Buch noch im Jahre 1943: Die Lese- und Redehalle [...] besteht heute noch im Rahmen der deutschen Studentenschaft Prag. (WOLMAR 1943: 312) Die wirkliche Tätigkeit der sog. neu eröffneten Halle bestand also lediglich in einer Reihe von drei Vorträgen während zweier Monate unter dem Titel Wehrmacht und Studententum, bei welchen Generäle der deutschen Wehrmacht als Vortragende auftraten. Am 17. Mai 1941 sprach der General der Flieger Quade über den Anteil der deutschen Luftwaffe am bisherigen Kriegsgeschehen, am 12. Juni der Generalmajor Friessner über Wehrmacht, Jugenderziehung, Hochschulbildung. Den dritten und letzten, zum Abschluss des Zyklus veranstalteten Vortrag Kultur und Soldaten hielt am 28. Juni 1941 General der Artillerie von Cochenhausen. Diese abschließende Veranstaltung hatte eine feierliche Regie: Vor und nach dem Vortrag spielte der Musikzug der Standortkommandatur schneidige Militärmärsche: Des großen Kurfürsten Reitermarsch, einen Marsch aus der Zeit Friedrichs des Grossen, den Yorckschen Marsch von Beethoven und den Marsch Prinz Eugen, der edle Ritter, welcher von den Anwesenden mitgesungen wurde. Zum Abschluss fand die Führerehrung statt und die Nationalhymne wurde gesungen. Von der Veranstaltung sind Photographien erhalten, derer Autoren überraschenderweise auch namhafte tschechische Kunstphotographen sind. 95 Die Teilnehmer konnten noch die Ausstellung Soldatenkunst im Protektorat im ersten Stock des Gebäudes besichtigen. 9. Historische Bedeutung des Vereins Der Weg zur Erforschung der Geschichte und der historischen Bedeutung der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag führt durch eine gewaltsam zerstörte Landschaft. Eine geistige Liquidierung der Halle durch einen rechtspolitischen Umsturz im Hause, die physische Liquidation des Vereins und seiner Mitglieder durch die totalitäre Staatsmacht, die Vertreibung der Überlebenden aus der Heimatstadt durch das siegreiche Nachbarvolk, das wa- 95 Eine Unmenge von Fotos über diese Nachgeschichte der Halle wird in Prag (AUK) aufbewahrt. 175

88 176 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle ren die letzten Akte eines fast hundertjährigen Dramas. Die Kulissen blieben stehen: Häuser, in welchen das Drama sich abspielte, Gassen, durch die man alltäglich ging, Denkmäler, die man mit Stolz verehrte, Grabsteine, derer Inschriften nicht mehr lesbar sind. Menschen in der Stadt und woanders, die ein Zeugnis ablegen und die Welt von gestern dem Vergessen entreißen könnten, kann man mit zehn Fingern abzählen. Der Weg zur Halle führt ins Vergessen. Auch das Archiv der Halle hat durch stürmische Ereignisse vor, im und nach dem letzten Kriege Schaden erlitten und ist sehr lückenhaft. Der Forscher muss deshalb auch Gedächtnissplitter aus verschiedenen mehr oder weniger glaubwürdigen Erinnerungsartikeln der Zeitgenossen zusammentragen und überprüfen, um zu einer erforderlichen Tatsachenbasis zu gelangen. Die Halle als der zentrale Prager deutsche Studentenverein mit einer breit verzweigten inneren Struktur und weitem Wirkungskreis hat der Prager deutschen Kultur einen wesentlichen Beitrag geleistet. Als Kind des Jahres 1848 bemühte sie sich lange Zeit mit größerem oder kleinerem Erfolg in permanenter Auseinandersetzung mit äußeren und inneren Gegenkräften die Grundsätze des liberalfreisinnigen Deutschtums in den böhmischen Ländern zu wahren. Das tragische Paradox dieser jahrzehntelangen Bestrebung, die vor allem deutschsprachige Juden im Verein entfalteten, besteht darin, dass nicht der offenkundig potentielle Gegner, das Tschechentum, sondern das nationale Deutschtum den Untergang dieses deutschen Vereins verursachte. Die Lese- und Redehalle als ein komplementäres Institut zur Hochschulbildung auf der Prager deutschen Universität hat für die Erziehung der Eliten des Prager Deutschtums viel geleistet. Aus ihr rekrutierten sich nicht nur die Stützen der Prager Kulturgesellschaft, auf ihrem Boden haben auch viele später zur öffentlichen Bekanntschaft oder sogar zum Weltruhm gelangten Männer ihre ersten Schritte in der Literatur, Kunst und Wissenschaft gemacht. Wir konnten diesen hoffnungsvollen Nachwuchs nur auf dem Gebiet der Literatur und Kunst verfolgen, aber die Ergebnisse und Erfahrungen in anderen Fächern wären ähnlich. Die riesige Bibliothek und breite kulturelle Aktivitäten der Halle haben nicht nur der Weiterbildung der Studenten gedient, sie haben auch ihre eigene literarische und wissenschaftliche Kreativität ermöglicht und inspiriert. Aus der heutigen Sicht bietet die Tätigkeit der Halle auch eine wichtige Quelle von Informationen über das Leben der Prager deutschen Studenten während fast eines Jahrhunderts. Wir haben diese Tätigkeit nur faktographisch und von innen aufgezeichnet. 96 Es wäre nützlich, das Thema von außen, d.h. durch die 96 Dabei ist unsere Faktographie notwendig lückenhaft. Die Jahresberichte der Halle verzeichnen bei weitem nicht alle Veranstaltungen des Vereins in und ausserhalb der Halle, sodass Ergänzungen aus anderen Quellen immer möglich sind. Hartmut Binder, welcher als einziger auf deutscher Seite sich in seinem Kafka-Handbuch (271, ) mit der Halle in der Zeit Kafkas gründlicher befasste, nennt (leider ohne die Informationsquelle anzugeben) einige weitere Veranstaltungen, Vorträge und Vorlesungen der Halle aus dieser Josef Čermák Optik der öffentlichen Wahrnehmung, der Prager deutschen und auch der tschechischen Presse der Zeit zu betrachten und dadurch neue Zusammenhänge zu entdecken. Abkürzungen: AKU Archiv der Karlsuniversität Berichte Jahresberichte der Lese- und Redehalle BLRH Bericht der Lese- und Redehalle LRH Lese- und Redehalle Rapport Rapport-Buch des Halleausschusses Literatur ARLT, Peter (2001): Samuel Steinherz ( ) Historiker. In: M. Glettler, A. Míšková (Hgg.), Prager Professoren Zwischen Wissenschaft und Politik (= Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17). Essen: Klartext, BECHER, Peter (2001): Herbert Cysarz ( ) Germanist. Seine Prager Universitätsjahre. In: M. Glettler, A. Míšková (Hgg.), Prager Professoren Zwischen Wissenschaft und Politik (= Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17). Essen: Klartext, BINDER, Hartmut (Hg.) (1979): Kafka-Handbuch. Stuttgart: Kröner. BINDER, Hartmut (2002): Neues zu Else Lasker-Schüler Schülers Prager Vorlesung im April Mit ungedruckten Briefen von Willy Haas. In: L. Bluhm, A. Meier (Hgg.), Else Lasker-Schüler Jahrbuch zur klassischen Moderne. Trier, CANZ, Sigrid (2001): Karl Maria Swoboda ( ) Kunsthistoriker. Wissenschaftler zwischen Wien und Prag. In: M. Glettler, A. Míšková (Hgg.), Prager Professoren Zwischen Wissenschaft und Politik (= Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17). Essen: Klartext, ČERMÁK, Josef (2000a): Junge Jahre in Prag. Ein Beitrag zum Freundeskreis Franz Werfels. In: K.-H. Ehlers, S. Höhne, V. Maidl, M. Nekula Zeit: 1903 Victor Freud über Paul Heyse, 1904 Richard Porges über Franz Grillparzer, Christian Greis über Fritz Reuter, Ungenannte über den Schauspieler Josef Kainz, über Otto Erich Hartleben, über den Sturm und Drang in der deutschen Lyrik, über das deutsche Drama der letzten 50 Jahre, 1905 eine Lesung aus dem Werk von Hans Christian Andersen. 177

89 Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle Josef Čermák (Hgg.), Brücken nach Prag. Deutschsprachige Literatur im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei. Festschrift für Kurt Krolop zum 70. Geburtstag. Frankfurt/Main et.al: Peter Lang, ČERMÁK, Josef (2000b): Werfels Zankapfel. Zur Rezeption von Franz Werfels Werk in der tschechischen Kultur. In: M. Reffet (Hg.), Le monde de Franz Werfel et la morale des nations Die Welt Franz Werfels und die Moral der Völker. Bern et.al: Peter Lang, ČERMÁK, Josef (2000c): František Langer jako prostředník mezi českou a německou kulturou [František Langer als Mittler zwischen der tschechischen und der deutschen Kultur]. In: M. Vojtková, V. Just (Hgg.), František Langer na prahu nového tisíciletí. Praha: 2000, GLETTLER, Monika/MÍŠKOVÁ, Alena (Hg.) (2001): Prager Professoren Zwischen Wissenschaft und Politik (= Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17). Essen: Klartext. HAAS, Willy (1958): Die literarische Welt. Erinnerungen. München: List. HAAS, Willy (1913): Die Verkündigung und Paul Claudel. In: Brenner 3. H. 19. Innsbruck, KAFKA, Franz (1967): Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Frankfurt/Main: S. Fischer. KAFKA, Franz (1990): Tagebücher. Kritische Ausgabe. Frankfurt/Main: S. Fischer. KLAAR, Alfred (1881): Joseph II. Festrede von Alfred Klaar gesprochen auf dem Kaiser Joseph-Commers der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag 29. November Prag. KROLOP, Kurt (1994): Prager Autoren im Lichte der,fackel In: Ders., Reflexionen der Fackel. Neue Studien über Karl Kraus. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, RUSS, Viktor Wilhelm (1862): Die Lesehalle der deutschen Studenten zu Prag ( ). Prag. SLAVÍČEK, Antonín (1975): Dějiny a archiv spolku Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag [Die Geschichte und das Archiv des Vereins Lese-und Redehalle der deutschen Studenten in Prag]. Prag (Maschinenschrift). WOLFRAM von WOLMAR, Wolfgang (1943): Prag und das Reich. 600 Jahre Kampf deutscher Studenten, Dresden: Franz Müller. Relief des Gründers der Halle Hieronymus von Roth

90 Franz Kafka und der Mythos Michel Reffet In der Kafka-Forschung werden die Begriffe Mythos und mythisch häufig sehr unscharf eingesetzt. Mythisch wird da benutzt, wo man religiös, theologisch, metaphysisch, mystisch oder allgemein menschlich in die Terminologie der Literaturwissenschaft übertragen möchte. Für die einen gleicht mythisch metaphysisch, für die anderen ist es der Gegensatz zu individuell psychologisch wo archetypisch angebracht wäre (RYAN 1971). Man kommt manchmal der abgenutzten Bedeutung des Wortes Mythos gefährlich nahe, z. B. in der Übertragung auf eine kurzlebige Berühmtheit in Sport, Theater und Politik, oder auf einen historischen Glauben, der sich im Nachhinein als irrig erwiesen hat. Da erhält das Wort Mythos einfach den pejorativen Sinn: Gegenteil der Realität. Eine Klärung wird nicht unnütz sein. Deshalb wollen wir ganz konkret bei Kafkas Verhältnis zu jenen etablierten Mythen neu ansetzen, die ihm durch seine Bildung vertraut waren und die er beim Namen nennt oder eindeutig aufzeigt. Es waren also die antiken Mythen und jene, die durch die Konzentration von Legenden und durch die Weltliteratur geschaffen wurden, in unserem Kontext der Turm zu Babel, der Golem und Sancho Pansa. Wir wissen, wie Kafka einige antike Mythen aufgegriffen hat, um sie in Parabeln neu zu deuten. Sie stehen in den sog. Oktavheften. Paul Raabe hat sie sehr sinnvoll im Nachlassteil der Sämtlichen Erzählungen zusammengestellt. Es sind Das Schweigen der Sirenen, Prometheus, Das Stadtwappen und Poseidon (KAFKA 1970). Es ist nicht weiter schwierig, Kafkas Interpretation auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen: Er möchte zeigen, dass die Mythologie unzulänglich gedeutet wurde. Die Sirenen können nicht gesungen haben, meint Kafka, sonst hätten die primitiven Gegenmittel des Odysseus nichts genutzt. Der Gesang hätte trotz der Wachsstöpsel in die Ohren seiner Gefährten dringen können und die Ketten gesprengt, womit er sich an den Mast festgezurrt hatte. Nein, meint Kafka, die Zauberinnen schwiegen, um Odysseus in der Illusion zu wiegen, er hätte sie tatsächlich bezwungen. Der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen. Im Klartext heißt das: Sie wollten O- dysseus der Hybris ausliefern. Aber Kafka erwägt eine zweite Möglichkeit: Die Glückseligkeit im Gesicht des sich Sieger wähnenden Odysseus hätte die Sirenen fasziniert. Die Verführerinnen wären zu Verführten geworden. Es könnte aber auch sein, fügt Kafka hinzu, dass Odysseus gewusst habe, dass sie schwiegen. Er hätte nur so getan, als wehre er sich gegen sie, täuschte also Naivität vor, damit die Götter von seiner Hybris nichts merkten. Diese Parabel

91 192 Franz Kafka und der Mythos ist so dicht, dass sie die Kafka-Rezeption immer wieder, wenn auch nicht so wie die Türhüter-Legende, intensiv beschäftigt hat. 1 Die anderen Erzählungen sind schlichter. In Prometheus berichtet Kafka von vier Phasen der Sage, wobei Prometheus am Ende von den müde gewordenen Göttern einfach vergessen worden sei. In der Erzählung Das Stadtwappen geht es um den Turmbau zu Babel. Man erfährt, dass er noch nicht einmal in Angriff genommen worden ist. Man wollte lieber den Fortschritt der Technik abwarten, damit die Sache leichter von der Hand gehe. Man dachte zunächst an die Errichtung der Quartiere für die Arbeiter. Aber ständiger Streit entbrannte unter den einzelnen Landsmannschaften, da jede das schönste Viertel haben wollte. Am Ende war das Band des Hasses so stark, dass man nicht auseinander gehen wollte und nur noch hoffte, dass eine Riesenfaust die Stadt in Trümmer schlage. Im Poseidon-Stück ist der Gott nur noch ein freudloser, ü- berforderter Verrechnungsbeamter der Wasserwerke, dem der Überblick über die Weltmeere abhanden gekommen ist. In einer kurzen Ergänzung aus dem Vierten Oktavheft sieht man Poseidon noch einmal überdrüssig seiner Weltmeere (KAFKA 1980: 95). Er, Odysseus und die Sirenen sind in einem weiteren Fragment nur noch Schauspieler in einem Zirkus (KAFKA 1980: 220). Kurz und gut, die von Kafka herangezogenen Mythen deuten das Gegenteil ihrer konventionellen Bedeutung. Dies ist auch der Fall in der Erzählung über Sancho Pansa, falls diese fiktive literarische Gestalt als Mythos gelten darf. Sancho wollte sich einen Teufel vom Halse schaffen, deshalb lieh er ihm Ritter- und Räuberromane. Von dieser Literatur angeregt ließ sich der Teufel auf nutzlose Abenteuer ein. Aber Sancho begleitete ihn, um Erzählstoff zu sammeln. Er gab übrigens dem Teufel den Namen Don Quixote (KAFKA 1980: 54, 57). So gesehen ist nicht der Ritter, sondern sein vermeintlicher Diener der Held. Zudem ist dieser keine mythische Gestalt, sondern ein biederer Mensch, dem kein Mephisto und kein Schicksal etwas anhaben kann. Wie Poseidon wird auch Don Quixote in den kleinen Fragmenten erwähnt. In dem einen schreibt Kafka, dass Don Quixote über Frankreich nach Mailand auswandern musste, weil er in Spanien unmöglich geworden war. Das bedeutet, dass er eben keinen Mythos verkörperte, denn ein Mythos bleibt mit dem Schicksal seines Volkes verbunden (KAFKA 1980: 296). Die Überschriften dieser Prosastücke stammen zwar von Max Brod, allerdings befinden wir uns in einem Bereich, in dem Kafka die Mythen beim Namen nennt, sich sozusagen der Mythologie bedient und abgerundete Geschichten erzählt. Zweierlei fällt jedoch auf: Kafka hat die erwähnten Stücke nicht veröffentlicht und sie enthalten Motive, die auch andere Schriften Kafkas aufgreifen. Das 1 Siehe u.a. MOSÈS (1987), MYKYTA (1987), POLITZER (1967), SAMUEL (1990), WEISSBERG (1985, 1987). Michel Reffet legt den Gedanken nahe, dass Kafka zur tiefsten Natur des Mythos zurückfinden möchte. Glaubt man Kulturphilosophen wie Lévi-Strauss, dann sind die Mythen vor der Schrift entstanden. Deshalb werden sie von Kafka nur zögernd der Schrift anvertraut, dem Druck schon gar nicht. Dass sie überhaupt existieren, ist ihm eine Hilfe in der Schreibnot, über welche er sich in seinen Briefen und in seinem Tagebuch so oft beklagt. Deshalb reiht er die Erzählungen ohne Titel in die vielfältigen persönlichen Notizen und Bekenntnisse, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Wenn es doch zu einer literarischen Umsetzung kommt, merkt er: Ich werde [ ] von vorn als kleines Kind anfangen müssen. Ich werde es hiebei äußerlich leichter haben als damals. Denn in jenen Zeiten strebte ich noch kaum mit matter Ahnung zu einer Darstellung, die von Wort zu Wort mit meinem Leben verbunden wäre, die ich an meine Brust ziehen und die mich von meinem Platz hinreißen sollte (KAFKA 1990: 146). 2 Da es Kafka immer um absolute Identifikation mit seinem Werk ging, musste er zu den Uranfängen zurückfinden, in denen es noch keinen Unterschied zwischen Mythos und Literatur gab. Diese dämmerigen Sphären fand er in der eigenen Kindheit. Nun ist aber die Zeit der Einheit zwischen Mythos und Literatur bekanntlich vorbei. Der Mythos besteht aus markanten, sinntragenden Figuren und Episoden, die aus einer Unzahl von Fassungen ein und desselben Grundmusters hervorstechen. 3 Die entwickelte Literatur dagegen ist auf eine einmalige Form fixiert. Die Sagen um den Golem und ihre Verarbeitung durch die Autoren und Regisseure sind hierfür das beste Beispiel. Der Mythos ist keinesfalls ästhetischer Natur; im Gegensatz zur Literatur ist er kollektiv, er rechtfertigt, unterstützt und inspiriert die Existenz sowie die Handlungen einer Gruppe von Menschen. Der mythische Held wird bewundert, aber auch gefürchtet, denn er fordert die Himmelsmächte heraus. Er weiß um die Existenz und Allmacht der Götter bzw. Gottes, aber er handelt, ohne in Erwägung zu ziehen, ob seine Kühnheit toleriert oder bestraft wird. Es ist seine sakrale Schuld. Von dem Augenblick an, da man über seine wahre moralische Schuld reflektiert, verliert der Mythos seine Kraft und wird der Literatur überantwortet. Kommt der Mythos noch mit typischen Elementen aus, besteht Literatur nur aus Komplexität. Die Literatur ist zwar aus dem Mythos geboren, denn er hat sie den freien Umgang mit der Erzählzeit gelehrt, aber inzwischen scheint sie eher ein Mittel zur Demontage des Mythos geworden zu sein. 4 Zudem ist es in der Literatur 2 Im Folgenden mit dem Kürzel T plus Seitenangabe. 3 Siehe u. a. SOUILLER (1997: 10). Zur Erfassung des Kontextes der Kernfabel siehe DEL- COURT (1944). 4 Zu den Beziehungen zwischen Mythos und Literatur s. CAILLOIS (1938) und MÜNCH (1977). 193

92 194 Franz Kafka und der Mythos und sei es nur um der Originalität willen zu mutwilligen, plumpen oder feineren Zerschlagungen antiker Mythen gekommen. Gerade das sind Kafkas Erzählungen nicht, trotz der Umdeutung der Mythen. Die Gedankenführung ist sachlich, ja rigoros bis zur Unheimlichkeit, dabei recht lebendig und von packender Überzeugungskraft, lückenlos und gedrängt, anscheinend leicht deutbar und doch mehrdimensional. Sie wecken Neugierde und fordern zum Nachdenken auf. Das Wahrnehmen des mitschwingenden Humors wird dem Feingefühl des Lesers überlassen. Kafka bringt es fertig, in diese kompakten Parabeln noch Verweise auf selbst erfundene Überlieferungen, Sagen und Lieder einzuflechten. Der Schluss vom Prometheus klingt wie eine Rechtfertigung: Die Sage versucht, das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muss sie wieder im Unerklärlichen enden. Kafkas Werk beweist, dass in der modernen Literatur der Mythos sich nicht so leicht liquidieren lässt. Er weiß, sich verschiedenen Epochen und Kulturen anzupassen; es können aber auch immer wieder neue Mythen entstehen: zum Beispiel Faust und Don Juan. Die Psychoanalyse hat gezeigt, dass das Über- Ich einen großen Teil seiner Inhalte den Mythen verdankt. Die psychoanalytische Literaturkritik spricht ferner von einem persönlichen Mythos bei den Künstlern, welchen man auf Schritt und Tritt in ihren Metaphern verfolgen kann (MAURON 1963). Bei Kafka kehren tatsächlich eindringliche Motive wieder, die sich auf bestimmte Mythen beziehen lassen. Da seine privaten Schriften Briefe, Notizen und Tagebücher zugleich Literatur sind, finden sich reichliche Belege in den Tagebüchern. Als zweite Stufe der Prometheus-Sage erzählt Kafka, dass der Held nach und nach eins mit seinem Felsen geworden sei. Aber die Existenz des Felsens an sich bleibe das Unerklärliche des Mythos. Nun gibt es ganz viele Stellen im Tagebuch, wo Kafka sich in derselben Situation wie sein Prometheus sieht. Wie ich mich gegen alle Unruhe an meinem Roman festhalte, ganz wie eine Denkmalfigur die in die Ferne schaut und sich am Block festhält. (T 421) Einen Monat später notiert er fast denselben Satz aus Flauberts Feder (T 425). Auch er, Franz Kafka, wird eins mit Fels und Werk. Er fühlt sich als große Masse in schmalen Wegen endgiltig festgerannt, ein widerwärtiges Material (T 430, 900). Er findet sich interesselos, dumpf, kalt und leer, kalt und sinnlos (T 393, 623, 675, 702). Dann versteinert er ganz: Ich bin ja wie aus Stein, wie mein eigenes Grabdenkmal bin ich (T 130); Meine Unfähigkeit zu denken, zu beobachten, festzustellen, mich zu erinnern, zu reden, mitzuerleben wird immer größer, ich versteinere, ich muss das feststellen (T 663). Letzteren Satz hat Kafka unterstrichen. Aber seine Form aus Stein ist hohl und leer, ein leeres Gefäß, ein leerer Kopf, den man mit einem Hammer zerschlagen müsste (T 545, 582, 756). Trotzdem möchte sich dieser Mensch aus Stein aufrichten und kann es nur schwer (T 503, 530). Dazu schämt er sich Michel Reffet seines Körpers (T 13, 266), hält sich für ein Unglückswesen (T 142). Er führt ein künstliches Leben (T 609), ist total selbstentfremdet: Was habe ich mit den Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam und sollte mich ganz still, zufrieden damit dass ich atmen kann in einen Winkel stellen (T 622). In Wirklichkeit ist er noch nicht geboren: Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt (T 888); Noch nicht geboren und schon gezwungen zu sein, auf den Gassen herumzugehen und mit Menschen zu sprechen (T 912). Sogar das Ausbrechen könnte Gefahr bringen: Das Gefühl haben, gebunden zu sein und gleichzeitig das andere, dass, wenn man losgebunden würde, es noch ärger wäre (T 137). In jeder Weise gehemmt, hofft er doch auf eine Lockerung (T 501), verzweifelt nicht ((T ); er erwartet eine große Entwicklung (T 845), es könnte das Schreiben sein, denn es lockert ihn (T 37), und das richtige Wort wirkt wunder: Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft. (T 866) Der steinerne, selbstentfremdete Mensch aus dem Prager Judentum fürchtet, gefährlich zu werden, wenn man ihn losbindet; er möchte durch das Wort zum wahren Leben erweckt werden, leidet an Sprachnot oder besser gesagt Sprechnot, in Umwandlung eines Ausdrucks von Hannelore Rodlauer in Bezug auf Kafkas Sprachskepsis (RODLAUER 1995). Man tastet sich durch die Tagebücher vor und es stellt sich die Frage, ob man nicht hermeneutischen Furor betreibe. Eine Antwort geben zwei Erzählfragmente 20. April 1916 in den von Max Brod herausgegebenen Tagebüchern. Kafka berichtet dort von einem Rabbiner, der eine Tonmasse knetet, die schon in rohen Umrissen die menschliche Gestalt zeigte. Ein Brief an Max Brod beweist, dass Kafka sich selbst in diesen unfertigen Umrissen erkennt: Ich bin Lehm geblieben. Die Funken habe ich nicht zum Feuer gemacht, sondern zur Illuminierung meines Leichnams benutzt (KAFKA 1966: 385). Die ursprüngliche Prager Legende erzählt, dass die Form des Golem zuerst aufglühte, bevor er sich aufrichtete. Golem bedeutet ja ursprünglich Tonmasse, Symbol für das Ungeborene. Kafka hat also doch seinen Golem-Mythos. Ohne es selbst zu ahnen, antizipierte er sogar den Mythos der Kybernetik: Welche Unvereinbarkeit liegt zwischen dem sichtbaren Menschlichen und allem andern! Wie folgt aus einem Geheimnis immer ein größeres! Im ersten Augenblick geht dem menschlichen Rechner der Atem aus. (T 606, Kursivierung M.R.) Er konnte nicht voraussehen, dass der erste leistungsstarke Rechner vom Weitzmann-Institut von Rehovot in Israel Golem getauft werden sollte! 195

93 196 Franz Kafka und der Mythos Die zwei Rabbiner-Fragmente in den Tagebüchern sind durch zwei Notizen getrennt, die dazu zu gehören scheinen. Die erste lautet: Wie will ich eine schwingende Geschichte aus Bruchstücken zusammenlöten? Diese Fragmente stellten demnach für den Autor eine besondere Herausforderung dar. Der Name Golem fällt aber nicht. Und genau wie bei den anderen fiktionalen Passagen der Tagebücher, Oktavhefte und anderer Hefte und loser Blätter finden die Rabbiner-Geschichten keinen Abschluss. Zudem fehlen sie in der neueren kritischen Ausgabe und sind nur noch im Apparatband zu finden, denn sie gehören zu den von Kafka gestrichene Stellen (KAFKA 1990: 377f.). Warum diese Streichung? Vielleicht weil Kafka in einer Zeit lebt, in der der Mythos zu einem bloßen Komplex degradiert wird. Wenn der einzelne Mensch einer aufgeklärten Zeit immer noch dem Mythos, d.h. weit zurückliegenden kollektiven Vorstellungen nachhängt, entsteht eine Neurose. Deshalb ist der Ödipus- Mythos nur noch Ödipus-Komplex. Das war Anlass für Heinz Politzer zu dem provokativen Beitrag: Hatte Ödipus einen Ödipus-Komplex? (POLITZER 1971). Die Grundthese Politzers ist, dass Ödipus schon vom Ödipus-Komplex beherrscht war: Gegen den Rat der Iokaste suchte er fieberhaft nach der Wahrheit, nicht so sehr, weil er sie fürchtete, sondern weil er um seine tiefen Begierden wusste. Ja, er wünschte, es gewesen zu sein und wollte die Bestätigung haben. Deshalb singt er, indem er sich die Augen aussticht. Mit dem Golem kann es nicht anders gewesen sein. Das Versteinern ist eine Wahnvorstellung, weil man unbewusst wünscht, zum Golem zu werden: einem gewaltigen, unempfindlichen, unverantwortlichen, aber nützlichen Diener (wie der Golem ja zuerst einer war). Wie seine Prager Schriftstellergenossen leidet Kafka unter diesem fatalen Zu-spät-Kommen. Der Mythos ist nicht mehr das Andere, er ist Teil ihres Unterbewusstseins, kann also nicht ausformuliert und somit einer literarischen Funktion zugeführt werden. Gehört man trotzdem zu den Schöpferischen, ist der normale Verlauf nämlich ein anderer. Der Komplex wird zum so genannten persönlichen Mythos sublimiert, den man behutsam unter den ausgeformten, sich verselbstständigenden Schöpfungen freilegen kann. Die Dichter haben es schon geahnt. In einem wichtigen Aufsatz über die Probleme des Biographismus schreibt Jürgen Born: Was als primärer Erfahrungskreis den Autor geformt hat (seine Kindheit, das Zusammenleben mit Eltern und Geschwistern), wird ob sich der Einzelne dessen bewußt ist oder nicht bis zu einem gewissen Grad auch in seinem Werk zum Ausdruck gelangen. Es ist der Gedanke, den Hofmannsthal einmal ein wenig überspitzt formulierte, als er schrieb, jeder Dichter gestalte unaufhörlich das eine Grunderlebnis seines Lebens. Thomas Mann gab diesem Gedanken noch umfassendere Bedeutung, als er im Zauberberg Settembrini sagen ließ: Der Mensch tut keine nur einigermaßen gesammelte Äußerung allgemeiner Natur, ohne sich ganz zu verraten, unversehens sein eigenes Ich hineinzuverlegen, das Grundthema und Urproblem seines Lebens irgendwie im Gleichnis darzustellen. So überzeugend dieser Gedanke klingt, die Schwierigkeit liegt natürlich in dem irgendwie, liegt in der Frage, auf welche Michel Reffet Weise Grundthema und Urproblem eines Lebens im Gleichnis zum Ausdruck gelangen. Sie ist bei jedem Autor anders zu beantworten. (BORN 1988: 182) Bei Kafka hat man es hierbei manchmal mit der monokausalen Erklärung durch einen persönlichen Mythos versucht: z.b. mit dem Buche Hiob oder mit der Angst vor der Schulprüfung. 5 Soweit möchte ich nun mit dem Golem nicht gehen. Aber in den großen Werken der Selbstentfremdung: Die Verwandlung, Der Prozess und Das Schloss können die Gestalten wie ihr Schöpfer sagen: ich kann nicht lieben, ich bin zu weit, bin ausgewiesen (T 895). 6 Für sie ist die institutionalisierte Gerichtsbarkeit nicht zuständig. Ihre Rettung kommt auch nicht durch eine Frau wie im Märchen; Kafka selbst löste ja seine Beziehungen: Angst vor der Verbindung, dem Hinüberfließen. Dann bin ich nicht mehr allein (T 569). Die Situation der Gestalten Kafkas hat nichts gemeinsam mit jener des Barockmenschen, der sich vom Tal der Versuchung, der Illusion und der Tränen abkehrt; auch nichts mit dem Weltschmerz des Sturm und Drang, der aus dem Unverständnis der Gesellschaft herrührt; noch weniger mit der romantischen Sehnsucht, welche die Spaltung von Natur und Geist überbrücken möchte; schließlich nichts mit der Blasiertheit der Jahrhundertwende, aus Überdruss an Genüssen entstanden. Ihre heillose Außenseiterposition und ihr wenn auch vergeblicher Reaktionswille macht sie zu expressionistischen Schöpfungen. Aber sie können nur aus dem Prager Judentum hervorgegangen sein. In seinem fesselnden Buch Faust et le Maharal de Prague zählt André Néher Kafkas Strafkolonie zu den Meisterwerken der Golem-Literatur, obwohl der Golem nicht genannt wird. Selbstverständlich beschäftigt sich Néher auch mit Meyrinks Golem und seinem durchschlagenden Erfolg (NÉHER 1987). Der besseren Unterhaltungsliteratur zugerechnet ist der Roman Meyrinks tatsächlich ein trefflicher Beleg für die These Roger Caillois, wonach die Trivialliteratur viel besser als die gehobene Literatur zur Weiterreichung eines Mythos geeignet sei, weil die Trivialliteratur mit primären, abgründigen, unausgereiften, kollektiven und nicht so sehr ästhetischen Inhalten arbeitet (CAILLOIS 1938: ). Meyrink bekommt tatsächlich, ohne es zu wissen, den verinnerlichten Mythos der Prager in den Griff, denn sein Golem ist ein Doppelgänger des Erzählers! In seinem Prometheus-Stück nimmt Kafka die mythologische Episode nicht auf, wonach Prometheus Menschen aus Ton modelliert haben soll. Auf Um- 5 Gershom Scholem schrieb an Walter Benjamin: Ich würde auch Dir raten, jede Untersuchung über Kafka vom Buche Hiob aus zu beginnen oder zum mindesten von einer Erörterung über die Möglichkeit des Gottesurteils, welches ich als den einzigen Gegenstand der Kafkaschen Produktion ansehe. Zitiert in GRÖZINGER (1994: 21). Von Jean-Paul Weber (1963) stammt dagegen die eingleisige Erklärung des ganzen Werkes durch die Angst Kafkas vor der Schulprüfung! 6 Unter den vielen Klagen über seine Verlassenheit s. bes. T 399, 571, 577, 621, 872,

94 198 Franz Kafka und der Mythos wegen haben wir den Bogen vom antiken Mythos zum Golem gespannt. Es sei mir jetzt gestattet, vom Sirenen-Felsen abzuheben, um nach Prag zu gelangen. Nachdem das Schiff der Griechen vorbeigefahren ist, schreibt Kafka von den Sirenen: Sie [ ] spannten die Krallen frei auf den Felsen. Neben ihrer Schönheit, sieht er auch die Krallen. Aber in den Tagebüchern heißt es: Nein, lass mich, nein lass mich! so rief ich unaufhörlich die Gassen entlang und immer wieder fasste sie mich an, immer wieder schlugen von der Seite oder über meine Schulter hinweg die Krallenfüße der Sirene in meine Brust. (T 828) Nur noch die Krallen bemerkt Kafka von der Sirene. Aber was sucht eine Sirene in den Prager Gassen? Prag selbst ist die Sirene, der er nicht entkommen kann, wie er schon am an Oskar Pollak schrieb. Damals riet er, Prag anzuzünden. 7 In einer der Prager Legenden wie im berühmten Wegener- Film wird dieses Zerstörungswerk vom Golem übernommen. In Kafkas Stadtwappen-Stück erwartet man, dass die Faust, die Prag im Wappen führt, diesen Ort der Uneinigkeit zerschmettern möge. So werden die Mythen assimiliert, auf Kafkas spezielle Lage zurechtgeschnitten. Sie behalten jedoch ihren sakralen Wert und ihre sakrale Schuld. Die schwierige Frage, ob Kafka in seinen vielen Anspielungen auf Bibelmotive nur Mythen sieht, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. In den Tagebüchern ruft Kafka einmal aus: Kämest Du unsichtbares Gericht! (T 135). Aber später gesteht er, dass er nicht danach strebe, ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, dass es ihm also nur auf das Menschengericht ankomme (T 839). Ja, aber im Traume holt ihn der Mythos des Göttergerichts ein ein Zeichen, dass er ihn doch nicht liquidieren kann. Im Traume überstellt er sich freiwillig diesem Gericht: Mein Bruder hat ein Verbrechen, ich glaube, einen Mord begangen, ich und andere sind an dem Verbrechen beteiligt [ ] Das Glück bestand darin, dass die Strafe kam und ich sie so frei, überzeugend und glücklich willkommen hieß, ein Anblick, der die Götter rühren musste, auch diese Rührung der Götter empfand ich fast bis zu Tränen. (T ) Diese besonders ergreifende Eintragung zeugt von tiefer Einfühlung in das Wesen der Mythologie, in der die Götter und ihre aufsässigen Geschöpfe eigentlich solidarisch sind, weil sie gleichermaßen vom Schicksal gelenkt werden. 8 Albert Camus hielt es übrigens für selbstverständlich, seinen Mythe de 7 An diese sehr bekannte, oft zitierte Aussage muss doch hier erinnert werden: Prag lässt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muss man sich fügen oder -. An zwei Stellen müssten wir es anzünden, am Višehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, dass wir loskommen. Vielleicht überlegst Du es Dir bis zum Karneval (KAFKA 1966: 14) 8 Goethe hat es in seinem Prometheus-Gedicht am besten ausgedrückt, als der Held Zeus entgegenhält: Hat mich nicht zum Manne geschmiedet / Die allmächtige Zeit / Und das e- wige Schicksal, / Meine Herren und deine? Michel Reffet Sisyphe mit einem Anhang über Kafka zu ergänzen. Dabei brauchte er nicht einmal den einzigen Satz zu zitieren, in dem Kafka den schlauen Helden erwähnt: Sisyphus war ein Junggeselle (T 881). Gerade dies stimmt nicht, Sisyphus war mit der Pleiade Merope verheiratet und hatte sogar einen Sohn, Glaukos. Dass Kafka das ignoriert und aus Sisyphus einen Hagestolz macht, ist der Beweis, dass er sich mit Sisyphus voll und ganz identifiziert. Albert Camus schloss zwar den Hauptteil des Buches, unmittelbar vor Beginn des Kafka- Anhangs mit den Worten: Il faut imaginer Sisyphe heureux [man muss sich Sisyphus glücklich vorstellen]. Aber Kafkas Sisyphus oder besser gesagt Kafka/Sisyphus ist in seinem Zölibat nicht glücklich: [ ] niemand ist hier, der Verständnis für mich im Ganzen hat. Einen haben, der dieses Verständnis hat, etwa eine Frau, das hieße Halt auf allen Seiten haben, Gott haben. (T 743) Nur gerade das verweigert Kafka: Unmöglichkeit mit F. (Felice) zu leben, notiert er, Unerträglichkeit des Zusammenlebens mit irgendjemandem (T ). Das heißt jedoch nicht, dass der Mythos ihm wirklich genüge. Die metaphysische wo nicht religiöse Dimension von Kafkas Werk braucht nicht mehr unter Beweis gestellt zu werden. Jürgen Born schreibt sogar von Kafkas ausgeprägtem religiösen Sinn : Er drückt sich [ ] nicht direkt aus, sondern indirekt, als eindringlicher Hinweis auf etwas Fehlendes, auf einen offenbar als schmerzlich empfundenen - Mangel. Dieser Mangel und seine Folgen für das menschliche Leben werden in Erzählungen und Aphorismen immer wieder von neuem formuliert. Dichtungen dieser Art sind als Ausdruck spiritueller Sehnsucht oder gar als nicht ausgesprochene Klage über eine Gottesferne gedeutet worden. Nicht ausgesprochen, nicht artikuliert, weil nur Mangel spürbar ist und die Konturen des zu Bezeichnenden gleichsam in der Ferne nicht mehr zu erkennen sind, sondern höchstens noch zu ahnen. (BORN 1988: 76) In mancher Hinsicht lassen sogar Kafkas Romane eine Verschiebung von mythisch auf mystisch erkennen, durchaus im Sinne seines Freundes Franz Werfel, der offenbar keinen Unterschied zwischen beidem machte, als er empfahl: Höchstmögliche Form moderner Epik: Die mystischen Grundtatsachen des Geisterreiches (Weltschöpfung, Sündenfall, Inkarnation, Auferstehung usw.), dargestellt mittels des verschlagen-bescheidensten Realismus in unauffälligen Geschehnissen und Figuren des gegenwärtigen Alltags. Nur ganz wenige höhere Intellektuelle unter den Lesern erkennen die Symbolik, dürfen aber niemals das beglückende Gefühl verlieren, der Autor habe keine Ahnung von den Geheimnissen, die seine einfache Erzählung verbirgt. (WERFEL 1975: 191) Diese Zeilen könnten wahrlich auf Kafka gemünzt sein! Maria Katjár betitelt ihren Aufsatz über Josef K. Der mystische Prokurist; aber sie nennt ihn dann eine mythische Figur (KATJÁR 1997: 75, 78). Vielleicht sind die Dichter, wenn sie religiöse Inhalte behandeln, tatsächlich auf den Mythos angewiesen. Vielleicht ist religiöse Literatur überhaupt nicht möglich. 199

95 200 Franz Kafka und der Mythos Thomas Mann behandelte die Bibel als eine rein mythische, wenn nicht mythologische Geschichte. Werfels Romane wären dann nicht religiöser als Thomas Manns Bibelgeschichten. Deshalb ist die Frage schwer zu beantworten, ob Kafka in den biblischen Motiven, die er gelegentlich erwähnt, Mythen oder eher seine Verkündigung sah. 9 Kafka ist also nicht Bahnbrecher einer entmythisierten oder entmythisierenden Kunst, als der er schon dargestellt wurde. 10 Von der Poseidon-Geschichte ausgehend hat Jürgen Born gezeigt, wie Kafka auf jede Art von Übergang [verzichtet] und von vorneherein beides in eins [setzt]: Mythos und Moderne, mythologische Überzeitlichkeit und bürokratische Gegenwart. Born vergleicht sogar sehr sinnfällig Kafkas Poseidon mit Sisyphus (BORN 1988: 80). In einem profunden Aufsatz hat außerdem Walter Sokel nachgewiesen, dass die Verwandlung in einer Zeit der Selbstentfremdung um des Profits willen zum Mythos der Tragödie zurückfindet, jenem Mythos der Beseitigung eines Unschuldigen, damit die Gesellschaft ihre eigene Schuld leichter tragen kann. Es ist gleichsam der Mythos des Sündenbocks, den Kafka reaktiviert habe (SO- KEL 1980). Und auf dem Kafka-Symposium 1995 zeigte Gerhard Neumann in seinem Referat, dass Kafkas Parabeln Vor dem Gesetz und Ein Traum eben die Spannung zwischen Gesetz und Traum, und das heißt zwischen Realität und Literatur, sichtbar machen. Damit habe Kafka den Mythos von der Entstehung, von der Ermöglichung von Kultur und ihres Prozesses in Szene gesetzt. Kafkas Werk insgesamt, schreibt Neumann, kann so als ein Textkorpus gelesen werden, das sich der Arbeit am Mythos verschreibt: dem Mythos von der Vermittlung des Einzelnen ans Allgemeine durch das Besondere, als dem leitenden abendländischen Mythos vom Wahrheitscharakter der Kunst. (NEUMANN 1997: 25, 29 30) Hier sind wir an der Grenze der Mytheninterpretation bei Kafka angelangt, denn Neumann spricht von einem Mythos, der an keine deutlich konturierte Figur gebunden ist. Man denkt jedoch an eine Kunstschöpfung, die so wahr ist, dass sie anfängt zu leben also z.b. einen Golem. 9 Als zuverlässigste Darlegung der Debatte über die Kriterien religiöser Literatur siehe AU- CKENTHALER (1995). Unter den sechszehn Beiträgen befassen sich der einleitende des Herausgebers Anstatt eines Vorwortes. Vorüberlegungen zur Problematik der religiösen Literatur und der abschließende von Wolfgang Wiesmüller Formen religiöser Intertextualität in der österreichischen Nachkriegslyrik sowie die Zusammenfassung der Diskussionsbeiträge durch Tünde Tombai und Erzsebét Zsabo besonders mit der Klassifizierung und den Kriterien. Über Literatur und Mystik liest man im selben Band mit Gewinn Katarzina Dzikowsas Spuren der Transzendenz. Wie religiös sind Rilkes Geschichten vom Lieben Gott. 10 Siehe MANDEL (1987); BEZZEL (1987: 203) erhebt den Anspruch einer antimythologischen These. Michel Reffet Es kann sein, dass Kafka mit der Verwandlung, mit dem Process und dem Schloss Mythen geschaffen hat. Sein jüngerer Landsmann Ivan Klíma lässt eine Romanfigur über ihn sagen: Ein so logischer, genauer und redlicher Autor muss mit seinen Paradoxa etwas meinen, er muss beabsichtigt haben, etwas verdeckt mitzuteilen, einen Mythos zu erschaffen [kursiv M.R.], eine Sage von der Welt, eine große, revolutionäre Botschaft, die er vielleicht nur geahnt und deshalb nicht in Begriffe fassen konnte, er hat sie also nur angedeutet, und nun ist es an uns, sie zu enträtseln und ihr eine exakte Form zu geben. (KLÍMA 1991: 150f.) Bleibt zu hoffen, dass Kafka selbst nicht zum Mythos im abwertenden Sinne der heutigen Medien wird, denn das hieße berühmt ohne bekannt zu sein. Fürs erste scheint uns die tiefgründige, vielfach unterschwellige, aber um so festere Aneignung der alten Mythen eine zusätzliche Handhabe zu bieten, um das zu begreifen, was uns an Kafkas Werk ergreift. Literatur AUCKENTHALER, Karlheinz (Hg.) 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97 Modernekritik und literarischer Messianismus bei Max Brod Ekkehard W. Haring Bedenkt man [...], wie sich Prag aus der geistigen Öde der achtziger Jahre in kurzen drei Jahrzehnten zu einem wahren Literaturzentrum hinaufentwickelt hat, so darf man die frohe Hoffnung hegen, dass auch dem deutschen Drama aus der Stadt im Osten noch Licht und Erlösung kommen wird, schreibt Josef Körner 1917 begeistert von der jungen Prager deutschen Literatur in der Zeitschrift DONAULAND. Welcher Art diese Erlösung sein könnte und was sich hinter dem zweideutig betonten deutschen Drama verbirgt, bleibt das Geheimnis des Feuilletonisten. Literarisches Genre oder politisches Votum gleichwie, beides lässt sich im zweinationalen Böhmen ohnehin kaum trennen. Einer der neuen Hoffnungsträger heißt Max Brod. Wie Franz Kafka, Franz Werfel, Otto Pick, Franz Fuchs, Oskar Baum und Ernst Weiß ist auch er jüdischer Herkunft. Körner porträtiert ihn so: Max Brod ist vielleicht nicht der begabteste, gewiß aber der vielseitigste unter den Genossen. Messerscharfen Verstandes und außerordentlich energiebegabt, ein Organisationstalent sondergleichen, ist er zum Führer der Freunde prästabiliert. Er ist zugleich die interessanteste und problematischste Figur seines Kreises. Noch nicht viel über dreißig Jahre alt, hat er schon unzählige Wandlungen hinter sich, und mag man seine lyrischen und erzählenden Erstlinge vom ästhetischen und ethischen Standpunkt aus noch so strenge be- und verurteilen, so wird dadurch der Respekt nur größer, den man den letzten Schöpfungen [...] erweisen muß. (KÖRNER 1917: 784) 1. Dichtung und sozialer Heilsanspruch Der Anspruch auf literarische Führerschaft bestand 1917 unumstritten. Für einen Autor, dessen Werk heute in Vergessenheit geraten ist und der bestenfalls als Nachlassverwalter bzw. Interpret Kafkas gelesen wird, ein seltsamer Befund (HARING 2001: 312ff.). Das Wirken Max Brods im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist freilich von Beginn an von extremen Widersprüchen durchzogen und exponiert sich da am schärfsten, wo es um raumgreifende U- topien von Erlösung geht. Seine programmatischen Entwürfe sind nicht einfache Plädoyers für eine bessere Welt, sie sind Dokumente messianischer Emphase, in denen sich Avantgardismus und umstürzlerischer Geist mit geradezu kindlicher Sehnsucht nach Operettenflitter mischen. Ah! Que tout n est-il opéra-comique! ruft so bereits der junge Theaterkritiker Max Brod in Anlehnung an Jules Laforgue aus (BAYERDÖRFER 1987: 159), während gleichzeitig der Bürgerschreck Brod, inspiriert von Schopenhauers Offenbarungen, am kompromisslosen Evangelium eines Indifferentisten Tod den Toten! arbeitet. In der 1913 von ihm herausgegebenen Prager Anthologie Arkadia wird wiederum ein ganz neues Credo verkündet: eine Synthese der realisierenden Kräfte unserer Zeit, die Sehnsucht nach idyllisch-monumentaler Form gegen das verzweifelte Chaos! (BUBER 1972: 335).

98 206 Modernekritik und literarischer Messianismus bei Max Brod Brod gibt sich hier dezidiert antimodernistisch: Junge Dichter, die sich durch die Reinheit ihrer Werke auszeichnen, sollen quasi als ideale Einheit ein Gegengewicht gegen die mit lasterhaftem Stolz betonte Zerrissenheit, Verzweiflung unserer Jugend und gegen gewisse öde Konventionen des Radikalismus schaffen. Formuliert wird damit nicht zuletzt ein ethisch-sozialer Entwurf: Reine Literatur zur Heilung gesellschaftlicher Krisis. Brods Offensive steht ganz im Zeichen jenes Tätigwerdens, von dem seine Generation auf vielfältigste Weise ergriffen ist. Die allen gemeinsame Erfahrung, im unerträglichen Käfig der Ambivalenzen gefangen zu sein, drängt auf eine wirksame Initiative, ja, sie fordert dazu auf, die Befreiung selbst in die Hand zu nehmen (Brod 1913a). Eine Rettungsperspektive bietet die Rückbesinnung auf das Judentum. Keineswegs zufällig erkennt Brod in dem jüdischen Idealisten Martin Buber seinen Bundesgenossen. Hat dieser doch bereits in seinen berühmten Prager Reden über das Judentum (1909ff.) die innere Wandlung und die erlösende Tat jedes Einzelnen gefordert, um aus der Zerrissenheit westjüdischer Verhältnisse zu den lebendigen Wurzeln des Judentums zurückzufinden. Mehr noch: Die jüdische Renaissance, wie sie dem Kulturphilosophen vorschwebt, würde eine neue Form von Menschengemeinschaft schaffen, die heilsam auf das Zusammenleben aller Völker und Nationen wirkt. Das was Martin Buber in Prag zu einer geistigen Autorität in Sachen Erneuerung macht, ist sicher nicht nur sein neues, von Theodor Herzl deutlich abweichendes Konzept des Kulturzionismus, sondern auch seine charismatische Persönlichkeit: Gottentbranntes Judentum, chassidische Mystik und ästhetische Noblesse finden bei ihm einen gemeinsamen Ausdruck. Hinzu kommt die beträchtliche Wirkung, die einige von Bubers frühen Werken bei Prager Intellektuellen und nicht zuletzt in literarischen Kreisen hinterlassen haben. Selbstverständlich hat Brod die Ekstatischen Konfessionen (1909) gelesen und sich von den Quellen mystischer Erfahrungen inspirieren lassen. In der Einleitung beschreibt Buber das ekstatische Einheitserlebnis des Mystikers als eine Tat, in der der Gegensatz von Ich und Welt vorübergehend aufgehoben werde. Vornehmlich sei dies Sache des Dichters: die Einheit in der Vielheit zu erfahren und neu zu dichten den uralten Mythos (BUBER 1909: 22). 1 Buber weckt mit seinen Prager Reden nicht nur das Pathos einer Generation junger Aktivisten, Expressionisten und Kosmopoliten, er verspricht ihnen auch eine exklusive Identität. Unser Tun muß einen Sinn haben fasst einer seiner Prager Hörer, Robert Weltsch, zusammen. Das Bewußtsein der Verantwortung lehrt uns, daß wir die Auserwählten sind: jeder einzelne auserwählt, 1 Zu Brods Reaktionen auf die Ekstatischen Konfessionen siehe den Brief an BUBER (1972: 350f.). Ekkehard W. Haring daß er vollbringe. Der durch die Schwere der Materie zerdrückte Wille mache sich frei zur Tat! (Weltsch 1913: 163). Ähnlich begeistert schreibt der zweiundzwanzigjährige Hans Kohn: Und von der TAT will ich noch kurz etwas sagen, leise und ehrfürchtig, wie es sich für den ziemt, der noch nicht den Mut gefunden hat. Und doch geht durch diese Worte ein starkes tröstliches Jauchzen, denn an dieser Tat [...] erkennen wir, daß es uns, auch uns!, möglich ist, heroisch zu werden und an der neuen Gemeinschaft anders als in Dumpfheit und im Worte mitzubauen. Die Tat tut der, der mit allem bricht, was ihm bisher schön und gut war, der den Schein alles Unwesentlichen abtut und sich reiner Erde vermählt, Bauer wird in Palästina. Dies und nur dies ist WAHRHAFTIG ver sacrum, ist Gründung der neuen Lebensgemeinschaft. (KOHN 1913: 18) So wie Hans Kohn und Robert Weltsch empfinden auch Hugo Herrmann, Felix Weltsch, Hugo Bergmann und Sigmund Kaznelson junge Prager Intellektuelle, für die die Idee des Kulturzionismus eine Perspektive bietet, die Beschränktheit der gegenwärtigen mitteleuropäischen Wirklichkeit hinter sich zu lassen, in neue Seinstotalitäten und Gemeinschaften zu gelangen, um sich darin schöpferisch zu verwirklichen (HERZOG 1994: 47; RODLAUER 1999). Spätestens seit 1913 zählt sich auch Max Brod zu dieser Gemeinschaft. Maßgeblichen Anteil daran hat neben Buber der befreundete Philosoph Samuel Hugo Bergmann, dessen Essay Die Heiligung des Namens (1913) zu einem Manifest der Prager Geisteszionisten wird. Bergmann verbindet in diesem Aufsatz das biblische Wort Geheiligt werde dein Name... (hebr. Kiddusch haschem) mit einem menschheitlich-ethischen Auftrag: Gott heiligt, indem die Gemeinde ihn heiligt. Anders gesagt: Haschem, der Name, erfährt erst durch das sittliche Handeln des Menschen seine Heiligung (Kiddusch). Bergmann legt nahe, dass hierfür vor allem das Judentum auserwählt sei. Richtungweisend ist der Schluss seiner Exegese, in dem er das gemeinschaftsstiftende Motto formuliert: Der Zionismus ist unser Kiddusch haschem (BERGMANN 1913: 39). Wenn Bergmann die Einwohnung Gottes in der Welt die Schechina davon abhängig macht, dass der Mensch seine sittliche Bestimmung ergreift, so findet das bei Brod eine kongeniale Übersetzung. Seine literarischen Figuren leiden an der Welt und an der Krise der Moderne, aber sie warten nicht auf Erlösung, sondern nehmen ihre und Gottes Erlösung selbst in die Hand. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Romanheld Tycho Brahe, der zunächst durch das Christentum erkennen muss, dass die Welt unerlöst ist, schließlich aber durch das Judentum den Weg aus der Krise gewiesen bekommt. Sein Fazit lautet: Statt auf Erlösung zu warten, kann der gerechte Mensch sie durch den Dienst am Werke Gottes herbeiführen (BROD 1916a). Ähnlich nuanciert Brod diesen Gedanken auch in seiner David-Frischmann-Übertragung Der Messias: Bis ein neues Menschengeschlecht aufsteht, Ein Geschlecht, das wahrhaft Erlösung will 207

99 Modernekritik und literarischer Messianismus bei Max Brod Und die Seele bereitet, erlöst zu sein, Dann erfüllt sich Dein Schicksal, - Du wirst erlöst, Dein Schicksal erfüllt sich, - Du wirst erlösen. (BROD 1917: 30) Der durch Buber und Bergmann neugewonnene Zugang zum Judentum erschließt sich für Brod vor allem durch publizistisches und literarisches Schaffen. Doch die Bestimmung dessen, was erlösende Tat bedeutet, erfährt bei ihm binnen weniger Jahre beachtliche Transformationen. Der folgende Überblick versucht daher die vielleicht interessanteste, aus heutiger Sicht jedenfalls produktivste Phase seines Schaffens, die Jahre 1912 bis 1922, näher zu beleuchten. 2. Rettende Katastrophe und Diesseitswunder der Liebe Brods aktive Teilhabe am zionistischen Diskurs dokumentiert sich erstmals in seinem Aufsatz Der jüdische Dichter deutscher Zunge, der im Sammelband Vom Judentum, herausgegeben vom Prager Studentenverein Bar Kochba, erscheint. In diesem Beitrag sucht er nach den Grundzusammenhängen von Dichtung und Judentum und erhebt die Frage echter jüdischer Dichtung zur Kardinalfrage seiner Epoche. Überflüssig zu bemerken, dass ich auch die nationale Begeisterung, die mystische Versenkung in die Tiefen des Judentums für hervorragende dichterische Stoffe halte, heißt es dort prägnant (BROD 1913b: 261f.). Werk und Person Brods reizen bis heute zur Diskussion. Wie kaum ein anderer seiner Generation hat Brod in exemplarischer Weise die Wandlung vom ästhetischen Indifferentisten zum kosmopolitischen Wir-Expressionisten und schließlich zum Propheten der jungjüdischen Erneuerungsbewegung vor aller Öffentlichkeit vollzogen, teils unter heftiger Missbilligung früherer Freunde, teils mit nervöser Anteilnahme von Gleichgesinnten, vor allem aber mit der moralischen Integrität eines Mannes, dem niemand Bigotterie oder Opportunismus zutraute, weil er Intelligenz und Bildung mit einer fast kindlichen Naivität verband (MATTENKLOTT 1994). Bezeichnend für Brods zionistisches Engagement während des ersten Weltkrieges ist der von ihm geprägte Begriff der Gemeinschaftsekstase. Es scheint, dass ihm sein oft überschwängliches Streben nach Gemeinschaft nicht immer nur Sympathien, sondern auch Zerwürfnisse einträgt. So vor allem in der Publizistik: Im ersten Jahrgang der 1916 von Buber herausgegebenen Zeitschrift DER JUDE lanciert Brod einen Artikel mit dem Titel Unsere Literaten und die Gemeinschaft. Darin zeichnet er die welt- und gemeinschaftsflüchtigen Tendenzen jüdischer Autoren nach und unterzieht sie einer harschen Kritik. Hatte er beim Erscheinen seines Jahrbuches Arkadia 1913 noch von einer inneren Gemeinschaft, einer Kirche der beteiligten Autoren gesprochen, so wirft er im Aufsatz 1916 der neuen jüdischen Literatur Verantwortungslosigkeit und Egozentrik vor: (Sie) heftet die Augen zu wenig auf die ungeheure Aufgabe draußen, außerhalb des Ich, geht Ekkehard W. Haring mehr auf Selbsterlösung aus, als auf das innerste Ethos des Judentums: Messianismus, Welterlösung (BROD 1916b: 464). Die leere Aufbruchsemphase des Berliner Kreises um Kurt Hiller bezeichnet Brod als Spuk eines Frosches, der hin- und herspringt, nachdem man ihm den Kopf abgeschnitten hat und der noch aus Zickzack und Kopflosigkeit eine Philosophie macht (BROD 1916b: 458). Mit dem einstigen Protegé Franz Werfel, der während des ersten Weltkrieges eine expressionistisch-vitalistisch grundierte Wende vollzieht, kommt es sogar zur literarischen Fehde. Brod zufolge existieren zwei Typen des ethischen Menschen: Selbsterlöser und Welterlöser jene seien getarnte Narzisten wie etwa Werfel, sie verstricken sich in Selbstliebe und falscher Ich-Bejahung Wir aber glauben, so Brod weiter, daß irdisches Unglück mit allen Mitteln gelindert werden muß. Dann erst wollen wir uns um uns selbst [...] kümmern (BROD 1916c: 79; BROD 1916d: 720). Brüskiert von Kritiken wie diesen wendet sich Werfel mit einer Beschwerde an Martin Buber. Das meiste, was Zionisten schreiben, sei beleidigend, bemerkt er in einem Brief Anfang 1917 und präzisiert: Meine Abneigung erstreckt sich hauptsächlich auf Prager Zionisten. Der um vermittelnden Dialog bemühte Martin Buber wendet sich daraufhin an Max Brod mit der Bitte um Mäßigung und gibt zu bedenken: [...] übersehen Sie nicht zuweilen in dem bewunderungswerten Eifer Ihrer Werbearbeit die zarten spezifischen Gesetze einer bestimmten, so und nicht anders gearteten Seele? (BUBER 1972: 468, 470f.) Gewiss ist Brod nicht der einzige messianische Landvermesser im Umfeld europäischer Erneuerungsbewegungen. Doch die beiden Beispiele lassen deutlich seine individuelle Signatur in den Debatten des expressionistischen Jahrzehnts hervortreten. Zweifellos, sein Erlösungsmodell erscheint in Grundzügen rigoros normativ. Es verbindet sich gut mit der Selbstermächtigung der kulturellen Intelligenz als einer Elite mit besonderer Mission berufen dazu, das messianische Zeitalter zu begründen. Wie die meisten Prager Geisteszionisten strebt auch der junge Intellektuelle Max Brod nach einer radikalen Erneuerung der Gesellschaft unter Rückbindung an die jüdische Tradition. Dass sich hier ein hohes terroristisches Potential zeigt (MATTENKLOTT 1994: 190), ist eine These, über die man hinsichtlich gewisser literarischer Themen und Gestalten Brods wie auch angesichts seiner zeitweiligen Affinitäten zu Anarchismus und konservativer Revolution zukünftig noch eingehender diskutieren sollte. So ist das imaginativ-intellektuelle Spiel mit der rettenden Katastrophe oft genug auch Gegenstand seines erzählerisch-dramaturgischen Schaffens. Man sollte hier dennoch vorsichtig und differenziert abwägen. Die Konsequenz einer praktischen Umsetzung jenseits der Theaterbühne vollzieht der Dichter Brod jedenfalls nicht

100 210 Modernekritik und literarischer Messianismus bei Max Brod Bei all dem darf auch nicht vergessen werden, welchen Wurzeln sein oft überschäumendes Engagement entspringt. Die nervöse Suche nach stabilen Gemeinschaften oder nach einem (an Entwürfen Achad Haams orientierten) Nationalen Ich verweist ja keineswegs bloß auf eine persönliche Disposition. Wenn Brod mit allen Mitteln nach Linderung irdischen Unglücks sucht und seinen aussichtslosen Feldzug gegen die Krankheiten der Moderne führt, so unterstreicht er damit vor allem die Nöte seiner Zeit beim Zusammensturz des alten Europa. Pointierter gefasst: Der rigorose ethische Imperativ, den Brod sich und anderen jüdischen Intellektuellen mit manchmal etwas schrillem Tremolo ins Bewusstsein ruft, ist sicherlich auch ein Ausdruck für den Verlust des grundlegenden Vertrauens in die Versprechungen europäischer Aufklärung Emanzipation, Mündigkeit, Erlösung aus dem Exil der Geschichte. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg muss Brod sein Erlösungs-Konzept abermals relativieren. Durch Diskussionen mit Felix Weltsch und Franz Kafka setzt er sich mit der Freiheit menschlichen Willens auseinander 2 und gelangt hier zur Unterscheidung zweier messianischer Zustände menschlichen Unglücks. Im Bereich des unedlen Unglücks, zu dem vor allem die Politik gehöre, ist der Mensch für sein Handeln voll verantwortlich. Edles Unglück hingegen, in der Sphäre des Eros, der Triebe und der Leidenschaften, ist für den Menschen unabänderbar und einzig von der Gnade Gottes abhängig. Die Konstruktion zweier messianischer Bereiche mag sie noch so willkürlich erscheinen erweist sich für weitere Überlegungen als unverzichtbares Axiom: Brod verabschiedet die Rhetorik der unbedingten Tat und zieht nun klar die Grenze menschlicher Handlungs- und Willensfreiheit. Aus dem Versuch, die Paradoxien der Zeit aufzulösen und das verzweifelte Chaos in ein homogenes Arkadia zu verwandeln, ist das Bekenntnis eines Existenzialisten geworden, der die Grundparadoxie von Tat und Ethik zur sinnstiftenden Lebensmaxime erhebt. Damit wird freilich auch die vieldiskutierte Frage nach dem Primat von Individualerlösung oder Welterlösung obsolet. In seinem Bekenntnisbuch Judentum, Christentum, Heidentum (1921) deutet Brod an, dass sein unbedingtes Streben nach Gemeinschaft und sozialer Ekstase durch die Erfahrungen des Krieges nachhaltig erschüttert wurde: 2 In seinem Buch Gnade und Freiheit. Untersuchungen zum Problem des schöpferischen Willens in Religion und Ethik (WELTSCH 1920), auf das sich Brod mehrfach bezieht, entwickelt Weltsch den Begriff vom tragischen Widerspruch zwischen triebhafter Natur und ethischem Gebot. Dieser Grundwiderspruch des Menschen lasse sich nur durch einen ekstatischen Sprung in das Wunder der Einheit aufheben. Zur Umsetzung dieses Sprunges sieht der Philosoph zwei Wege: den Weg der göttlichen Gnade und den Weg des frei sich entscheidenden Menschen...; Kafkas eher kritische Haltung dokumentiert sich im Briefwechsel der Jahre 1918ff. (BROD/KAFKA 1989) Ekkehard W. Haring Erschrocken sah ich überall die steinernen Gesichter der vielen Gemeinschaftswilligen, die in bester Absicht ihre Instinkte zertrampelt hatten [...] Tugendbünde erfanden den Gasangriff, Gemeinwohlbeflissene wurden Virtuosen des Maschinengewehrs [...], ehrliche Weltbeglücker, Idealisten hielten von Millionen Kanzleien her die Blutmaschine in Gang [...]. Hatte ich früher empfunden, wie Welterlösung und Selbsterlösung einander befehdeten [...], so fühlte ich jetzt besonders stark, daß sie einander zur Ergänzung brauchten, daß jede allein für sich unvollkommen, sündhaft bleibt. Aber daß sie einander auch störten, empfand ich trotzdem auch weiterhin. (BROD 1921: 192f.) Indes stößt Brod bei der Erwägung menschlicher und göttlicher Aktionsräume auf ein intermittierendes Drittes: das Diesseitswunder der Liebe. Insofern nämlich, als Liebe und Sexualität einen Bereich auf der Grenze zwischen edlem und unedlem Unglück bilden, sei gerade hier eine Form von individuellgemeinschaftlicher Erlösung denkbar. Brod, der an diesem Gedanken bis an sein Lebensende festhält, sieht darin einen dem Judentum vorbehaltenen Sonderweg: Das Ideal des Christentums ist das der unendlichen Resignation, das Ideal des Judentums das Diesseitswunder, die durch das Paradox zurückgewonnene Endlichkeit. (BROD 1921: 294) Liebe als letzte Instanz der messianischen Hoffnung in der Welt Brod hat damit das zentrale Thema seines Schreibens gefunden. 3. Erlösungssucher und Erlöserinnen Die hier in Grundzügen nachgezeichnete geistige Biographie findet ihren Ausdruck im literarischen Oeuvre. Brod hat in jedem seiner frühen Bücher die Bilanz eines zurückliegenden Lebensabschnittes gezogen. So verwundert es nicht, dass die von ihm verfassten Figuren im eigentlichen Sinne Projektionsflächen aktueller oder bereits überwundener geistiger Programme sind. Das gilt insbesondere hinsichtlich seines Bekenntnisses zum Judentum und der bereits angesprochenen messianischen Aspekte: Der durch eine unheilbare Krankheit ans Bett gefesselte Jüngling Lo in der Novelle Indifferentismus (aus Tod den Toten!, 1906) wird erst gerettet durch sein Sichselbstausderweltschaffen. Bereits in der Titelnovelle wird das Ende der Kunst gleichsam als rettendes Inferno gepriesen. Die Menschheit habe diesbezüglich drei Schritte zu tun: der erste führt sie an den Flammen des Sinai vorbei in die Religion, der zweite durch die Scheiterhaufen der Reformatoren aus der Religion in die Kunst, der dritte durch den Brand der Kunstmagazine in die Freiheit oder den Tod (Brod 1906: 17). Brods Romanheld Walder Nornepygge (Schloß Nornepygge, 1908) ist die personifizierte Abrechnung mit dem Indifferentismus. Walder muss in seiner O- dyssee durch die Gesellschaft der Jahrhundertwende schmerzlich erfahren, dass ihm die bewusstlose Tat kaum mehr Freiheit bringt als das verfluchte tatenlose Bewusstsein (HEYDENBLUTH 1990: 176f.). Sein Selbstmord, als letzter Akt der Selbstüberwindung, steht gleichsam für jene öde Konvention des Radikalismus, die Brod später am literarischen Aktivismus verwirft. 211

101 212 Modernekritik und literarischer Messianismus bei Max Brod Der Roman Arnold Beer. Schicksal eines Juden (1912) stellt bereits dezidiert die Frage nach der jüdischen Herkunft und markiert so neben Jüdinnen (1911) ein frühes Entwicklungsstadium des Geisteszionisten Max Brod. Reichlich ausgestattet mit autobiografischen Zügen (BROD/KAFKA 1989: 238), steht der Protagonist Beer für den Typus des hochgebildeten assimilierten Juden, der sich jedoch nicht zur entscheidenden Tat durchringen kann. Tycho Brahes Weg zu Gott erscheint 1915 und vollzieht die Konsequenz eines weiteren Schrittes. Wenn Brod seinen Roman in der Epoche der Renaissance ansiedelt, so ist das als eine deutliche Anspielung auf die jüdische Renaissance zu verstehen. Die historische Gestalt des Prager Hofastronomen Tycho Brahe verkörpert hier die Problematik des modernen, wurzellosen Juden in einer Welt ohne Ordnung. Dieser Analogie wird sich der Romanheld an einer entscheidenden Stelle des Buches selbst bewusst: [...] nun erschien ihm wirklich das Volk der Juden, heimatlos und flüchtig wie er, stets angefeindet wie er, in seiner Lehre mißverstanden wie er und dennoch an ihr festhaltend, ausgeraubt und verwundet wie er, dieses Volk der Mißerfolge, förmlich als ein Symbol seines eigenen Lebenswandels. Es fiel ihm ein, daß er sich schon früher einmal mit Ahasverus, dem ewigen Juden, verglichen hatte[...]. (BROD 1916a: 387) Mit dem jungen Gelehrten Keppler, dessen Individualismus Tychos Suche nach universeller Wahrheit zu gefährden droht, wird erneut die Frage nach Welterlösung oder Individualerlösung aufgeworfen. Den Ausweg aus dem Dilemma weist Rabbi Löw: Tycho erkennt, dass Gott seiner tätigen Mithilfe, ja seines Opfers bedarf und wird so schließlich zum Bahnbrecher einer neuen Ordnung ( BROD 1916a: 387ff.). Brods Buch Das große Wagnis von 1918 ist eine in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte (selbst)kritische Auseinandersetzung mit Entwürfen der Menschheitserlösung. Der utopische Roman malt zunächst die Zukunftsvision einer schönen neuen Welt: Während in Europa dauerhaft Krieg tobt, haben Dissidenten und Deserteure in einem unterirdischen Höhlenreich einen Staat der Freiheit Liberia gegründet. Nach der Idee ihres Anführers Dr. Askonas basiert diese Gesellschaft auf einer Kollektivmoral, die jede Form von Individualismus unterdrückt. In der Überzeugung, dass die Paradoxie von Tat und Ethos im Individuum nicht zu lösen sei, sondern nur Konflikte hervorbringe, praktiziert man die innere Befreiung des Einzelnen und verzichtet auf Individuelles wie Eigennamen oder Leidenschaft. Die Menschheit werde Gerettet durch Entparadoxierung so verspricht es das System Askonas. Oder wie einer der Anhänger erläutert: Früher in der Vorzeit, das heißt vor dem Auftreten des Doktor Askonas, versperrte sich jeder wie einen papinschen Topf, unter dem Deckel des bösen Gewissens wollte er seine Sittlichkeit gar kochen [...]. Man genoß das frevelhafte Glück, nie mit sich selbst fertig werden zu können, sich daher nie um andere kümmern zu müssen [...]. Die Moral blieb im Paradox stecken. (BROD 1918a: 63) Ekkehard W. Haring Der träumerische Protagonist des Romans lernt Liberia allerdings bald schon als eine Art Strafkolonie kennen, in der die Werte von Liebe und Freiheit pervertiert werden. Zweifel kommen ihm insbesondere am Messianismus des Leiters: Wer ist dieser Doktor Askonas? Ein Erlöser, der sich seinem Traum zum Opfer bringt [...]? Oder ein Fallensteller, eine Verbrechernatur, die ihre dunklen Instinkte unter dem Deckmantel der Messianität austobt? (BROD 1918a: 80) Er wie auch Askonas erkennen durch die Zionistin Ruth, dass die Umsetzung ihrer großen Träume nicht nur der Tat bedarf, sondern auch des richtigen Wollens. Für Ruth ist dies eine Frage des Instinkt(s) für gute schnelle Entscheidungen in jedem Menschen (BROD 1918a: 100f.). Ein von ihr unter dem Namen Das große Wagnis entwickeltes Übungsspiel soll junge Menschen auf ihr Leben vorbereiten, indem es trainiert, im rechten Augenblick, entschlossen und leicht das Entscheidende zu tun. Doch die instinktive Ausrichtung auf das richtige Wollen bleibt für die meisten ein nicht vermittelbarer Lehrstoff. So muss auch das Experiment Liberia letztlich scheitern, da es vom entscheidenden Instinkt niemals geleitet wurde. Askonas Utopie geht in den Flammen eines bewaffneten Aufstandes unter; sein Alter Ego, der Protagonist indes wird zum Verkünder einer wahren Renaissance: Wo bisher Hoffnung auf Gnade war, dorthin stelle ich Ruths Hoffnung auf eine neue Jugend und auf die großen Führer der Jugend und auf den größten Führer, auf den Messias, der kommen wird... (BROD 1918a: 333). Bemerkenswert an diesem heute fast vergessenen Roman von 1918 ist nicht nur der kritische Umgang mit gesellschaftlichen Utopien aus der Sicht des Kulturzionisten, sondern vor allem das Ringen des Autors um eine lebenspraktische Orientierung im Spannungsfeld Aktivismus Ethik, Welterlösung Individualerlösung. Eines ist unübersehbar: Brod sucht nach Perspektiven eines dritten Weges, aber man könnte angesichts seiner mitunter gewagten Synthesen den Eindruck gewinnen, er sei 1918 da angekommen, wo er zehn Jahre zuvor aufgebrochen war bei einer vitalistischen Diagnose der Krankheit der Moderne. Insbesondere seine Romanfiguren Max und Ruth scheinen das in der Balance von Schwäche Stärke, Krankheit Gesundheit, Geist Tat, Entschlusslosigkeit Willenskraft zu unterstreichen. Inzwischen hat Brod freilich einen weit schärferen Fokus für das Unglück moderner Verhältnisse gefunden: die westjüdische Zeit. Die vitale Figur in diesem Kosmos ist weiblich und führt den schwachen Helden aus den Verstrickungen der Assimilation in ein Zion des Herzens und des gesunden Menschenverstands (BROD 1918a: 330ff.). Die 1918 in Briefen ausgegebene und am Roman leitmotivisch vorgeführte Devise von der Frau als Führerin ist neu. Ihre Vorboten trifft man aber bereits in frühen Werken Brods an. Anders als die von Unglück und Krisis ange- 213

102 214 Modernekritik und literarischer Messianismus bei Max Brod kränkelten männlichen Charaktere repräsentieren Frauenfiguren in seiner Dichtung meist Natürlichkeit, Lebenskraft, Entschlossenheit und Ursprünglichkeit. Brod umgibt diese Gestalten zumeist mit einer Aura der Erotik; sie stehen symbolisch für jenes Arkadien, an dem die Welt gesunden soll. In den Jahren seit 1912 gestaltet er Frauenfiguren mit betont messianischen Zügen. Der Erzähler in Das Ballettmädchen (1913) etwa stellt sich und dem Leser die zentrale Frage, [...] ob die Frau imstande sein wird, die ihr eigentümliche schöne Gesetzlosigkeit auch noch in unserem Zeitalter, in dem die Dinge schon zum Erschrecken mechanisiert sind, aufrechtzuerhalten (BROD 1990: 52). Aufschlussreich sind diesbezüglich insbesondere die dramatischen Entwürfe der Jahre 1912 bis In ihnen tritt ein Typ Frau in Erscheinung, den Brod als jüdische Heroine konzipiert; Heroisches in unheroischer Zeit soll vorgeführt werden. Im bürgerlichen Läuterungsdrama Die Retterin (1912) ist es das Mädchen vom Lande, Hanna, das tatkräftig in den zerrütteten städtischen Verhältnissen für Liebe und Menschlichkeit eintritt, dafür gedemütigt wird und schließlich bei einer Revolte zur Retterin avanciert. Aus der Märtyrerin ist eine Führerin geworden; in Ekstase ruft sie den tobenden Volksmassen zu: [...] glaubet nicht, daß die Erlösung unmöglich sei und die Erde starr bis in ihre Geweide. Glaubet das nicht. Ich sage vielmehr: es kommt die Zeit, die all euer Böses umwirft und die alle Erden in Luft zersprengt. Diese Zeit aber, sie ist da, es ist die Zeit eines jeden guten Herzens [...]. Steht nicht mehr, handelt, tut etwas! (BROD 1913c: 97f.) In Eine Königin Esther (1918) ist der Handlungsimperativ bereits komplexer verarbeitet. Brod bedient sich bei der Adaption des biblischen Stoffes einiger bemerkenswerter Kunstgriffe. So ist Haman, der Vertreter eines negativen Prinzips, ein sich selbst hassender Jude, der Esther auffordert, ihn zu töten. Esther hingegen, zunächst Inkarnation makelloser Reinheit, wird erst zur erlösenden (Mord)Tat fähig, nachdem sie Hamans Lehre in sich aufgenommen hat, um sie dann zum Wohle ihres Volkes umzusetzen. Auf die Frage nach dem Sinn einer in Schuld verstrickten Tat-Ethik, antwortet die Heldin: Vielleicht, damit wir besser werden. Hamans Erbe sollte uns eingeimpft werden, wir sollten es fühlen und überwinden (BROD 1918b: 157). Das Wagestück einer solchen homöopathischen Läuterung ist unschwer zu erkennen. Im Bewusstsein, dass Esther eine fast übermenschliche Verantwortung übernimmt, lässt Brod sie dem jüdischen Volk zurufen: schämt euch, daß ihr so feig wart, auf meine Tat zu warten (BROD 1918b: 134). 3 Der dramatische Dialog Erlöserin. Ein Hetärengespräch (1921) setzt die Reihe der Retterinnen fort. Hier wird geradezu lehrstückhaft vorgeführt, was Brod in seinen religionsphilosophischen Schriften erarbeitet hat. Der Besuch eines ho- 3 Siehe dazu auch die Ausführungen von BAYERDÖRFER (1987: 166ff.) Ekkehard W. Haring hen Diplomaten bei einer Prostituierten er assimilierter Jude, sie Zionistin nimmt einen überraschenden Verlauf. Indem die Frau ihrem Gegenüber begreiflich machen kann, dass ihre Tat zwar verworfen, aber aufgrund ihres uneigennützigen Opfers für ein Besiedlungsprojekt in Zentralasien ebenso heroisch ist, und überdies dem Mann erlaubt, schuldlos zu sündigen, gewinnt sie dessen höchste Verehrung. Im Gegensatz zum Politiker weiß die Hetäre instinktiv das Gute zu tun. Skeptisch gegenüber den tradierten ethischen Gesellschaftsentwürfen Mitteleuropas fragt sie: Müssen wir Juden das nachahmen? (BROD 1921b: 7). Wie sich unschwer erkennen lässt, geht es Brod in dem Stück um eine anschauliche Darstellung der menschlichen Seinsbereiche edles Unglück (Sphäre der Triebe und Leidenschaften) unedles Unglück (Sphäre der Politik) mit Perspektive auf das Diesseitswunder der Liebe. Mag es auch am Ende nicht gerade überzeugen, wenn der hohe Diplomat vor der heiligen Schamlosigkeit seiner Erlöserin auf die Knie fällt (BROD 1921b: 37 41), so wird doch einmal mehr klar, wie sehr das Konzept Frau als Führerin an Diskursen der jüdischen Renaissance mit ihren klassizistischen Wertevorstellungen orientiert ist. Doch Brods Ideal der jüdischen Frau, die, sich selbst aufopfernd, die Welt von Ambivalenz befreit, kann keinen wirklichen Ausweg aus der Krise der Moderne weisen. Ihr Weg führt mitten durch diese Krise hindurch und verliert sich darin. In dieser Hinsicht erweisen sich die heroisch-erotischen (Ver)Führerinnen schlechthin als realitätsferne Fantasmagorien eines Dichters. Auch das Ideal der jungen galizischen Ostjüdinnen, die während des Krieges 1916 in der Prager Flüchtlingsnotschule Zuflucht suchen und von Brod emphatisch als lebendige Inkarnationen des jüdischen Geistes gefeiert werden, ist blind für die Wirklichkeit: 4 Wenn rings die Welt sich toll zerreißt: Von einer höhern Macht gespeist, Lebt ihr und rüstet euch weiter. Ihr tapfern Mädchen: Ihr seid der Geist! (BROD 1918: 18) In der verklärenden Sicht des Dichters zählen nur die wahrhaftige Naivität des Geistes und innige Mischung aus Natürlichem und Erhabenem dieser Mädchen als Führerinnen nach Zion, weniger hingegen ihre wirklichen Bedürfnisse oder Befindlichkeiten zu Zeiten des Krieges (Brod 1916d: 34ff.). 4 Aus den Mitteln eines Flüchtlingsnotfonds wird von engagierten Prager Juden 1916 eine Flüchtlingsschule eingerichtet, in der Brod Seminare für klassische Literatur abhält. Bereits 1915 zählt man in Prag rund Flüchtlinge. Erst mit der Erklärung Prags zum Sperrgebiet für galizische Flüchtlinge wird der Zustrom gedrosselt. Als Mai 1916 weitere Ostjuden in Böhmen eintreffen, werden diese auf die umliegenden Dörfer verteilt (ROSENBAUM 1917). 215

103 Modernekritik und literarischer Messianismus bei Max Brod So zeigt sich gerade im Gestus energischster Selbstbehauptung immer auch Brods Ratlosigkeit angesichts der Katastrophen seiner Zeit. Seine Figuren demonstrieren diese Ohnmacht, selbst wenn sie sich mit einem das Absurde aushaltenden Humanismus (BÄRSCH 1992: 61) über das Unglück erheben. Gerade darum, weil Brod keine adäquate Antwort auf die drängenden Probleme seiner Zeit finden kann, bleibt sein Schreiben vom Wunsch nach unbedingter Tat, Verwirklichung und Erlösung durchdrungen. Mangel und Euphorie treiben diese Suche unablässig voran sie bilden das vielleicht beständigste Fundament seines Messianismus. 4. Epilog Brods exemplarische Zerrissenheit, sein Engagement und die aufreibende Vitalität seines vielseitigen Wirkens lassen sich im Rahmen dieses Beitrags nur andeuten. Auf seine Aktivitäten als Musiker, Librettist, Übersetzer, Herausgeber, Nachlassverwalter Kafkas, Kunstkritiker, Talenteförderer, Flüchtlingsnothelfer, Pazifist, Taylorismus-Gegner, zionistischer Politiker und nicht zuletzt als Prager Impresario bleiben daher unberücksichtigt (WELTSCH 1934). Brod ein nicht immer bequemer Zeitgenosse, der die Praxis eines tätigen Humanismus genauso schätzte wie die Exklusivität großer Freundschaftsbünde. Der von ihm selbst in Umlauf gebrachte Topos des Prager Kreises mag eine Erfindung sein, erweist sich jedoch bis heute als tragfähige Konstruktion. Gleichwie, ob innerhalb oder außerhalb geschlossener Zirkel, Brods Teilhabe an den kulturhistorisch innovativen Entwicklungen der Prager Moderne ist unbestreitbar. Zum einen verstand er es wie kein anderer, neue Ideen regional wie überregional zu propagieren. Zum anderen gelang es ihm, Demarkationslinien verschiedenster Parteiungen und Gemeinschaften zu durchbrechen und so ein produktives Netzwerk zu betreiben. Dies nicht nur in seiner Stellung als Jude im zweinationalen Böhmen, sondern auch als aktiver Mitarbeiter von ü- ber 40 literarischen Zeitschriften und Anthologien. Zweifellos erfüllte die multimediale Persönlichkeit Brod besser als jeder andere die Voraussetzungen dazu, Avantgarden zu fördern oder Künstlern wie Kafka, Werfel, Čapek und Janáček zum Durchbruch zu verhelfen (PAZI 2002). Als Quintessenz dieses streitbaren Lebens bleibt freilich ein Paradox bestehen: Der Mann, der mit untrüglichem Gespür die Eliten der klassischen Moderne rekrutierte, sollte selbst keinen Platz im Pantheon der großen Literatur finden. Sein Kampf gegen das verzweifelte Chaos der Moderne brachte letztlich eine Moderne hervor, die ihn literarisch überholte. Und wo einmal seine Dichtung im Brennpunkt gesellschaftlicher Krisen- und Heilsszenarien stand, verstaubt sie heute in den Archiven als das Werk eines Autors ohne Leser und ohne Nachauflage oder um eine Trope Kafkas zu gebrauchen: [...] in gesteigerter Erlösung vergessen.... Literatur Ekkehard W. Haring BÄRSCH, Claus-Ekkehard (1992): Max Brod. Im Kampf um das Judentum. Wien: Passagen. BAYERDÖRFER, Hans Peter (1987): Der bücherfreudige Hirtenknabe. Max Brod und das Theater. In: M. Pazi (Hg.), Max Brod Bern/New York: Peter Lang, BERGMANN, Hugo (1913): Die Heiligung des Namens. In: Vom Judentum. Leipzig: Kurt Wolff, BERGMANN, Hugo (1919): Jawne und Jerusalem. Berlin: Jüdischer Verlag, BROD, Max (1906): Tod den Toten! Stuttgart: Axel Juncker. BROD, Max (1913a) (Hg.): Arkadia. Ein Jahrbuch für die Dichtkunst. Leipzig: Kurt Wolff. BROD, Max (1913b): Der jüdische Dichter deutscher Zunge. In: Vom Judentum. Herausgegeben vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba. Leipzig: Kurt Wolff, BROD, Max (1913c): Die Retterin. Schauspiel in 4 Akten. Leipzig: Kurt Wolff. BROD, Max (1916a): Tycho Brahes Weg zu Gott. Leipzig: Kurt Wolff. BROD, Max (1916b): Unsere Literaten und die Gemeinschaft. In: Der Jude I/ 7, BROD, Max (1916c): Organisation der Organisationen. In: K. Hiller (Hg.), Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist. München: Müller, BROD, Max (1916d): Erfahrungen im ostjüdischen Schulwerk. In: Der Jude I/ 1, BROD, Max (1916/17): Franz Werfels christliche Sendung. In: Der Jude. I/ 11, BROD, Max (1917a): Der Messias. In: Das gelobte Land. Ein Buch der Schmerzen und Hoffnungen. Leipzig: Kurt Wolff, BROD, Max (1917b): Schule für galizische Flüchtlingskinder. In: Das gelobte Land. Ein Buch der Schmerzen und Hoffnungen. Leipzig: Kurt Wolff, BROD, Max (1918a): Das große Wagnis. Leipzig/Wien: Kurt Wolff. BROD, Max (1918b): Eine Königin Esther. Drama in einem Vorspiel und drei Akten. Leipzig: Kurt Wolff

104 Modernekritik und literarischer Messianismus bei Max Brod BROD, Max (1921a): Judentum Christentum Heidentum. Ein Bekenntnisbuch Bd.1. München: Kurt Wolff. BROD, Max (1921b): Erlöserin. Ein Hetärengespräch. Berlin: Ernst Rowohlt. BROD, Max (1990): Notwehr. Frühe Erzählungen. Berlin: Rütten&Loening. BROD, Max/KAFKA, Franz (1989): Eine Freundschaft Briefwechsel. Bd. 2. Hg. von M. Pasley und H. Rodlauer. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag. BUBER (1909): Ekstatische Konfessionen. Leipzig: Insel. BUBER, Martin (1972): Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Bd.1. Heidelberg: Lambert Schneider. HARING, Ekkehard (2001): Wege jüdischer Kafka-Deutung. Versuch einer kritischen Bilanz. In: Das Jüdische Echo. Wien, HERZOG, Andreas (1994): Vom Judentum. Anmerkungen zum Sammelband des Vereins Bar Kochba. In: K. Krolop/H. D. Zimmermann (Hg.), Kafka und Prag, Colloquium im Goethe-Institut Prag. Berlin/New York: de Gruyter, HEYDENBLUTH, Mathias (1990): Nachwort. In: M. Brod, Notwehr. Frühe Erzählungen. Berlin: Rütten & Loening, KÖRNER, Josef (1917): Dichter und Dichtung aus dem deutschen Prag. In: Donauland 1, Wien, KOHN, Hans (1913): Der Geist des Orients. In: Vom Judentum. Herausgegeben vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba. Leipzig: Kurt Wolff, MATTENKLOTT, Gert (1994): Mythologie, Messianismus, Macht. In: E. Goodmann-Thau (Hg.), Messianismus zwischen Mythos und Macht. Berlin: Akademie, PAZI, Margarete (2001): Max Brod von Schloß Nornepygge zu Galilei in Gefangenschaft. In: Staub und Sterne. Aufsätze zur deutsch-jüdischen Literatur. Herausgegeben von Sigrid Bauschinger und Paul Michael Lützeler. Göttingen: Wallstein, RODLAUER, Hannelore (1999): Was habe ich mit Juden gemeinsam? Franz Kafka und die Gemeinschaft. In: Das jüdische Echo. Wien, ROSENBAUM, Heinrich (1917): Die Prager Flüchtlingsfürsorge. In: Das jüdische Prag. Prag: Selbstwehr, 55f. WELTSCH, Felix (Hg.) (1934): Dichter, Denker, Helfer. Max Brod zum 50. Geburtstag. Mährisch-Ostrau: Keller. Ekkehard W. Haring WELTSCH, Robert (1913): Herzl und wir. In: Vom Judentum Herausgegeben vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba. Leipzig: Kurt Wolff, WELTSCH, Robert (1920): Gnade und Freiheit. Untersuchungen zum Problem des schöpferischen Willens in Religion und Ethik. München: Kurt Wolff

105 DIE PROVINZ. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen Mirek Němec Im Januar 1924 erschien im Weimarer Utopia-Verlag die erste Nummer der Zeitschrift DIE PROVINZ. MONATSSCHRIFT FÜR DIE TSCHECHOSLOWAKEI. Der Gründer und Besitzer des Verlags Dr. Bruno Adler (= Urban Roedl) wird neben Dr. Ernst Sommer und Ernst Bergauer, sämtliche in Karlsbad (DIE PROVINZ 1924/1: 32), wo auch die Zeitschrift gedruckt wurde, als Herausgeber genannt. Die kulturpolitische Revue bekam den Titel DIE PROVINZ, denn nicht der Welt und der Menschheit, sondern der Provinz ist diese Zeitschrift gewidmet (ANONYM 1924: 2). Der einfache Titel war auch Programm und verrät viel über die Intention der Herausgeber. Es ist daher aufschlussreich, die Bedeutung des Wortes Provinz zu interpretieren. Sie verschob sich im Laufe der Zeit und ist nicht eindeutig. Zunächst bezeichneten die alten Römer damit ein Gebiet, welches sich außerhalb vom römischen Stammland befand, aber immerhin noch in ihrem Herrschaftsbereich lag. Später wurde mit dem Begriff allgemein ein größeres Gebiet bezeichnet, welches eine staatliche oder kirchliche Verwaltungseinheit bildete. Im Laufe der Zeit änderte sich die Bedeutung des Wortes Provinz und bezeichnete nun den Gegenpol der Metropole oder des Zentrums. Diese Bedeutung war auch für die Herausgeber der Zeitschrift relevant. Für sie stand die Provinz in einer Opposition zur Großstadt, zum Fortschritt und der Moderne. Sie zeichnete sich durch Rückständigkeit, durch Antimoderne und Kulturpessimismus, durch Heimatideologie und Heimatkunst, durch Konservatismus und Enge aus (MECKLENBURG 1982: 16f). In diesem Sinne war DIE PROVINZ für die Herausgeber ein Hoffnungsträger. Bruno Adler sah, unter Bezugnahme auf Oswald Spengler, in der PROVINZ die mögliche Rettung des Abendlandes (ROEDL 1924: 12 16). Er war der Ansicht, dass im durch Inflation, Putschversuche und wachsenden Nationalismus gepeinigten Europa der Zwischenkriegszeit die Kultur ihre Seele allmählich verliert und dem unweigerlichen Verfall ausgeliefert sein wird. Einer Idealisierung der zeitgenössischen Provinz standen die Herausgeber jedoch fern, existierte doch eine abgesonderte, heilbringende, von den Anzeichen des Verfalls unberührte Provinz nirgendwo mehr in Europa. 1 1 Die französische Provinz wird den Lesern der PROVINZ in zwei Artikeln nahe gebracht. Siehe Laforgue, Jules (1924): Sonntag in der Provinz. In: DIE PROVINZ, Nr. 3 4, 109f.; Philippe, Charles Louis (1924): Französische Kleinstadt. In: DIE PROVINZ, NR. 5 6, Die sowjetische Kleinstadt und ihre Reaktion auf den Tod Lenins wird geschildert im anonymen Artikel: Lenin. In: DIE PROVINZ 1924/2, 57f.

106 Die Provinz. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen Das Ziel der Zeitschrift bestand darin, negative Entwicklungen in den vorwiegend deutsch besiedelten Gebieten der Tschechoslowakei, die sich 1918 als vier Provinzen Deutsch-Österreichs proklamierten 2, anzuprangern und die hier lebenden Einwohner aufzuklären und zu bilden. Diese Grenzregionen der Tschechoslowakei sollten allmählich die negativen Konnotationen des Wortes Provinz verlieren, was auch aus dem Leitartikel der ersten Nummer hervorgeht: Noch nie waren die grossen Töne und Themen so beliebt, und noch nie war es so notwendig, das Geringere und freilich so viel Schwere zu tun: Die Wirklichkeit zu erkennen und nach ihren einfachen Gesetzen das zunächst Liegende zu tun; das Endliche, das Erreichbare zu wollen; zu scheiden, zu unterscheiden, sich zu entscheiden; alle Ideologien preiszugeben, nicht die Welt zu verbessern, sondern das bißchen Leben, das in den Bezirk des Einzelnen eindringt und von ihm ausgeht. Die Weltstädte, der Weltkrieg, die Weltblätter haben den Quantitätswahn gezüchtet und dem kleinsten Kerl ist der grösste Wirkungskreis kaum gross genug. So wird nichts bewirkt. Welt und Menschen bleiben wie sie sind, solange der Einzelne, die Gemeinde, das Land nur sie, nicht sich ändern wollen. (ANONYM 1924: 2 ) Bruno Adler hoffte, in den vier deutschböhmischen Provinzen den drohenden Verfall der deutschen Kultur verhindern zu können. Die hier vorwiegend in den Kleinstädten lebenden Leser seiner Zeitschrift würden seine Utopie verwirklichen, soweit sie durch erzieherische Arbeit aufgeklärt würden. Hier sollte die private Sphäre jedes Einzelnen seine Provinz angesprochen werden, wobei auf jede Ideologie verzichtet werden sollte. Dadurch könne aus den heute halbtoten Provinznestern jene rettende Kleinstadt werden. Diese Kleinstadt könnte die Zivilisation retten (ROEDL 1924/1: 16). Das Ziel der kulturpolitischen Zeitschrift DIE PROVINZ war, der deutschböhmischen Provinz zu helfen. Außer einem nicht reparierten Bahnhofsgebäude, einer bodenlos schmutzigen Bahnhofsstraße, zwecklosen Geschäften, dem Bismarckturm und dem Marktplatz, wo die Stadtjugend mit einem Hakenkreuz exhibitioniert, seien keine weiteren Sehenswürdigkeiten in der deutschböhmischen Kleinstadt zu nennen. Noch schlimmer sei es mit dem kulturellen Angebot. Der Stolz der Stadt sei der an jedem Nachmittag hier anhaltende D-Zug, der aus einer Großstadt in die andere fährt. Eine Konkurrenz zu diesem alltäglichen Ereignis des Mirek Němec großen Lebens könnte die hier täglich erscheinende Zeitung mit einem echten Schriftsteller darstellen, wenn in ihr nicht nur Begräbnisse eines biedern deutschen Mannes oder einer echten deutschen Hausfrau stünden. Die Fauna wird, außer den Wanzen im Hotel, von Fliegen und Flöhen vertreten. Im hiesigen Café sei das Gebäck gezählt und immer von gestern. Denn hier [in der Provinz] gäbe es kein Heute. (ROEDL 1924: 58 60) Diese schmutzige, ewig gestrige Kleinstadt ohne Niveau könne noch durch Bildung gerettet werden. In den Deutschen sollten durch das Heben des kulturellen Niveaus und das Lesen geeigneter Lektüre die Europäer entdeckt werden. Die ganze deutsche Frage sei heute eine Angelegenheit der Erziehung, der Gesittung, der Bildung [...], mahnte Walter Tschuppik in der ersten Nummer der Zeitschrift in seinem Artikel Friedrich Nietzsche und die Deutschen in Böhmen. Und am Ende seines Artikels forderte er die Elite an der deutschen Prager Universität auf, den geistigen Verfall seiner Landsleute aufzuhalten: Lesen Sie, meine Herren Professoren, Nietzsche! (TSCHUPPIK 1924: 17 20) 3 Den Deutschböhmen 4 sollte die Zeitschrift eine Stütze sein, mit der sie sich in der modernen Welt orientieren können. Die Leser sollten zum Kennenlernen ihrer unmittelbaren kulturellen Umgebung und zum Verständnis und Nachdenken über sich selbst angeregt werden. DIE PROVINZ war in der damaligen Presselandschaft der Tschechoslowakei, welche in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts über 4000 Titel aufzuweisen hatte (JEZDINSKÝ 1982: 137), ein einzigartiges Zeitschriftenprojekt. Die unabhängig von Partei- und Klasseninteressen stehende deutschsprachige Zeitschrift brachte auch als erste in der neu gegründeten Tschechoslowakei positive Impulse für die Verständigung zwischen Tschechen und Deutschen. Eine solche Absicht, zwischen den Deutschen und Tschechen in den böhmischen Ländern eine Brücke zu bauen und den seit dem 19. Jahrhundert andauernden wechselseitigen Boykott kultureller Leistungen zu überwinden, verfolgen bereits einige noch vor der Gründung der Tschechoslowakei herausgegebene Zeitschriften. Eine wichtige Rolle fiel den bilingualen Prager Schriftstellern jüdischer Abstammung zu, die durch ihre Übersetzungstätigkeit und Herausgabe von Literaturanthologien eine Vermittlungsrolle übernahmen. 2 Ursprünglich handelte es sich um Gebiete im Grenzland der Tschechoslowakei, welche sich 1918 als Provinzen Deutsch-Böhmen, Sudetenland, Böhmerwald und Deutsches Südmähren deklarierten und den Anschluss an die Republik Deutsch-Österreich (eigentlich an die Weimarer Republik) forderten. Dieses Ziel konnte nicht verwirklicht werden; die Versailler Konferenz verbot nicht nur den Anschluss dieser Gebiete, sondern auch den der Republik Deutsch-Österreich an das Deutsche Reich, das dieser Forderung gegenüber ebenfalls reserviert war. Die vier in der Mehrheit deutschsprachigen Gebiete wurden der Tschechoslowakei zugeschlagen. Durch diesen Entschluss begann sich immer stärker eine sudetendeutsche Identität herausbilden, als Bezeichnung für diese vier Gebiete setzte sich der Begriff Sudeten durch Man kann nur vermuten, dass Tschuppik vor allem an die kritischen Bemerkungen gegenüber dem Deutschtum dachte. Vgl. dazu die einschlägigen Texte von Friedrich Nietzsche: Was den Deutschen abgeht. In: Götzendämmerung. Stuttgart 1990, , vor allem 123f.; Der Fall Wagner. In: Ecce Homo. Stuttgart 1990, , hier 393, 394 und Das sich nach 1918 schnell verbreitende Appellativum sudetendeutsch für die deutschsprachigen Einwohner Böhmens, Mährens und des ehemaligen Österreich-Schlesiens, das zu dieser Zeit schon einem politischen Bekenntnis glich, wird in der Zeitschrift kaum verwendet. Dies kann als eine Absage der Herausgeber an die politische Einigungsbewegung der Sudetendeutschen gesehen werden, welche durchaus irredentistische Züge besaß. 223

107 224 Die Provinz. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen In diesem Kontext entstand im Jahre 1911/12 die Zeitschrift HERDER- BLÄTTER, die von Willy Haas, Norbert Eisler und später Otto Pick herausgegeben wurde und der kulturellen Vermittlung diente. Leider wurde sie nach fünf Nummern eingestellt. Die vom Januar bis November 1918 in Brünn herausgegebene expressionistische MONATSSCHRIFT FÜR KULTUR DER MENSCH, in der Beiträge von Tschechen sowie Deutschen erschienen, wurde nach der Doppelnummer im November 1918 ebenfalls eingestellt (REISS 1918). Nun wurde diese Tradition mit der PROVINZ fortgesetzt, diesmal jedoch nach dem Triumph des Nationalitätsprinzips (HOBSBAWM 1991: 155) im Jahre 1918/19. Es ist erstaunlich, dass dieser Versuch bis heute so wenig Interesse in der Forschung gefunden hat. In der wissenschaftlichen Literatur wird DIE PROVINZ meistens in einem A- temzug mit der in den Jahren 1928, 1929 und 1931 von Josef Mühlberger und Johannes Stauda herausgegebenen Zeitschrift WITIKO genannt, denn beide Zeitschriften haben einiges gemeinsam. Über die Zeitschrift WITIKO sowie ihren Herausgeber Josef Mühlberger wurden in den letzten Jahren mehrere wissenschaftliche Beiträge verfasst. 5 WITIKO wird heute als die Brücken- Zeitschrift zwischen den Tschechen und Deutschen, aber auch zwischen der Metropole und der Provinz hervorgehoben (BERGER 1991/92). Der Mangel an Interesse der Forschung für DIE PROVINZ mag in ihrem geringeren Umfang im Vergleich zu WITIKO liegen. 6 Im Laufe von 10 Monaten erschienen 1924 in unregelmäßigen Abständen lediglich 8 Nummern. Dass DIE PROVINZ noch vor 1926, also vor der Ära der sudetendeutschen aktivistischen Politik, für die Verständigung der geistigen Verwandten über alle nationalistischen Schranken hinweg, gegen den nationalpolitischen Machtwahn, gegen patriotischen Hochmut auf welcher Seite auch immer (ANONYM 1924: 3), eintrat, bleibt weitgehend unberücksichtigt. Genauso wie die Tatsache, dass die anvisierte Annäherung nicht nur, so B. Adler (Urban Roedl) in der Verlagsanzeige des Doppelheftes Nr. 3 und 4. im Februar 1924, von einem ehrlichen kulturellen sondern auch politischen Verständigungswillen getragen wurde. DIE PROVINZ wird in drei biographischen Arbeiten behandelt. Am ausführlichsten wurde die Zeitschrift in Stefan Bauers biographischer Arbeit über Ernst Sommer (= BAUER 1995) gewürdigt, wobei Bauer einige Ungereimt- 5 Siehe hierzu BECHER (1989: 56f.), BERGER (1990); SERKE (1987: 208); ZEMAN (1999: 145). 6 Es sind nur wenige Ausgaben von der PROVINZ erhalten geblieben. Ich arbeitete mit einer Kopie der Zeitschrift, die mir über die Fernleihe aus dem Marbacher Literaturarchiv geliehen wurde. Mirek Němec heiten und Ungenauigkeiten unterlaufen sind. 7 Auch in der Sommer- Biographie von Věra Macháčková-Riegerová (1969) wurde die Zeitschrift berücksichtigt. Joachim W. Storck (1991) schließlich erwähnt DIE PROVINZ in seinem Artikel über Bruno Adler. Alle drei Herausgeber der Zeitschrift DIE PROVINZ waren jüdischer Abstammung, doch eng an die deutsche Kultur gebunden. Sie lebten und arbeiteten in deutschsprachigen Gebieten und kannten die Isolation des dreifachen Gettos 8 nicht, wie die deutschsprachigen Literaten und Journalisten jüdischer Abstammung aus Prag. Die tschechische Kultur und Sprache war für sie fremder als für die Prager. Daher waren sie für die Vermittlungsrolle nicht gerade prädestiniert. Ihre Motivation und Gründe, die zur Herausgabe dieser kulturpolitischen Revue führten, mussten anders sein als die von den Prager Schriftstellern. Die Lebenssituation und der Lebensweg der Herausgeber könnten in diesem Zusammenhang relevant sein. Bruno Adler rief die Zeitschrift ins Leben 9, verlegte sie in seinem Verlag in Weimar und verfasste die meisten Beiträge 10, die er entweder mit seinem Namen oder mit dem Anagramm Urban Roedl, manchmal nur mit Initialen B.A. bzw. U.R. unterschrieb. Er kam in einer jüdischen, kleinbürgerlichen Familie im Jahre 1888 in Karlsbad zur Welt. In dem Weltkurort verbrachte er auch seine Jugendzeit. Nach der Matura in Prag begann er in Wien Kunstgeschichte zu studieren. Das Studium schloss er im Jahre 1917 mit der Promotion in München ab. Nach einem kurzen Aufenthalt in Wien, wo er als Journalist tätig war, folgte er seinem Freund Johannes Itten, dem Mitgründer des Bauhauses, nach Weimar, wo er als Dozent am Staatlichen Bauhaus arbeitete und den Utopia-Verlag gründete (Vgl. STORCK 1991). Von ihm verlegte Bücher, gebunden in Holz, Fell oder 7 Bauer schreibt z.b. die Initiative zur Gründung der Zeitschrift Ernst Sommer zu: Die Konsequenz aus den Forderungen in seinen [...] Artikeln [...] zog Sommer mit der Gründung einer eigenen politisch engagierten kulturellen Zeitschrift (BAUER 1995: 70), jedoch heißt es auf der nächsten Seite: Als Adler 1924 daranging die Provinz herauszugeben, bat er Sommer und [Bergauer] als Mitherausgeber zu zeichnen, weil er glaubte[,] dadurch die Zeitschrift mehr bodenständig zu machen (BAUER 1995: 71). Nach Bauer gehöre Otto Pick zu den deutschsprachigen Autoren, die einen Beitrag in der Zeitschrift hatten (BAUER 1995: 76), aber schon auf der nächsten Seite, nachdem er die Autoren der Beiträge für die Brünner Zeitschrift DER MENSCH aufgelistet hat, unter ihnen auch Otto Pick, fährt Bauer fort: In der [...] Provinz fehlen diese Autoren. (BAUER 1995: 77). 8 Dieser Ausdruck stammt von Paul (Pavel) Eisner ( ) und wurde von Eduard Goldstücker (1967: 27) übernommen: Die Schöpfer [der Prager deutschen Literatur] hätten auf diesem Deutschprager Inselchen gelebt wie in einem dreifachem Getto einem deutschen, einem deutschjüdischen und einem bürgerlichen. 9 Das geht aus einem von Ernst Bergauer verfassten Brief hervor, den Stefan Bauer in der von ihm verfassten Sommer-Biographie zitiert (BAUER 1995: 70). 10 Sommer ist mit drei signierten Beiträgen, Adler mit zehn vertreten. Einige Artikel sind anonym, dem Stil nach von Adler verfasst. 225

108 226 Die Provinz. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen Schildpatt, die er mit Originalholzschnitten versah, waren teure, wertvolle Kunststücke kam es zu einer Zuspitzung des Streites um die Konzeption des Bauhauses zwischen den zwei Führungspersonen und Autoritäten Walter Gropius und Johannes Itten. Itten schied aus dem Lehrkörper aus. Im Freistaat Thüringen war inzwischen die [sozialistische] Regierung, die mit Erfolg kulturelle Aufbauarbeit unternahm, von den bürgerlichen Parteien unter forscher Assistenz der Reichswehr gestürzt worden (ROEDL 1924c: 87). Das Bauhaus erhielt keine finanzielle Unterstützung mehr und musste nach Dessau umziehen. Adler hielt sich zunächst noch kurz in Weimar auf, der Hochburg reaktionärer Winckelhuberei (ADLER 1963). Nach einer weiteren Beschäftigung suchend und über die politische und wirtschaftliche Situation in Deutschland enttäuscht, kam er nach längerer Zeit in seinen Geburtsort Karlsbad, nun Karlovy Vary, zurück. Von der Tschechoslowakischen Republik, die eine stabile Währung hatte und sich als ein Hort der Demokratie und Humanität präsentierte, erhoffte er sich bessere Arbeits- und Lebensbedingungen als von der durch wirtschaftliche und politische Unsicherheit geplagten Weimarer Republik (ADLER 1963). Karlsbad war jedoch eine eher kleinere Provinzstadt, die durch den Krieg und die Wirren der Nachkriegszeit viel von ihrem früheren Glanz eingebüßt hatte. Im Jahre 1930 lebten dort Einwohner, davon waren deutschsprachig und tschechischsprachig. 11 Zu den Deutschsprachigen zählte auch eine große jüdische Gemeinde, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu der viertgrößten in Böhmen geworden war (SCHU- BERT 1980: 117). Wie in anderen deutschsprachigen Gebieten der Tschechoslowakei protestierten auch die Karlsbader am 4. März 1919 gegen den Einzug des tschechoslowakischen Militärs und für das Selbstbestimmungsrecht Deutschböhmens. Dabei wurden sechs Bürger vom tschechoslowakischen Militär erschossen. An den nationalistischen Auseinandersetzungen, unter denen die Tschechoslowakei litt, war Karlsbad in besonderem Maße beteiligt (BAHLCKE 1998: 252). In Karlsbad wohnte seit 1920 auch Ernst Sommer, Adlers Freund aus seiner Wiener Studienzeit. Ernst Sommer wurde ebenfalls 1888 als Sohn einer deutschjüdischen Familie in Iglau (Jihlava) geboren. Nach dem Jurastudium in Wien kam Sommer in die Tschechoslowakei zurück, zuerst nach Dux (Duchcov) eröffnete er in Karlsbad seine Anwaltspraxis. Als Mitglied der deutschen sozialistischen Arbeiterpartei (DSAP) engagierte er sich in der Öffentlichkeit, schrieb Beiträge für die in Karlsbad herausgegebene sozialdemokratische Zeitung VOLKSWILLE und die regierungsnahe deutschsprachige PRA- GER PRESSE und war schließlich als Theaterreferent bei der Karlsbader 11 Sudetenland. Wegweiser durch ein unvergessenes Land, Adam Kraft Verlag Würzburg 1993, 178f. Mirek Němec Stadtverwaltung tätig. Zu Sommers Freundeskreis gehörte auch der dritte Mitherausgeber Ernst Bergauer. 12 Adler und Sommer verband das gemeinsame Interesse an Kunst, vor allem an Literatur und ihre humanistische Lebenseinstellung. Bruno Adler, der die Dichter Adalbert Stifter und Matthias Claudius verehrte und ein fleißiger Leser der FACKEL von Karl Kraus war, verurteilte den Nationalismus und Militarismus entschieden. Adler, aus Deutschland zurückgekehrt, bat im Jahre 1923 Sommer und Bergauer als Mitherausgeber der Zeitschrift zu zeichnen, um sie bodenständiger zu machen (BAUER 1995: 71). Sommer schätzte Adler bereits seit der Studienzeit sehr 13, so dass der Zusammenarbeit nichts im Wege stand. Die Herausgeber waren bemüht, neben den deutschsprachigen Autoren Jacob Burckhardt, Oskar Ewald, Josef Sebian, Otto Stoessl, Otto Pick, Walter Tschuppik, Berthold Viertel u.a. möglichst viele Beiträge tschechischer Autoren aufzunehmen. Sie glaubten an die Erziehung der Menschen durch die Literatur. Ein literarisches Werk sollte auf die Menschen positiv wirken, sie zu toleranten Pazifisten im Sinne des Sanften Gesetzes Stifters umerziehen, denn zwischen Mensch und Mensch vermittelt nur noch die Literatur (ANONYM 1924: 1). DIE PRO- VINZ sollte diese Rolle übernehmen. Sie sollte zu der Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen und damit zum Ausgleich der Sprachgruppen und zur Versöhnung der Nationen ermahnen. Ihren gebührenden Platz fanden auf den Seiten der PROVINZ tschechische Autoren wie Karel Čapek, Otakar Březina oder Fráňa Šrámek in Übersetzungen von Otto Pick und Otokar Fischer 14. Außerdem druckten die Herausgeber unter dem Titel Liberalismus einen Auszug aus T. G. Masaryks Russland und Europa. Studien über die geistigen Strömungen in Russland und einen Beitrag von Finanzminister Karel Engliš (in den Jahren ; ). Die Zeitschrift war aber nicht auf deutsch- und tschechischsprachige Autoren beschränkt. So wurden in Übersetzung zwei Beiträge des walisischen Juristen und Ministers William Watkin Davies abgedruckt. Der damals bewunderte und für den größten modernen französischen Dichter gehaltene Jules Laforgue Die Bedeutung von Ernst Bergauer in diesem Zusammenhang scheint mir ziemlich gering zu sein. Es gibt in der Zeitschrift keinen einzigen Beitrag von ihm. Bauer vermerkt, dass sich über Ernst A. Bergauer nur ermitteln lässt, dass er Mitarbeiter des Reisebüros Urania in Karlsbad-Fischern (Karlovy Vary-Rybáře) war und später aus politischen Gründen über England nach New York flüchtete (BAUER 1995: 71). 13 In einem Brief an J. Urzidil vom nannte er ihn mein Orakel in Literaturproblemen (zit. nach MACHÁČKOVA-RIEGEROVÁ 1976: 13). 14 In der letzten Doppelnummer der PROVINZ ist sogar ein Gedicht Šrámeks im tschechischen Original und in Übertragung von Otto Pick abgedruckt. 15 So nannte ihn Willy Haas in seinen Erinnerungen (HAAS 1960: 21). 227

109 228 Die Provinz. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen und der populäre dänische Journalist Anker Kirkeby sind jeweils einmal vertreten. Unter den Autoren kleinerer Beiträge ragt als einziger Nicht-Europäer Mahatma Gandhi heraus. DIE PROVINZ sollte eine Halbmonatschrift sein, ab der Nr. 3 4 wurde sie jedoch nur einmal im Monat als Doppelnummer herausgegeben. Von April bis September 1924 erschien die Zeitschrift nicht. Nach dieser Unterbrechung wurde im Oktober 1924 die letzte Nummer 7 8 der Zeitschrift herausgegeben. Eine einfache Nummer kostete 3,- Kč 16, eine Doppelnummer 6,- Kč. 17 Es gab die Möglichkeit eines preiswerten Abonnements. Von Anfang an kämpften die Herausgeber der Zeitschrift mit dem Problem unzureichender Finanzierung, was nicht einmal durch Werbeanzeigen beseitigt werden konnte. Die Zeitschrift musste einen Weg zu den Lesern finden, was aufgrund von Vertriebsschwierigkeiten und Desinteresse der Leser nicht gerade leicht war. In einem Brief an den (!) Herausgeber, der im Doppelheft Nr. 3 4 vom Februar 1924 von der Redaktion im Artikel DIE PROVINZ und die Provinz abgedruckt und beantwortet wurde, kommt das Problem des stockenden Vertriebs deutlich hervor. Auf einer Reise durch die Republik, schreibt ein anonymer Leser, musste ich von Kaschau bis Eger, von Bodenbach bis Pressburg Die Provinz hundertmal suchen, um sie zehnmal zu finden. Und der Leser fragt weiter, warum sie auf Bahnhöfen, in Buch- und Zeitungshandlungen, in Cafés nicht erhältlich sei? (DIE PROVINZ 1924/3 4: 112) In der Antwort der Redaktion heißt es: Die ersten Hefte der Zeitschrift wurden kommissionsweise sehr reichlich verschickt. Aber ein Beitrag zur Wesenserkenntnis Ihrer und unserer Landsleute die grösseren Sortimenter, insbesondere die deutschen Geschäfte, sandten die Hefte in der Regel uneröffnet zurück, obgleich es weder mit Kosten noch mit Mühe verbunden gewesen wäre, sie für einige Zeit auszulegen oder das Propagandamaterial zu verwenden. (DIE PROVINZ 1924/3 4: 113f.) Weiter wunderte sich der anonyme Leser über die geringe Resonanz auf die Zeitschrift in der Presse. Adler bestätigt dies, da ihn vor allem die DSAP- Presse enttäuscht habe. Die Zeitungen der größten deutschen Partei hätten ü- berraschend geschwiegen, nur die bürgerlichen Tageszeitungen und die Tschechischen Zeitungen hätten sich mit der PROVINZ befasst. Diese Enttäuschung war für die politisch links stehenden Herausgeber tatsächlich bitter, rechneten sie doch damit, unter den Wählern und Sympathisanten der DSAP ihre potentiellen Leser zu finden. Nach der Meinung der Herausgeber trug zu dem Mangel an Interesse auch der Titel der Zeitschrift bei, welcher tatsächlich mehrfach in der Öffentlichkeit kritisiert wurde. Egon Erwin Kisch protestierte unfreundlich gegen den Titel 16 Ein Heft der FACKEL, das in der Nr. 10 etwa 180 Seiten beinhaltete, kostete 15,- Kč. 17 Die letzte Doppelnummer für Oktober 1924 kostete nur 5,-Kč. Mirek Němec der Zeitschrift, doch hatte er, anders als die anderen Kritiker, einen neuen Titel vorzuschlagen: Die böhmischen Wälder sollte die Zeitung heißen, wobei es sich dabei um keine Anspielung auf das Sprichwort böhmische Dörfer handle, sondern Kisch an Herders Kritische Wälder dachte. Der Vorschlag Kischs wurde allerdings nicht aufgegriffen (DIE PROVINZ 1924/2: 32). DIE PROVINZ, die Zeitschrift mit dem dürftigen Titel und dem reichen Inhalt (DIE PROVINZ 1924/2: 63), glich im Äußeren der größten schriftstellerischen Leistung unserer Zeit (PROVINZ 1924/2: 64), nämlich der Zeitschrift DIE FA- CKEL von Karl Kraus 18, die zur Lieblingslektüre von Sommer und Adler gehörte. 19 Die beiden kulturpolitischen Zeitschriften wiesen auch im Inhalt Ähnlichkeiten auf. Im August 1924 beschäftigt sich Karl Kraus in seiner Zeitschrift mit dem Thema Die Sudeten 20. Im Neuen Stadttheater in Teplitz-Schönau (Teplice- Šanov) sollte für sozialistische Arbeiter Die letzte Nacht, ein Auszug aus Kraus Die letzten Tage der Menschheit, aufgeführt werden. Die Intendanz, der vorwiegend Mitglieder der deutschen bürgerlichen Parteien 21 angehörten, protestierte gegen die Aufführung dieses Dramas. Sie sollte verboten werden. Der sich danach auf den Seiten der Presse nämlich den sozialdemokratischen Zeitungen DIE FREIHEIT und DER SOZIALDEMOKRAT und der nationalsozialistischen Zeitung DER TAG entwickelnde Streit wurde von Karl Kraus, der laut DER TAG ein Todfeind des völkischen Gedankens und ein erbitterter Gegner des Deutschtums 22 sei, wiedergegeben und kommentiert: Der Beschluß der Intendanz ist ein klares Zeichen des geistigen Verfalles des deutschen Bürgertums. [...] Den Herren [= Mitgliedern der Intendanz, Anm.] ist es unangenehm, wenn man sie an ihren österreichischen Hurra-Patriotismus erinnert. [...] Die Schauspieler, begeistert von der Größe der zu bewältigen Aufgabe, waren freudig bereit, schwere Mehrarbeit auf sich zu nehmen, das Werk in ihren Freistunden einzustudieren. Da rückte die Theaterintendanz aus. 18 Auf die äußeren Ähnlichkeiten machte schon Věra Macháčková-Riegerová (1976: 16) aufmerksam. Die beiden Zeitschriften wurden im sog. mitteleuropäischen Kleinformat und in der Lateinschrift gedruckt. Jede Nummer der PROVINZ umfasste, wie die ersten Nummern der FACKEL, 32 Seiten. Der Umfang einer Doppelnummer betrug 64 Seiten. Die Ü- berschrift und Ausführung der ersten Seite glichen einander. 19 So machten die Herausgeber in ihrer Zeitschrift auf das 25jährige Jubiläum der FACKEL aufmerksam. In der letzten Nummer wird der Beitrag von Berthold Viertel 25 Jahre Fackel gedruckt (DIE PROVINZ 1924/7 8: Kraus, Karl: Die Fackel, Nr , August 1924, XXVI. Jahr, Dr. Ernst Walther (Deutsche Nationalpartei), Julius Hirsch (Deutsche Nationalpartei), Karl Scholze (Christlichsozialer), Josef Watzlik (Dt. Nationalsozialistische Arbeiterpartei) und Robert Schors (Wirtschaftliche Liste) 22 Der Tag vom 15. Heuerts (Juli) 1924 im Artikel Die Teplitzer Sozialdemokraten als Judenschutztruppe. Der Kampf um den Fackelkraus ein rotes Politikum! (zit. nach DIE FACKEL (1924) Nr : 79). 229

110 230 Die Provinz. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen Sie ist ja dazu berufen, über dieses sudetendeutschen Nationaltheaters Reinheit zu wachen, dafür zu sorgen, daß kein undeutsches Stück angeführt werde, kein Stück, das die deutsche Volksseele, dieses überzarte Gewächs, vergiften könnte. [...] Zwar hat keiner der Herren Intendanten je auch nur eine Zeile gelesen, die K.K. geschrieben hat, denn der gute Sudetendeutsche, literarisch hinlänglich geschult an den Dichtungen Hans Watzliks, liest [...] nichts, was ihm warnend als Werk volksvergiftenden jüdischen Geistes bezeichnet wurde. [...] Das ganze deutsche Bürgertum ist einig in der Ablehnung aller Kunst, die über die Watzlik- Höhe reicht, eifrig in der Ablehnung alles Geistigen, das in die Zukunft weist, - es will nichts dulden, was mit seiner Kultur, mit dieser Stammtisch- und Goldschnittlyrik-Kultur, mit dieser radauantisemitischen Hitler- und Ludendorff- Kultur im Widerspruch steht. (DIE FACKEL 1924, Nr , 74 85) Die kulturelle[n] Untat[en] in der deutschböhmischen Provinz, die im Namen des deutschen Volkes verbrochen (DIE FACKEL 1924, Nr , 78) wurden, prangerte seit Januar auch DIE PROVINZ heftig an. Ihre mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Herausgeber verurteilten, genauso wie Karl Kraus, den deutschen Nationalismus und Militarismus. Doch sie blieben nicht bei der bloßen Kritik, sie wollten durch ein gutes Beispiel das geistige und kulturelle Niveau in der Provinz heben und die Einwohner humanistisch bilden. So war in jeder Nummer der Zeitschrift DIE PROVINZ die Literatur stark vertreten. Damit wurde das Ziel verfolgt, eine Hilfe bei der Auswahl einer an Verständigung und Versöhnung orientierten Lektüre den Lesern zu leisten. Es wurde nicht nur Nietzsche empfohlen, sondern es wurden Ausschnitte aus dem Werk von Egon Erwin Kisch, Jean Paul, Alfred Polgar oder Adalbert Stifter veröffentlicht. Alle völkischen Autoren wurden dagegen, im Unterschied zu Mühlbergers Zeitschrift, gemieden. Eine Orientierung im Bereich der Literatur boten dem Leser ferner Buchanzeigen und Literaturkritiken. Zwei solche Beiträge haben eine immense Bedeutung, denn sie behandelten die deutschsprachige Literatur in der Tschechoslowakei (s.a. PAZI 1989: 57f.). Der Aufsatz Die Deutschen und der Staatspreis für Literatur (DIE PROVINZ 1924/2: 43 46) von Rudolf Fuchs, den 1928 auch Josef Mühlberger in der Zeitschrift WITIKO abdruckte, und Otto Picks Bestandsaufnahme Deutsche Dichtung der Tschechoslowakei (Pick 1924/ 7 8: ) haben einen gemeinsamen Nenner. Die eigenartige, weil vielfältige, deutschsprachige Literatur aus der Tschechoslowakei hat eine große Aufgabe, eine Berufung, denn sie soll ein Bindemittel sein und dadurch zu der Versöhnung zwischen den Deutschen und Tschechen beitragen. Der böhmische Landespatriotismus Bolzanos 23 sollte wiederbelebt werden. In diesem Zusammenhang wurde auf den Roman Witiko von Stifter hingewiesen, 23 Vgl. zum Bohemismus mehrere Beiträge in brücken. Germanistisches Jahrbuch. Neue Folge 8, 1999, Mirek Němec der weder deutsch noch tschechisch, sondern schlechthin böhmisch sei. (PICK 1924/7 8: ) Adalbert Stifters Werk erlebte nach 1918 eine Apotheose. Nicht nur Germanisten, sondern auch Politiker interessierten sich für den Dichter aus dem Böhmerwald. In Österreich sollte er die Identität des neuen Staates aufbauen helfen. 24 Auch bei den Deutschen in der Tschechoslowakei nahm das Interesse an dem aus Oberplan (Horní Planá) stammenden Dichter zu. Der Prager Germanist August Sauer besprach das Werk Stifters in seinen Vorlesungen und gab es heraus. In der Zeitschrift WITIKO wurden mehrere Artikel über Stifter und sein Werk veröffentlicht, darunter auch Adalbert Stifter als Maler von Arthur Roeßler. Der Artikel ist ein gutes Beispiel für die damalige national vereinnahmende Interpretation und die dem Dichter damals zugeschriebene Tendenz: Das deutsche Volk liebt seit langem schon Adalbert Stifter so innig und treu wie kaum einen zweiten seiner Dichter. Das deutsche Volk ist stolz auf den Leinenkrämersohn aus Böhmenwäldler Bauerngeschlecht, der eine der lautesten Erscheinungen war, die des Volkes Geschichte kennt. Erfreulicherweise wird sich das deutsche Volk dessen auch immer bewußter, dass alles, was Stifter dichtete [...] zu den gehaltvollsten, bedeutsamsten und edelsten geistigen Besitztümern von deutscher Art zählt. (ROEßLER 1928: 201) Bruno Adler maß Stifter und seinem Werk ebenfalls eine große Bedeutung zu, jedoch aus einem anderen Grunde. Adler wurde auf Stifter zum ersten Mal durch DIE FACKEL im Kriegsjahr 1916 aufmerksam gemacht (STORCK 1991: 216). Hiermit begann eine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Dichter und seinem Werk, dessen Quintessenz die Einleitung zur Biographie des Dichters ist: Seligkeit des Schauens und Glück der Gestaltung! Was sich aus Dämmerung frühester Kindheit als erste Erinnerung hervorhebt sind die Erlebnisse und Freuden des Auges. Ein ursprünglicher Formtrieb gibt den Erscheinungen dinghafte Gestalt, und die spielende Phantasie leiht ihnen Namen. Ein Geschöpf ist in die Welt getreten, zu sehen, zu träumen, zu schaffen. (ROEDL 1955: 5) Die harmonisch-idyllische Welt im Werk Stifters, wo durch die unantastbare Wahrheit der Natur und die göttliche Ordnung eine Einheit zwischen Mensch und Natur entsteht, betrachtete Adler als Gegensatz zu der modernen vom Verfall bedrohten Welt. 25 Die Politisierung und das Missverständnis der Werke schrieb Hermann Bahr in seinem Aufsatz Adalbert Stifter. Eine Entdeckung: Das Österreich, das in den Werken (Stifters) lebt, war noch nie, es liegt nicht in der Vergangenheit, es muß erst kommen [...] Der Stiftermensch liegt in der Zukunft, nur der Stiftermensch ist unsere Zukunft (zit. nach: HÜLLER 1928: 140.). Im selben Jahr wurde die Wiener A- dalbert-stifter-gesellschaft gegründet wurde sein Denkmal in Wien enthüllt. 25 In seinem Verlag gab er Stifters Werke heraus und glaubte damit, die Landsleute im Sinne des sanften Gesetzes umerziehen zu können. Von Adler herausgegebene oder geschriebene Werke über Stifter: Adalbert Stifter: Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Wiemar 1922; Adalbert Stifte: Studien. Wien 1922/23; Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Wien 1925; jeweils unter dem Kürzel U.R.: Adalbert Stifter. Geschichte seines Lebens. Rowohlt (Bern 1958 II. Auflage); Adalbert Stifter, Abdias. Versuch einer Deutung. London 1945; (Hg.): 231

111 232 Die Provinz. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen Stifters in seiner Heimat ließ ihn deshalb nicht kalt. In der PROVINZ reagierte er darauf in zwei polemischen Artikeln. Unter dem Titel Der deutschböhmische Heimatdichter. Zur Rettung Adalbert Stifters (DIE PROVINZ 1924/3,4: ) protestierte er gegen Entwertung und Missbrauch des Dichters zu Parteizwecken. Er verurteilte die Meinung mancher Deutschlehrer und bücherschreibenden Ausdeuter und Ausbeuter, die stolz auf Stifter seien, weil er unser Heimatdichter sei. Sie bewundern ihn, weil der Waldwinkel, wo er geboren ist, in die geographischen Grenzen unseres Landes fällt. Denn er war unser. Zwar ein Klassiker, aber ein Landsmann. Aus Stifter einen Heimatdichter und damit einen Vorläufer des Romanschreibers Hans Watzlik zu machen, versuchten auch manche sudetendeutschen Journalisten, indem sie ihren Unsinn in der Sprache Stifters schreiben und glauben, es sei deutsch. Sie schreiben von unserem deutschen Heimatdichter und glauben, es sei Stifter. O Böhmen! 26 Die damalige durchaus politische Interpretation Stifters als sudetendeutscher Dichter belegt indirekt auch die Tatsache, dass der auch aus dem Böhmerwald gebürtige und 1923 verstorbene Karel Klostermann von den damaligen sudetendeutschen Literaturhistorikern überhaupt nicht behandelt wurde, obwohl gerade er, durch seinen Geburts- und Handlungsort sowie auch die Motive seiner Romane und Erzählungen in die Rolle eines Nachfolgers von Stifter sehr gut passen würde. Doch der 1848 geborene Klostermann wandelte sich während seines Lebens von einem deutschschreibenden zu einem tschechischschreibenden Literaten (s. AHRNDT 1995). Mit dem Thema Stifter in der deutschsprachigen Presse der Tschechoslowakei beschäftigt sich Adler noch im Artikel Der Zeitungsroman, den er in der Nummer 2 der PROVINZ veröffentlichte (ADLER 1924: 55 57). Anlass dieses Beitrags war ein kritischer Brief an die Redaktion eines sozialdemokratischen Tagblattes in Westböhmen. Zehn Abonnenten des Blattes äußerten hier ihre Unzufriedenheit über die in diesem Blatt in Folgen abgedruckten Erzählungen und Romane, darunter auch über die Erzählung Abdias von A. Stifter. Adler, der die Bedeutung der Literatur in der Provinzpresse schätzte und die kunsterzieherische Absicht der Redaktion begrüßte, verurteilte die literaturkritischen Leser, die zwar kerndeutsch bis ins Mark, doch aller Kultur und jeden Hauchs deutschen Geistes bar sind, dass sie im Edelgarten deutscher Kunst hausen wie die Schweine im Weinberg. Er lobte die sozialdemokratische Presse, die an die volksbildende Arbeit bedacht ist, und kritisierte die bür- Adalbert Stifter. Lebensbiographie in Bildern. München 1955; (Hg.) Adalbert Stifter in Selbstzeugnissen u. Dokumenten. Hamburg 1965; (Hg.): Adalbert Stifter, Brigitta u. andere Erzählungen. Zürich O Böhmen! Titel des Romans von Hans Watzlik. Die ironischen Anspielungen auf den in der deutschböhmischen Provinz geschätzten Heimatschriftsteller Hans Watzlik sind hier offensichtlich und ähneln denen von Karl Kraus in seiner Kritik des literarischen Niveaus in den Sudeten. Mirek Němec gerliche Presse, die nur Detektivromane veröffentlicht. Allerdings sei, fügt er hinzu, die getroffene Auswahl der Romane nicht geglückt. Er fragt, ob es nicht auch Vandalismus sei, die erhabenen Denkmäler deutscher Prosakunst in drei Spalten täglich zu zerhacken und sie zwischen Korruptionsskandalen, Bezirksnachrichten und Einheiratsinseraten zu verschlungen. So könne man die Meisterwerke der deutschen Literatur, wie z.b. Werke von Stifter, (dessen Sprachkunst heute keine 100 Menschen, die Deutsche zu sein behaupten, verstehen), nicht genießen. Wir wollen uns an den Heiligtümern nicht vergreifen! (PROVINZ 1924:56f.) Als geeignet für die Presse schlägt er der Zeitungsredaktion, da wir die besondere Erzählkunst der Franzosen nicht haben, ein Beispiel: der jetzt in der Wiener Arbeiterzeitung erscheinende wirklich geistvolle Roman Das Absolutum von Karl Čapek vor (ADLER 1924: 57). Adler selbst lieferte gleich einen Beitrag dazu. Noch in derselben Doppelnummer der PROVINZ konnten sich die Leser ein Bild von Karel Čapek, dem wohl populärsten tschechischen Autor dieser Zeit, machen. Sein im Jahre 1923 in der tschechischen Zeitschrift RUCH FILOZOFICKÝ erstmals veröffentlichtes Apokryph Pseudo-Lot also über den Patriotismus 27 wurde in der Übersetzung von Otto Pick abgedruckt. Dieses Apokryph Čapeks stand den Überzeugungen Adlers nah. Nicht verurteilen! lautet die Botschaft dieser Lot-Geschichte, die eine Anklage und ein Aufstand gegen die Ablehnung der Welt ist. Obwohl die Welt schlecht zu sein scheint und selbst Gott sie verurteilt, gibt es doch in dieser schlechten Welt viel Gutes, wofür es sich lohnt, zu kämpfen. Mit dem Schlechten schafft man auch das Gute ab. Jeder Einzelne kann die Welt verbessern, indem er die Ungerechtigkeiten und Unsitten in seiner Umgebung, die ihm begegnen, bekämpft (KLÍMA 1964: 227ff.). Čapeks Grundsatz machten sich die Herausgeber zu eigen. Alle in der PRO- VINZ veröffentlichten Beiträge verfolgten ein Ziel. Sie verurteilten den politischen Extremismus vor allem den Nationalismus der deutschsprachigen Bürger der Tschechoslowakei und hofften auf Abhilfe durch Bildung. Die Versöhnung zwischen den Deutschen in Böhmen (das Wort sudetendeutsch kommt so gut wie niemals vor) und den Tschechen lag den Herausgebern besonders am Herzen. Sie wollten jedoch nicht nur auf dem Gebiet der Literatur und Kunst, wie ihre Vorläufer DIE HERDER-BLÄTTER oder DER MENSCH vermitteln. Gleich nach dem Leitartikel Statt eines Programms äußerte sich Ernst Sommer zum Thema Verständigung. Hier wird die nationale Problematik in der Tschechoslowakei realistisch geschildert: Die Zahl der Unversöhnlichen wird sichtbar geringer, aber [...] eine Verständigung wäre in diesem und im nächsten Jahrzehnt noch nicht möglich [...] Zwar schliessen manche ihren Separatfrieden, [...] der wütendste Hass nutzt sich ab [...] aber auf der anderen Seite ist man 27 Čapek, Karel: Pseudo-Lot čili o vlastenectví. In: Ruch filozofický, 3. Jg., 1923, Nr. 7/8, (HALÍK 1964: 233). 233

112 234 Die Provinz. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen bestrebt, das längst beschmutzte und schadhaft gewordene Aushängeschild der nationalen Phrase neu aufzufrischen. (SOMMER 1924: 5.) Am Schluss seines Artikels mahnt der Autor mit einer optimistischen Prophezeiung zur Vernunft und prangert die Sinnlosigkeit des Chauvinismus an. Wohlwollen setzt sich langsamer durch als Hass. Immerhin: der Hass kann diesem inständigen und sanften Bedränger nicht standhalten. Schon jetzt verliert er Stück für Stück an Boden [...] Wand an Wand zu wohnen, ohne einander zu begegnen, ohne um einander zu wissen [...] ist nicht möglich. Und Nachbarn, ja solche, die ihr Leben lang einen Raum zu teilen gezwungen sind, können nicht schweigend und verbissen neben einander herleben. Was nützt es, einen Ausgleich abzulehnen? Was nützt es zu behaupten, das Haus gehöre dem Einen und der Andere habe sich nur eingedrängt? Eines Tages werden die feindlichen Nachbarn entdecken, dass sie Jahre ihres Lebens einem nutzlosen Streit gewidmet haben. [...] Sie werden die Maske der nationalen Übertreibung, das chauvinistische Stirnrunzeln verlegen abschminken, freilich aus gealterten Gesichtern. (SOMMER 1924: 6) Hervorzuheben ist hier die direkte Anspielung auf die nationale Argumentation beider nationalistischen Lager. Die von Tschechen im politischen Diskurs eingesetzte These, die Erstgeborenen im Lande zu sein (die so genannte Erstbesiedlungsthese), sei genauso zu verwerfen wie die deutsche Ablehnung eines von den Tschechen angebotenen Ausgleichs. Das Bemühen um die gemeinsame Zukunft spiegelte sich in Beiträgen wider, welche sich mit den aktuellen Fragen der Politik, der Wirtschaft, der Währung in der Tschechoslowakei auseinandersetzten. Einen solchen explizit formulierten politischen Aktivismus gab es in anderen Zeitschriften bis zu diesem Zeitpunkt nicht. So wird z.b. in dem Artikel Um die Wirtschaft auf das von den beiden Seiten mangelnde Interesse für die wirtschaftliche Bedrängnis unserer Kurorte hingewiesen und zugleich die Sorge beiderseits um die ungeheuer wichtige Frage, wie das Sprachenproblem der Firmenschilder in den Bädern zu lösen wäre (DIE PROVINZ 1924/1: 30f.) mit Ironie gebrandmarkt. In mehreren Artikeln sind die preussischen Spiessbürger, Hakenkreuzler und der berühmte Leutnant [Hitler] das Ziel der Kritik. Von Bruno Adler wird den Deutschen in der Weimarer Republik vorgeworfen: Den Denkern und Dichtern folgten die Henker und Richter [...] Wir haben die blaue Blume mit dem Hakenkreuz vertauscht, unsere Märchen beginnen: es wird einmal ein König sein, unsere Legenden erzählen vom Dolchstoss von hinten, unsere Mythen von Stinnes 28. (U.R. 1924, ) 28 Hugo Stinnes ( ). Der 1924 verstorbene deutsche Industrielle, Mitglied der DVP, ist seit 1920 Abgeordneter im deutschen Reichstag. Auf eigenen Wunsch wurde Stinnes in die deutsche Delegation bei den Friedens- und Reparationsverhandlungen in Spa aufgenommen. Er erklärt die Forderungen der Entente-Mächte hinsichtlich der deutschen Kohle- Mirek Němec Auch den Deutschen in Böhmen bleibt der Tadel nicht erspart, wobei jede gesellschaftliche Schicht der reisigen Recken von Reichenberg (ANONYM 1924a: 173.) sich angesprochen fühlen musste: die deutschen Studenten, die statt zu studieren Bier trinken und Juden verprügeln, die Journalisten, die tagaus tagein ihre Blätter mit den dürftigsten Phrasen füllen, einige Universitätsprofessoren, die den Mund weit auftun von deutscher Kultur, und schließlich die deutschen Politiker, die sich noch bilden lassen sollten (TSCHUPPIK 1924: 19f.). Das Verhältnis der Herausgeber zu der Regierung wurde in der Antwort auf einen Leserbrief, der den Herausgebern Beziehungen zur Regierung unterstellt, formuliert: DIE PROVINZ stehe in entschiedener Opposition zu dem Regierungsprogramm, schrieben die Herausgeber. Und weiter: Unsere Richtung wäre immer links, immer radikal, immer gegen Nationalismus und Militarismus gewandt. [...] jene, die Regierung beherrschende Idee eines Nationalstaates mit allen ihren untauglichen, grausamen und sinnlosen Verwirklichungsversuchen wird auch von uns mit allem Eifer bekämpft und nicht mit chauvinistischen Phrasen, aber mit der Eindringlichkeit zur Verständigung bereiter Gegner zurückgewiesen werden. (DIE PROVINZ 1924/2: 63) Auf eine ausführliche Auseinandersetzung über aktuelle politische Fragen zwischen Bruno Adler und T. G. Masaryk wies Věra Macháčková-Riegerová (1969: 16) hin. Dieser Meinungaustausch spielte sich aber nicht auf den Seiten der PROVINZ ab. Die Ursache der Meinungsverschiedenheit zwischen den Herausgebern und dem Präsidenten lag wohl in der Frage, ob die Tschechoslowakei ein Nationalitätenstaat oder ein Nationalstaat sei. Nach der Rhetorik mancher damaliger tschechoslowakischer Politiker war die Tschechoslowakei ein Nationalstaat der Tschechen und Slowaken. Dieser Selbstdefinition, welche den Deutschsprachigen, über 22% der Gesamtbevölkerung, den Status des Staatsvolkes nicht zubilligte (JAWORSKI 1991: 62f.), stand Bruno Adler sehr kritisch gegenüber. Doch kann an den guten Absichten der Herausgeber von der PROVINZ nicht gerüttelt werden. Durch Kritik, aber auch zahlreiche gute Beispiele wollten sie zur geistigen Erneuerung unter den Deutschen in der Tschechoslowakei und zur Toleranz zwischen Deutschen und Tschechen beitragen. Durch alle Nummern der Zeitschrift zieht sich wie ein roter Faden das Thema: Bildung und Erziehung. Zu einer von der Redaktion veranstalteten Vortragsreihe, die den Anschluß an die geistigen Bewegungen und führenden Persönlichkeiten der lieferungen für unerfüllbar. Stinnes gehörte zu den Hauptprofiteuren der Inflation und unterstützte während der französisch-belgischen Ruhrbesetzung die Politik des passiven Widerstands und stellte gleichzeitig finanzielle Mittel für Sabotageakte zur Verfügung. Am 18. April 1923 förderte Stinnes durch den Aufkauf einer großen Menge Devisen an der Börse die Eskalation der Inflation in Deutschland. 235

113 236 Die Provinz. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen Gegenwart fördern sollte (DIE PROVINZ 1924/3 4: 122), wurden Heinrich Mann 29, Ernst Toller und Oskar Ewald (Friedländer) 30 nach Karlsbad eingeladen. Stefan Bauer (1995) mag mit seiner Äußerung recht haben, dass die Autoren nicht den klassischen Kosmopolitismus anvisierten. Tatsächlich wird in keinem Beitrag der Zeitschrift das Weltbürgertum direkt angesprochen. Doch durch die Einbeziehung der europäischen Autoren und der europäischen Themen sprengten die Autoren den Rahmen der nationalen Provinzialität. Damit wurde an den Leser appelliert, sich als ein Teil der Welt, die doch aus Provinzen besteht, zu fühlen. Der Mensch, bevor ihm die weite Welt, so ausgedehnt sie auch sei, zu einem erweiterten Vaterland wird 31, müsste in der Provinz heimisch werden. Diese von Goethe antizipierte Weltoffenheit wurde von Adler durch die Erziehung zur Achtung anderer Nationen und den Kampf gegen nationalistische Entmenschung in der PROVINZ aufgegriffen. 32 Die strikte Ablehnung eines Nationalstaates, zu der sich die Herausgeber bekannten, hängt meiner Meinung nach nicht mit der von Bauer in diesem Zusammenhang zitierten Kibbuz-Bewegung und spanischem Anarcho-Syndikalismus (BAUER 1995: 75) zusammen. Sie lehnten die staatlichen Strukturen nicht ab, sondern das nationale Prinzip, nach dem die Staaten in der Zwischenkriegszeit ausgebaut wurden. Sie verurteilten den die europäische Politik nach 1918 prägenden, neue Grenzen errichtenden Nationalismus, welcher Fremdes ausschloss. Den Herausgebern stand die Idee einer Art von Commonwealth nahe, welche im Einführungsartikel zur zweiten Nummer von William Watkin Davies ausgesprochen wurde (DAVIES 1924/2: ). Sie glaubten, durch die Übertragung dieser Prinzipien auf Mitteleuropa wären die Laster der damaligen Zeit vor allem Nationalismus und Militarismus zu überwinden. Die Situation in der Tschechoslowakei fünf Jahre nach ihrer Gründung konnte doch gewisse Hoffnungen auf die Überwindung des Nationalismus in den Augen der drei Journalisten jüdischer Herkunft wecken 33 und dadurch auch auf das Gelingen des Zeitschriftenprojektes DIE PROVINZ. Die Bereitschaft der Sudetendeutschen, im Tschechoslowakischen Staate zu leben und zu arbeiten, 29 Der Vortrag von H. Mann fand am statt (DIE PROVINZ 1924/3 4: 122). 30 Der Vortrag von Ewald zum Thema Religion und der Moderne Mensch fand am 9. April 1924 im Karlsbader Kurhaus statt (DIE PROVINZ 1924/5 6: 176). 31 Dieses Goethe-Zitat findet sich bei Glück (1918). 32 Adlers persönliche Erfahrung weist auf sein Weltbürgertum hin. Der deutschjüdische Bürger der Tschechoslowakei lebte in Österreich, Deutschland, der Tschechoslowakei und nach 1936 in Großbritannien. Das Bauhaus war international, und ausländische Einflüsse wurden unterstützt. Er übersetzte aus dem Französischen, sprach aber auch Englisch. Seine erste Frau Margit Téry stammte aus Ungarn. 33 Die Tschechoslowakei erkannte als erster Staat überhaupt die jüdische Nationalität an. Mirek Němec begann sich um 1924 allmählich durchzusetzen. 34 Trotzdem äußerten die Herausgeber der PROVINZ ihre Zweifel, ob die Zeitschrift lebensfähig sein werde (DIE PROVINZ 1924/1: 31f.). Die Tatsache, dass der Versuch faktisch schon nach zehn Monaten scheiterte, übertraf ihre pessimistischsten Einschätzungen. Das schon angesprochene Desinteresse der Öffentlichkeit an der PROVINZ führte dazu, dass die finanziell unzureichend abgesicherte Zeitschrift der Redaktion nicht genug Einnahmen brachte. 35 Der Mangel an Interesse war nicht nur dem Titel geschuldet. Die meisten Beiträge kennzeichnet ein hohes intellektuelles Niveau, allerdings mit einem starken didaktisch-pädagogischen Duktus. Der oft gegenüber den (Sudeten- )Deutschen zu kritische und zu belehrende Inhalt, welcher oft als beleidigend wahrgenommen werden konnte, hatte wenig Chancen, in der auf nationale Themen sensibel reagierenden deutschsprachigen Provinz akzeptiert zu werden. Tatsächlich wurde der Redaktion in einigen abgedruckten Lesebriefen ihre Deutschfeindlichkeit vorgeworfen. Ein Leser beanstandet sogar die undeutsche Lateinschrift (DIE PROVINZ 1924/2: 63 64; 3 4: 123). Die anonymen Beiträge und die häufige Benutzung des Anagramms, manchmal sogar nur der Initialen U.R., von Bruno Adler könnten ein Beweis dafür sein, dass die Herausgeber auch ihre jüdische Abstammung zu verstecken bemüht waren. Inwieweit ihre Abstammung das Desinteresse an der Zeitschrift verursachte, wage ich nicht einzuschätzen. In einem Leserbrief wird darauf hingewiesen, dass der Beitrag Verständigung von einem gewissen Sommer (Jude) stamme und die Tendenz dieses Blattes daher jedem Deutschen einleuchten werde (DIE PROVINZ 1924/3 4: 123). Der Leserbriefschreiber focht nicht nur die jüdische Abstammung des Herausgebers an, sondern auch das Bemühen der Redaktion um die deutsch-tschechische Annäherung. Er unterstellt den Herausgebern geheime Beziehungen zur Regierung. Die acht unregelmäßig erschienenen Nummern der Zeitschrift 36 konnten kaum eine große Bedeutung für die Überwindung der nationalen Streitigkeiten in der Ersten Republik haben. Jedoch sollte die Tatsache, dass sich DIE PROVINZ, als erste kulturpolitische Zeitschrift überhaupt mit einem solchen Vorhaben um die Gunst der Leserschaft bemühte, noch vor dem Anfang der aktivistischen Politik der sudetendeutschen Parteien, nicht in Vergessenheit geraten. Positiv ist auch das Vorhaben der Zeitschrift zu bewerten, dem damals vorherrschen- 34 Die Tschechoslowakische Regierung festigte ihre Positionen, die deutschsprachigen Industriellen schätzten die wirtschaftliche Stabilität. Der Anschlussgedanke bei den Sudetendeutschen verlor an Anhängern. Die Bereitwilligkeit zur Zusammenarbeit fand im Jahre 1926 durch den Eintritt der deutschen Minister in die Regierung ihren Höhepunkt. 35 Die Zeitschrift bekam keine staatliche Unterstützung wie vier Jahre später die Zeitschrift WITIKO. 36 Nach Jezdinský (1982) war in der Tschechoslowakei die Auflage einer Zeitschrift nicht öffentlich. 237

114 238 Die Provinz. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen den Nationalismus entschlossen entgegenzuwirken und beharrlich für Internationalismus und nationale Toleranz zu plädieren. Das durch den Versailler Frieden errichtete Europa der Nationalstaaten verstanden die Herausgeber der Zeitschrift als eine Einengung. Als Juden abgestempelt konnten sie nur mit Schwierigkeiten im veränderten Europa ihre Heimat finden. Die auf die Verteidigung eigener Positionen bedachten Deutschen in den böhmischen Ländern, welche sich zunehmend als eine deutsche Volksgruppe nämlich die Sudetendeutschen definierten und sich ausschließlich an der deutschen Kultur orientierten 37, entwickelten wenig Interesse an der Kultur des tschechischen Nachbarvolkes. Dies trieb sie in eine sudetendeutsche Provinzialität. Diese Abschottung sah Adler klar und deutlich. Die Zeitschrift DIE PROVINZ verfolgte das Ziel, diese deutsche Isolation zu überwinden, die Provinz für Europa zu öffnen und damit einen Einblick in die moderne Welt zu leisten. Literatur ADLER, Bruno (1924): Der Zeitungsroman. In: Die Provinz, Nr. 2, ADLER, Bruno (1963): Das Weimarer Bauhaus. Vorträge zur Ideengeschichte des Bauhauses. Darmstadt: Bauhaus Archiv. AHRNDT, Mareile (1995): Karl Klostermann ( ) als Schriftsteller in zwei Sprachen. Frankfurt/Main: Haag und Herchen. ANONYM (1924): Statt eines Programms. In: Die Provinz, Nr. 1. Januar, 1 3. ANONYM (1924a): Die Nibelungen. In: Die Provinz, Nr. 5 6, 173f. BAHLCKE, Joachim u.a. (1998): Historische Stätten. Böhmen und Mähren. Stuttgart: Kröner. BAUER, Stefan (1995): Ein böhmischer Jude im Exil. Der Schriftsteller Ernst Sommer ( ). München: Oldenbourg. BECHER, Peter (1989) (Hg.): Josef Mühlberger. Beiträge des Münchner Kolloquiums. München: Adalbert-Stifter-Verein. BERGER, Michael (1990): Josef Mühlberger ( ). Sein Leben und Prosaschaffen bis Habilitationsschrift der Humboldt-Universität Berlin. 37 Vgl. z.b. die Äußerung des Germanisten und Professors der Deutschen Universität Prag Herbert Cysarz (1934: 12): Sudetendeutsch heißt unverfälscht und unbezwinglich deutsch unter sudetischem Schicksal. Mirek Němec BERGER, Michael (1991/92): Witiko ( ) eine Zeitschrift zwischen Provinz und Metropole. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch. Prag, CYSARZ, Herbert (1934): Vom Schicksal der sudetendeutschen Dichtung. Vorwort zum Gedichtband. In: Wir tragen ein Licht. Rufe und Lieder sudetendeutscher Studenten. München: Albert Langen/Georg Müller, DAVIES, William W. (1924): Staat und Nation. In: Die Provinz, Nr. 2, GLÜCK, Guido (1918): Weltbürgertum. In: Reiss, Leo (Hg.), Der Mensch. Monatschrift für Kultur, Nr. 1 (Januar). Brünn, ohne Angabe./Repr.: Nendeln/Liechtenstein: Kraus [1969]. GOLDSTÜCKER, Eduard (1967): Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen. In: Ders. (Hg.), Weltfreude. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Praha: Tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften, HAAS, Willy (1960): Die literarische Welt. München: Paul List Verlag. HALÍK, Miroslav (1964): Poznámky vydavatelovy. In: K. Čapek, Kniha apokryfů. Praha: Československý spisovatel, HOBSBAWM, Eric J. (1991): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit Frankfurt/Main: Campus-Verlag. HÜLLER, Franz (1928): Fragen um Adalbert Stifter. Die Stifterliteratur der letzten Jahre. In: Witiko, Eger: Verlag der Literarischen Adalbert- Stifter-Gesellschaft in Eger, JAWORSKI, Rudolf (1991): Die deutschen Minderheiten in Polen und in der Tschechoslowakei während der Zwischenkriegszeit. In: Österreichische Osthefte, JEZDINSKÝ, Karel (1982): Presse und Rundfunk in der Tschechoslowakei In: K. Bosl, F. Seibt (Hg.), Kultur und Gesellschaft in der ersten Tschechoslowakischen Republik: Vorträge der Tagungen des Collegium Carolinum in Bad Wiesse. München: Oldenbourg. KLÍMA, Ivan (1964): Čapkovy apokryfy. In: Karel Čapek: Kniha apokryfů. Praha: Československý Spisovatel, KRAUS, Karl (1924): Die Sudeten. In: Die Fackel 26, Nr , MACHÁČKOVÁ-RIEGEROVÁ, Věra (1969): Ernst Sommer. Leben und Werk. Praha: Acta Universitatis Carolinae Philologica: Monographia

115 240 Die Provinz. Ein Versuch kultureller Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen MECKLENBURG, Norbert (1982): Erzählte Provinz: Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein/Ts.: Athenaeum. PAZI, Margarita (1989): Josef Mühlbergers Beziehung zu Max Brod und dem Prager Kreis. In: P. Becher (Hg.), Josef Mühlberger. Beiträge des Münchner Kolloquiums. München: Adalbert-Stifter-Verein, PICK, Otto (1924): Deutsche Dichtung in der Tschechoslowakei. In: Die Provinz, Nr. 7 8, REISS, Leo (Hg.) (1918): Der Mensch, Monatschrift für Kultur. Nr. 1. (Januar), Nr. 2. (Februar), Nr. 3. (März), Nr. 4 5 (April-Mai), Nr. 6 7 (Juni- Juli), Nr (August-Oktober), Nr , (ohne Angabe). Reprint: Nendeln/Liechtenstein: Kraus [1969]. ROEDL, Urban [= Bruno Adler] (1924): Die Provinzstadt. In: DIE PROVINZ, Nr. 1, ROEDL, Urban [= Bruno Adler] (1924a): Deutschböhmische Kleinstadt. In: DIE PROVINZ, Nr. 2, ROEDL, Urban [= Bruno Adler] (1924b): Schulpolitik einer sozialistischen Regierung. In: DIE PROVINZ, Nr. 3 4, ROEDL, Urban [= Bruno Adler] (1955): Adalbert Stifter. München: Deutscher Kunstverlag. ROEßLER, Arthur (1928): Adalbert Stifter als Maler. In: Witiko, Eger: Verlag der Literarischen Adalbert-Stifter-Gesellschaft in Eger. Johannes Stauda Verlag, SCHUBERT, Heinz (1980): Karlsbad. München: Callwey Verlag. SERKE, Jürgen (1987): Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien: Zsolnay. SOMMER, Ernst (1924): Verständigung. In: Die Provinz, Nr. 1., 5f. STORCK, Joachim W. (1991): Bruno Adler (Urban Roedl). In: M. Pazi, H. D. Zimmermann (Hg), Berlin und der Prager Kreis. Würzburg: Königshausen & Neumann, Sudetenland. Wegweiser durch ein unvergessenes Land. Würzburg: Adam Kraft Verlag TSCHUPPIK, Walter (1924): Friedrich Nietzsche und die Deutschen. In: Die Provinz, Nr. 1, U.R. [= Urban Roedl bzw. Bruno Adler] (1924): Das Wintermärchen. In: Die Provinz, Nr. 3 4, ZEMAN, Herbert (1999) (Hg.): VI. Die versunkenen Landschaften deutschsprachiger Literatur in einem größeren Österreich. In: Geschichte der Mirek Němec Literatur in Österreich 7. Graz: Akademische Druck- u. Verlagsanstalt,

116 Die bildliche Darstellung der Juden in der Zeitung DER NEUE TAG ( ) Tereza Brůchová, Marek Nekula 1. Stereotyp Neben Alltagstexten, Lehrbüchern, Lexika, literarischen und journalistischen Texten ist gerade in den Karikaturen die stereotypisierende und ideologische Wahrnehmung und Darstellung besonders ausgeprägt. Die Stereotypen, Vorurteile und Klischees kann man dem Begriff,Einstellung unterordnen. Darunter versteht man den mentalen, von der Erfahrung organisierten Zustand, der Reaktionen des Menschen auf Subjekte und Situationen, mit denen er konfrontiert ist, steuert und dynamisch beeinflusst. 1 Anders gesagt, handelt es sich um den Geisteszustand eines Individuums gegenüber einem Wert.,Stereotypen können als kognitive Muster verstanden werden, durch die die soziale Welt wahrgenommen und reflektiert wird. Sie können in unterschiedlichen Textsorten und Lebensbereichen explizit artikuliert werden, so dass sie weitergegeben und in der Regel im frühen Schulalter erlernt werden. Auch weil sie in der Sprache (z.b. in der Lexik und Phraseologie) verankert sind, kann man sie als Teil der kommunikativen Kompetenz verstehen, vor deren Hintergrund inkohärente Texte kohärent werden und implizite Diskurse hinreichend explizit und verständlich. Das Stereotyp setzt sich aus einer Kategorisierung (Status, Nationalität, Alter, Geschlecht, Religion, Bildung usw.) und einem statischen oder dynamischen Merkmal zusammen. So kann z.b. der Kategorie,Jude durch spezifische Attribute oder verbale Konstruktionen, so in Kafkas Erzählung Die Sorge des Hausvaters, die Eigenschaft,nicht sesshaft attribuiert werden (vgl. NEKULA 2002). Die Selbst- und Fremdstereotypen, die auch als homogen und heterogen bezeichnet werden, sind nicht zwingend immer nur negativ, sind aber immer perspektivisch, und dadurch in der Regel binär bzw. spiegelbildlich organisiert. Die zentralen Stereotypen sind ähnlich wie die oben erwähnten Kategorien als ein Teil der Kultur relativ stabil, auch wenn sie im Diskurs nicht nur gefestigt, sondern auch überwunden werden können. Das psychologisch abgrenzbare,vorurteil ist dann eine auf dem irrationalen Grund beruhende Form der Einstellung, deren typische Bestandteile Aversion und Feindlichkeit sind. Nach Allport richten sich Vorurteile gegen Personen, die zu einer Gruppe gehören, und zwar nur deswegen, weil sie Mitglieder dieser Gruppe sind. 2 Eine weitere wichtige Eigenschaft des Vorurteils ist die fehlende Erfahrung: Ganz allgemein ist unter einem Vorurteil ein über eine Sache oder eine Person gefälltes Urteil zu verstehen, dem die vorgängige 1 ALLPORT (1935), zitiert nach NOVÁK (2002: 8). 2 ALLPORT (1958), zitiert nach NOVÁK (2002: 9).

117 244 Die bildliche Darstellung der Juden in der Zeitung DER NEUE TAG ( ) Person gefälltes Urteil zu verstehen, dem die vorgängige Erfahrung fehlt, auf die es sich zu stützen hätte [ ]. (LERSCH 1964: 74) Ein Vorurteil ist auf der anderen Seite gegen alle potentiell disharmonischen Informationen über das beurteilende Subjekt resistent: Vorläufige Urteile werden nur dann zu Vorurteilen, wenn wir sie unter dem Eindruck neuen Wissens nicht zurücknehmen können. 3 Gerade diese Starrheit betonte Walter Lippmann in seinem Buch Public Opinion, als er bei den Vorurteilen ihren rigiden Charakter hervorhob. Die Wirkung der soziokulturellen Umgebung sieht Lippmann darin, dass wir in der verwirrten sozialen Welt stereotyp das wählen und wahrnehmen, was für uns in unserer Kultur bereits vordefiniert wurde 4 und nicht zuletzt auch von der Presse aufgegriffen wird. 2. Stereotyp des Juden Die stereotypische Wahrnehmung, Reflexion und Darstellung richtet sich nicht allein auf die Juden, sondern im Prinzip auf alle sozialen Gruppen, sei es die Nationalität, Religionsgemeinschaft, Gesellschaftsschicht oder Klasse, Berufsstand, Mann oder Frau, Vegetarier, ethnische, religiöse, sexuelle oder andere Minderheit usw., wobei diese Kategorien und ihre Stereotypisierung im konkreten Kontext nicht isoliert auftreten und auch in der pragmatischen Kompetenz sich zu kulturspezifischen Mikrosystemen kombinieren, die sich zwar wie die Kultur entwickeln, doch auch gewisse Konstanz aufweisen. Auch das Stereotyp des Juden wandelt sich im christlichen Kontext im Laufe der Zeit: einerseits rücken neue Aspekte des jüdischen Stereotyps in den Vordergrund, andererseits werden alte Motive im neuen Kontext aus einem neuen Blickwinkel und unter Einbeziehung anderer oder neu interpretierter Kategorien perspektivisch gesehen. Neben den religiösen tauchen soziale, wirtschaftliche, geschlechtliche u.a. Motive auf. Während im späten Mittelalter die Juden höchstens in Begleitung des Teufels dargestellt wurden, wurden die Juden in der Renaissance gar zum Teufel verzerrt. Die Zeit der Reformation und der Religionskriege verschärfte die religiösen Gegensätze und auch die Darstellung der Juden wurde bösartiger. Nichtreligiöse Motive brachte erst die erhöhte Migration der Juden nach dem Dreißigjährigen Krieg mit. Nach Wassermann ist die Darstellung der Juden seitdem weniger theologisch bestimmt und stellt verstärkt politische, soziale und ökonomische Motive in den Vordergrund. Im 18. Jahrhundert kam das Motiv der Geldsucht ins Spiel. In der Zeit der bürgerlichen Revolution taucht das Motiv der Assimilation und der gesellschaftlichen Integration auf, die antisemitischen Darstellungen treten in den 3 ALLPORT (1954: 9), zitiert nach JESSL (1966: 6). 4 In the great blooming, buzzing confusion of the outer world we pick out what our culture has already defined for us, and we tend to perceive that which we have picked out in the form stereotyped for us by our culture. (LIPPMAN 1930: 304). Tereza Brůchová, Marek Nekula Hintergrund. Der rasche Aufstieg der Juden in der sozialen und ökonomischen Hierarchie verstärkte die Abwehr der nichtjüdischen Bevölkerung, die sich plötzlich in ihren Positionen bedroht fühlte. In den Karikaturen werden unterschiedliche Aspekte des Andersseins der Juden betont. Dazu gehören neben angeblichen physiognomischen Merkmalen (große krumme Nase, dunkles, oft lockiges Haar, heftige Gestik) solche Merkmale, die den sozialen Aufstieg und Status markieren (protzige Kleidung, selbstzufriedener Ausdruck, goldene Uhrkette). In dieser Zeit werden auch garantiert jüdische Typen geschaffen: die gerissenen Hausierer vom Land, die Viehhändler, die sich aus misslichen Lagen herauswinden, Börsenmakler und Bankiers, die enthüllen, dass ihr Beruf nichts Besseres war als gewöhnlicher Diebstahl, ihre Gattinnen und Töchter, die ihren offensichtlichen Reichtum und ihre frischerworbene Kultur zur Schau stellten und dabei unmissverständlich die Zeichen ihrer verachteten Herkunft trugen in all ihren seichten, ungebildeten und habgierigen Zügen. (WASSERMANN 1991: 426) Die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts sind in Deutschland und Europa vom Antisemitismus als politischer Kraft gekennzeichnet. Der Jude verschmolz im antisemitischen Diskurs mit dem Antlitz des Teufels. Das Motiv der politischen, finanziellen und weltwirtschaftlichen Judenverschwörung taucht neben dem religiösen Motiv des Ritualmordes auf. In der Zeit der nationalsozialistischen Ideologie wurden die Juden aus rassistischer Perspektive gesehen, die die Stereotypen älteren Datums auf eine neue Basis stellte. Die Juden werden als Blutegeln, Parasiten und Ungeziefer dargestellt, die eine konsequente Gegenwehr, Ausrottung und Endlösung implizieren und begründen sollen. Die kommunistischen Ideologieträger vertraten ein anderes Wahrnehmungsmuster. Die Juden wurden als so genannte Kosmopoliten dem kommunistischen Internationalismus gegenübergestellt und dem Kapitalismus zugeordnet. 3. Karikatur Die Stereotypen bzw. die Kategorien und Merkmale, die ein Stereotyp ergeben, können verbal (explizit) oder nonverbal (implizit) z.b. in Form einer gezeichneten Karikatur evoziert und dadurch artikuliert werden, wobei sich das Verbale mit dem Nonverbalen in der Regel so auch in der Karikatur ergänzt. Die implizite Evokation des Stereotyps kann in dessen expliziten Ausdruck übergehen, die Interpretation des Nonverbalen einer Karikatur spielt sich dagegen vor dem Hintergrund des Verbalen ab. Die Karikatur, wie bereits die Etymologie 5 des Wortes andeutet, sprengt die Grenzen des Normalen und Maßvollen und stellt eine perspektivische Verzerrung desselben dar. Diese Perspektivisierung teilt die Karikatur mit den Stereotypen. Unter der Verzerrung kann man eine Übertreibung der angeblich charakteristischen Wesenszü- 5 Karikatur stammt aus dem italienischen caricare mit der Bedeutung beladen, überladen, übertreiben, aber auch angreifen. 245

118 246 Die bildliche Darstellung der Juden in der Zeitung DER NEUE TAG ( ) ge einer Person oder einer Sache verstehen. Lavater behauptet daher sogar, dass die Karikatur ein Vergrößerungsglas für blöde Augen sei. Nach ihm kann man aus der Carrikatur [...] leicht auf die Wahrheit schließen (zitiert nach SCHMITZ 1969: 8). Eine solche,echte Karikatur, wie Schmitz sie nennt, ist positiver Natur und wirkt im Endeffekt konstruktiv. Dagegen wird die,unechte Karikatur als,lügnerisch empfunden: Sie schafft in der Verzerrung trügerisch irreführend neue, dem Tatsächlichen nicht entsprechende Mängel und Fehler. (ebd.) Zu bestimmen, was in der sozialen Welt, von der die Karikaturen aus- und auf die sie eingehen,,wahr und,falsch ist, ist allerdings schwierig. Eine Karikatur wird nämlich als,wahr oder,falsch bzw.,echt oder,unecht nicht vor einem objektiven, sondern vor einem relativen Hintergrund der kultur- oder gruppenspezifischen Selbst- und Fremdstereotypen und Werte wahrgenommen. Eine Unterscheidung zwischen den,echten und,unechten, den,positiven und,bösartigen Karikaturen fällt einem leicht und schwer zugleich, wie immer wenn es um Gut und Böse geht, und wird schließlich je nach dem ausfallen, welche Werte und welche auf diesen Werten beruhende Stereotypen man internalisiert hat. Im ideologisch geprägten Diskurs, in dem gewisse Werte internalisiert sind oder durch den gewisse Werte internalisiert werden sollen, können die in einem anderen Kontext bzw. in einer anderen sozialen Wirklichkeit,unechten Karikaturen als,echt, während die,echten Karikaturen in einem anderen Kontext als,unecht interpretiert werden können. Gerade die Propaganda rechnet dann damit, dass die durch sie verwischte Unterscheidung zwischen,echt und,unecht nicht erfolgen wird bzw. nicht so einfach erfolgen kann und dass man die angeblich objektiven,,echten Eigenschaften des karikierten Subjekts oder Gegenstands durch das Vorhandensein der optischen (impliziten) Komponente daher bestechend überzeugend und effektiv einprägend kommunizieren kann. 4. Karikatur der Juden im NEUEN TAG Im Jahre 1938 lebten in der Tschechoslowakei 3,5 Millionen Deutsche, die über eine große Zahl von Pressetiteln verfügten. Nach Angaben des Sudetendeutschen Jahrbuchs 1938 erschienen 203 deutschsprachige Zeitungen, wobei diese Zahl weder die Prager deutsche Presse, noch die deutsche Presse in Städten wie Budweis oder Brünn u.a.m. berücksichtigt, die nicht zum Gebiet der Sudeten gehören. 6 Die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren brachte nicht nur für den tschechischen Bevölkerungsanteil weitreichende Änderungen in der politischen Situation, sondern auch für den deutschen und dessen Presse. Nach dem März 1939 blieben nur wenige deutsche Titel auf dem Markt erhalten. Den Angaben der Zeitschrift ZEITUNGSWISSENSCHAFT zufolge 6 Nach KÖPPLOVÁ (im Druck). Tereza Brůchová, Marek Nekula erschienen im Mai 1939 in Prag nur zwei deutsche Tageszeitungen und außerhalb der Hauptstadt weitere sieben. Zum Hauptpresseorgan des Protektorats wurde die neugegründete Tageszeitung DER NEUE TAG: Heute erscheint in Prag zum erstenmal seit der Einstellung der,zeit im September 1938 wieder eine politisch führende deutsche Tageszeitung [ ]. ( : 2) Durch ihre politische Orientierung knüpfte sie an das Organ der Sudetendeutschen Partei DIE ZEIT an, die in Reichenberg erschienen war. Im technischen Bereich übernahm DER NEUE TAG die Infrastruktur des PRAGER TAGBLATTS, und zwar sowohl die Redaktionsräume und die Druckerei, als auch die Distribution samt den Abonnenten: Die bisherigen Bezieher des Prager Tagblatt und der Prager Abendzeitung erhalten an Stelle dieser Blätter die Zeitungen Der neue Tag beziehungsweise Prager Abend zugestellt. (ibid.). Um aus dem sich unter ideologischen Vorzeichen etablierenden und wahrgenommenen Blatt eine gelesene Zeitung zu machen, waren mehrere Eingriffe nötig, die die Auflage des Blattes auf tausend Exemplare steigern sollten. Zu diesen Eingriffen gehörte zum Beispiel die Genehmigung, einige Informationen zuerst oder ausschließlich im NEUEN TAG zu veröffentlichen. So gab Wolfram von Wolmar bei den regelmäßig gehaltenen Pressekonferenzen für Chefredakteure der Protektoratsblätter des Öfteren bekannt, dass Informationen aus dem NEUEN TAG übernommen werden sollen (vgl. PASÁK 1967: 66 68). DER NEUE TAG wurde außerdem zum obligatorischen Lesestoff an den Schulen. Wie das Impressum des Blattes angibt, wurde DER NEUE TAG zum amtlichen Veröffentlichungsorgan des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren und der nachgeordneten deutschen Dienststellen. DER NEUE TAG war mit den Machtstrukturen des Protektorats so stark verbunden, dass die Herausgabe der Zeitung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eingestellt wurde. In die Untersuchung der antisemitischen Motive in der Zeitung DER NEUE TAG (April 1939 Mai 1945) wurde sowohl die Bildkarikatur als auch die verbale Kategorisierung einbezogen. Dabei wurden nicht nur der Nachrichtenteil, sondern auch Anzeigen und Werbetexte berücksichtigt. Die Karikaturen sind im Werbeteil deutlicher vertreten, wobei für den gesamten Zeitraum nur 6 Karikaturen festzustellen sind, die einen unmittelbaren Bezug zum Judentum haben. Davon gab es nur zwei, die auf die aktuelle politische Situation reagiert haben. Wider Erwarten wurde das jüdische Thema durch Karikaturen kaum evoziert. Insgesamt wurde dieses Thema eher unauffällig behandelt. Davon zeugt auch folgende Tatsache: Am 25. April 1940 fand die Eröffnung der Ausstellung Deutsche Karikaturen in Prag statt. Obwohl DER NEUE TAG davon ausführlich berichtete und die Ausstellung durch mehrere Karikaturen auf einer ganzen A3 Seite präsentierte, wurde nicht eine Karikatur veröffentlicht, die auf das jüdische Thema gezielt hätte. Wie bereits erwähnt, wurden im analysierten Material nur sechs graphische Darstellungen mit (anti)jüdischen Motiven veröffentlicht. Zwei davon erschienen 247

119 248 Die bildliche Darstellung der Juden in der Zeitung DER NEUE TAG ( ) zweimal in gleicher bzw. sehr ähnlicher Form kurz nacheinander. 7 Zwei Karikaturen, (1) Westliche Diplomatie zu Albanien ( : 4), bestehend aus drei Teilbildern, und (2) Stalin, der Mäzen Eduards ( : 2), wurden als Illustration der in der Zeitung reflektierten politischen Ereignisse benutzt, während die anderen im Rahmen der Buch- und Filmanzeigen verwendet wurden: (3) Ein amerikanischer Jude fordert: Sterilisation des deutschen Volkes ( : 10, u : 10), (4) Judas Mordplan ( : 10), (5a) Die Zersetzung des tschechischen Nationalismus ( : 10), (5b) Golem Geissel der Tschechen ( : 6) und (6) Jud Süβ ( : 12). Alle genannten Darstellungen enthalten neben den graphischen auch verbale Komponenten. Diese sind insoweit wichtig, weil [...] der verbale Hintergrund den für das Verständnis der im Bild übermittelten Botschaft notwendigen Kontext schafft. Der verbale und bildliche Teil einer Karikatur, genauso wie eine verbale und bildliche Karikatur bilden ein Ganzes. Es wäre ein schwerer methodologischer Fehler, sie voneinander zu trennen, denn Bilderstereotypen sind ohne ihren Kontext nicht zu entziffern. (WASSERMANN 1991: 418) Bei der Evokation der Kategorie,Jude verfahren die Karikaturen unterschiedlich. Zwei von den erschienenen bildlichen Darstellungen benutzen die Abbildung einer Person, die einen Juden repräsentieren soll. Es handelt sich um eine Filmanzeige für den Film Jud Süβ 8 und eine Buchanzeige für das Buch Das Kriegsziel der Weltplutokratie. Die Erstaufführung des Films von Veit Harlan fand im Protektorat am 21. November 1940 statt. Er stellte einen wichtigen Beitrag zur antisemitischen Propaganda dar, wovon auch die Tatsache zeugt, 7 So die Karikatur Ein amerikanischer Jude fordert: Sterilisation des deutschen Volkes!, die am und erschien, und die Buchanzeigen Die Zersetzung des tschechischen Nationalismus und Golem Geissel der Tschechen, die am und erschienen. 8 Festliche Erstaufführung des Films,Jud Süß in Prag. In: DER NEUE TAG, : 7. Tereza Brůchová, Marek Nekula dass er das Prädikat künstlerisch und staatspolitisch besonders wertvoll erhalten hatte. Bei der Anzeige handelt es sich um ein großes Porträt (Linoleumschnitt). Gleich darunter befindet sich die in Großbuchstaben ausgeführte Aufschrift Jud Süβ, die für den Leser einen Interpretationshintergrund bildet. Auf dem Porträt werden solche Merkmale in den Vordergrund gestellt, die stereotypisch als jüdisch galten und auch bei der Maske des Schauspielers Ferdinand Marian von Bedeutung waren. Am 20. November 1940, einen Tag vor der Prager Erstaufführung, veröffentlichte das Blatt ein Foto mit der Beschriftung Ferdinand Marian als Jud Süβ. So wurde das Bild des Juden ergänzt, akzentuiert und verdeutlicht. Der dargestellte Mann hat,mediterrane Züge: markante Augenbrauen und Nase, einen dunklen Bart und dunkles und lockiges Haar sowie dicke Lippen, die ähnlich wie sein suggestiver, verhexender oder bezaubernder Blick, an die Darstellung Satans und des Sünders anspielt. Diese Darstellungsweise in der Filmwerbung entspricht genau der These E. H. Gombrichs: Der Cartoonist kann die politische Welt mythologisieren, indem er sie physiognomisiert, und im Universum der Nationalsozialisten (und der Antisemiten) verschmolz,der Jude mit dem traditionellen Antlitz des Teufels. 9 Die zweite Anzeige zeigt einen Mann, der eine Frau mit einem kleinen Kind an der Hand mit einer Spritze bedroht. Eine Erklärung der Situation erfolgt durch den Anzeigetext: Ein amerikanischer Jude fordert: Sterilisation des deutschen Volkes! Dem Leser wird anschließend klargemacht, dass es sich um einen Werbetext für das Buch Das Kriegsziel der Weltplutokratie handelt, das eine sensationelle Veröffentlichung sein soll. Die Rollenverteilung,amerikanischer Jude (Mann) und,deutsche (Frau) evoziert neben den ethnischen auch die sexuelle Kategorie, die durch den Sachverhalt,Sterilisation noch einmal unterstrichen wird. Die sexuellen Stereotypen des Juden sind um die Jahrhundertwende, wie dies nicht nur im Zusammenhang mit der Hilsner-Affäre deutlich wird, mit den Merkmalen,pervers,,absonderlich und,gewalttätig verbunden, die sich einerseits aus der zugewiesenen dominanten Männerrolle ergeben, die hier 9 GOMBRICH (1963), zitiert nach WASSERMANN (1991: 428). 249

120 250 Die bildliche Darstellung der Juden in der Zeitung DER NEUE TAG ( ) in Opposition zu den subdominanten Rollen der bedrohten Frau und des unschuldigen Kindes stehen (in anderen Kontexten in der Jungfrau vereinigt) und aus dem Gewaltinstrument in Form einer Spritze, andererseits aus den gegensätzlichen, bildlich evozierten Merkmalen,alt (mit Glatze), schmierig, primitiv grob und,jung (mit Kleinkind), schlank, zart. Gemeint ist hier nicht nur die sexuelle (gewalttätiger Mann vs. durch das Kind wehrlose Frau) und die politische Bedrohung (Amerika vs. Deutschland), sondern auch die im damaligen Diskurs wiederholt behauptete Bedrohung der deutschen Rasse, die sowohl im politischen als auch im sexuell-hygienischen Sinne vom Judentum ausgehen soll: (amerikanischer) Jude vs. (deutsches) Volk. Das Böse wird hier also eindeutig auf die Rasse zurückgeführt, doch gibt es in der optischen Darstellung außerdem auch klare Anspielungen auf die Darstellung des Satans. Die ethnische Kategorie,Jude wird allerdings in den Karikaturen im NEUEN TAG nicht allein durch verbale Kategorisierungen oder durch,kulturalisierte physiognomische Merkmale, sondern auch durch andere Attribute evoziert. Der Davidstern als Zeichen des Judentums erschien in drei bildlichen Darstellungen. 10 Im Falle der politischen Karikatur Westliche Diplomatie zu Albanien (1939) befindet sich auf der Kleidung der Figur, die die westliche Diplomatie repräsentiert, ein Stern, durch den 10 Westliche Diplomatie zu Albanien ( : 4); Judas Mordplan ( : 10); Stalin, der Mäzen Eduards ( : 2). Tereza Brůchová, Marek Nekula ein Stern, durch den die jüdische Bevölkerung gekennzeichnet wurde. Die Positionierung des Sterns auf dem Herzen ist weder in dieser Karikatur noch bei der verordneten Stigmatisierung der Juden zufällig. Herz als Symbol des emotionalen und physiologischen Zentrums des Körpers, der in diesem Falle die westliche Diplomatie repräsentiert, wird jüdisch markiert. Im Falle der Karikatur Stalin, der Mäzen Eduards trägt der karikierte Edvard Beneš den Davidstern an einer Halskette, die die Weiblichkeit bzw. Abhängigkeit und Käuflichkeit in der Darstellung von Edvard Beneš unterstreicht, während sich der Davidstern als Hundemarke interpretieren lässt, die auf den Herrn, dem der so Gekennzeichnete wie auch immer verpflichtet sein soll, bzw. auf das Band zwischen dem Herrn (Stalin) und dem,knappen (Beneš) hinweist, der jüdisch markiert ist. Der Davidstern ergänzt auch die Anzeige für das Buch Das Kriegsziel der Weltplutokratie, wodurch ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Krieg bzw. zwischen der den Krieg so die damalige Ideologie betreibenden Weltplutokratie 251

121 Die bildliche Darstellung der Juden in der Zeitung DER NEUE TAG ( ) und dem Judentum hergestellt wird. Gleich darüber befindet sich noch die Überschrift Judas Mordplan, in der eine isotopische Relation zwischen Kriegsziel und Mordplan vorliegt und die in der selben Schriftart ausgeführt ist wie die Aufschrift Jude im gelben Stern, den die Juden zu tragen hatten, d.h. in übertrieben gestreckten und starken Schriftzügen, die an die hebräische Schrift anspielen. Tereza Brůchová, Marek Nekula Auch in den Anzeigen für die Bücher Die Zersetzung des tschechischen Nationalismus und Golem Geissel der Tschechen von Walter Jacobi wird auf das Judentum sowohl verbal, als auch nonverbal Bezug genommen. Die große, neben der Prager Burg stehende Figur ist ein Zitat der Rabbi-Löw-Statue (1910) von Ladislav Šaloun vor dem Neuen Rathaus in der Prager Altstadt, das durch das verbale, d.h. durch den Namen Golem sowie durch Teiltexte Golem Geissel der Tschechen und Golem über der Burg noch einmal verdeutlicht wird. Der sagenhafte Golem, der mit dem Judentum in Böhmen assoziiert ist, wird hier im Einklang mit der Sage (darin zunächst als,diener und,instrument ), dann als,herr ( Geissel, über der Burg ), in diesem Falle,Herr der Tschechen reflektiert. So soll hier der Golem die dunklen, der Vergangenheit angehörenden, unnatürlichen, irrationalen und zerstörerischen Kräfte personifizieren, die man mit bei dem Judentum verorten möchte. Dies ist der,schatten, der auf die vollständig verdunkelte Prager Burg, die das Tschechentum symbolisiert, von Rabbi Löw, dem Schöpfer Golems, geworfen wird. Durch die Zeichen der Freimaurer werden außerdem stereotypisierende Attribute der Juden nonverbal evoziert: Welverschwörung Fazit Durch diese Stichprobe in der Protektoratspresse sollte ein Beitrag zum Studium des antisemitischen Diskurses dieser Zeit geleistet werden. Konkret wurden bildliche Darstellungen mit dem Thema Judentum in der Zeitung DER NEUE TAG in den Jahren 1939 bis 1945 ausfindig gemacht. Die Analyse ergab teilweise überraschende, teilweise erwartete Ergebnisse. Überraschend war die niedrige Anzahl der bildlichen Darstellungen, die veröffentlicht wurden. Im Vergleich mit der im untersuchten Zeitraum erscheinenden tschechischen Tageszeitung ČESKÉ SLOVO entspricht die Zahl der antijüdischen Karikaturen im NEUEN TAG etwa der Zahl der Karikaturen in ČESKÉ SLOVO allein in zwei Monaten. Dies ist aber nicht unbedingt als Zeichen eines stärkeren Antisemitismus

122 Die bildliche Darstellung der Juden in der Zeitung DER NEUE TAG ( ) der tschechischen Gesellschaft zu verstehen, die für das Ausgrenzungsprogramm der Nürnberger Gesetze durch die ideologisch gesteuerte Presse erst gewonnen werden sollte. In den Jahren 1939 bis 1943 werden Juden vorwiegend über den Davidstern identifiziert und stigmatisiert. Im Jahre 1941, als die Ausgrenzung der Juden massiv zunahm und die antijüdischen Transporte im Protektorat begannen, findet man auf Seiten des NEUEN TAGS solche Darstellungen der Juden, die auf Darstellungen des Teufels anspielen und den Juden als bedrohliche Größe darstellen. Die Karikatur ist hier als Reflex und Instrument der emotional geführten politischen Kampagne zu verstehen, die den Transporten der Juden unmittelbar vorausging. Nach 1943, als die,endlösung weit fortgeschritten war, trat die Darstellung der Juden in der Karikatur in den Hintergrund. Literatur ALLPORT, Gordon W. (1954): The nature of prejudice. Cambridge (Mass.): Cambridge UP. BENZ, Wolfgang (2001): Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus. München: Verlag C. H. Beck. BERÁNKOVÁ, Milena/KŘIVÁNKOVÁ, Alena/RUTTKAY, Fraňo (1988): Dějiny žurnalistiky III. díl. Český a slovenský tisk v letech [Geschichte der Journalistik 3. Die tschechische und slowakische Presse in den Jahren ]. Praha: Novinář. BRŮCHOVÁ, Tereza (2002): Se Židy se žádné řeči nevedou mechanismy stigmatizace židovského obyvatelstva v denících ČESKÉ SLOVO a DER NEUE TAG v říjnu 1941 [ Mit den Juden wird nicht diskutiert Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung in den Tageszeitungen ČESKÉ SLO- VO und DER NEUE TAG im Oktober 1941]. Brno: Fakulta sociálních studií (Diplomarbeit). BRŮCHOVÁ, Tereza (2003): Antisemitismus in der Karikatur. Die bildliche Darstellung der Juden in der Protektoratszeitung DER NEUE TAG in den Jahren Brno: Filozofická fakulta (Abschlussarbeit). DE LANGE, Nicholas (1996): Svět Židů [Welt der Juden]. Praha: Knižní klub. EBELS-DOLANOVÁ, Věra (1993): Ideologické vzorce antisemitismu v postkomunistických společnostech obnovení nebo kontinuita? [Ideologische Muster des Antisemitismus in den postkommunistischen Gesellschaften Wiederaufnahme oder Kontinuität?] In: Antisemitismus Tereza Brůchová, Marek Nekula v posttotalitní Evropě. Sborník z Mezinárodního semináře o antisemitismu v posttotalitní Evropě. Praha: Nakladatelství Franze Kafky, GOFFMAN, Erving (1963): Stigma. Englewood Cliffs (N.J.): Prentice-Hall, Inc. GOMBRICH, Ernst H. (1963): The Cartoonist s Armoury. In: Meditations on a Hobby Horse. London: Europaverlag. JESSL, Oskar R. (1966): Stereotype Vorstellungen von ethnisch nationalen, rassischen und religiösen Gruppen in Jugendschriften. Inaugural- Dissertation, München. KANOVSKÝ, Martin (2001): L udské druhy a l udská mysel kognitívne základy etnických klasifikácií a stereotypov [Menschentypen und Menschengeist kognitive Grundlagen ethnischer Klassifikation und Stereotypen]. In: Etnické stereotypy z pohledu různých vědních oborů. Brno: Etnologický ústav AVČR, KÁRNÝ, Miroslav/MILOTOVÁ, Jaroslava (ed.) (1991): Protektorátní politika Reinharda Heydricha. Tisková, ediční a propagační služba [Die Protektoratspolitik Reinhard Heydrichs. Der Presse-, Editions- und Propandadienst]. Praha: Tisková, ediční a propagační služba. KÁRNÝ, Miroslav (1991): Konečné řešení. Genocida českých Židů v německé protektorátní politice [ Endlösung. Die Genozide der böhmischen Juden in der deutschen Protektoratspolitik]. Praha: Academia. KÖPPLOVÁ, Barbara (im Druck): DER NEUE TAG das verborgene Ende der deutschen Kultur in Böhmen und Mähren. KREJČOVÁ, Helena/SVOBODOVÁ, Jana/HYNDRÁKOVÁ, Anna (1997): Židé v protektorátu. Die Juden im Protektorat Böhmen und Mähren. Maxdorf: Ústav pro soudobé dějiny AV ČR. LERSCH, Philipp (1964): Der Mensch als soziales Wesen. München: Barth. LIPPMANN, Walter (1930): Public Opinion. New York: Macmillan. MESSADIÉ, Gerald (2000): Obecné dějiny antisemitismu od starověku po dvacáté století [Allgemeine Geschichte des Antisemitismus seit dem Altertum bis ins 20. Jahrhundert]. Praha: Práh. MIKULÁŠEK, Alexej (2000): Antisemitismus v české literatuře 19. a 20. století [Antisemitismus in der tschechischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts]. Praha: Votobia. MILOTOVÁ, Jaroslava (1996): Protektorátní tisk a židovská otázka [Protektoratspresse und die jüdische Frage ]. In: Terezínské studie a dokumenty. Praha: Terezínská iniciativa,

123 Die bildliche Darstellung der Juden in der Zeitung DER NEUE TAG ( ) NEKULA, Marek (1999): Etnické stereotypy a jejich artikulace v češtině (a němčině) [Ethnische Stereotypen und ihre Artikulation im Tschechischen (und Deutschen)]. In: SPFFBU, A 47, NEKULA, Marek (1999): Němci a Židé v Nerudových Povídkách malostranských [Deutsche und Juden in Nerudas Kleinseitner Geschichten]. In: SPFFBU, V 2, NEKULA, Marek (2002): Die Juden in den böhmischen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert und die Familie Kafka. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien Slowakei, NF 8, NOVÁK, Tomáš (2002): O předsudcích [Über Vorurteile]. Brno: Doplněk. PASÁK, Tomáš (1967): Problematika protektorátního tisku a formování tzv. skupiny aktivistických novinářů na počátku okupace [Problematik der Protektoratspresse und Herausbildung der sog. Gruppe aktivistischer Journalisten zu Anfang des Protektorats]. In: Příspěvky k dějinám KSČ 1, PASÁK, Tomáš (1980): Soupis legálních novin, časopisů a úředních věstníků v českých zemích z let [Verzeichnis legaler Zeitungen, Zeitschriften und amtlicher Mitteilungen in den böhmischen Ländern in den Jahren ]. Praha: Univerzita Karlova. PAVLÁT, Leo (1998): Antisemitismus nejsetrvalejší zášť v dějinách lidstva [Antisemitismus der konstanteste Hass in der Geschichte der Menschheit]. In: T. Šišková (ed.), Výchova k toleranci a proti rasismu. Praha: Portál, PĚKNÝ, Tomáš (2001): Historie Židů v Čechách a na Moravě [Geschichte der Juden in Böhmen und Mähren]. Praha: Sefer. QUASTHOFF, Uta (1987): Linguistic Prejudices/Stereotypes. In: U. Ammon, N. Dittmar, Norbert, K. J. Mattheier (Hgg.), Sociolinguistics. An International Handbook of the Science of Language and Society. Berlin/New York: Walter de Gruyter, ROTHKIRCHENOVÁ, Livie/SCHMIDTOVÁ-HARTMANNOVÁ, Eva/DA- GAN, Avigdor/ŠIMEČKA, Milan (1991): Osud Židů v protektorátu [Schicksal der Juden im Protektorat ]. Praha: Trizonia. ROTHKIRCHENOVÁ, Livia (1993): Státní antisemitismus během komunistické éry [Staatlicher Antisemitismus während der kommunistischen Ära ]. In: Antisemitismus v posttotalitní Evropě. Sborník z Mezinárodního semináře o antisemitismu v posttotalitní Evropě. Praha: Nakladatelství Franze Kafky, Tereza Brůchová, Marek Nekula SCHMITZ, Charlotte Ilona (1969): Zum Problem der Beleidigung durch Karikaturen. Köln: Inaugural-Dissertation. SCHÖRNER, Barbara (1993): Soziale Stereotype und Selbstbeurteilungen. Wien: VWGÖ. SVOBODOVÁ, Jana (1994): Zdroje a projevy antisemitismu v českých zemích [Quellen und Artikulation des Antisemitismus im tschechischen Teil der Tschechoslowakei ]. Praha: Ústav pro soudobé dějiny AV ČR. WASSERMANN, Henry (1991): Stereotype Darstellungen von Juden, Judentum und Israel in der neuzeitlichen Karikatur. In: G. Ginzel (Hg.), Antisemitismus. Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute. Bielefeld: Verlag Wissenschaft und Politik. WODAK, Ruth/Kirsch, Fritz Peter (Hg.) (1995): Totalitäre Sprache Langue de bois Language of Dictatorship. Wien: Passagen Verlag. WODAK, Ruth /NOWAK, Peter /PELIKAN, Johanna /GRUBER, Helmut /DE CILLIA, Rudolf /MITTEN, Richard (1990): Wir sind alle unschuldige Täter! Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp

124 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil Gerhard Trapp Es war wohl um den Jahreswechsel 1924/25, als beide sich zum erstenmal in Prag begegneten. Oskar Schürer kam aus Hellerau bei Dresden, wo er seit 1922 als Dozent für Kunstgeschichte an der neuen Kunstschule tätig war und seine eigenen kunstgeschichtlichen Studien in Dresden fortsetzte. Hellerau: Gartenstadt und Kunstkolonie, pädagogische Provinz der lebensreformerisch orientierten Landschulbewegung, das vielgestaltige und durchaus heterogene Agglomerat neuen Kunstverständnisses und unkonventionell praktizierter Kunstausübung, eine Keimzelle des modernen Ausdruckstanzes und experimentellen Musiktheaters, hatte nach seiner Gründung 1911 eine Vielzahl deutscher und ausländischer Maler, Musiker, Schriftsteller, Publizisten, Kunsthandwerker und Pädagogen angezogen und inspiriert, darunter viele aus Böhmen wie Rilke, Paul Adler, Werfel, Kafka. 1 Eine späte Spiegelung von Paul Adlers Aufenthalt in Hellerau finden wir noch in Urzidils Erzählung Weißenstein, Karl (URZIDIL 1960: 79 ff.). Für Oskar Schürer hatte Hellerau noch eine ganz persönliche Bedeutung gewonnen. Lernte er doch dort seine zukünftige Frau, die Tschechin Jarmila Kröschlová kennen, die eine tschechische Tanzgruppe an der Dalcroze- Tanzschule fortbildete und sich den Ruf der Begründerin des tschechischen Ausdruckstanzes erwarb. Am 9. November 1924 heirateten sie in Prag und wurden dort ansässig. Resümieren wir Schürers Lebensweg bis hin zu seiner Eheschließung. 2 Aus einer wohlhabenden protestantischen Fabrikantenfamilie stammend, wurde er am in Augsburg geboren. Durch die Eltern in jeder Hinsicht, vor allem auch musisch, gefördert, legt er 1911 das Abitur ab und studiert zwischen Kunstgeschichte, Philosophie, Geschichte und Architektur in München, Berlin und Freiburg. Nach dem Krieg, den Schürer als Reserveoffizier bei der Feldartillerie überstand, setzt er seine Studien in Marburg unter Einschluss der Germanistik fort, wieder in Freiburg und München, danach in Dresden, wo wir ihm in Hellerau bereits begegneten. Kennzeichnend für seine Persönlichkeit, die von ganz verschiedenen Seiten immer als human, offen, emotional einnehmend und als eminent pädagogisch wirkungsvoll beschrieben wird, sind seine frühen lyrischen Versuche, das 1 Zu Hellerau zusammenfassend (SARFERT 1992) 2 Ich stütze mich hierbei auf BROSCHE (1969) sowie auf freundlich erteilte Auskünfte von Oskar Schürers Tochter, Eva Kröschlová, in Prag. Leben und Werk von Johannes Urzidil sind wissenschaftlich weitgehend erschlossen. Als Hinweis nur ein Titel mit ausführlicher Bibliographie und Konferenzbeiträgen zu Einzelaspekten, s. SCHIFFKORN (1999).

125 260 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil traumatische Kriegserlebnis im Stil eines verspäteten Expressionismus aufzuarbeiten erschien das Bändchen Kleine Lieder im Dreiländer-Verlag in München, im gleichen Jahr die Sammlung Versöhnung in der Reihe Der jüngste Tag, Band 71 bei Kurt Wolff in Leipzig. 3 Die hier zu Tage tretende Kraft und Vielfalt sprachlicher Veranschaulichung geht später ein in die furiose Dramaturgie seiner lebensphilosophisch gespeisten Wissenschaftsprosa in den großen Darstellungen alter Städte wie Prag, Metz oder Augsburg. Jarmila Kröschlová ( ) ist Mitte der 20er Jahre Teil der Prager Künstlerszene und durch ihren Vater eingeführt in die höchsten Kreise der tschechischen Gesellschaft bis hin zum Staatspräsidenten Masaryk. Sie vermittelt ihrem Ehemann Kontakte und Freundschaften zur tschechischen Avantgarde-Malerei wie dem Kreis der Tvrdošíjní (Hartnäckigen) oder zu dem wohlhabenden jüdischen Geschäftsmann und Kunstsammler Gibian, dessen im funktionalistischen Bauhausstil errichtete Villa Gibian von dem prominenten Architekten Jaromír Krejcar stammte, auch er im Kreis um Kröschlová, wie auch der Kunstsammler Vincenc Kramář, dazu Bildhauer, Komponisten, Verleger, Redakteure etc. Etliche von ihnen, so schreibt Brosche, gehörten zu dem Kreise um den Dichter Johannes Urzidil, welcher damals als Presse- Attaché an der Deutschen Gesandtschaft in Prag wirkte und auch gerne im Hause Schürer-Kröschl verkehrte. (BROSCHE 1969: 434; URZIDIL 1968) Die jetzt entstehende Freundschaft Schürers mit Urzidil beruht somit auf weitgehender gemeinschaftlicher Interessenlage und gegenseitiger Sympathie: beide erschließen sich wechselseitig neue Kontakte und Einsichten auf kulturellem und wissenschaftlichem Feld und in den kulturpolitischen Spannungszonen deutsch-jüdisch-tschechischer Vergangenheit und Gegenwart in Prag, wovon vor allem Schürer profitiert haben dürfte. Auffällig zugleich, dass beide auch eine gemeinsame, ihnen bis dato unbekannte Vergangenheit verband: So publizierte Urzidil seinen expressionistischen Sündenfall Sturz der Verdammten im gleichen Erscheinungsjahr 1919 in der gleichen Reihe wie Schürer bei Kurt Wolff als Band 65, so besuchte das Ehepaar Schürer den tschechischen Maler Jan Zrzavý 1924 in Paris, wo Urzidil seinerseits ein Jahr vorher seinem Freund und Trauzeugen Reverenz erwiesen hatte (TRAPP 1993: 9ff.), so publizierten beide vor und nach dem persönlichen Kennenlernen z.t. in denselben tschechischen und deutschen Kunstzeitschriften wie VERAIKON (Prag) oder DEUT- SCHE KUNST UND DEKORATION (Darmstadt) oder hatten in Hans Epstein einen gemeinsamen Verleger (vgl. SCHÜRER 1930a-b; URZIDIL 1932). Im Jahr 1930 beispielsweise veröffentlichte Schürer den Aufsatz Čechische Maler der Gegenwart (SCHÜRER 1930b), wo er sich mit großem Sachverstand und Anerkennung dem Œuvre der Maler Václav Špála, Emil Filla, Josef Čapek, Jan 3 Eine Neuausgabe erschien unter dem Titel Schürer, Oskar: Das dichterische Werk im Verlag Roter Milan, Augsburg 1997 (Hg. Armin Strohmeyer). Gerhard Trapp Zrzavý, Rudolf Kremlička, Alfréd Justitz u.a. widmet, ebenso wie es Urzidil zu diesen Künstlern in Dutzenden von Beiträgen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften vorher und nachher getan hatte. Schürer fand in Prag keine feste Anstellung, wurde aber als Referent zu kunstgeschichtlichen Themen geschätzt, hielt viele Vorträge, auch in Deutschland, arbeitete erfolgreich und weitverzweigt als Publizist, auch als Korrespondent der FRANKFURTER ZEI- TUNG. Eine erstrebte Habilitierung er wurde 1920 in Marburg promoviert kam weder an der deutschen noch an der tschechischen Karlsuniversität zustande: Die deutsche Universität verweigerte ihm die Habilitation seiner tschechischen Frau wegen, die tschechische Universität akzeptierte ihn als Deutschen ebenso wenig (GESEMANN 1998: 207). Im Rückblick liegt die bedeutendste Leistung Schürers in den Jahren im Sammeln des Materials für sein monumentales, erstmals 1930 erschienenes Werk Prag. Kultur, Kunst, Geschichte, wovon noch die Rede sein wird konnte sich Schürer schließlich bei Paul Frankl an der Universität Halle- Wittenberg habilitieren, wo er u.a. auch den Germanisten Wolfdietrich Rasch kennen lernt, der ihm 22 Jahre später sein Buch Goethes Torquato Tasso (Stuttgart 1954) widmet. Bis zu seiner Berufung 1937 auf eine Dozentur an der Universität München hielt er sich nur noch zeitweise in Prag auf, pendelte zwischen Halle und Prag oder verbrachte Monate in der Slowakei, wo er den alten Kunstbestand auf seine deutsch-kulturellen Ursprünge hin untersuchte und hierzu in den Folgejahren eine Reihe von Publikationen veröffentlichte. Die Jahre dürfen wir somit als den Zeitraum der intensivsten persönlichen Verbindung von Schürer und dem gut drei Jahre jüngeren Urzidil ansehen. Mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus 1933 laufen beider Lebenswege in objektiver Hinsicht in dramatischer Weise auseinander. Während Urzidil Anfang Februar 1934 aus den Diensten der Prager deutschen Gesandtschaft entlassen wird und beruflich vor dem Nichts steht (vgl. TRAPP 1992), kann Schürer allmählich an deutschen Hochschulen Fuß fassen: am 1. Oktober 1937 nimmt Schürer seine Lehrtätigkeit an der Universität München auf, die mit Erlass des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 24. Juni 1937 angeordnet worden war, mit Erlass derselben Stelle vom 4. Mai 1939 wird er zum außerplanmäßigen, nichtbeamteten Professor ernannt. 4 Am 30. Juni desselben Jahres flieht Urzidil vor Nachstellungen der Gestapo mit seiner jüdischen Frau Gertrude aus dem schon besetzten Prag auf gefährlichen Wegen über Italien nach London (vgl. TRAPP/HEUMOS 1999). Es gibt jedoch keine Hinweise dafür, dass das gegenseitige Vertrauen, das zwischen Schürer und Urzidil herrschte, hierdurch getrübt worden wäre; die Verbindung riss erst mit Urzidils Flucht aus Prag ab und wurde mit einem 1946 beginnenden Briefwechsel wieder aufgenommen. 4 Personalakte Dr. Oskar Schürer, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Akte MK

126 262 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil Schürers Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus wird von Brosche angesprochen: Ich möchte hier keineswegs so verstanden werden, als ob Schürer versucht hätte, der 1933 angetretenen Reichsregierung entgegenzukommen; er verschwieg im vertrauten Kreis nicht, dass er für den neuen Kanzler des Reichs nie Zuneigung empfunden hatte. (BROSCHE 1969: 437) Hierüber kann ein Blick in die verschiedenen Auflagen von Schürers Prag- Buch weiteren Aufschluss geben. Prag. Kultur, Kunst, Geschichte erschien erstmals im Verlag Epstein, Wien/Leipzig Das umfangreiche Werk stieß aus unterschiedlichen Gründen auf erhebliche Resonanz. Der Autor hatte in äußerst fruchtbarer Weise die jeweiligen Wirklichkeiten Prags in den Griff bekommen, indem er tradierte Fachgrenzen überschritt: die Darstellung liefert exakte Kunst- und Architekturgeschichte ebenso wie sie den Raum der Stadt den historischen Ereignissen und Entwicklungen als Bühne zur Verfügung stellt und zugleich eine Kulturgeschichte schreibt, die er in kraftvoller Sprache vom eigenen literarisch-expressionistischen Ursprung her mit Leben füllt der Historiker als Erzähler mit großem Atem. Mag dem heutigen Leser auch manche Wendung oder Metapher outriert erscheinen, so sei daran erinnert, dass bis in die jüngste Zeit die agonale Stadt (Urzidil) zu emphatischen Bekenntnissen verführte, mystifizierend in Angelo Ripellinos Praga Magica (1973) bis hin zum Medientheoretiker Vilém Flusser. 5 Neueste Bilder Prags wie die von Fritz Böhm (1988: 261) (= Bedřich Loewenstein) oder die luzide Summe aller Prag-Darstellungen durch Peter Demetz (1988: 557) nennen Schürers grundlegende Arbeit. Noch im Jahr der Erstauflage rezensiert Urzidil Schürers Buch: Er [Schürer] kam als gereifter Mann ohne jede Voraussetzung in diese ihm völlig fremde Stadt und es war fesselnd, zu beobachten, wie der Dichter und Kunsthistoriker mit furioser Erlebnislust die Eindrücke dieser leidenschaftlich pulsierenden Stadt aufsog. Er vermochte deutlicher zu sehen und reicher zu erleben als der mit Ressentiments politischer und nationaler Art ortsansässige Deutsche oder Čeche. Er durfte, als starker, bloß von eigener Kraft abhängiger Schwimmer, getrost bald dem Wellengang der čechischen, bald dem der deutschen Ideologien folgen, um auf diese Weise Tiefen und Untiefen des bewegten Elements dieser Stadt kennenzulernen. Schließlich wurde so aus der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, eine Sendung, die sich seiner bemächtigte, an der er wuchs und die schließlich in der Meisterleistung einer Monographie Wirklichkeit erlangte. [...] Auch ist die Meisterschaft zu bewundern, mit welcher Schürer, mit den Augen des Deutschen sehend, das heikle Problem löst, Verständnis für das Čechentum aufzubringen, für die Ursachen und Triebkräfte čechischen Verhaltens, das notgedrungen von deutschen Betrachtern eben anders beurteilt wird und 5 Diesen Ruhm will ich künden, den Ruhm des sich in Qualen gegen den Himmel empörenden Geistes. Wenn je eine Stadt, prometheusgleich hunderte Türme himmelwärts stiess und hunderte Kuppeln ballte, absurd verzweifelt entschlossen, dem Geist die Welt zu erobern, dann war es das liebe Mütterchen Prag, das Herz Europas, wie man sagt. (FLUSSER f.) Gerhard Trapp werden muß als von čechischen. Schürer ist allerdings eine unpolitische Natur. Der Sinn für politische Imponderabilien geht ihm ab. Er wird sich deshalb wohl mit mancherlei politisch gefärbten Einwänden von čechischer wie von deutscher Seite abzufinden haben. Das gilt sowohl von den historischen Darlegungen wie von den aktuellen Feststellungen. Zum Beispiel könnte man die geistigen und sozialen Funktionen des gegenwärtigen Prager Deutschtums sicherlich ausgedehnter fassen als es Schürer getan hat, der eben als Außenstehender und vor allem mit dem Blick des Kulturmorphologen an das schwierige Problem dieser Stadt herangeht, die heute nicht eine čechische Stadt mit deutscher Minderheit, sondern die Hauptstadt des Staates ist, also auch die Hauptstadt des Sudetendeutschtums. (URZIDIL 1930: 603f.) Wenn Urzidil in Schürer eine unpolitische Natur sieht, einen bloß von eigener Kraft abhängige[n] Schwimmer, so nimmt er realistisch vorweg, dass Schürer nach 1933 in die Mühlen politischer Auseinandersetzung gerät, als die Zeit politischer Imponderabilien auch für ihn anbricht. Fraglos bezog sich Urzidil auch auf das Vorwort, das Schürer allen Auflagen vorangestellt hatte. Zur Frage des nationalen Standpunkts führt er hier aus: Zum allgemeinen Vorwurf, daß ein Fremder das Wagnis einer Stadtbeschreibung übernommen habe, kann also noch der besondere treten, daß er von seinem, vom deutschen Standpunkte aus, es getan. Solchem Vorwurf gegenüber gilt nur das freie Bekenntnis. Als Deutscher sehe ich in bedeutenden Denkmalen der Prager Geschichte die Leistung meines Volkes. Ich übersehe darüber nicht die Leistung des tschechischen Volkes. Ja gerade das Fremde lockte zu klärender Auseinandersetzung. Meine redliche Mühe ging dahin, den Anteil der Rassen zu erkennen, die gegenseitige Befruchtung zu würdigen. Und dazu trieb mich nicht nur der blutleere Begriff einer Objektivität, sondern persönlichstes Erleben, zu dessen Festigung dies Buch geschrieben wurde. Die zeitübliche Terminologie beleuchtet Schürers Abkunft vom hermeneutischen Enthusiasmus der Dilthey-Schule, mit der er schon in seiner Marburger Studienzeit vertraut wurde und der er lebenslang anhing, ihm u.a. auch vermittelt durch die Person seines alten Studienfreundes Hans-Georg Gadamer. Wie fruchtbar dieses Denken als Verstehen von Zusammenhängen unterschiedlicher historisch gewachsener Objektivationen des Geistes war, wird gerade im Prag-Buch Schürers evident. Nur eines lieferte es gewiss nicht: eine rationale und empirisch anwendbare Begrifflichkeit zur Erkenntnis und Formulierung politischer oder sozialer Prozesse der Gegenwart. Schürers Vorwort zur Erstausgabe schließt mit einer Liste von Personen, denen er für freundschaftliche Förderung dankt. Dazu zählt auch Urzidil, dem Schürer in das erste Exemplar der Erstausgabe diese Widmungsverse hineinschrieb: Lieber, was Du ermöglichst, - hier nimm es: Dies Buch ist auch Deines. Lass Dir die Sorg nicht gereun, die Du so treulich geübt. Juni 1930 / Dein Freund. 263

127 264 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil Urzidil selbst führt hierzu aus: Meine Mitarbeit bzw. Mitwirkung war dreierlei: 1.) erstens besorgte ich ihm eine Menge Material und kontrollierte seine Texte; 2.) las ich die Korrekturfahnen; 3.) und das war wohl das Wichtigste, besorgte ich ihm im letzten Augenblick, als das Erscheinen aus materiellen Gründen gefährdet war, eine Förderungssumme seitens eines reichen Prager Hauses, das zu diesem Zweck als Geschenk Kronen zur Verfügung stellte; auch verkaufte ich selbst im Freundeskreis nachher noch fast 100 Exemplare, deren Erlös Oskar zu Gute kam. All das erklärt die freundschaftliche Widmung. Aber was ich tat, war ja eine Selbstverständlichkeit und ich erwähne es nur sozusagen aus historischen Gründen und weil ich stolz darauf war, konkret mitgeholfen zu haben. Dass mein Name dann aus dem Vorwort der 2. Auflage verschwand 6, war bei der Lage der Dinge nur begreiflich. Oskar hätte sich unmöglich mit meinem in der schwarzen Liste der Nazis geführten Namen belasten können. 7 Die 2. Auflage, 1935 im Verlag Dr. Rudolf Passer, Wien/Leipzig/Prag erschienen, erweitert den Textteil des Buchs erheblich, druckt das Vorwort zur 1. Auflage fast komplett nochmals ab und fügt ein weiteres hinzu, das zu der mittlerweile eingetretenen kontroversen Rezeption Stellung nimmt: An der Grundhaltung des Buchs war nichts zu ändern. Wohl aber legten Mißdeutungen von Ausdrucksweisen der ersten Fassung nahe, die unter dem Thema Prag so vielfach auftretenden gegnerischen Standpunkte schärfer herauszuarbeiten. Ehrliche Vergleichung mit der ersten Fassung wird erkennen lassen, daß in der neuen nichts hinzutrat, was dort dem Sinn nach nicht schon enthalten war. Durch klare Aussage der eigenen Überzeugung erweist man dem Andersdenkenden die Achtung, die man zurückverlangt. Wenn tschechische Stimmen eine deutsche Tendenz verurteilen zu müssen glauben, so ist darauf mit dem gleichen Bekenntnis zu antworten, das im Vorwort zur ersten Auflage offen ausgesprochen wurde. Wo aber deutsche Haltung zum Vorwurf gemacht werden sollte, bleibt nichts zu erwidern. Die 3. Auflage im Verlag Georg D.W. Callwey, München 1939, wiederholt gekürzt aber unverändert auch die uns bekannten Teile der Vorworte zur 1. und 2. Auflage und nennt im Copyright-Vermerk den Callwey-Verlag bereits für das Jahr 1935 das in diesem Jahr jedoch noch beim Wiener Verlag Rolf Passer lag, Rechtsnachfolger des Verlags Dr. Hans Epstein, der als jüdischer Verlag 1938 liquidiert worden war. 8 Das spezifische Vorwort zur 3. Auflage nimmt Stellung zum deutschen Einmarsch in die ČSR am 15. März Schürer schreibt: Als die Märztage dieses Jahres das Schicksal Prags entschieden, war dies Buch über Prag vergriffen. Durch neun Jahre hindurch hatte es seine Arbeit geleistet, die schwere Arbeit, den Deutschen bewußt zu machen, welch ein Reichtum deutscher Volkskraft eingegangen ist in den Jahrtausendbau dieser herrlichen Stadt. Die politische Entwicklung heute und morgen verpflichtet unser Volk, um ein tieferes Verstehen seines Ostschicksals sich zu mü- 6 Hier irrt Urzidil. Sein Name verschwand mit allen anderen erst in der 3. Auflage Brief Urzidils an Elisabeth Schürer vom 23. März Archiv des Leo Baeck Institute New York, collection Urzidil. 8 Einzelheiten bei HALL (1985: ). Gerhard Trapp hen. Die schicksalsumwitterte Gestalt der Moldaustadt kann solchem Bekenntnis die Wege weisen, kann helfen Eigenes und Fremdes, wie es hier zur Stadteinheit sich verschmolzen hat, zu begreifen [...] Hier geht es nicht um schöne Dinge, die den Kunstliebhaber erfreuen sollen. Hier wird um ein Schicksal gerungen. Wie sind solche Sätze zu lesen? Zwar überlässt sich Schürer voll und ganz der trüben Tiefe völkischer Sprachregelung und lässt in jedem Absatz das Schicksal wetterleuchten, formuliert aber nirgendwo etwa einen Dank an den Führer oder die Partei, nie findet sich bei Schürer je eine antisemitische Wendung. Seine Tochter schreibt von einem Besuch Schürers in Prag 1939 oder 1940: da hat er die Okkupation von Prag mit gemischten Gefühlen, aber schmerzlich empfunden. 9 Eine Huldigung an den Nationalsozialismus sähe gewiss anders aus. Auffällig auch die Tatsache, dass der seit der Erstauflage im Vorwort überlieferte Satz: Ich übersehe darüber aber nicht die Leistung des tschechischen Volkes hier wie auch in den Auflagen von 1940 und 1943 ü- berleben konnte! In diesem Zusammenhang findet sich eine aufschlussreiche Information in dem Fragebogen, den Schürer nach Kriegsende am 19. Mai 1945 zum Zweck seiner Weiterbeschäftigung an der TH Darmstadt ausfüllen musste. Auf die Frage 26: Wurden Sie jemals aus rassischen oder religiösen Gründen oder weil Sie aktiv oder passiv dem Nationalsozialismus Widerstand leisteten, in Haft genommen oder in Ihrer Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit oder sonstwie in Ihrer gewerblichen oder beruflichen Freiheit beschränkt? antwortet Schürer: Da ich mich weigerte in meinem Buch über Prag wesentlich von der Partei verlangte Aenderungen durchzuführen, konnte die Neuauflage einige Jahre lang bis zum Nachgeben der Partei nicht erscheinen. 10 Es gibt keinen Anlass zu der Vermutung, dass es sich hier um eine Schutzbehauptung Schürers handeln könnte. Signifikant ist allerdings, dass jetzt im Vorwort von 1939 die Danksagungsliste entfällt und auch später nicht mehr aufgenommen wird. Die 4. Auflage 1940, jetzt in den Verlagen Callwey/München und Rudolf M. Rohrer in Brünn wiederholt alle Vorworte wie bisher, denen der Vermerk vorausgeht: Ein kurzer Fronturlaub ermöglichte es mir, in die nötig gewordene Neuauflage einige Änderungen einzutragen. Sie brauchten an die Grundhaltung des Buchs nicht zu rühren, die hat sich auch vor den ernsten Erlebnissen der vergangenen Monate bewährt. München, Oktober 1940, Oskar Schürer. Gleiches gilt für die 5. und letzte Auflage in den gleichen Verlagen 1943, der Schürer nur wieder einen Satz voranstellt, den man sicherlich als abermalige 9 Brief von Eva Kröschlová an G. Trapp vom 31. Mai Archiv TU Darmstadt, Personalakte Oskar Schürer, Akte Nr /2 265

128 266 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil Bekräftigung lesen kann, sein Werk gegenüber den Pressionen der NSDAP nach Möglichkeit abzuschotten: Die Neubearbeitung beschränkte sich auf Nachtragung verschiedener neuer Forschungsergebnisse und auf geringfügige Korrekturen. Für tiefergreifende Änderungen sehe ich keine Veranlassung. Die Struktur des Buchs bleibt stets unverändert: eine Vorrede, Bild genannt, verlebendigt in geradezu cineastisch eindrucksvoller Weise das so unterschiedlich malerische Stadtbild, der erste Hauptteil Schicksal wird jeweils eingeleitet durch eine Überschau, darauf folgt der zweite Hauptteil Gestalt. Lediglich auf den wenigen jeweiligen Seiten der kulturmorphologisch orientierten Überschau bringt die letzte Auflage neue Ergänzungen, die das deutsche Empfinden und die deutsche Wesensseite als Folie für dumpfe Zwänge des slawischen Schicksals akzentuieren. (SCHÜRER 1943: 10f.) Schürers Laufbahn als Hochschullehrer erforderte auf jeder Stufe seine eigene Bewerbung und überprüfende Gutachten durch die zuständigen NS-Organe. So wird vom Amt des Reichsdozentenbundsführers in München am 26. Mai 1937 ein Schriftsatz erstellt, in dem es u.a. heißt: Über seine frühere politische Tätigkeit ist nichts besonderes bekannt, abgesehen davon, daß er sich eine Zeitlang wohl mehr oder weniger romantischen Schwärmereien hingegeben hat. Schürer gehört nicht der Partei an und ist, soweit bekannt, auch nicht Angehöriger einer Gliederung derselben. In den letzten Monaten ist er aber vom NSLB [Nationalsozialistischer Lehrerbund] und anderen Organisationen zu Vorträgen herangezogen worden. Es besteht der Eindruck, dass Schürer bestrebt ist, den Anforderungen des Dritten Reiches zu entsprechen. (TRAPP 1993: ***) Die Universität München lieferte in der Person des Professors für ältere deutsche Sprache und Literatur, Erich Gierach ( ), der bis 1936 einen Lehrstuhl an der Deutschen Universität in Prag innehatte, mit Datum vom 30. März 1937 ein eindeutigeres Gutachten, so dass das Manko fehlender Parteizugehörigkeit wenig ins Gewicht fiel. Weil hier die ideologische Argumentation im System nationalsozialistischen Denkens bis hin zu für den heutigen Leser absurden Elementen besonders plastisch zu Tage tritt, sei dieses Dokument in toto wiedergegeben: Herrn Dr. Oskar Schürer kenne ich seit mehreren Jahren aus der deutschen Volksbildungstätigkeit in Böhmen, auch habe ich seine kunstwissenschaftlichen Arbeiten, namentlich über die Pfalz wie die Kapelle in Eger, mit stetem Interesse verfolgt. Als geschäftsführender Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für Volksbildung in der Tschechoslowakei und als Obmann des Volksbildungsausschusses in Reichenberg hatte ich reichlich Gelegenheit, Schürers Vortragstätigkeit und damit seine innere Einstellung kennen zu lernen. In den Sudetenländern handelt es sich darum, der staatsbürgerlichen Erziehung, die von den Behörden gefordert wurde, und der zersetzenden marxistisch-jüdischen Volksaufklärung eine auf die Erhaltung eines gesunden Volkstums und die Pflege einer volksdeutschen Gesinnung abzielende Volksbildung entgegen zu stellen. In diesem Rahmen kam auch der Kunstwissenschaft der gebührende Platz zu: es mußte über deutsche Kunst in Gerhard Trapp wahrhaft deutschem Sinne gesprochen werden. Herr Dr. Schürer hat sich dieser Aufgabe mit größter Bereitheit und manchem persönlichen Opfer unterzogen. Seine Vorträge waren äußerst lebendig und wußten die Kunstwerke der Vergangenheit auch mit der Gegenwart in Verbindung zu setzen; sie wurden sehr gern gehört und haben nachhaltig gewirkt. Immer waren sie von echtem volksdeutschen Sinn durchdrungen. Diese Einstellung ist Dr. Schürer umso höher anzurechnen, als er mit einer Tschechin verheiratet ist. Er hat sie freilich nicht in der Tschechoslowakei, sondern im Deutschen Reiche kennen gelernt, wo sie zur Ausbildung in der Gymnastik in Hellerau weilte (sie ist übrigens von der einen großväterlichen Seite her von deutscher Abkunft). Zur Zeit seiner Heirat kannte er die Lage der Dinge in Böhmen nicht; in Böhmen erst sind ihm die Augen über das, was deutsch und was slawisch ist, aufgegangen. Als er aber nach Prag übersiedelte und den unerbittlichen Kampf des tschechischen Volkes gegen das Deutschtum kennen lernte, da ist er sich der nationalen Aufgabe des deutschen Gelehrten bewußt geworden. Obwohl seine Frau der Tochter des Präsidenten Masaryk eine Zeit lang Gymnastikunterricht erteilt hat und er gute Beziehungen hätte ausnutzen können, widerstand er allen Versuchungen und machte nie einen Hehl daraus, daß er ein Deutscher ist. Im Gegenteil, er festigte sich immer mehr in seinen nationalen Anschauungen und widmete seine Arbeitskraft ganz der Erforschung deutscher Kunstwerke in Böhmen. Er hat auch sein Kind in Prag stets in die deutsche Schule geschickt. Für die Verläßlichkeit seiner volksdeutschen Gesinnung kann man volle Bürgschaft übernehmen. Gegen seine Berufung an eine deutsche Hochschule ist nichts einzuwenden, sie kann vom völkischen Standpunkt nur wärmstens befürwortet werden. 11 An der Universität München bemüht sich Schürer sogleich um seine Beförderung zum ordentlichen Professor, was aber zur Voraussetzung hatte, dass seine Militärzeit im 1. Weltkrieg ebenso wie die Prager Jahre, die Schürer hier vom datiert, auf sein Dienstalter angerechnet werden. Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus kommt diesem Wunsch nach und erkennt die Prager Zeit als kulturpolitische Arbeit in Prag an. In diesem Zusammenhang schreibt Schürer an den Rektor der Universität München am 12. September 1940: Ab 1924 habe ich in Prag für die Durchsetzung alter deutscher Kulturansprüche gearbeitet. Meine Forschungen über die Kaiserpfalz in Eger habe ich im Auftrag des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft als Stipendiat der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft durchgeführt. Die beiden Bücher, in denen ich die Ergebnisse meiner Forschungen niedergelegt habe, dürfen den Anspruch erheben, der Reichspolitik vorgearbeitet zu haben durch die wissenschaftliche Begründung des deutschen Anspruchs auf das Sudetenland. Ganz besonders im Reichsinteresse wirkte mein Buch über Prag, das in eben diesen Jahren gearbeitet, im Jahr 1930 in erster Auflage veröffentlicht wurde. Jetzt erscheint von diesem Buch die vierte Auflage. Hier wird die deutsche Kulturleistung im Ostraum anhand einer Kulturgeschichte seines Kraftmittelpunkts Prag nachgewiesen. Es hat das Deutschbewußtsein weiter Kreise des Prager Deutschtums geweckt und die Teilnahme der Reichsdeutschen an diesem Ostschicksal aufgerufen. (TRAPP 1993: ***) 11 Ludwig-Maximilians-Universität München, Universitätsarchiv (UAM), Akte O-N-14. Zu Erich Gierach siehe verschiedene Erwähnungen in GLETTLER/MÍŠKOVÁ (2001). 267

129 268 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil Ähnlich lautende Einlassungen Schürers mit gleichem Tenor gegenüber der NS- Kultusbürokratie sind bei den Akten. Kann man aus ihnen eine opportunistische Haltung erkennen, welche die von offizieller Seite erfolgte Vereinnahmung und Indienststellung seines wissenschaftlichen Werks bereitwillig akzeptierte? Zur Problematik nachträglich gefällter Urteile ist wohl hier dem Historiker Reinhart Koselleck zuzustimmen, der ausführt: Der Vorgriff einer dualistischen Typologie von Gut und Böse verhindert, die unlösbaren Konflikte zu erfassen, in die alle verstrickt wurden, die damals leben mußten. Zur Menge, den Mittleren, den mesoi, ist zu sagen, dass sie alle im NS-Regime verfangen waren, ob als Skeptiker oder als Anpasser, als Utopisten oder als Verzögerer. Wer kann oder darf nur nach Gut und Böse aussortieren? Das moralische Urteil ist, heute wie damals, immer nötig, aber leider nicht konstitutiv für das, was der Fall gewesen war. (KOSELLECK 2003: 14) Als Schürer 1937 nach München geht, begleiten ihn seine Frau und Tochter. Die belastende politische Situation bringt es aber mit sich, dass Mutter und Tochter zwei Jahre später nach Prag zurückkehren und die Ehe geschieden wurde, zumal Jarmila Kröschlová-Schürer ihre tanzpädagogische Arbeit dort intensiv fortsetzen wollte. Schürer blieb jedoch zeitlebens mit seiner Familie in freundschaftlicher Verbindung, verbrachte mit ihr Urlaube in Österreich, besuchte sie auch noch öfters in Prag. Zum 1. Oktober 1942 übernimmt Schürer den Lehrstuhl für Kunstwissenschaft an der TH Darmstadt als außerplanmäßiger Professor und wird am 5. Februar 1943 zum ordentlichen Professor ernannt. Daneben absolviert er ein enormes Vortragsprogramm: allein zwischen September 1942 und April 1943 sind 47 Vorträge im In- und Ausland nachweisbar. Noch in der Münchner Zeit hatte er die Studentin Elisabeth von Witzleben ( ) kennen gelernt, die er Ende 1945 heiratet. Sie ist vor allem mit Arbeiten zur mittelalterlichen Glasmalerei hervorgetreten. Nach Kriegsende wird Schürer ab 1. September 1945 in unverändertem Status an der TH Darmstadt weiterbeschäftigt, und der Öffentliche Kläger bei der Spruchkammer Aschaffenburg-Stadt, damaliger Wohnsitz Schürers, bestätigt ihm am 12. November 1946 schriftlich: Aufgrund der Angaben in Ihrem Meldebogen sind Sie von dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom nicht betroffen. (FLUS- SER 1990: ***) II. Mit Datum vom 5. August 1946 eröffnet Urzidil den Briefwechsel mit Schürer, nachdem er dessen Adresse von der gleichfalls nach New York emigrierten, bereits erwähnten Familie Gibian erfahren hatte. Es handelt sich hierbei um 18 Briefe von Oskar Schürer an Johannes Urzidil (darunter zwei Briefe an Urzidils Frau Gertrude) sowie um 20 Briefe von Johannes Urzidil an Oskar Schürer (darunter einer an Schürers Frau Elisabeth, etliche an beide adressiert). Nach dem letzten Brief Urzidils vom 31. März 1949 an Schürer vor dessen Tod setzt Gerhard Trapp Urzidil den Briefwechsel mit der Witwe Schürers bis zum 30. Dezember 1969 fort. 12 New York, 5. August 1946 Mein lieber Oskar, vor einigen Tagen entnahm ich der hiesigen Zeitung Aufbau, dass Du an der Frankfurter Universität tätig bist 13 [...] Wir sind beide, ich und Trude, glücklich zu wissen, dass Du diese schweren Jahre persönlich gut überstanden hast. [...] Ich möchte mich in meinem heutigen Brief an Dich über politische Dinge nicht auslassen. Du kennst unsere Grundeinstellung ohnehin. Wir sind seit einiger Zeit amerikanische Bürger und gedenken nicht, nach Europa zurückzukehren. Du darfst gewiss einsehen, dass wir alle positiven und negativen Seiten der allgemeinen und besonderen Entwicklungen in Europa und namentlich in Mitteleuropa und Deutschland ziemlich genau zu beurteilen wissen. [...] Trudes jüngerer Bruder ist von den Nazis in Oswiczine durch Gas ermordet worden. Ihrem älteren Bruder gelang es, nach Jerusalem zu entfliehen. Ihre Schwester lebt in England. Dies ist das diasporische Schicksal der Familien, heraufbeschworen durch das dringliche Bedürfnis nach einem Grossdeutschland. Weiter berichtet Urzidil über seine literarischen Projekte, seine kunsthandwerklichen Arbeiten und die Hilfe seiner Frau, um überleben zu können. Er nennt freundschaftliche Kontakte zu anderen Emigranten wie Fritz v. Unruh, Iwan Goll, Ludwig Hardt, Hermann Broch, zum bereits verstorbenen Franz Werfel u.v.a. und informiert Schürer über das Schicksal gemeinsamer tschechischer Malerfreunde aus Prag. Seinem Brief an Schürer legt er Zeilen der Empfehlung für Carl Zuckmayer bei, sein sehr guter Freund reise in Kürze im Auftrag der amerikanischen Regierung nach Deutschland und könne sich für Schürer verwenden. Der lange Brief endet: Schreibe bald und sei von uns beiden innig gegrüsst, Deine Johannes und Trude. Schürer antwortet hierauf am 1. Oktober 1946 aus der Klinik Bad König im Odenwald, wo er nach einer schweren Unterleibsoperation bereits seit zehn Wochen in Behandlung war: Mein lieber Johannes, Dein Brief ist ein Lichtblick in meinen Tagen. Ich danke Dir von ganzem Herzen für diese große Freude. Seit sieben Jahren wartete ich auf den Moment, der die Wunde unserer unterbrochenen Freundschaft schließe. Nun hast Du ihn auf so warme und gütige Weise herbeigeführt. Mein Herz schlägt Euch beiden in inniger Dankbarkeit zu. Ach, meine Lieben, es geht mir nicht gut. Jetzt, wo ich frei wirken könnte, wo ich mit allen Kräften auf die Jugend einwirken müßte, jetzt liege ich krank in der Klinik. [...] Auch seelisch ist es heute schwer, in Deutschland gesund zu werden. Die Not ist unvorstellbar groß. Sobald man sich nicht aktiv gegen sie wehren kann, überfällt sie einen und würgt am Lebensnerv. 12 Der gesamte Briefwechsel befindet sich im Archiv des Leo Baeck Institute, New York, Urzidil-collection. Hier liegen zahlreiche weitere Korrespondenzen Urzidils mit deutschen, amerikanischen, tschechischen und anderen Briefpartnern, von denen bisher nur eine intensiv untersucht wurde (vgl. TRAPP 2000). 13 Ein Irrtum des AUFBAU: Schürer sollte mit der Vertretung eines freien Lehrstuhls für Kunstgeschichte in Frankfurt a.m. beauftragt werden, wozu es aber nicht kam. 269

130 270 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil Schürer informiert Urzidil darüber, dass er 1945 noch einmal geheiratet habe und zeichnet ein liebevolles Bild seiner Frau Elisabeth, die diese schweren Jahre treu mit mir durchgestanden hat. 14 Er schließt mit den Worten: Ich grüße Euch von ganzem Herzen mit den innigsten Wünschen für Euer Ergehen. Euer Oskar Schürer. Urzidil eröffnet den Briefwechsel freundschaftlich, anteilnehmend und wie stets selbstbewusst. Zwar will er nicht über Politik reden, kann dies aber hier und in folgenden Briefen gar nicht umgehen. Sehr deutlich macht er sofort seinen Standpunkt klar so, als wäre er doch nicht ganz sicher, welche Positionen der alte Freund im Deutschland der Jahre wohl bezogen haben könnte. Und umgekehrt wird aus der Antwort Schürers die ängstliche Erleichterung spürbar, dass der Partner unangenehme Fragen oder gar Vorwürfe vermeidet und stattdessen die Freundschaft auf so warme und gütige Weise erneuert. Nach allem, was inzwischen historisch geschehen ist, ist Freundschaft keine Selbstverständlichkeit mehr. Wir werden den Briefwechsel vor allem unter diesem Aspekt von wiederhergestellter Konvergenz oder jetzt zu Tage tretender Divergenz weiter verfolgen, wobei wir uns auf wenige ausgewählte Briefe beschränken müssen. Am schickt Schürer aus Aschaffenburg, wo er nach der verheerenden Bombardierung Darmstadts am Zuflucht gefunden hatte, nochmalsmoralphilosophische Reflexionen über Güte nach New York: Deine Art unserer zu gedenken und mir zu schreiben ist wohltuend und so ganz frei von Ressentiment, das ja so sehr begreiflich wäre und doch leis oder laut verstimmt. Ich habe dessen so manche Zeugnisse, von denen sich Deine Briefe so wohltuend abheben [...] Ihr habt Euch die Güte erhalten und, lieber Freund, gibt es Herrlicheres im Leben zu erhalten oder zu erwerben, als eben die Güte! Am Mangel daran geht die Menschheit zu Grunde. [...] Gütige Menschen wie prägt ihre Gegenwart und ihre Wirksamkeit alles schwer Erträgliche um. Man muß zuerst gütig sein, dann erst erschließen sich die Pforten zur Erfahrung des Absoluten. Urzidil hatte ihn nach Gerhard [Gesemann] gefragt, mit dem Schürer in Prag befreundet war. Gesemann, Ordinarius für Slavistik und 1933/34 Rektor an der Deutschen Universität Prag, nahm gegenüber den unterschiedlichen Vertretern des Nationalsozialismus in Fragen der Hochschul- und Forschungspolitik eine ambivalente und z.t. widersprüchliche Haltung ein (vgl. EHLERS 2001). Schürers Antwort ist die einzige konkrete Äußerung zum politischen Hintergrund einer Person der Zeitgeschichte, die sich in dem ganzen Briefwechsel findet: Ja, lieber Johannes er war immer etwas vorsichtig und diese Schwäche hat seine große Begabung nicht zur Auswirkung kommen lassen, die man ihm und der Wissenschaft ge- 14 Für die Mithilfe bei der Entzifferung der bisweilen schwer leserlichen Handschrift Schürers danke ich ausdrücklich Thilde Hoppe, Heidelberg, und Dr. Sigbert Latzel, München. Gerhard Trapp wünscht hätte [...] Ich habe Gerhards Charakter in politicis immer mit viel Skepsis beurteilt, seine Spontaneität aber stets geschätzt. Heute muß er die Folgen seiner verschiedenen Haltungen tragen. In den folgenden Briefen geht es um Schicksale gemeinsamer Bekannter, um literarische Projekte (Urzidil hatte ihm seine 1945 in New York erschienene Novelle Der Trauermantel zugeschickt) und vor allem um die gemeinsame Erfahrung von Krankheit und Not im Alter. Schürer schreibt: Unsere Rationen sind wieder zurückgegangen. In der Zeitung stand vor 8 Wochen, wir bekämen damals 1500 Kalorien. Heute schweigen die Zeitungen über den Kaloriensatz. Jetzt gibt es auf den Wiesen Gott sei Dank Löwenzahn und Brennessel, was guten Salat gibt. Das schlimmste ist der Fettmangel. Man ist oft schwach [...] Ja, je ärger die Not hierzulande, umso intensiver lebt der Geist auf. Ich hatte jetzt Vorträge in München, Heidelberg, Mannheim usw. Es war großartig, von der Spannung des Publikums getragen zu werden. Ich werde Euch alle Publikationen schicken. 15 Und immer wieder, fast beschwörend, betont er das Gemeinsame unserer tiefsten Wesensart trotz aller Unterschiedlichkeiten. 16 Mit Schreiben vom , in dem Urzidil den Empfang von Schürers Publikationen bestätigt, beginnt eine Phase kritischer Auseinandersetzung im Dialog der beiden Freunde, die lange nachklingt und die in ihren Grundpositionen nicht ausdiskutiert wird. Schürer hatte Urzidil seine Sammlung Vom inneren Aufbau (vgl. SCHÜRER 1946) übermittelt, die 3 Redetexte enthält: Rede an die Studenten, Wege zur Kunst unserer Zeit und Wiederaufbau. Urzidil nimmt vor allem Stellung zur Rede an die Studenten, die Schürer im Herbst 1945 gehalten hatte. 17 Meine lieben jungen Freunde! Nach schreckensvollen Jahren, nach tiefsten Erschütterungen unseres Glaubens, unserer geistigen und physischen Existenz, finden wir uns in den Trümmern unserer Hochschule wieder zusammen, um für unser Leben den neuen Grundstein zu legen. In Trümmern liegt unser Reich, in Trümmern unsere Stadt, in Trümmern liegt in so manchem von euch alle Zuversicht, aller Glaube an die Echtheit des fremden, des eigenen Gefühls. So zögert wohl mancher, zwischen Trotz und Bestürzung schmerzhaft hin und her gerissen, dem Sinn noch zu trauen, den wir euch weisen wollen. Ja, uns zu trauen, die selbst in tiefster Bekümmerung um solchen Sinn uns mühen. Und reißt ihn eine dunkle Lebenskraft auch hinüber in ein dumpfbegehrtes Morgen sein grübelndes Sinnen wird doch immer zurückgeholt in jenes Dämmerreich, das unsere Toten birgt, wo sie alle, die von den Fronten, die aus den berstenden Mauern, die aus den Kerkern, nun still zusammentreten und schweigend Schicksal spüren, wo wir noch qualvoll fragen. Über solchem Grund, über unseren schweigenden Toten, wollen wir unser neues Tagewerk aufbauen. Möge es uns gelingen, daß wir aus ihrem Schweigen einen tieferen Sinn für unser Dennoch heraufheben. (S. 7) Ihr alle also, Verführte und Gegner des gebrochenen Systems, ihr beide seid Opfer. Ihr tragt euer Unsichersein nun heim in ein im Tiefsten verstörtes, in seinem Leben bedrohtes Volk. 15 Brief Schürers vom Brief Schürers vom Auszüge aus Schnüres Rede befinden sich im Anhang. 271

131 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil Wie könnte euch wie es uns noch beschieden war ein Glaube ans Wagnis gelingen. So steht ihr am Ende des grauenvollen Spuks in gleicher Verstörtheit vor euch selbst, wie wir an dessen Beginn, die gleiche furchtbare, das Selbst vernichtende Frage wälzend: Hat es noch Sinn zu leben? Ja, wie wir damals. (S. 9) Ach, ein teuflisches Spiel ward mit euch getrieben. Man zerrte Ideen aus dem heiligen Grund des Volkstraumes empor, warf sie der Sentimentalität des Spießers zum Fraß hin, verdarb sie, bis sie, zu Fratzen erstarrt, zu grotesken Fanatismen ausgeglüht, die Welt bedrohten. Ja, die Gemeinschaft des Volkes, in einer vitalen Ordnung der Stände zum Volksstaat gegliedert, ist sie nicht ein hehres Ziel, wenn sie sich in die Gemeinschaft anderer Völker einfügt zu ausgewogenem Grunde höhergreifender Ideen! Ja, der völkisch bestimmte Sozialismus ist er nicht Sehnsucht der Zeit und ein ehernes Gebot, seit einem Jahrhundert in Revolutionen und Kriegen erstrebt, wert des um ihn vergossenen Blutes, Rettung vor dem Fluch der Maschine, Rettung des Menschen zu sich selbst! (S. 10f.) Das war ja das Satanische dieser Bewegung, daß sie, ihr Teuflisches listig zu verbergen, auch an Ideenwurzeln ansetzte, die dem gesunden Volk teuer waren, daß sie die Würde der Idee benützte, um auch manche unter jenen zu bannen, die den Demagogen duchschauten, die ihn verachten mußten. (S. 11) So lockte er [der Demagoge] die einen aus ihren guten, die anderen aus ihren bösen Instinkten hinunter in den Abgrund der Schuld, die nun dem Volk als Ganzem aufgebürdet wird. (S. 12) Versteht mich recht, Kameraden! Nicht von jenem Schuldigsein ist hier die Rede, wie es uns von manchen Anklägern draußen und drinnen aufgebürdet wird, wie es unter gellendem Hinweis auf Schandtaten Einzelner erwiesen werden soll. Nein, was der Abschaum des Volkes verbrach, ward nie in der Geschichte und werde auch heute nicht als Verbrechen des ganzen Volkes gebrandmarkt. Hier geht es um eine geheimere Schuld, die nur der ganz ermißt, der im Leid zu sich selbst gelangt ist. Vor solchem Spruch müssen wir uns schuldig bekennen. Doch unser Bekenntnis mag alle, die heute im Weltgewissen stehen, erzittern lassen. In unserem Volkskörper ja ist der Giftherd aufgebrochen. Aber durchsickerten die Gifte nicht lange schon auch jene anderen, die heute in ihrer Gerechtigkeit zu erblinden drohen? Treibt unter der unseren, die wir auf uns nehmen wollen, nicht eine tiefere, eine metaphysische Schuld, die alle anklagt, die ganze gesittete Menschheit, weil sie abfiel vom Eigentlichen, weil sie den Sinn ihres Daseins verriet, in leichtfertigem Vorwärtshasten und Zielen glaubte, von deren furchtbarer Zweideutigkeit sie nun überfallen wird. (S. 13f.) Vor unserem eigensten Gewissen gestehen wir unsere Schuld. Unsere Sühne, wir leisten sie in harter Arbeit an uns selbst. (S. 17) Da steigt der Stern des Opfers auf, ein leidvoller Stern. Wehe der Generation und heil ihr, der er erscheint. Wehe ihr, wenn sie ihm flucht wenn sie ihn demütig grüßt, heil ihr. Unter ihm zehrt das Unausgelebte sich auf, das die Zeit gestaut hat, verbraucht sich im Opfer der wirklich Tragenden. Unter ihm reinigt sich die Welt. Von euch, Kameraden, fordert dies Opfer solchen Vollzug. [...] Ja, opfern ist Tat. Laßt euch nicht hinunterlocken in den süßen Todesruf, den wir Deutschen unterm Anruf des Opfers so oft vernehmen. Uns Abendländern wandelt sich die Kreuzesduldung zur Kreuzestat. (S. 20) Ein irdisch Streben, das künstlich zum Mythos gesteigert wird, läßt die Stimmen aus geistigem Bereich nicht mehr vernehmen. Es hörten die Deutschen seit langem nicht mehr die Lehre ihrer Großen im Geiste. So tauschten sie die falschen Werte, und als dann die Not kam, wühlten sie sich in den letzten Mythos ein, der ihnen geblieben war: in den vom Vaterland. Daß ihr fürs Vaterland geopfert habt, Kameraden kein Richter droben und hienieden darf es euch verargen. Im Heilswort Vaterland rührt das Lebendige an heilige Erde. Wehe dem, der diese Erde beschmutzt! Ach, unser Vaterland war nicht so von außen bedroht als vielmehr von innen. Von innen her, in Mißtrauen und Haß, fraß sich der Brand in den Kern Gerhard Trapp des Begriffs, so daß er denen schon zu zerfallen drohte, die noch ehrlich lebten. Die ihn aber mit dem Tod weihten, die starben nicht für die Wahrheit oder Betrug, für irdische Normen. Sie sanken ins Opfer am Leben. Da aber fängt das Heilige an. (S. 23) Der Geistige in dieser Zeit wird sein tragisches Dennoch leben. Der vitale Trieb aber muß sich auflehnen gegen die düstere Perspektive. Mögen die Fremden dort den deutschen Mystizismus, hier die deutsche Sentimentalität belächeln wir müssen unser Wesen leben. (S. 24f.) Stärkt euch am gewordenen Geist unseres Volkes. Stärkt durch ihn euren Glauben an dieses Volk, an euch selbst. Aber laßt euch nicht gleich wieder in wirklichkeitsferne Träume locken. Nicht um Humanismus als Begriff soll s euch heute gehen, sondern um menschlich durchwirktes Leben. Nicht um Sozialismus als Parole, sondern um menschenwürdige Arbeit. Nicht um Christentum als Name, sondern um Hingabe an ein Höheres und um alltägliches Opfer. [...] Auch Arbeit soll Gottesdienst sein. In gottferner Arbeit mußte der Glaube welken. Nur über einer neu mit Sinn erfüllten Arbeit wird er wieder gedeihen. (S. 28f.) Hier, in solcher Durchdringung von elementarem Leben und sinnvoller Arbeit, könnte ein Mythisches ansetzen als gültige Deutung unseres Seins. (S. 33) Aus der Schätzung der Arbeit des Anderen wird die sinnvolle Schichtung aller Arbeitenden erwachsen, wie sie das Ziel eines echten Sozialismus sein soll. Dann wird nicht mehr der Haß des Klassenkampfes ein erzwungenes Beisammen so furchtbar veröden lassen, wie es gestern uns angrinste. Dann werden aus gegenseitiger Achtung jene Duldung und Liebe keimen, die aus einer echten Gemeinschaft die Symbole des Glaubens erlösen. [...] Dies große Werk: dem Menschen eine Arbeit zu sichern, die ihn über den billigen Nutzen hinaufträgt zu Feier und Gebet. (S. 34f.) Urzidil vermerkt nach einigen verbindlichen Eingangssätzen am : Von dem Inhalt konnte ich bisher bloss die ersten zwei Reden lesen. An der ersten wird deutlich, wie schwer man es offenbar bei Euch hat, zu einem Auditorium geradezu und ohne Umschreibungen zu sprechen. Und wie schwer es offenbar Zuhörern fällt, unverbrämte Tatsachendarstellungen zu schlucken. Beides kann ich bis zu einem gewissen Grade gut verstehen. Auch ist mir klar, dass man ein Volk und namentlich eine junge Generation schwerlich damit erziehen kann, dass man ihr unablässig eintrommelt: Euere Eltern und Onkel und Tanten und z.t. Ihr selbst wart Nazis und somit elende Hunde, ihr habt jetzt nur noch zu kuschen, Euere Schuld einzusehen, an Euere Brust zu schlagen und am Bauch kriechend den Boden zu lecken. Gewiß, damit kommt man nicht vorwärts. Auf der anderen Seite sind wir hier in der angelsächsisch-westlichen Welt an eine ungemeine Schlichtheit, Einfachheit und klare Offenheit der Ausdrucksformen gewöhnt, die schon im ganzen Wesen der englischen Sprache überhaupt liegt, die in jedem Falle ein Konkretum einem Abstraktum vorzieht. Du würdest nicht glauben, wie stark diese Dinge auf uns alle auch stilistisch gewirkt haben. Vielleicht bemerkst Du es sogar in der Schreibweise meiner Briefe. [Es folgt hier ein handschriftlich hinzugefügter, verblichener und nicht mehr rekonstruierbarer Satz, der die Elemente Redner in Deutschland, Sprache und Schuld miteinander verbindet.] Indessen scheint mir allerdings, dass da nun wieder einer Geschichtslüge der Weg gebahnt wird, die geeignet ist, sich verhängnisvoll irgendeinmal auszuwirken. Denn wenn auch die Schuld der anderen in gewissem Sinne existiert (so z.b. die Militarisierung des Rheinlandes, die Besetzung Österreichs, der sudetendeutschen Gebiete und später der ganzen Tschechoslovakei zugelassen zu haben; oder z.b. nicht sofort beim Einzug Hitlers in die Reichskanzlei die Beziehungen abgebrochen zu haben; oder z.b. nicht sofort bei den ersten Konzentrationslagermorden gegen Deutschland vorgegangen zu sein), ja also wenn wir gleich eine Schuld der anderen, sogar eine noch weiter zurückliegende zugeben wollen, so steht doch

132 274 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil diese Schuld in keinem Verhältnis zu der, die man heute dem deutschen Volke zuschreiben muss und man kann nicht beiderlei Schuld in einer Ebene sehen. Denn schließlich ist es eben das Schicksal der Nationen, dass ihre Regierungen für sie und sie für ihre Regierungen verantwortlich sind und dass, wechselweise, was die einen tun, die anderen mitzuverantworten haben. Wozu noch kommt, dass die konkrete Beteiligung der deutschen Massen, die Hitler auf den Schild hoben, zahlenmässig so ungeheuer war, dass man heute nicht sich gebärden kann, als hätten da einige wenige ein ganzes Volk vergewaltigt und zu Taten gezwungen, die es aus tiefstem Herzen verabscheute. Ich glaube nicht und auch Deine ersten zwei Reden bestärken mich in dieser Überzeugung dass die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes die Gewalttaten der Nazis mißbilligte. Ich glaube, dass diese Mehrheit die in die Millionen gehenden Morde an Juden wenn schon nicht billigend, so doch gleichgiltig (und mit Befriedigung die Profite einstreichend) mitansah. Ich glaube nicht, dass die Deutschen naiv genug waren, nicht zu wissen, was sich tatsächlich abspielte, sie sind zwar sehr naiv, aber so naiv sind sie nicht. Ich bin überzeugt, dass man die Eroberung Polens, Norwegens, Dänemarks, Belgiens, Hollands, Frankreichs, des Balkans, des Olymps und des Hauptteils des europ. Russland, Italiens, Nordafrikas mit atembeklommener Bewunderung ansah, dass man die Auspowerung, Deportierung, Massakrierung und Expatriierung von Hunderttausenden durchaus billigte und davon Vorteil zog; ich bin davon durchdrungen, dass das Konzentrationslager nur die Kehrseite der Gartenlaube ist und dass Hitler der echten deutschen Seele im Grunde höchst angenehm war. Wenn Du mir also in Deinem letzten Briefe gelegentlich Kletzls, 18 den ich übrigens persönlich tief bedauere, schreibst, dass Millionen von Deutschen in polnischen, russischen und tschechischen Konzentrationslagern zu Grunde gehen, so habe ich dazu zu sagen: Ich billige weder die Russen, noch die Polen, noch die Tschechen. Ich lehne diese Art der Menschenbehandlung ab, sogar wenn es sich um Deutsche handelt (und dieses sogar enthält das ganze Mass meiner Verachtung), aber ich kann angesichts der von Deutschland hingemordeten 6 Millionen Juden von dieser Art Meldungen nicht sehr erschüttert sein. Wir sind hart geworden. Wer uns hart gemacht hat, darüber müßtest Du Deine Audienz befragen. Ich, auch wenn ich mich gerettet habe, habe nicht weniger, im Vergleich mehr verloren als viele Deutsche. Ich bin durch Ängste furchtbarster Art gegangen, als z.b. C. 19 Ordinarius war in München. Er hat sein erstes Kolleg nach dem Einmarsch Hitlers in Prag mit dem Hitlergruss und den Worten Grüss Dich Deutschland aus Herzensgrund eröffnet. Genau so hat das Eichendorff gemeint, nicht wahr! Ich war auf Mildtätigkeit fremder Menschen angewiesen. Ich bin durch Monate in England bombardiert worden und habe die Zerstörungen und die daraus erfolgenden Schicksale persönlich miterlebt. Ich bin im Ozean von einem deutschen U-Boot angegriffen worden. Ich sage Ich und spreche für alle Fälle meiner Art, die noch die grossartigst begünstigten waren. Ich lebe auch heute noch mühselig in einer fremden Welt, in der ich zu Grunde gehen müsste, wenn sie nicht gütig zu mir wäre. Und wenn ich krank bin, sind es die Eltern meiner Hörer und z.t. die Hörer selbst, 20 die mich krank gemacht haben. Die Zahl der durch deutsche Schuld und von Deutschen ermordeten Menschen aus dem Kreise meiner Verwandten, Freunde und Bekannten geht in die Hundert. Das ist nur mein persönlicher Fall. Da kann man nun nicht über die deutsche Schuld in einer Weise sprechen, als wäre sie vermöge des Schuldkoeffizienten der anderen entschuldbarer oder als wäre es nichts gar so Ungewöhnliches schuldig zu sein, denn die anderen sind es ja auch. Ja, auch die anderen tragen manche Schuld, aber im Ver- 18 Otto Kletzl ( ), sudetendeutscher Kunsthistoriker. 19 C : gemeint ist der Literaturhistoriker Herbert Cysarz ( ), an der Deutschen Universität Prag bis 1939, danach an der Universität München. 20 Urzidil arbeitete in diesen Jahren für die Deutschland-Sendungen der Stimme Amerikas. Gerhard Trapp gleich mit den anderen sind sie Waisenknaben. Wahrscheinlich, wenn Du Dich nicht vorsichtig und umschrieben ausdrücken würdest, könntest Du wohl überhaupt nicht reden. Ich glaube aber, dass die deutsche Jugend nicht mittels einer wenn auch noch so diplomatisch angelegten Hypokrisie gerettet werden kann. Einen Tag darauf, am , lässt Urzidil noch einen Brief folgen, wohl in der Absicht, die Schärfe des vorigen etwas abzumildern. Er bezieht sich jetzt auf die dritte Rede Schürers, Wiederaufbau, und nennt sie als in ihrer Art ein Kunstwerk, in welchem Du Deinem wahren Typus getreu, sagst, was Dich persönlich am unmittelbarsten angeht. Diese Ansprache ist in ihrem vortrefflichen Niveau durchaus Deiner würdig und niemand anderer ausser Dir könnte sie halten. Schürers Schilderung des zerstörten Augsburg ergänzt er freilich durch Hinweise auf analoge Vorgänge in Coventry, London oder Rotterdam. Von Urzidils Stellungnahme zu seiner Rede an die Studenten offenbar sehr irritiert, reagiert Schürer jetzt mit einem Brief vom , den er an Gertrude Urzidil richtet. Er schildert seine Schäden durch Ausbombung, die Verluste an Freunden, die Not des Alltags, seine schwere Erkrankung. Aber es seien ihm Freunde geblieben: Das Verstehen und das wortlose Vergeben und Verzeihen der Freunde das ist die Luft, in der die Seele atmen muß, um sich aufschwingen zu können über allem Elend der Zeit. Schürer bedankt sich ü- berschwänglich für ein Lebensmittelpaket mit lang entbehrten Raritäten wie Kaffee, Tee oder Kakao. Aber die beiden letzten Briefe von Johannes gießen bitteren Wermut in die Freude: So viel Mißverstehen, so viel Verdächtigung hatte ich nicht erwartet. Ich kann noch nicht ausführlich auf seine Anmaßungen eingehen. Ich bin tief schmerzlich berührt. Und das nicht so sehr wegen der Verkennung meiner Absichten, sondern mehr ob seiner Gestimmtheit, aus der heraus solche harten Urteile fallen. Liebe Trude, was an mir liegt, wird geschehen, um unsere Freundschaft nicht gefährden zu lassen durch solche Missverständnisse. Worauf Urzidils Antwort zunächst am sich an Elisabeth Schürer richtet, ohne auf den Disput einzugehen, am sich aber wieder direkt an Oskar Schürer wendet: Dass Du meine Anmerkungen zu Deinen Reden als herb und unbegründet empfindest, habe ich eigentlich erwartet. Dass Du in ihnen Verdächtigungen siehst, kann ich nicht ganz verstehen. Wenn ich derartige Empfindungen hegte, hätte ich Dir überhaupt nie geschrieben. Also derartigen Unsinn lass fallen. [...] Will man den Verfall verhindern, muß man an die Wurzel des Übels greifen, sie bloßlegen und mit der Axt gegen sie vorgehen. Getraut man sich dies nicht, wird der Verfall weiter wuchern. Wenn heute Not und Hunger in Deutschland herrscht, so ist dies die Bezahlung für das Hissen des Hakenkreuzes über der Akropolis. Solche Dinge tut man nicht ungestraft. [...] Deine Reden sind schön und wertvoll, ich habe es ausdrücklich gesagt. Dass ich auch sagte, was ich an ihnen vermisse, musst Du mir nicht verübeln. Die Mauern der ermordeten Verwandten und Freunde stehen nächtlich in meinem Zimmer. Von eigener Not spreche ich nicht näher. Dich aber habe ich lieb. In Herzlichkeit, Johannes. 275

133 276 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil Am wendet sich Urzidil abermals an Schürer, der ihm gegenüber seit April verstummt war, und setzt seine Argumentation fort: Nun mußt Du doch verstehen, dass unsereinem jedes halbe Anpacken der Dinge drüben bedenklich erscheinen muss. Bitte gehe nicht hoch, wenn ich sage Halbes Anpacken. Ich meine nicht Dich! Ich meine, was ich aus Berichten entnehme. Ich habe nicht den Eindruck einer wahren Tendenz zu einer redlichen Änderung von Grund auf. Das ist nicht nur betrüblich, sondern auch für Deutschland gefährlich. Mit Schreiben vom meldet sich Schürer wieder zurück: Lieber Johannes, die Absicht, Dir einen Weihnachtsgruß zu schicken war schon reif als gestern Dein Brief (vom 7.11.) kam. Es ist ja gar nicht an dem, daß ich Dir grollte, weil Du meine Auslassungen den Studenten gegenüber nicht goutiertest. Nein, ganz und gar nicht. Ich bin mir der Mängel dieser Rede wohl bewußt und sehr empfänglich für fördernde Kritik. Nicht daß Du jene Rede beanstandet hast, war Anlaß für mein Schweigen, sondern die Trauer darüber, wie Du Deine Äußerungen begründet hast. Daß Du aus tiefem Hass gegen die Deutschen urteiltest, ja daß der Geist der Rache Dich bis unter Deine eigene Würde trieb. Das macht mich traurig. Denn, schau Johannes was mich an Deinen ersten Briefen vom Sommer des vorigen Jahres so tief beglückte, das war doch eben, daß sie voller Güte waren, daß sie aus einer Seelenlage stammten, in der kein Hass trübt, daß sie eine warme Milde ausströmten, in der ich Dein tiefstes Wesen zu erkennen glaubte. Auf diese so beglückende Gabe hin waren jene folgenden Briefe dann ein arger Tusch. Ich konnte ihren Ton mit dem der ersten Briefe nicht zusammenreimen. Dein Bild entschwand mir in lauter Nebel. Nun hab ich Dich aber ebenso lieb wie Du mich. Und so geschieht es eben, daß hinter den Nebeln doch wieder ein Bild auftaucht, nicht das verklärte, was aus den ersten Briefen schien, doch auch nicht das hassverzerrte der anderen. Sondern das Bild meines alten Freundes Johannes Urzidil, das ich so gut kenne, daß ich ihn mir sehr wohl aus Güte und Hass herausdestillieren kann zu dem was er ist. [...] Mir geht s nicht gut und ich denke nicht, daß ich je wieder ganz gesund werden kann. So haben wir alle zu tragen. Daß es mit Würde geschehe, soll unsere ehrliche Anstrengung sein. Leb wohl lieber Freund, leb wohl liebe Trude. An Weihnachten denken wir Eurer. Euer Oskar. Mit seiner Antwort vom beendet Urzidil den Disput, nachdem er die Vorzüge der amerikanischen Zivilgesellschaft gegenüber der autoritätshörigen deutschen Bürokratie hervorgehoben hat. Von Politik lasst uns nicht reden. Wie der alte Goethe zu Kanzler v. Müller sagte: Ich bin nicht so alt geworden, um mich mit den Absurditäten der Weltgeschichte abzugeben. Der jetzt noch folgende Briefwechsel mit Oskar Schürer kehrt zurück zum herzlichen Ton seiner Anfänge. Es erscheint sehr wahrscheinlich, dass es zumindest Urzidil hierbei bewusst war, dass die wiedergewonnene Harmonie ein beiderseits akzeptiertes Konstrukt war, nur zu haben für den Preis einverständlichen Schweigens zu einer unterschiedlich erlebten und beurteilten Vergangenheit. Hinzu kommt die für Urzidil selbstverständliche Rücksichtnahme auf den sich ständig verschlechternden Gesundheitszustand des Freundes. Beide tauschen sich aus über das Goethe-Jahr Während Schürer meint, dass weder der deutsche Idealismus noch die deutsche Klassik helfen könnten, be- Gerhard Trapp gründet Urzidil, warum Goethe auch im Nachkriegsdeutschland seine Bedeutung erhalten werde und schildert den amerikanischen way of life voller Sympathie (15 Jahre später äußert er sich hierzu sehr kritisch; vgl. URZIDIL 1961: ). Fraglos ist für Schürer die gerettete Freundschaft von allerhöchstem Wert und gibt ihm in seinem Zustand permanenten Leidens Trost. In einem Brief vom formuliert er: [...] daß wir alle die unverfälschte Heimat nur noch im tiefverwundeten Herzen retten können und nirgends draussen wollen wir diesen Bund der Herzen liebevoll pflegen. In dem letzten, längeren Brief vom zieht er ein deprimiertes Resümee: Denn alles, was dieses Krankheitsjahr an Gedanken und Erkenntnissen wohl hat reifen lassen, drängt zur Aussage, bzw. zur Klärung durch Aussage. Daß es nun im Dumpfen, Gefühlsmäßigen stecken bleibt, quält etwas. Darüber immer die bedrohende Weltlage, die Unfähigkeit der maßgebenden Mächte, Beispiele aufzustellen, wie regiert, wie gelebt werden sollte. Das ist das bedenklichste Übel, das eine wirkliche Aussöhnung mit den Deutschen hemmt. In mehreren Briefen des Jahres 1948 versucht Urzidil, philosophischen Trost zu spenden und reflektiert über Seele, Körper, Schmerz und Tod, über Glück und Kunst und bleibende Erinnerungen in einer ebenso reichen wie klaren und ruhig strömenden Sprache, die den lebenslangen produktiven Umgang mit der Prosa Goethes erahnen lässt. Der letzte Brief vom , den Schürer nur noch diktieren konnte, erreicht Urzidil aus der Czerny-Klinik in Heidelberg. Schürer will ihm noch zu einem deutschen Verleger des Goethe in Böhmen verhelfen und schließt die wenigen Zeilen: Leb wohl, lieber Johannes, leb wohl, liebe Trude ich danke Euch für Euere Freundschaft, Euer Oskar. Nachdem Urzidil die Nachricht vom Tod Oskar Schürers am erhalten hatte, kondoliert er am Elisabeth Schürer in einem langen Schreiben, worin er die mit Schürer gemeinsam verbrachten Jahre rekapituliert, dessen Erfolge und Fehlschläge erwähnt und ihre Freundschaft festhält, die durch manche Konflikte nur beglaubigt worden sei. Er schließt den Brief mit den Worten: Dass ich und wir Sie in unsere Herzen aufgenommen haben, dass wir Ihnen die Freundschaft bewahren werden, dessen dürfen Sie sicher sein. Ich wünsche Ihnen, dass Ihr Leben im Geiste meines Freundes sich weitergestalte, im Zeichen der Liebe alles dessen, was edel und rein ist, wodurch der Mensch sich selbst und dadurch auch die Anderen emporhebt und wodurch er sich das grosse Anrecht erwirbt, zu sein, zu bleiben und geliebt zu werden. Ihr Johannes. Dem wird Urzidil in einem zunehmend persönlicher werdenden Briefwechsel mit Elisabeth Schürer gerecht, der bis zu seinem letzten Brief am führt, ehe er am auf einer Lesereise in Rom stirbt. 21 Beide trafen 21 Die Briefe Urzidils an Elisabeth Schürer sind im Leo Baeck Institute New York archiviert, die Briefe von Elisabeth Schürer an Urzidil sind nicht bekannt. Ob und warum Urzidil nach Dezember 1969 den Briefwechsel nicht mehr fortsetzte, ist gleichfalls unbekannt. 277

134 278 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil sich auch anlässlich von Urzidils Vortragsreisen in Deutschland, so z.b. im Herbst 1962 in München. Elisabeth Schürer hielt auch engen Kontakt zu Eva Kröschlová, Schürers Tochter aus erster Ehe in Prag. Zusammen mit ihrem Vater und Elisabeth verbrachte Eva Silvester 1941 in Kitzbühl und traf auch 1942 mit Elisabeth zusammen. Eva Kröschlová erinnert sich an das Jahr 1942: Vater fragte mich, ob ich nicht in Deutschland bleiben möchte. Elisabeth hätte mich gerne als Tochter gehabt. Ich wollte aber bei meiner Mutter bleiben und im geliebten Prag. 22 In den 80er Jahren noch lud Elisabeth Eva zu großen Schiffsreisen ein. Bei der akademischen Trauerfeier der TH Darmstadt für Oskar Schürer am hielt kein Geringerer als Hans Georg Gadamer, Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg, die Trauerrede. Sie waren sich erstmals bereits 1919 in Marburg begegnet, wo Schürer durch ihn auch in Berührung mit Philosophen, Theologen und Literaturwissenschaftlern des illustren Marburger Kreises kam. Gadamer erinnert sich an anderer Stelle, dass Schürer ihn im Gefolge des Kunsthistorikers Richard Hamann in die Welt der Dichtung einführte: Oskar Schürer war sieben Jahre älter als ich und wurde die beherrschende Persönlichkeit meiner ersten Marburger Jahre [...] Seine Gabe, Menschen nahezukommen, war einzigartig, und meine freundschaftliche Beziehung zu vielen Professoren, die in diesen Zeilen geschildert werden, verdanke ich der Aufmerksamkeit, die man dem jungen Freunde Oskar Schürer erwies. Nur mit den Philosophen hatte er sonst keinen Kontakt als Mensch des Auges und des Anschauung weckenden Wortes war er für mich geradezu das Korrektiv allzu früher Abstraktionsneigung. Er selbst erzog sich damals zur Wissenschaft und wurde Kunsthistoriker. (GADAMER 1977: 28f.) 23 Gadamers Totenrede folgt Schürers Leben von seinen literarischen Anfängen an. Er zählt ihn zu den vulkanischen Naturen, deren eigenen Spannungsdruck alle bergenden Formen des Lebens, alle Versicherungen und Beruhigungen, die sich anbieten oder gar auferlegen, zu sprengen bestimmt ist und die die Signatur einer in immer gesteigerteren Fragwürdigkeiten umgetriebenen Zeit symbolhaft verkörpern (GADAMER 1952: 6). Schürers phänomenologischorganisches Erfassen des Wesens alter Städte wie Prag, Metz oder Augsburg steht im Einklang mit Gadamers hermeneutischer Methode. Gegen Ende seiner Rede charakterisiert er die verschiedenen Felder von Schürers Forschungen: So sind sie Wissenschaft und mehr als Wissenschaft eine dauernde und uns bleibende Bezeugung unseres Seins. (GADAMER 1952: 18) Schürers Tod, er wird im Mai 1949 im Augsburger Familiengrab bestattet, löst eine Flut von Kondolenzschreiben von Universitäten und Technischen Hochschulen aller damaligen Besatzungszonen, desgleichen von Kammern, Stadtverwaltungen, Verbänden, Landesregierungen, Rundfunkstationen u. dgl. aus. Aus dem 22 Brief von E. Kröschlová an G. Trapp vom Genie der Freundschaft nennt ihn Gadamer an gleicher Stelle (S. 166). Gerhard Trapp Nachruf eines Kollegen der TH Darmstadt, des Architekten und Professors für Baugeschichte Karl Gruber, sei abschließend eine sehr eindrückliche Passage zitiert: Jedem, der seine letzten Vorlesungen besucht hat, wird der Eindruck unvergeßlich bleiben: Schon von der schweren Erkrankung gebeugt, nur mit Mühe und unter Schmerzen sich aufrecht haltend, vergaß er in der Rolle alles was ihn niederwarf sein Geist beherrschte seinen Körper und der gesamte Rest seiner bedrohten Lebenskraft strömte zusammen in diesen letzten Stunden, in denen er sich als Lehrer noch einmal auswirken durfte. 24 Resümiert man im Abstand von über einem halben Jahrhundert den Briefwechsel, so wird ein Phänomen deutlich, das man als semantischen Bruch bezeichnen könnte. Kommunikation im Sinne reziproker Möglichkeit der Verständigung scheitert im Grunde im Anschluss der Rezeption von Schürers Rede an die deutsche Jugend durch Urzidil. Schürer kann sich, wie die meisten seiner Generation, nicht aus Denk- und Sprachmustern einer völkischvitalistischen Philosophie lösen, deren Blickrichtung nach Innen ging, die das Wesen des Individuums ebenso suchte wie jenes des Volkes ( Wir müssen unser Wesen leben ). Zusätzlich vergiftet und vereinnahmt durch die Ideologie des Nationalsozialismus, war diese diffuse Begrifflichkeit zu einem Jargon der Eigentlichkeit (ADORNO 1964) verkommen, der sich noch über mehrere Jahrzehnte nach Kriegsende im öffentlichen Diskurs der BRD behaupten konnte. Auch bedingt durch seinen frühen Tod, konnte sich Schürer von dieser Optik, die für ein nüchternes Verständnis der historischen Katastrophe völlig unbrauchbar war, nicht mehr lösen. Es ist somit nachvollziehbar, welchen Effekt die weiterhin unkritisch verwendeten Begriffe Schürers wie Reich, inneres Reich, Volk, Schicksal usw. auf den von eigenen Vertretern dieses Volks ins Exil gejagte Urzidil haben mussten, der seinerseits in der Emigration in vielen Artikeln den Niedergang der deutschen Sprache im Nationalsozialismus angeprangert hatte und sich dabei immer wieder auf die Klarheit und Tiefendimension in der sprachlichen Gestaltung bei Goethe, Stifter oder Kafka berief (URZIDIL 1940). Schürers Metaphorik hätte ihm als Verschleierungsstrategie erscheinen können, wenn Urzidil sie nicht als Blindheit oder Naivität eines Menschen verstanden hätte, über dessen charakterlicher Integrität er sich sicher war. Es muss ihn besonders betroffen haben, dass der emphatische Appellcharakter von Schürers Rede jede Konkretisierung meidet: das wohlorganisierte Aufkommen des Nationalsozialismus wird so zum Dunkel, [das] von hinten uns anfiel und untergrub. Täter sucht man vergebens: Ihr alle also, Verführte und Gegner des gebrochenen Systems, ihr beide seid Opfer. Politische Theologie liefert Stichworte, wenn das Satanische der Bewegung, das Böse konstatiert wird, wo innere Sühne des Einzelnen zur Erneuerung von 24 Archiv TU Darmstadt. Personalakte Oskar Schürer. Akte Nr /2 279

135 280 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil Volk (nie: Gesellschaft ) und Volksstaat führen soll, genauer: zu einer Art Ständestaat. Der Holocaust wird genannt und literarisch fragwürdig stilisiert: Ganz unten aber wurden die Feuer des Hasses geschürt, Hass gegen die Andersrassigen, Haß gegen die Juden, mit seinen schwelenden Flammen das dreist zusammengebogene Instinktgewirre zu durchglühen. Besonders krass wird die Distanz zu Urzidils eigenen Erfahrungen und Wertungen, wenn es um zentrale Kategorien wie Schuld oder Vaterland geht. Er liest jetzt aus der Feder des Freundes über Hitler, bei Schürer stets der Demagoge : So lockte er die einen aus guten, die anderen aus ihren bösen Instinkten hinunter in den Abgrund der Schuld, die nun dem Volk als Ganzem aufgebürdet wird. Schuld wird quasi internationalisiert und aus der Rechtssphäre ins Metaphysische verschoben, denn unter gellendem Hinweis auf Schandtaten Einzelner soll nicht das ganze Volk gebrandmarkt werden. Schließlich ist die ganze gesittete Menschheit schuldig, weil sie abfiel vom Eigentlichen, weil sie den Sinn ihres Daseins verriet. Was musste Urzidil bei einer Passage empfinden, deren Autor unsensibel dafür ist, dass es im Jahr 1945 moralisch unglaubwürdig geworden ist, im Anruf des Vaterlands noch anknüpfen zu wollen an Schiller oder Hölderlin? Bei beiden Akteuren können wir prototypische Lebenswege im zeitgeschichtlichen Koordinatensystem des 20. Jahrhunderts verfolgen. Bei sehr unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation geht der Gesinnungsethiker Schürer keineswegs als Nationalsozialist, wohl aber in deutscher Haltung den Weg bis zu seinem bitteren Ende. Urzidil auf der anderen Seite steht Schürer in tiefer Kenntnis und Verwurzelung in der deutschen Kultur nicht nach, ist aber als Prager Intellektueller gleichsam deterritorialisiert. Ein Vaterland findet sich bei ihm weder als Begriff noch als Territorium, allenfalls retrospektiv steht hier Böhmen, als dessen verspäteter Landespatriot er sich, nicht ohne Selbstironie, gern beschreibt. Sein eigener Prager Erfahrungshintergrund sich befehdender Nationalitäten lässt ihn schon früh zu einem entschiedenen Gegner eines jeden Nationalismus werden, und er registriert gesellschaftliche Realitäten ohne ideologische Wahrnehmungsverengung hinternational, wie er es einmal formulierte. Das Exil in New York vertieft und erweitert diesen Horizont. In seinem Brief an Schürer vom geben wir ihm das letzte Wort: Nun Du warst ja, wenngleich an Jahren etwas älter als ich, doch immer moderner und wesentlich emotioneller, ich möchte sagen, freiheitlich-revolutionärer als ich. Ich war seit je ein eher konservativer Betrachter der Welt gewesen. Literatur ADORNO, Theodor W. (1964): Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen I- deologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Gerhard Trapp BÖHM, Fritz (1988): 6 mal Prag. München/Zürich: Piper. BROSCHE, Wilfried (1969): Oskar Schürer In: Bohemia. Jahrbuch des Collegium Carolinum 10. München/Wien: Oldenbourg, DEMETZ, Peter (1998): Prag in Schwarz und Gold. München/Zürich: Piper. EHLERS, Klaas-Hinrich (2001): Gerhard Gesemann ( ). Slawist. Prof. Gesemann hatte große Pläne... Slawistische Forschung im politischen Kontext der dreißiger und vierziger Jahre. In: M. Glettler, A. Míšková (Hgg.), Prager Professoren Zwischen Wissenschaft und Politik (= Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17). Essen: Klartext, FLUSSER, Vilém (1990): Der Ruhm, der die Sterne berührt. In: Ders., Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen. Düsseldorf: Bollmann, ***-***. GADAMER, Hans Georg (1952): Gedächtnisrede auf Oskar Schürer. Darmstadt: Neue Darmstädter Verlags-Anstalt. GADAMER, Hans Georg (1977): Philosophische Lehrjahre. Frankfurt/Main: Klostermann. GESEMANN, Wolfgang (1998): Schürer, Oskar. Das dichterische Werk (Rezension der Neuausgabe Augsburg 1997). In: Bohemia 39, Heft 1. München, 207. GLETTLER, Monika/MIŠKOVÁ, Alena (Hgg.) (2001): Prager Professoren Zwischen Wissenschaft und Politik (= Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17). Essen: Klartext. HALL, Murray G. (1985): Österreichische Verlagsgeschichte Wien/Köln/Graz: Böhlau. KOSELLECK, Reinhart (2003): Er konnte sich verschenken. Zum Gedenken an H. G. Gadamer. In: Süddeutsche Zeitung, , 14. SARFERT, Hans-Jürgen (1992): Hellerau. Die Gartenstadt und Künstlerkolonie. Kleine Sächsische Bibliothek Nr. 3. Dresden: Hellerau-Verlag SCHIFFKORN, Aldemar (Hg.) (1999): Böhmen ist überall. Internationales Johannes-Urzidil-Symposium Prag. Linz: Edition Grenzgänger, Folge 26. SCHÜRER, Oskar (1930a): Prag. Kultur, Kunst, Geschichte. Wien/Leipzig: Epstein. SCHÜRER, Oskar (1930b): Čechische Maler der Gegenwart. In: Slavische Rundschau 2, Nr. 9, Prag,

136 Concordia discors. Oskar Schürer und Johannes Urzidil SCHÜRER, Oskar (1943): Prag. Kultur, Kunst, Geschichte. 5. Auflage. München: Callwey. SCHÜRER, Oskar (1946): Vom inneren Aufbau. Drei Reden. In: Der Deutschlandspiegel. Bd. 18/19. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, ***. TRAPP, Gerhard (1992): J. Urzidils Tätigkeit als Pressebeirat an der Gesandtschaft des Deutsches Reiches in Prag In: P. Becher, P. Heumos (Hgg.), Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei (=Veröffentlichungen des Collegium Carolinum München 75). München: Oldenbourg, TRAPP, Gerhard (1993): Johannes Urzidil, Jan Zrzavý und der tschechische Kubismus. In: Sudetenland. Vierteljahresschrift für Kunst, Liteartur, Volkskultur und Wissenschaft 35/1. München, 9 20 TRAPP, Gerhard (2000): Carl Zuckmayer Johannes Urzidil: Zeitzeugen im Dialog. In: Zuckmayer-Jahrbuch 3. St. Ingbert: Röhrig, TRAPP, Gerhard/HEUMOS, Peter (1999): Antibarbaros: J.Urzidils publizistische Tätigkeit in Medien der tschechoslowakischen Exilregierung In: Bohemia 40, Heft 2. München, URZIDIL, Johannes (1930): Schürer, Oskar: Prag, Kultur, Kunst, Geschichte. In: Slavische Rundschau 2, Nr. 8. Prag, URZIDIL, Johannes (1932): Goethe in Böhmen. Wien/Leipzig: Epstein. URZIDIL, Johannes (1940): Die Sprache der Freiheit. In: Čechoslovák v Anglii. London, ***. URZIDIL, Johannes (1960): Prager Trytichon. München: Langen/Müller. URZIDIL, Johannes (1961): Amerika auf lange Sicht. Zu Martin Sterns Zeitschriftenschau in den Schweizer Monatsheften 1960/12 und 1961/1. In: Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft und Kultur 41, Nr. 3. Zürich, URZIDIL, Johannes (1968): Život s českými malíři. In: Výtvarná práce 16. Nr. 5, Praha, ***. Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmischmährischen Lebenswelt Peter Becher Wenn wir von Emigranten sprechen, ist nicht automatisch klar, welcher Personenkreis gemeint ist: Emigranten, Exilanten, Flüchtlinge, Vertriebene, Verfolgte. Die Geschichtsschreibung vermeidet eindeutige Abgrenzungen, wenn das Selbstverständnis der Betroffenen schwankte oder wenn sich die äußeren Umstände so veränderten, dass ein und dieselbe Person vom Verfolgten zum Inhaftierten und vom Freigelassenen zum Emigranten wurde. So unterschiedlich Erlebnisse und Selbstverständnis im einzelnen auch waren, eine Gemeinsamkeit lässt sich für alle Betroffenen angeben, alle sahen sich gezwungen, die vertraute Lebenswelt mit der bitteren Erfahrung des Exils zu vertauschen. Das war der prägende gemeinsame Nenner ihrer Leidenserfahrung. Von dieser Gruppe lässt sich eine zweite abheben, sobald wir über die Emigration in die Tschechoslowakische Republik sprechen, jene Emigranten nämlich, die aus Böhmen oder Mähren stammten, sich in den 20er Jahren nach Deutschland begeben hatten und nun in ihr Geburtsland zurückkehren mussten, wo sie zwar eine veränderte, aber nach wie vor vertraute Lebenswelt vorfanden. Zu ihnen zählten zum Beispiel der aus Brünn stammende Sozialdemokrat Friedrich Stampfer und der Prager Schriftsteller Willy Haas. Eine dritte Gruppe bildete sich schliesslich 1938 heraus, Menschen, die in ihrem Geburtsland geblieben waren und nach dem Münchner Abkommen plötzlich im eigenen Land zu Verfolgten wurden, die aus den Sudetengebieten nach Prag oder Brünn zu emigrieren versuchten und dort denselben Problemen gegenüberstanden und dieselbe Behandlung erduldeten wie alle anderern Emigranten. Dieser dritten Gruppe möchte ich meinen Beitrag widmen, nicht nur, weil sie bislang kaum berücksichtigt wurde, sondern auch deshalb, weil sie das Spektrum der Emigration in allen Details widerspiegelt. Beispielhaft möchte ich drei Lebenswege aus verschiedenen Milieus schildern, das Schicksal eines jüdischen Mädchens aus Südmähren, das eines sudetendeutschen Sozialdemokraten aus Schlesien und das eines katholischen Buchhändlers aus Nordmähren. Ich habe vor, ihre verschiedenen Lebenswelten kurz zu skizzieren und anschließend ihr Schicksal bis 1945 parallel darzustellen. Drei Lebenswelten Böhmens und Mährens Unzählige jüdische Friedhöfe, davon nicht wenige dem Zerfall preisgegeben, zeugen bis heute von der Berechtigung, mit der Franz Werfel (1929: 89) in 282

137 284 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt einem seiner Romane vom Dreivölkerland, Böhmerland schrieb. 1 Das Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden, auf das er damit anspielte, hatte gleichermaßen bereichernde und gefährdende Züge. Wie in anderen Ländern, so mussten die Juden auch hier bis weit in das 19. Jahrhundert hinein in Ghettos leben, Sondersteuern entrichten und Diskriminierungen in Kauf nehmen, die sich immer wieder bis zu Pogromen und Vertreibungen steigerten. Wie in anderen Ländern stellten sie keine homogene Gruppe dar, sondern lebten in einem vielschichtigen Kosmos, Land- und Stadtjuden, Bauern und Händler, Lehrer und Juristen, streng religiös oder weitgehend assimiliert. Auch wenn man heute vor allem an Prag, an die Altneuschul-Synagoge, die Legenden um den Hohen Rabbi Löw und den Schriftstellerkreis um Max Brod und Franz Kafka denkt, so waren sie doch in allen Städten beheimatet, gleichermaßen mit der deutschen wie mit der tschechischen Kultur verbunden lebten mehr als Juden in der Tschechoslowakei. Es gab eine eigene jüdische Partei und die Möglichkeit, sich bei der Volkszählung zur jüdischen Nationalität zu bekennen. In den Sudetengebieten saßen jüdische und deutsche Kinder nebeneinander in den Schulbänken, sie hingen den gleichen Wandervogelidealen an und engagierten sich mit der gleichen Begeisterung in den deutschen Kulturverbänden, sofern nicht der Arierparagraph eine frühe Grenze zwischen ihnen zog. Wie verbunden sich viele Juden mit diesen Gebieten fühlten, bekundet zum Beispiel Friedrich Weiß, der letzte Rabbiner von Teplitz- Schönau. In seinen Erinnerungen, die in Jerusalem aufbewahrt sind, schildert er den Abschied von der lieblichen Sudetenlandschaft, ihren geliebten Bergen und Wäldern, und schreibt von seiner ersten Station auf dem Weg der Emigration: Prag wird nicht meine Heimat sein, nur Wartestätte (WEIß 1986: 352). So vertraut sich Juden und Deutsche in der Ersten Republik geworden zu sein schienen, so schnell verkehrte sich die Freundschaft in ihr Gegenteil: Im November 1938 brannten nicht nur in reichsdeutschen, sondern auch in sudetendeutschen Städten die Synagogen, in Karlsbad und Reichenberg ebenso wie in Mies, Teplitz-Schönau und Aussig. 2 Eine andere Lebenswelt war die der sudetendeutschen Sozialdemokratie, die auf eine fast hundertjährige Tradition zurückblicken konnte, eng verbunden mit der österreichischen Arbeiterbewegung. 3 Bereits 1863 war in Asch die erste sozialistische Organisation auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie entstanden, die sich an den Ideen Ferdinand Lassalles orientierte tagte in 1 Zur Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern vgl. u.a. KÁRNÝ (2001), WLA- SCHEK (1995, 1997, 2003), RYBÁR (1991), IGGERS (1986), SEIBT (1983). 2 Vgl. u.a. über die Vorfälle in Mies WULFFEN (1989: 41) und HAHN (1998). 3 Zur Geschichte der Arbeiterbewegung in den böhmischen Ländern vgl. u.a. STRAUß (1925), HASENÖHRL (1972), BACHSTEIN (1974), ZESSNER (1976), SEWERING- WOLLANEK (1988). Peter Becher Brünn ein Parteitag der österreichischen Sozialdemokraten zur Nationalitätenfrage, bei dem Josef Seliger aus Teplitz-Schönau eines der Hauptreferate hielt. Nach 1918, nach der Trennung von der österreichischen Mutterpartei, entwickelte die sudetendeutsche Sozialdemokratie in der ersten tschechoslowakischen Republik ein vielfältiges politisches und kulturelles Leben, das von eigenen Zeitungen und Zeitschriften über Sportvereine und Naturfreundehäuser bis zu den Gewerkschaften und der DSAP, der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei reichte. Bis 1935 war diese Partei die stärkste deutsche Partei in der Republik. Bis zuletzt kämpfte sie für deren Erhalt. Als die ersten Emigranten über die Grenze kamen, stellte sie den reichsdeutschen Sozialdemokraten ihr weit verzweigtes Organisationsnetz zur Verfügung und half bei der Organisation der Widerstandsarbeit. In ihrer Druckanstalt Graphia in Karlsbad entstand ein Großteil der Dünndruckbroschüren, die über die grüne Grenze in das Reich geschmuggelt wurden. Noch 1938 widmete sie ihr Arbeiterjahrbuch in voller Länge dem Thema Deutsche und Tschechen. Am 15. September 1938 veröffentlichte Wenzel Jaksch, der letzte Vorsitzende der Partei, ihren letzten Aufruf: Mitbürger! Es geht um alles! Die Sudetendeutschen stehen vor historischer Entscheidung. Es geht um Leben und Tod unseres Volkes [...] Nationale Gleichberechtigung, weitgehendste Selbstverwaltung [...] wirtschaftlicher Wiederaufbau und soziale Hilfe können erreicht werden ohne Krieg. Auf der anderen Seite lauert die tödliche Gefahr, daß unser Volk als Werkzeug imperialistischer Vorherrschaftspläne mißbraucht und in einen Abgrund der Vernichtung gestürzt wird. (JAKSCH 1967) Von der katholischen Lebenswelt Böhmens und Mährens zeugen die zahlreichen Barockbauten der Gegenreformation ebenso wie die Gestalt des berühmten Brückenheiligen Johann von Nepomuk. 4 Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts musste der Katholizismus stärkere Anfechtungen in Kauf nehmen. Liberalismus und Sozialismus trugen ebenso dazu bei wie die Losvon-Rom-Bewegung Georg von Schönerers und das Unfehlbarkeitsdogma des Papstes. Der Verlust machte sich nicht nur in den bildungsbürgerlichen Schichten der Städte bemerkbar, sondern auch in den ländlichen Gegenden von Südmähren und Südböhmen, aus denen so bekannte Personen wie Clemens Maria Hofbauer und Johann Nepomuk Neumann hervorgegangen waren wurde auf dem Altstädter Ring in Prag die Mariensäule gestürzt, 1920 eine eigene tschechoslowakische Kirche gegründet. Diese Tendenz bewirkte eine Gegenbewegung, zu der die Initialzündung im Jahr 1891 von der Enzyklika Rerum novarum des Papstes Leo XIII. ausging. Bereits ein Jahr später gründete Leopold Kunschak, der aus der Iglauer Sprachinsel stammte, in Wien einen christlich-sozialen Arbeiterverein. Die christliche Gewerkschaftsbewegung, 4 Zur katholischen Lebenswelt vgl. u.a.: WINTER (1938), SEIBT (1974), MACHILEK (1988); HÄRTEL (1988), NITTNER (1988), LANGHANS (1990). 285

138 286 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt die sich daraus entwickelte, bildete einen ersten Schwerpunkt der Erneuerung. Einen zweiten stellten die kirchliche-liturgischen Reformbestrebungen dar, einen dritten die christliche Jugendbewegung. In der Ersten tschechoslowakischen Republik stellte die katholische Kirche ein wichtiges Element des Gemeinschaftsbewußtseins dar (SEIBT 1993: 283). Sie war nicht national, sondern böhmisch und mährisch organisiert, ihre Diözesen gingen über die Sprachgrenzen hinaus, der Glaube wurde von den offiziellen Vertretern höher angesetzt als das nationale Bekenntnis, die Kirchensprache war nach wie vor Latein, das Priesterseminar bis zuletzt national nicht getrennt. Das Wenzelsjubiläum des Jahres 1929, das tausendjährige Gedenken an den vornehmsten böhmischen Landespatron (SEIBT 1993: 284) vermochte Tschechen und Deutsche gleichermaßen anzusprechen und stellte den religiösen Hintergrund für den Eintritt der Christlich Sozialen Volkspartei (CSVP) und des Bundes der Landwirte (BdL) in die tschechoslowakische Regierung dar. 1935, in dem Jahr, in dem die Sudetendeutsche Partei (SdP) mit einem erdrutschartigen Wahlsieg zur stärksten deutschen Partei in der Tschechoslowakei wurde, demonstrierte der gesamtstaatliche Katholikentag das Nebeneinander von Tschechen und Deutschen (SALOMON 1988: 187). Und noch 1937 kam es zu einer letzten staatsbejahenden Initiative jungaktivistischer Politiker, an der sich von katholischer Seite der junge Abgeordnete Hans Schütz beteiligte. Doch schon im Frühjahr darauf lösten sich alle bürgerlichen sudetendeutschen Parteien auf, auch die CSVP, und schlossen sich Henleins SdP an. Im Bereich der christlichen Jugendbewegung bildeten sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ähnliche Gegensätze wie in allen anderen Verbänden heraus. Während Leopold Kunschak in Wien den gewerkschaftlichen Gedanken im Spannungsfeld zwischen Unternehmen und christlichsozialer Partei zu festigen versuchte, radikalisierte sein jugendbewegter Gegenspieler Anton Orel seine antikapitalistische Einstellung zu einem christlichen Sozialismus. Dabei adoptierte er nicht nur Elemente der Lebensreform- und Jugendbewegung und ihrer asketischen Einfachheits- und Abstinenzvorstellungen, sondern auch des sogenannten katholischen Integralismus, der die Einheit von Glaube und Welt propagierte (HUBER 1985: 12). Auf mitunter kaum noch nachzuvollziehende Weise vermischten sich in diesem Bereich christliche, asketische, antikapitalistische und altgermanische Vorstellungen, die nicht selten sogar geheimbündlerische und antisemitische Züge enthielten. Der gegenseitige Vorwurf von bloßer Vereinsmeierei auf der einen und Schwarmgeisterei auf der anderen Seite (HUBER 1985: 22f.) bewegte nach 1918 auch die sudetendeutschen Jugendverbände in der ČSR. Der Gegensatz zwischen Kunschak- und Orel-Anhängem wurde erst im August 1920 durch die Gründung des Reichsbundes der deutschen katholischen Jugend überwunden. Stellvertretender Vorsitzender wurde der Kunschak-Anhänger Hans Peter Becher Schütz, Bundesobmann der Orel-Ahänger Eduard Schlusche aus Nordmähren, dessen Lebensweg zu den drei Schicksalen zählt, die ich im folgenden näher darstellen möchte. Drei Schicksale Eduard Schlusche wurde im Jahr 1894 in dem kleinen nordmährischen Ort Benisch bei Freudenthal (Benešov/Bruntál) als achtes Kind einer Bürstenmacherfamilie geboren. Er besuchte in Freudenthal die Bürgerschule und absolvierte eine kaufmännische Lehre in einem Sägewerk. Wie alle seine Geschwister war er bereits als Kind im katholischen Vereinsleben tätig und schloss sich noch vor dem Ersten Weltkrieg der Marianischen Kongregation an. Nach 1918 spielte er eine führende Rolle beim Neuaufbau der katholischen Jugendorganisation in der neugegründeten Tschechoslowakei. Beruflich zunächst als Prokurist bei einem Holzindustriellen tätig, machte er sich bald als Buchhändler einen Namen. Er vertrieb Bibeln und katholische Zeitungen, organisierte Buchwochen und war beständig als Wanderbuchhändler unterwegs. Schließlich wurde er auch als Verleger tätig und publizierte eine Vielzahl katholischer Broschüren und Bücher. Bereits 1934 ließ er einen Hirtenbrief der deutschen Bischöfe drucken und über die Grenze in das Deutsche Reich schmuggeln, 1937 publizierte er die päpstliche Enzyklika Mit brennender Sorge, die ebenfalls auf Schleichwegen (HUBER 1985: 40) über die Grenze gelangte schließlich erschien in seinem Verlag eine kritische Auseinandersetzung mit dem unchristlichen Ehrbegriff des Nationalsozialismus (HUBER 1985: 39). 5 Durch sein katholisches Engagement geriet er zunehmend in Gegensatz zur NS-Ideologie, ohne dass er sich bis 1938 als bewusst politisch handelnder Mensch verstanden hätte. Seine Gedankenwelt war vielmehr durch die innerkatholischen Auseinandersetzungen zwischen Kunschak- und Orel-Anhängern geprägt, durch die Vorstellungen der Jugendbewegung und ein gefühlsmäßiges Festhalten an der Monarchie. Wie viele alte Österreicher hoffte auch er auf eine neue Donauföderation (HUBER 1985: 41). In einer ganz anderen Welt wuchs Artur Schober auf, der 1913 im schlesischen Jägerndorf (Krnov) geboren wurde. Sein Vater, von Beruf Textilarbeiter, nach dem Krieg Hauptkassier und schließlich Prokurist der westschlesischen Konsum- und Spargenossenschaft, war von sozialdemokratischer Stadtrat von Jägerndorf. Schober selber wurde bereits als Sechsjähriger Mitglied der Kindergruppe im Arbeiter Turn- und Sportverein (ATUS), später schloss er sich der Kinderfreundebewegung und den Roten Falken an, mit 18 Jahren trat er der DSAP bei. Dort nahm er verschiedene Funktionen wahr, bis er 1935 zum tschechoslowakischen Militär nach Rokitzan (Rokycany) bei Pilsen eingezogen wurde. 1937, nach seiner Entlassung, schloss sich Schober der 5 Der Titel lautete Gefährdete Ehre?, der Autor war Alfred J. Lehmann. 287

139 288 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt Republikanischen Wehr an. Er wurde Kreisleiter für Schlesien und erlebte in seinem Geburtsort Jägerndorf die Zuspitzung der politischen Situation bis zu den Wochen vor dem Münchner Abkommen. Immer wieder kam es zu scharfen, nicht selten handgreiflichen Auseinandersetzungen mit den Henleinleuten. Die große Saalschlacht im Frühjahr 1938 nach einer Rede von Wenzel Jaksch hatte sogar gerichtliche Folgen. Die Kreisleitung der SdP erstattete Anzeige, die Haftstrafen bis zu 3 Monaten nach sich zog. Doch dies war nur die eine Seite der Tätigkeit. Auf der anderen Seite stand die Zusammenarbeit mit reichsdeutschen Genossen, die als Emigranten nach Jägerndorf gekommen waren. Mit ihnen zusammen war Schober in der Grenzarbeit tätig, betreute er Kuriere und versteckte Botschaften. Zweimal ging er selber illegal über die Grenze, um Dokumente eines Emigranten aus Neisse herüberzuholen. Bei den Mobilmachungen im Mai und im September wurde er nach Rokitzan eingezogen und folgte wie die meisten Sudetendeutschen dem Stellungsbefehl. Nach dem Münchner Abkommen wurden alle deutschen Soldaten entlassen. Schober jedoch, der bereits wusste, dass er steckbrieflich gesucht wurde, blieb bis Mitte Oktober beim Militär. Dann machte er sich nach Olmütz (Olomouc) auf den Weg, wo die Jägerndorfer Sozialdemokraten ein Flüchtlingslager eingerichtet hatten. Schließlich wurde er mit seinen Eltern und anderen in Proßnitz (Prostějov) untergebracht, von wo die meisten Lagerbewohner Weihnachten 1938 nach Jägerndorf zurückkehrten. Schober dagegen hatte keine andere Chance, als zu bleiben und sich um ein Visum ins Ausland zu bemühen. Der dritte Lebensweg ist der von Ruth Weisz, die 1922 im südmährischen Lundenburg (Břeclav) an der Thaya geboren wurde. Sie wuchs dort als einziges Kind gut situierter Eltern heran, als sorgenloser Backfisch, der sich weder um die politischen, noch um die religiösen Dinge besonders kümmerte. Im Vordergrund standen die Sorgen und Aufregungen eines Teenagers, der entdeckt, wie groß die Welt ist und wie viele Menschen ihm darin gefallen könnten. Mit ihrer Mutter sprach sie deutsch, mit ihrem Vater tschechisch. Sie besuchte ausschließlich tschechische Schulen, zuletzt die sechste Klasse des Realgymnasiums (WEISZ: 1994). 6 In ihrem unpublizierten Lebensbericht erinnert sie sich an den Sommer 1938, der von allen als ausgesprochen warm und angenehm geschildert wird. Umso herber wirkte der Schock des Münchner Abkommens: [...] auf einmal hat man mir die Erde unter den Füßen weggezogen. Es brach alles zusammen, die Kleinstadt, in der ich aufwuchs, gehörte zum Sudetenland, das an Deutschland abgegeben wurde, und wir wir waren Juden. Es begann ein Flüchtlingsdasein. (WEISZ 1988: 1) 6 Der Darstellung des Schicksals von Ruth Weisz liegt ein unpubliziertes und undatiertes (1988) Typoskript von 42 Seiten, Titel: Und es war keine Lüge, sowie ein Brief an den Verfasser vom 5. März 1994 zugrunde. Peter Becher Ruth Weisz, Artur Schober und Eduard Schlusche, das sind die drei Menschen, deren Schicksal ich näher darstellen möchte. So unterschiedlich die Milieus waren, aus dem sie stammten, so verschieden ihr Alter im Jahr 1938 war Ruth Weisz ein 16jähriges Mädchen, Artur Schober ein 27jähriger Mann, Eduard Schlusche ein 44jähriger Buchhändler sie alle wurden von dem Nationalsozialismus aus ihrem Lebenskreis verdrängt, mussten fliehen und emigrieren, wurden verfolgt und inhaftiert. Im Folgenden stelle ich ihr Schicksal bis Mai 1945 parallel dar, wobei ich jeweils zwei Jahre zu einem Abschnitt zusammenfasse. Herbst 1938 bis Herbst 1940 Stichpunkartig lassen sich für diese Zeit festhalten: 1939 die Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes, der Beginn des 2. Weltkrieges mit dem Feldzug gegen Polen, die Errichtung des Generalgouvernement Polens und das missglückte Attentat auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller; 1940 die Ausweitung des Krieges nach Norden und Westen, die Invasion nach Norwegen, der Angriff auf Holland, Belgien und Frankreich, der deutsch-französische Waffenstillstand, die Bombardierung Londons und der Abschluss des Dreimächtepakts Deutschland-Italien-Japan; für Böhmen und Mähren: 1939 der Einmarsch deutscher Truppen in Prag, die Ernennung Konstantin Freiherr von Neuraths zum Reichsprotektor, die Einsetzung der ersten Protektoratsregierung unter General Eliáš, die Errichtung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Böhmen und Mähren, die Demonstration tschechischer Studenten am Wenzelsplatz und die Schließung aller tschechischen Hochschulen; 1940 die Durchführung des letzten illegalen Palästinatransportes aus dem Protektorat. Wie erging es Ruth Weisz in dieser Zeit, die im Sommer 1938 mit ihrer Familie von Lundenburg nach Prag floh? Schon vor dem Münchner Abkommen arbeiteten die Prager Emigrantenkomitees fieberhaft, um den jüdischen und politischen Flüchtlingen die Einreise in andere Länder zu ermöglichen. 7 Im Oktober 1938 nahm die Zahl der Emigranten derart zu, dass der Andrang kaum noch zu bewältigen war. Der Vater von Ruth Weisz, der Jahrzehnte in einer Bank gearbeitet hatte, war arbeitslos, das Geld auf einem Sperrkonto eingeschlossen, die Gymnasiastin wurde plötzlich zur Hauptverdienerin und Familienversorgerin (WEISZ 1988: 1). Die Familie wohnte im sogenannten Judenviertel, in der Maiselova 9. H. G. Adler beschreibt die damalige Verfassung als Leben halb in Angst, halb betäubt wie nach einem Faustschlag, aber gleichzeitig ein euphorisch optimistisches Zukunftsbild, in dem man die gegebenen Gefahren nicht sehen wollte. (ADLER 1960: 18) Der nächste Faustschlag, der Einmarsch deutscher Truppen in Prag, bestätigte den Juden, in einer Falle zu sitzen. 7 Zum Exil in Prag und zur Tätigkeit der Komitees vgl. BECHER/HEUMOS (1992). 289

140 290 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt Ruth Weisz erlebte in den kommenden Monaten alle Einschränkungen mit, welche die jüdischen Bürger deklassierten. Bereits im März 1939 mussten alle jüdischen Anwälte ihre Kanzleien aufgeben, ab Juni wurde der jüdische Besitz registriert, wurden jüdische Betriebe enteignet und arisiert, im August wurde Juden das Betreten von Schwimmbädern verboten und der Aufenthalt in Gasthäusern eingeschränkt, nach dem Beginn des Polenfeldzuges der abendliche Ausgang nach Uhr untersagt. Ab dem Schuljahr 1939/40 durften jüdische Kinder keine deutschen Schulen mehr besuchen, ab dem Schuljahr 1940/41 keine tschechischen. Im Februar 1940 wurde der Besuch von Kinos und Theatern verboten, im Mai das Betreten der Prager Parkanlagen, im Juli die Benützung der Flussdampfer und der Besuch von Sportveranstaltungen, im August die Einkaufszeiten in nichtjüdischen Geschäften auf die Zeit von Uhr und Uhr beschränkt (ADLER 1960: 9 12). Und trotzdem ging das Leben weiter, versuchten die Familien sich einzurichten, das beste aus der Situation zu machen. Meine Mutter ging oft zum jüdischen Friedhof, dorthin durften wir noch, schreibt Ruth Weisz in ihrer Autobiographie (WEISZ 1988: 4). Sie selbst nützte jede Minute, die sie auf der Straße verbringen konnte. Von einem Sommerabend schreibt sie: Die Luft duftete nach Jasmin und Flieder. Ich stand vor dem Haus und mit dem letzten Glockenschlag schlüpfte ich ins Haus. Wie oft hatte mich meine Mutter gebeten, ich solle doch 5 Minuten früher kommen [...] Ich aber war starrköpfig [...],Nein, bis acht Uhr darf ich und keine Minute früher. Und das sollten die schönsten Jungmädchenjahre sein? [...] Und doch war es schön. (WEISZ 1988: 3f.) Während Ruth Weisz sich auf diese Weise in Prag einzurichten versuchte und doch immer mehr die Zwangsjacke antisemitischer Anordnungen zu spüren bekam, bemühte sich Artur Schober um ein Visum fur die Emigration. 8 Dabei konnte er auf die Hilfe des Vorstandes der DSAP rechnen, der in Prag die Auswanderung gefährdeter Parteigenossen vorbereitete. Ernst Paul und Siegfried Taub, in deren Händen die Durchführung der Aktion lag, konnten die guten Kontakte nützen, die seit den 20er Jahren zwischen der schwedischen und der sudetendeutschen Sozialdemokratie bestanden. Bereits im Oktober 1938 machten sich schwedische Sozialdemokraten ein Bild von der Situation und brachten 40 Einreisevisa mit nach Prag. Weitere 250 Visa folgten in den kommenden Wochen (vgl. TEMPSCH 1988: 4). Im Februar 1939 erhielt Artur Schober ein Visum zugeteilt. Am 16. Februar bestieg er in Prag mit anderen Sozialdemokraten, Männern, Frauen und Kindern einen Zug, der in Oderberg verplompt wurde und quer durch Polen nach 8 Die Darstellung des Schicksals von Artur Schober stützt sich auf das Typoskript eines Interviews, das Rudolf Tempsch aus Floda, Schweden, am 16./ mit Artur Schober geführt hat, sowie auf ein Interview des Verfassers mit Artur Schober, das am in Stuttgart aufgezeichnet wurde. Peter Becher Gdynia an der Ostsee fuhr. Dort stand für die Emigranten der Dampfer Maria Hohn bereit, der sie bis Stockholm brachte. Endstation war schließlich ein Lager in Södra Norrland in der Provinz Gävleborg, ein größerer Bauernhof mit einer Schule, in der zuvor behinderte Kinder unterrichtet worden waren. Hier wohnte Artur Schober mit 6 Personen in einem Zimmer. Die Emigranten, insgesamt 40 bis 50 Personen, arbeiteten auf dem Hof mit und verpflegten sich selbst. Vorübergehend erhielten sie eine finanzielle Unterstützung von den schwedischen Behörden. Zweimal in der Woche erteilte ein Gymnasialdirektor Schwedischunterricht, und schon bald gab es die Möglichkeit, bezahlte Arbeit zu verrichten. Artur Schober arbeitete zunächst als Holzfäller. Im Juni 1939 erhielt er eine Stelle als Melker auf einem Bauernhof. Da er diese Arbeit jedoch nicht gewohnt war, bekam er bereits nach zwei Wochen so geschwollene Finger, als ob er Ameisen in den Händen hätte. (SCHOBER 1994) Im Winter 1939/40 erhielt er eine zweite Anstellung als Knecht bei einem Bauern. Diesmal musste er auf das Feld fahren und im Wald arbeiten. Er musste Holzstämme mit dem Schlitten zu einem See hinunterfahren und auf der Eisdecke stapeln. Im Frühjahr nach dem Eisbruch konnte er dann den Flößern beim Transport der Stämme zu einer Papierfabrik am Storadellen-See helfen. Abgesperrt von dem politischen Geschehen in Böhmen, war er dennoch durch Radionachrichten, politische Diskussionen und schwedische Freunde gut informiert. Vor allem Spitzenfunktionäre der sudetendeutschen Sozialdemokratie wie Ernst Paul, Siegfried Taub und Carl Heller, die ebenfalls nach Schweden emigriert waren, hielten die Verbindung zu anderen Emigrantengruppen aufrecht. Am 14. April 1940 wurde in Malmö die Treuegemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten für Schweden gegründet. Vorsitzender wurde Ernst Paul (vgl. TEMPSCH 1988: 6f.). Damit entstand neben den Sozialdemokraten um Wenzel Jaksch in London ein zweites Zentrum der sudetendeutschen Emigration. Einen ganz anderen Weg ging in dieser Zeit Eduard Schlusche, der katholische Buchhändler in Nordmähren. Nachdem er den Anschluss der Sudetengebiete unbeschadet überstanden hatte, trat er die Flucht nach vorne an und eröffnete am 7. März 1939 in der schlesischen Landeshauptstadt Troppau (Opava) eine neue Buchhandlung. Troppau, das gerade Sitz eines Regierungspräsidenten im neuerrichteten Sudetengau geworden war, erwies sich als gute Wahl. In der Nähe der Hauptpost gelegen, wurde das Geschäft von der Bevölkerung angenommen und beschäftigte schließlich 17 Angestellte. Die Kunden erhielten darin sämtliche Literatur (HUBER 1985: 36), der katholische Charakter schien sich verflüchtigt zu haben. Unter dem Ladentisch war jedoch auch das alte Sortiment zu haben. Schlusche setzte sein katholisches Engagement so unbeirrt fort, dass ihm seine Freunde nach Kriegsbeginn rieten, in die Schweiz auszuweichen. Er lehnte das Angebot jedoch ab und meinte: Für die gute Sache müsse man zu Opfern bereit sein (HUBER 1985: 55). 291

141 292 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt Im Dezember 1940 war es so weit. Edeltraud Gelner, eine seiner Mitarbeiterinnen, erinnerte sich später mit den Worten: Mitte des Monats betraten eines Nachmittags zwei Herren den Laden und wollten sich umsehen. Nach einigen Minuten kamen sie aus der Abteilung für religiöse Literatur, hatten eine Kirchenstandschrift in der Hand und frugen, ob ich nicht wisse, daß diese verboten sei. (HUBER 1985) Die beiden Männer, die von der Gestapo waren, sperrten den Laden ab und versiegelten die Türen. Schlusche, der sich zu dieser Zeit in Freudenthal aufhielt, wurde sofort benachrichtigt. Am nächsten Tag sprach er bei der Gestapo vor. Statt einer Erklärung erhielt er die Anweisung, in seiner Wohnung zu bleiben und sich für weitere Auskünfte bereit zu halten. Auch in Freudenthal wurde die Buchhandlung geschlossen, einzelne Mitarbeiter wurden verhört. Schließlich musste mit der Inventur begonnen werden. So ging das Jahr 1940 zu Ende, ohne das Schlusche wusste, was mit ihm weiter geschehen würde. Herbst 1940 bis Herbst 1942 Stichpunkte dieser Jahre sind für 1941 die Landung der deutschen Truppen in Nordafrika, der Überfall auf die Sowjetunion, die Betrauung Heydrichs mit der Gesamtlösung der Judenfrage, die Einführung des Judensterns, die Eröffnung des Vernichtungslagers Chelmno, die Kriegserklärung Deutschlands an die USA, für 1942 die Wannsee-Konferenz über die Endlösung der Judenfrage, die Eröffnung der Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, Sobibor und Treblinka, die britische Offensive in Nordafrika, die sowjetische Gegenoffensive, die Einkesselung der 6. Armee bei Stalingrad. Für das Protektorat lässt sich für 1941 festhalten: die Ernennung Heydrichs zum Stellvertretenden Reichsprotektor, die Verhaftung von Ministerpräsident Eliáš, der erste Transport nach Theresienstadt; für 1942 das Attentat auf Heydrich, die Vernichtung der Orte Lidice und Ležáky, die Hinrichtung von General Eliáš, die Umwandlung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Zentralamt zur Lösung der Judenfrage. Wie erging es Eduard Schlusche weiter? Zu Beginn des Jahres 1941, als er mit seinen Mitarbeitern unter Aufsicht der Gestapo Inventur machte, konnte er noch auf einen glimpflichen Ausgang hoffen. Ende Februar wurde er jedoch in Freudenthal verhaftet und in das Landesgerichtsgefängnis nach Troppau gebracht. Über sein weiteres Schicksal geben 13 Briefe Auskunft, die er an seine Familienangehörigen richtete. Am 1. März schrieb er: Dringend bitte ich, zu niemandem über mich zu sprechen. Ich bin nur in Schutzhaft kein Strafgefangener. Ich dürfte wohl bald heimkommen [...] Um mich sorgt Euch nicht, mir geht es wirklich gut [...] Den hiesigen Aufenthalt trage ich als ein notwendiges Fastenopfer [...] Eduard Schlusche. Schutzhäftling Troppau. Dr. Zinsmeisterstrasse 27. (SCHLUSCHE: Brief vom ) Peter Becher Dass es ihm doch nicht ganz so gut ging, bezeugt der Nachsatz: Etwas Klosettpapier erbitte ich auch. Sein Bruder, der ihn besuchen durfte, berichtete, dass ein Gestapomann Schlusche für den Nationalsozialismus gewinnen wollte, widrigenfalls [müsse] er mit schlimmen Folgen rechnen [...] (HUBER 1985: 57). Schlusche ließ sich jedoch nicht umstimmen, obwohl ihm die Folgen wohl bewusst waren. In seinem Brief vom 15. März heißt es: Ich werde ja in absehbarer Zeit nicht heimkommen [...]. (SCHLUSCHE: Brief vom ) Bereits drei Tage später kündete er seine Verlegung an: Morgen, Mittwoch, den 19./3., also am St.Josefsfest, fahre ich von hier ab [...] Von meinem neuen Aufenthaltsort werde ich wahrscheinlich sehr selten schreiben dürfen. Bestimmt werde ich jede erlaubte Gelegenheit dazu benützen [...] Ich hoffe, daß ich bald gesund heimfahren kann. Sollte ich aber in der Ferne unvorhergesehen in eine andere Heimat abberufen werden, dann verzeiht mir, wenn ich Euch unabsichtlich wehe getan [habe]. Wir sind alle in Gottes Hand, wir dürfen zuversichtlich sein einmal gibts bestimmt ein frohes Wiedersehen (SCHLUSCHE: Brief vom ). Der nächste Brief trägt den Kopf Gef. Nr , Auschwitz, den: Bis November 1942 blieb Schlusche in Auschwitz inhaftiert. Aus dieser Zeit sind 6 Briefe erhalten. Am 26. April schrieb er: Von mir kann ich nur Gutes berichten. Unmittelbar auf diese Äußerung folgt wie zum Hohn eine von der Zensur herausgeschnittene Stelle. Weiter heißt es im Brief: eine herausgebrochene Zahnplombe wurde mir im hiesigen Zahnambul. rasch u. sehr gut ersetzt. Eine Zeitung bestelle ich mir bei der hiesigen Poststelle, sobald ich von Euch das Geld bekomme [...] Jede, auch die geringfügigste Nachricht freut mich. (SCHLUSCHE: Brief vom ) In seinem zweiten Brief aus Auschwitz, datiert vom heißt es: Heuer war ich am 1. und 2. November nicht auf unserer guten Mutter Grab. Ich gedenke ihrer täglich. An diesen beiden Tagen aber war ich ihr und Euch besonders nahe. Unvermutet folgen die Sätze: Besinnung auf das Wesentliche bedarf es besonders im weltgeschichtlichen Ringen unseres Volkes. Egoismus und Kleinlichkeit haben in keiner Lebenslage Platz. Selbst auf bescheidenem Posten können und müssen wir uns der heroischen Haltung unseres [Herausgeschnitten] würdig erweisen! (SCHLUSCHE: Brief vom ) Wiederholt wurde Schlusche in Auschwitz verlegt. Ende 1941 bewohnt er Block 4, im November 1942 Block 12. Am nahm er Bezug auf den Russlandfeldzug: Die Erschlaffung der Russen dürfte unseren Soldaten im größeren Umfange Weihnachtsurlaube ermöglichen, und schrieb über sich selbst: Von meinem Befinden kann ich wieder nur Gutes berichten. Meine Arbeiten sind mannigfaltig, vielseitig. (SCHLUSCHE: Brief vom ) Am bedankte er sich für ein Paket: am liebsten hätte ich in reiner Freude Kopf gestanden und fügte hinzu: Bitte schickt im nächsten Paket mehr Zwiebeln und Knoblauch, sofern diese bezugsfrei sind [...] 1 Malzdose [...] schickt bitte bestimmt wieder, womöglich auch Rhabarbergelee. Ihr wißt, wie gerne ich Rhabarber immer geges- 293

142 294 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt sen habe. Schließlich folgt die verschlüsselte Selbstbeschreibung: Daß Ernst trotz seiner großen Arbeitsüberlastung die Urlaubshoffnung nicht aufgibt, freut mich. (SCHLUSCHE: Brief vom ) Zur selben Zeit lebte Artur Schober im schwedischen Exil und verdiente sich als Holzfäller, Flößer und Knecht seinen Unterhalt schloss er sich der schwedischen Sozialdemokratie an, wo er schnell Kontakte zu jungen Parteigenossen fand. Trotzdem fiel es ihm und den anderen Emigranten, mit denen er in steter Verbindung stand, nicht einfach zu erklären, woher sie kamen. In einem Gespräch erinnerte sich Schober: Für die Schweden war sudetendeutsch kein Begriff. Den Namen hat man nicht gekannt. Sie konnten auch nicht unterscheiden zwischen reichsdeutsch und sudetendeutsch. [...] Dann haben sie etwas gehört von der Sudetenkrise in der Tschechoslowakei. Da waren wir für sie die sogenannten Tjecken, sie haben uns immer Tjecked gerufen. (TEMPSCH 1988: 9) Den Sommer 1941 über arbeitete Schober aushilfsweise auf Bauernhöfen. Meistens ersetzte er Knechte, die gerade einberufen worden waren. Im Herbst 1941 fand er schließlich eine Stelle in einer Kugellagerfabrik in Hofors. Dort arbeitete er als Hilfsarbeiter in der Gießerei, später bei den Öfen. Er bezog ein reguläres Gehalt, wohnte in einem kleinen Zimmer und fühlte sich in seinem Exilland zum ersten Mal heimisch. Im Frühjahr 1942 änderte sich jedoch die Situation, als die schwedischen Behörden befanden, dass es ungünstig sei, wenn Ausländer in der Rüstungsindustrie arbeiteten. Schober musste die Fabrik verlassen, fand jedoch eine neue Anstellung in einer Baufirma, in der er bleiben konnte, die erste Anstellung seit Beginn der Emigration, die kein Provisorium war (SCHOBER 1994). In der Zwischenzeit spalteten sich die sudetendeutschen Sozialdemokraten auch im schwedischen Exil. Vorhergegangen war die Spaltung in Großbritannien, wo sich die sogenannte Zinner-Gruppe von den Emigranten um Wenzel Jaksch getrennt hatte. Anlass waren unterschiedliche Auffassungen über die Gestaltung der Tschechoslowakei nach dem Krieg. Während die Gruppe um Jaksch Autonomie und Selbstbestimmung für die Sudetendeutschen forderte, stellte sich die Zinnergruppe auf die Seite der tschechoslowakischen Exilregierung, welche die Forderung der Autonomie nicht nur als unannehmbar zurückwies, sondern die sich dem Plan der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung nicht mehr grundsätzlich verwehrte (s. BRANDES 2001). In Prag erlebte Ruth Weisz in diesen Jahren weitere Einschränkungen des jüdischen Lebenskreises. Im Jahresbericht, den die Jüdische Kultusgemeinde der Zentralstelle für 1941 zustellte, heißt es: Am 17. September 1941 wurden Judensterne ausgegeben, am 1. Oktober wurde mit der Registratur der Juden begonnen und insgesamt Personen registriert, denen gleichzeitig das Verbot bekanntgegeben wurde, über ihr Vermögen zu disponieren; am 25. Oktober 1941 wurden 1928 Schreibmaschinen abgenommen und Fahrräder, am 20. Dezember 1941 wurden den Juden Skiausrüstungen abgenommen, Grammo- Peter Becher phone und Grammophonplatten. Gleichzeitig wurden Nähmaschinen registriert. (zitiert in ADLER 1960: 753, Quelle 109) Ab 19. September mussten alle Juden im Protektorat den Judenstem tragen. Ruth Weisz schreibt in ihrer Erinnerung: Meine Eltern waren vollkommen niedergeschlagen und mein Vater brach buchstäblich zusammen. Ich aber sah mich im Spiegel an, sah auf der linken Brustseite den Judenstern mit der Aufschrift Jude und bekam einen hysterischen Lachkrampf, es war einfach zu komisch. Plötzlich war ich zurück in das Mittelalter versetzt worden, abgestempelt, es war einfach unfaßbar. (WEISZ 1988: 1) Obwohl es verboten war, machte sie sich ohne Stern auf Arbeitssuche und gab sich als deutsch sprechende Tschechin aus. Zuerst versuchte sie sich als Modistin, schließlich bekam sie eine Stelle als Verkäuferin in einem Hutgeschäft in der Herrengasse (WEISZ 1988: 2). Die Chefin, die wusste, dass sie eine Jüdin war, nutzte sie schamlos aus und zahlte ein viel zu geringes Gehalt. Ein größeres Problem war die Neugierde der Kolleginnen. Ruth Weisz erinnert sich: Die Mädchen wollten meine Identitätskarte sehen, angeblich interessierte sie mein Foto, ich aber konnte es ihnen nicht zeigen, da auf dem Bild ein großes J gestempelt war. Sie haben mich auch ausgelacht, da ich am Abend nicht mit der Tramway nach Hause gefahren bin, ich wäre ein Geizhals, sagten sie, aber ich konnte doch nicht. (WEISZ 1988: 2f.) Da Ruth Weisz gut deutsch sprach, bediente sie die deutschsprechende Kundschaft, darunter auch die Gattin des Reichsprotektors. Eines Tages jedoch, als Ruth mit ihrer Mutter über den Wenzelsplatz ging, kam ihnen die Starkundin entgegen, sah die Judensterne und blieb wie verwurzelt stehen. (WEISZ 1988: 3) Am nächsten Tag hatte Ruth Weisz ihre Stelle verloren und konnte froh sein, dass die Angelegenheit nicht weiter verfolgt wurde. Herbst 1942 bis Herbst 1944 Stichpunkte des Jahres 1943 sind die Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad, die Verkündung des totalen Kriegs im Berliner Sportpalast, der Aufstand im Warschauer Ghetto, die Landung der Alliierten in Sizilien, die ersten Bombenangriffe auf Hamburg und der Sturz Mussolinis; für 1944 die Verlegung arbeitsfähiger Juden von Auschwitz in deutsche Konzentrationslager, der V-I- Beschuss von London, der Beginn der sowjetischen Offensive gegen die Heeresgruppe Mitte, die Landung der Alliierten in Frankreich, die Einstellung der Vergasungen in Auschwitz und die Anordnung, die Gaskammer zu vernichten. Für das Protektorat: 1943 die Ernennung Wilhelm Fricks zum neuen Reichsprotektor und Karl Hermann Franks zum Staatsminister für Böhmen und Mähren, der Vertrag zwischen der UdSSR und der von Beneš geleiteten Exilregierung der ČSR; 1944 die Zunahme von Sabotageakten, schließlich der Aufstand in der Slowakei. 295

143 296 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt Ruth Weisz schreibt über diese Zeit: Wir lebten in ewiger Angst. Der eine ging, der andere verschwand. Niemand wußte wohin und was mit den Leuten geschah. [...] Die Angst vor einem Transport wurde fast etwas Physisches. (WEISZ 1988: 5) Im März 1943 wurde die Angst zur Gewissheit. Die Aufforderung zum Transport kam, als ihre Mutter im jüdischen Krankenhaus lag, ihr Vater war völlig zusammengebrochen (WEISZ 1988: 5). Mit allen Mitteln versuchte Ruth den Transport zu verschieben und erwirkte sogar ein Gespräch mit dem jüdischen Leiter der Transportabteilung, von dem H. G. Adler schrieb: Vor Mandler [...] zitterte sogar die tschechische Polizei, die er unter Drohungen nötigte, mit ihm deutsch zu sprechen. Mandler sah mit Reitstiefeln und Lederjacke wie ein SS-Mann aus. (ADLER 1960: 70) Entsprechend verlief das Gespräch: Ein riesengroßer Saal, [...] hinter dem Schreibtisch ein kahlköpfiger Mann, [...] entlang der Wände bewaffnete Ordner. [...] Ich habe kaum zwei Sätze herausgebracht, da brüllte er mich an: Heraus, keine Widerrede. Sie gehen laut Termin ab, es gibt keine Verschiebungen. Ich [...] wollte gehen und da bekam ich meine erste kräftige Ohrfeige im Leben. Verdutzt blieb ich stehen [...] Was habe ich getan? Ich habe eben den Allerhöchsten beleidigt, man darf ihm den Rücken nicht zeigen, man muß rückwärts gehend den Raum verlassen. (WEISZ 1988: 6) Als Ruth Weisz zu Hause packte, klingelte es plötzlich, vor der Tür stand ihre Mutter, die bereits operiert werden sollte. Als sie jedoch hörte, dass ihre Familie in den Transport käme, ließ sie sich sofort nach Hause bringen. So kam die ganze Familie nach Theresienstadt. Gemeinsam mit ihrer Mutter wurde Ruth Weisz in einer Kaserne untergebracht, 40 Leute in einem Zimmer, jeder auf einer Holzpritsche. Es gab nur wenig zu essen, alle quälte der Hunger. Erst als Ruth einen Job in der Entläusungsstation erhielt (WEISZ 1988: 7), wurde es besser. Sie musste Frauen und Männer am ganzen Körper einseifen und abwaschen. Als Zulage erhielt sie 1 Kartoffel + 1 Schale wässeriger Milch. (WEISZ 1988: 8) Im August 1943 wurde sie eines Nachts in das Bad gerufen. Ein Transport mit Kindern aus Bialystok war angekommen. Sie waren in Lumpen gekleidet, die größeren hielten die kleinen bei der Hand, und manche hatten Zettel mit Namen angeheftet an der Brust. Die Kinder waren ganz eingeschüchtert, [...] die meisten [hatten ge]sehen, wie man ihre Eltern umgebracht hat[te]. [...] Sie erzählten grausame Sachen, und wir dachten, kindliche Fantasie und Angst, die übertreiben einfach, so was gibts ja gar nicht. Als die Kinder unter die Brausen sollten, wurden sie buchstäblich hysterisch, schrien, klammerten sich an [...] Tische und Bänke und waren nicht dazu zu bringen, ins Bad zu gehen [...] Baden [bedeute] Tod. Aus den Brausen käme kein Wasser, sondern Gas. Juden werden nicht gebadet, sondern vergast, so wie Ungeziefer. Das wußten die Kinder von ihren Eltern und wollten nicht um die Welt unter die Duschen gehen. (WEISZ 1988: 10) Ruth Weisz und die anderen Hilfskräfte waren ratlos. Sie glaubten den Kindern nicht und zeigten ihnen, dass aus den Hähnen tatsächlich Wasser kam. Peter Becher Im selben Sommer lernte Ruth Weisz einen zehn Jahre älteren Mann namens Karel kennen. Im Dezember wurde geheiratet. Religiös, aber gültig, es gab ja kein Standesamt. (WEISZ 1988: 12) Doch die Ehe stand unter keinem guten Stern. Bereits zwei Tage nach der Hochzeit kam Karels Mutter in den Transport. Karel konnte seine Mutter nicht alleine fahren lassen. Stundenlang wurde in den Familien debattiert, schließlich beschloss Ruth Weisz, mit Karel und seiner Mutter freiwillig in den Transport zu gehen (WEISZ 1988: 13). Die Fahrt im Viehwagon dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Ruth Weisz schreibt: Menschen wurden ohnmächtig, doch keiner konnte umfallen, einige starben im Stehen, einige wurden verrückt. Es gab nur einen einzigen Kübel, der nicht geleert wurde. Wir waren in einem fürchterlichen Zustand, der Gestank war kaum auszuhalten und wir dösten halb wach, halb ohnmächtig vor uns hin. (WEISZ 1988: 14) In Auschwitz wurde Ruth Weisz rasiert, eiskalt gebadet und neu eingekleidet. In der Schreibstube musste sie unterschreiben, was man ihr abgenommen hatte, dann wurde ihr eine Häftlingsnummer eintätowiert. Schließlich kam sie in das Familienlager nach Birkenau. Sie wurde der Elite Baracke VI zugeteilt, wo sie mit 6 Mädchen eine Pritsche teilen musste, wo Tag und Nacht Licht brannte und die Häftlingsmusikkapelle [...] spielen mußte (WEISZ 1988: 17). Ruth wurde zunächst zum Stubendienst, dann zum Außenkommando eingeteilt, wo sie schwere Steinblöcke schleppen musste (WEISZ 1988: 19). Einmal durfte sie auf einer Postkarte des Roten Kreuzes nach Hause schreiben und um ein Brotpaket bitten. An wen sollte sie schreiben? Sie richtete die Karte an ihre tschechische Wirtschafterin in Lundenburg, die nun in Prag wohnte, erhielt jedoch nie eine Antwort, geschweige denn ein Paket. Im Sommer 1944 wurden Häftlinge für den Arbeitseinsatz in Norddeutschland ausgewählt. Die Selektion wurde von Dr. Mengele (persönlich) durchgeführt, wir, die Häftlinge, waren nackt, er besoffen, die Kapelle spielte, und er zeigte mit seiner Peitsche willkürlich (nach) links oder rechts, Leben oder Gas. (WEISZ 1988: 23) Der Transport, dem Ruth Weisz zugeteilt wurde, landete in Hamburg in einem Außenkommando des KZ Neugaul. Mit ca. 300 Frauen wurde sie im 3. Stock einer Kaserne untergebracht. Es stand nur ein Teil des Hauses, eine Seite war wie abrasiert, Hamburg ein einziger riesengroßer Trümmerhaufen (WEISZ 1988: 25). Ruth musste im Hafen arbeiten, 16 Stunden am Tag, Essen gab es nur einmal täglich, abends, immer dasselbe Menü: Ein bißchen heißes Wasser mit undefinierbaren Abfällen [...] im Blechtopf serviert und ein Stückchen Brot (WEISZ 1988: 25). Als Ruth Weisz von Prag nach Theresienstadt transportiert wurde, arbeitete Artur Schober immer noch als Hilfsarbeiter in einer schwedischen Baufirma. In der Zwischenzeit hatten sich, wie bereits erwähnt, die sudetendeutschen 297

144 298 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt Sozialdemokraten auch im schwedischen Exil gespalten. Je umfassender die Aussiedlungspläne der tschechoslowakischen Exilregierung in London wurden, umso stärker trat der Gegensatz zur Jaksch-Gruppe hervor. Schließlich wurden die tschechoslowakischen Pässe der Aussiedlungsgegner nicht mehr verlängert. Die Sozialdemokraten um Ernst Paul wurden staatenlos und mussten um schwedische Fremdenpässe ansuchen (TEMPSCH 1988: 10). Um die drohende Aussiedlung doch noch zu verhindern, fassten sie im Herbst 1943 den Plan, Mitglieder illegal nach Böhmen zu bringen. Sie sollten die Bevölkerung über die Pläne informieren und zu Widerstandsaktionen gegen das NS- Regime auffordern. Von England aus sollte eine Gruppe mit Fallschirmen abspringen, von Schweden aus eine Gruppe zu Fuß eingeschleust werden (TEMPSCH 1988: 10; s. ferner EXLER 1979). Zu den Freiwilligen der schwedischen Gruppe zählte Artur Schober. Gemeinsam mit Artur Oehm fuhr er im Januar 1944 nach Helsingborg. Mit verschiedenen alliierten Stellen und der dänischen Widerstandsbewegung war der Einsatz genau abgestimmt worden (TEMPSCH 1988: 14). Die beiden hätten mit falschen Papieren, getarnt als Mitglieder der Organisation Todt, durch Dänemark und Deutschland fahren und im Sudetengau Kontakt zu verschiedenen Personen aufnehmen sollen (SCHOBER 1994). Es kam jedoch ganz anders. Ein Motorboot der dänischen Untergrundbewegung fuhr sie in der Nacht auf den Öresund hinaus, wo sie auf ein dänisches Lotsenboot umstiegen. In Helsingör wartete bereits ein dänischer Polizist, der ihnen weiterhelfen sollte. Kaum waren sie jedoch umgestiegen, gingen alle Küstenscheinwerfer an, das Meer wurde taghell beleuchtet, von allen Seiten schossen deutsche Torpedoboote heran und zwangen das Lotsenschiff mit einem Schuss vor den Bug beizudrehen (SCHOBER 1994). Die Aktion war bereits zu Beginn aufgeflogen. Schober und Oehm wurden sofort verhaftet und zur Gestapo von Helsingör gebracht. Es folgten 14 Tage mit Einzelhaft, Nachtverhören und Stockschlägen, bei denen Schober das Schlüsselbein gebrochen wurde (SCHOBER 1994). Anschließend kamen sie in das Lager Horseröd, wo sie bis Mitte März interniert waren. Dann wurden sie nach Kopenhagen und schließlich in das Zuchthaus Drei Bergen gebracht. Dort erhielten sie wieder Einzelhaft, bis sich im April die Gestapozentrale von Karlsbad für sie interessierte. In einem Gefängniszug, in den so kleine Zellen eingebaut waren, dass die Gefangenen die meiste Zeit stehen mussten (SCHOBER 1994), wurden sie über Stralsund, Posen und Dresden nach Karlsbad transportiert. Wieder gab es Einzelhaft und Verhöre, bis zu vier Stunden hintereinander, wobei sich die Gestapoleute abwechselten. Nach vier Wochen wurde Anklage erhoben wegen Hochund Landesverrat mit Feindesbegünstigung. Bis Dezember 1944 war Schober in Karlsbad eingesperrt, nach einiger Zeit nicht mehr alleine, sondern in Zelle 7, mit 6 Leuten (SCHOBER 1994). Einer der Mitgefangenen machte ihn darauf aufmerksam, dass er gar nicht wegen Hochverrat angezeigt werden konnte, Peter Becher da er 1938/39 nicht deutscher Staatsbürger geworden, sondern ins Exil gegangen war. Trotzdem sollte ihm in Leipzig der Prozess gemacht werden. Die Kriegsereignisse verhinderten jedoch die Durchführung, der Volksgerichtshof wurde evakuiert, und in Karlsbad traf der Befehl ein: Aufhebung des Prozesses bis nach Kriegsende, Überweisung in Schutzhaft nach Flossenbürg. (SCHOBER 1994) Während Ruth Weisz ihren Leidensweg über Auschwitz-Birkenau nach Hamburg ging und Artur Schober im Gestapogefängnis von Karlsbad einsaß, fristete Eduard Schlusche sein Dasein in Auschwitz. Ende 1942 wurde er auf Transport in das KZ Hamburg-Neuengamme geschickt, wo er die Häftlingsnummer erhielt und Block 1 bewohnte. Aus den Jahren 1943 und 1944 ist nur ein einziger Brief erhalten, datiert vom Überschwänglich bedankte er sich für Handschuhe, Mütze, Ohrenschützer und andere Kleidungsstücke. Ein sehnlicher Wunsch wurde mir unverhofft erfüllt: am hl. Abend erhielt ich 2 Kerzen und 1 schönen Ständer. Der Brief schließt mit dem Satz: Mehr denn je bin ich in dies. Tagen in Wachen und Träumen daheim u. bei uns. Frontlern. (SCHLUSCHE, Brief vom ) Kein Wort über seine Arbeit oder seinen Zustand. Die Zensur verbot jede Beschreibung. Lediglich die Abkürzungen einiger Worte deuten Erschöpfung an. Eine zeitlang sollen ihn Geschwüre geplagt haben (HUBER 1985: 58). Kein Wort, wie sie behandelt wurden, wie er sich fühlte, welche Arbeit er überhaupt noch verrichten konnte. Herbst 1944 bis Sommer 1945 Stichpunkte der letzten Kriegsmonate: die Konferenz von Jalta, der Luftangriff auf Dresden, der Selbstmord Hitlers, die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte; im Protektorat der Aufstand in Prag am 5., die Befreiung von Theresienstadt am 8. Mai Von Eduard Schlusche sind aus dieser Zeit noch drei Briefe erhalten. Am versicherte er: Sind meine Gedanken ständig daheim in diesen schicksalschweren Tagen ganz besonders und bestätigte, am ein großes Pkt. von Freudenthal u. 1 Päckchen mit 6 wundervollen Äpfeln erhalten zu haben (SCHLUSCHE: Brief vom ). Am 11. Februar versicherte er an der Zensur vorbei, die womöglich bereits unaufmerksam wurde: Mit atemloser Spannung verfolge ich das Ringen unserer Soldaten so hart am Rande der Heimatorte und meinte, für unsern 80 jähr. Vater wäre es unmöglich, das Vaterhaus zu verlassen (SCHLUSCHE: Brief vom ). Im letzten Brief vom 25. Februar steht der mehrdeutige Hinweis: Nebst treuester Pflichterfüllung müssen wir jetzt erst recht alles tun, um uns gesund zu erhalten bzw. es wieder zu werden. (SCHLUSCHE: Brief vom ) Eine letzte Karte war offensichtlich vom 8. März datiert (HUBER 1985: 56). Danach ist von Eduard Schlusche kein Lebenszeichen mehr bekannt. Bekannt ist, dass die letzten Häftlinge des Lagers von Hamburg-Neuengamme in der Zeit 299

145 300 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt zwischen dem 22. April und dem 1. Mai 1945 auf drei Schiffe verladen wurden. Die Kap Ancona und die Thielbeck wurden am 3. Mai von der britischen Luftwaffe bombadiert und versenkt. Die Athen entkam in die Bucht von Lübeck. Dreieinhalb Jahre nach Kriegsende erhielt Schlusches Schwester vom Bezirksgericht Freudenthal eine amtliche Todesbestätigung. Als Todestag wird darin der 28. April 1945 angegeben (HUBER 1985: 58). Wie erging es Artur Schober? Zwischen Weihnachten 1944 und Neujahr 1945 wurde er wieder in einen Gefangenenzug gesteckt und über Eger und Weiden in das KZ Flossenbürg gebracht. Die erste Zeit musste er in einem Steinbruch arbeiten, später unter dem Kommado Schafler Flugzeugwracks ausschrotten (SCHOBER 1994). Immer wieder mussten die Häftlinge zum Appell antreten, zwei, drei Stunden stehen. Jede Nacht starben Gefangene. Am 20. April wurde das Lager zum ersten Mal evakuiert. Der Befehl lautete: Verlegung nach Dachau. Noch am selben Abend mussten die Gefangenen zurückmarschieren. Zwei Tage später erfolgte die zweite Evakuierung, diesmal im Zug. In Nabburg an der Waldnaab war eine Brücke gesprengt. Von hier ging es zu Fuß weiter, Richtung Schwandorf. Wer nicht mitkam, wurde an Ort und Stelle erschossen. Bei einer Rast erhielt Schober gemeinsam mit 6 französischen Häftlingen, den Befehl, nach Nabburg zurückzugehen. Als Leichenkommando hatten sie die Aufgabe, die Erschossenen zu begraben (TEMPSCH 1988: 17). Bewacht wurden sie von einem einzigen Mann. Am Abend stießen weitere Franzosen zu der Gruppe, die bereits in den Zivilstand überführt worden waren. Sie entwaffneten den Wachmann und versteckten sich im Wald, bis die amerikanischen Truppen die Kämpfe für sich entschieden hatten. Ende April wurden sie in ein amerikanisches Feldlazarett bei Nabburg aufgenommen. Damit gingen Haft und Krieg für sie zu Ende. Ruth Weisz war Ende 1944 in Hamburg. Es gab schwerste Arbeit und kaum zu essen. Eine der Aufseherinnen fütterte ihr Hündchen vor den Augen der Gefangenen mit Weißbrot mit Butter (WEISZ 1988: 25). Immer wieder gab es Bombenalarm. Die Wachen zogen sich in die Luftschutzkeller zurück, die Gefangenen mussten in der Kaserne bleiben. Je chaotischer die Verhältnisse wurden, umso öfters gelang es Ruth und ihrer Freundin Lily, für kurze Zeit zu verschwinden und etwas Essbares zu organisieren. Um zu leben mußten wir stehlen oder betteln. In einer Ruine entdeckten sie einen alten Mann, der hier mit zwei Pferden hauste. Bei ihm konnten sie sich wärmen und waschen und oft stand ein Topf Suppe am Ofen für uns (WEISZ 1988: 26). Auch von anderer Seite erhielten sie Hilfe. An einer Tür, an der sie klopften, stand der Name Musikdirektor Dr. Witt. Hier wurde ein Märchen wahr. Die Dame des Hauses nahm uns in die Küche und servierte auf Porcellantellern ein warmes Essen (WEISZ 1988: 27). Schließlich wurden die Gefangenen nach Harburg verlegt, wo sie gemeinsam mit französischen Kriegsgefangenen in einer Sprengstofffabrik arbeiten muss- Peter Becher ten. Die Baracken waren mitten in der Fabrik untergebracht, um die alliierten Flieger von Angriffen abzuhalten. Im Frühjahr 1945 kam der Befehl zur Evakuierung. Wieder wurde Ruth Weisz in Viehwaggons gesperrt und ins Ungewisse transportiert. Diesmal endete der Zug in Bergen-Belsen. Am meisten schockierte Ruth der Zustand der Häftlinge. Es war einfach unbeschreiblich jämmerlich, wie die aussahen. (WEISZ 1988: 31) Es gab kaum noch etwas zu essen, keine Arbeit, keine Appelle. Viele der Häftlinge saßen nur noch apathisch herum, in der Ferne war bereits das Donnern der Geschütze zu hören, die Front kam immer näher. Mitten im Lager waren die Gestorbenen zu einem riesigen Haufen aufgeschichtet. Plötzlich wurde die Wachmannschaft nervös und wollte dieses Zeugnis ihrer Untaten verschwinden lassen. Die Häftlinge mussten zur Räumungsarbeit antreten. Außerhalb des Lagers wurde eine Grube ausgehoben, an Stricken mussten sie die Toten hinausschleppen (WEISZ 1988: 32). Schließlich bemerkte Ruth, dass die Wachmannschaft nicht mehr zu sehen war. Gemeinsam mit ihrer Freundin Lily versteckte sie sich zwischen den Leichen und wartete bis es dunkel wurde. Dann schlich sie in das Lager zurück und setzte sich erschöpft neben die anderen Gefangenen auf die Erde. Plötzlich wurde es ganz still, man hörte den Kanonendonner nicht mehr [...] Ich weiß nicht, wie lange ich so stumm da saß, plötzlich horchte ich auf. Ich hörte ein Geschrei, einen ganz hohen Ton, der mir bis heute in den Ohren geblieben ist. Ein Schrei aus tausenden und tausenden Tönen. [...] Da kam ein junges russisches Mädchen hereingestürzt [...] Und [...] schrie und schrie, bis sie nicht mehr konnte: Wir sind befreit, wir sind befreit, die Engländer sind da. (WEISZ 1988: 33) Ruth Weisz erlebte diesen Tag, den 15. April 1945, als ihren zweiten Geburtstag (WEISZ 1994). Nachwort Drei Emigrantenschicksale, die aus ganz verschiedenen Milieus stammen und deutlich machen, wie viele Lebensbereiche von der NS-Diktatur zerstört worden sind. Drei böhmisch-mährische Schicksale, von denen eines nur noch aus Briefen und Berichten rekonstruiert werden konnte. Eduard Schlusche starb am 28. April Ruth Weisz und Artur Schober dagegen haben den Krieg überlebt. Schober begab sich nach der Befreiung in die Tschechoslowakei. Dann aber, als er sah, dass die Vertreibung der Deutschen auch vor den Sozialdemokraten nicht Halt machte, schlug er sich nach Lübeck durch und kehrte in sein Exilland zurück. Bis 1960 lebte er in Schweden. Schließlich übersiedelte er in die Bundesrepublik. Er starb am 29. März 1999 in Stuttgart. Ruth Weisz, die nach der Befreiung noch einige Wochen in Bergen-Belsen blieb und eine Flecktyphus-Epidemie überstand, konnte schließlich nach Zwischenstationen in Buchenwald und Amberg ihre Mutter in Prag als einzige Überlebende der Familie in die Arme schließen (WEISZ 1988: 40). Sie lebt heute mit 301

146 302 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt ihrem zweiten Mann in Israel. Ihr und Artur Schober habe ich für viele, oft schmerzliche Auskünfte zu danken. Die Begegnung mit beiden hat mir wesentlich geholfen, die Schicksale jener Zeit zu verstehen. Literatur ADLER, H. G. (1960): Theresienstadt Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte, Soziologie, Psychologie. 2. verbesserte und ergänzte Ausgabe. Tübingen: Mohr. BACHSTEIN, Martin K. (1974): Wenzel Jaksch und die sudetendeutsche Sozialdemokratie. München/Wien: Oldenbourg. BECHER, Peter/HEUMOS, Peter (Hg.) (1992): Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei München: Oldenbourg. BRANDES, Detlev (2001): Der Weg zur Vertreibung Pläne und Entscheidungen zum Transfer der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. München: Oldenbourg. EXLER Alfred (o.j. [1979]): Das große Wagnis. Ein Rettungsversuch für die unfreie Heimat. Stuttgart: Seliger-Archiv. HÄRTEL, Hans-Joachim (1988): Kirche und Kultur. In: E. Nittner (Hg.): Tausend Jahre deutsch-tschechische Nachbarschaft. Daten, Namen und Fakten zur politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Entwicklung in den böhmischen Ländern. München: Institutum Bohemicum, HAHN, Karl Josef (1998): Kristallnacht in Karlsbad. Prag: Vitalis. HASENÖHRL, Adolf (Hg.) (1972): Weg-Leistung-Schicksal. Geschichte der sudetendeutschen Arbeiterbewegung in Wort und Bild. Stuttgart: Seliger-Gemeinde. HUBER, Kurt A. (1985): Eduard Schlusche ( ). Ein christlicher Streiter in neuerer Zeit. München: Institutum Bohemicum. IGGERS, Wilma (Hg.) (1986): Die Juden in Böhmen und Mähren. Ein historisches Lesebuch. München: Beck. JAKSCH, Wenzel (1967): Mitbürger es geht um alles! In: Ders.: Sucher und Künder. München: Die Brücke. KÁRNÝ, Miroslav (2001): Die Juden zwischen Deutschen und Tschechen. In: W. Koschmal, M. Nekula, J. Rogall (Hgg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte Kultur Politik. München: Beck, Peter Becher LANGHANS, Daniel (1990): Der Reichsbund der deutcshen katholischen Jugend in der Tschechoslowakei Bonn: Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen. MACHILEK, Franz (1988): Kirche und Kultur. In: E. Nittner (Hg.): Tausend Jahre deutsch-tschechische Nachbarschaft. Daten, Namen und Fakten zur politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Entwicklung in den böhmischen Ländern. München: Institutum Bohemicum, 34 47, NITTNER, Ernst (1988): Die Kirchen im 19. Jahrhundert. In: E. Nittner (Hg.): Tausend Jahre deutsch-tschechische Nachbarschaft. Daten, Namen und Fakten zur politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Entwicklung in den böhmischen Ländern. München: Institutum Bohemicum, RYBÁR, Ctibor (Hg.) (1991): Das jüdische Prag. Glossen zur Geschichte und Kultur. Praha: TV Spectrum. SALOMON, Dieter (1988): Vom Zerfall der Donaumonarchie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ( ). In: E. Nittner (Hg.): Tausend Jahre deutsch-tschechische Nachbarschaft. Daten, Namen und Fakten zur politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Entwicklung in den böhmischen Ländern. München: Institutum Bohemicum, SCHOBER, Arthur (1994): Interview mit Peter Becher am in Stuttgart. SCHLUSCHE, Eduard: Briefe. Institut für Kirchengeschichte von Böhmen- Mähren-Schlesien e.v., Königstein/Ts. SEIBT, Ferdinand (Hg.) (1974): Bohemia sacra. Das Christentum in Böhmen 973 bis Düsseldorf: Schwann. SEIBT, Ferdinand (Hg.) (1983): Die Juden in den böhmischen Ländern (= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 11). München: Oldenbourg. SEIBT, Ferdinand (1993): Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas. Vollständig überarbeitete Neuausgabe. München: Piper. SEWERING-WOLLANEK, Marlis (1988): Vom Brünner Programm zur Londoner Deklaration. Die sudetendeutsche Sozialdemokratie. In: H. Maimann (Hg.), Die ersten 100 Jahre. Österreichische Sozialdemokratie Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Wien: Brandstätter,

147 Emigrantenschicksale. Drei Beispiele aus der böhmisch-mährischen Lebenswelt STRAUß, Emil (1925): Die Entstehung der deutschböhmischen Arbeiterbewegung. Prag: Verlag des Parteivorstands der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik. TEMPSCH, Rudolf (1988): Schweden und die antifaschistischen Sudetenflüchtlinge. Undatiertes Typoskript. Enthält Typoskript eines Interviews mit Arthur Schober am 16./ WEIß, Friedrich (1986): Erinnerungen aus meinen letzten Amtsjahren in Teplitz-Schönau In: W. Iggers (Hg.), Die Juden in Böhmen und Mähren. Ein historisches Lesebuch. München: Beck, WEISZ, Ruth (1988): Und es ist doch keine Lüge. Unpublizierte Autobiographie. WEISZ, Ruth (1994): Brief an Peter Becher vom 5. März WERFEL, Franz (1929): Barbara oder die Frömmigkeit [zit. nach der Taschenbuchausgabe von 1988]. Frankfurt/Main: Fischer. WINTER, Eduard (1938): Tausend Jahre Geisteskampf im Sudetenraum. Das religiöse Ringen zweier Völker. Salzburg: Müller. WLASCHEK, Rudolf M. (1995, 1997, 2003): Biographia Judaica Bohemiae. Bd Dortmund: Forschungsstelle Ostmitteleuropa. WULFFEN, Barbara von (1989): Urnen voll Honig. Böhmen Aufbruch in eine verlorene Zeit. Frankfurt/Main: Fischer. ZESSNER, Klaus (1976): Josef Seliger und die nationale Frage in Böhmen. Eine Untersuchung über die nationale Politik der deutschböhmischen Sozialdemokratie Stuttgart: Seliger-Archiv. Schloß, Kafka, Fassade auf den Spuren Kafkas im Werk von Libuše Moníková Renata Cornejo Auch wenn Franz Kafka ( ) und Libuše Moníková ( ) auf den ersten Blick nur wenig Gemeinsames haben, da sie einer anderen Zeit und einer anderen Schriftstellergeneration angehören, verbindet sie doch einiges. Beide wurden in Prag geboren und von dieser Stadt, von deren Atmosphäre und Mythen ausschlaggebend geprägt; beide werden vom Mütterchen Prag mit Krallen nie mehr losgelassen, obwohl Moníková Prag 1971 im Unterschied zu Kafka verließ und sich in ihrer Wahlheimat Deutschland als Mensch integrieren und als Autorin erfolgreich etablieren konnte. Prag ist ein imaginativer (bei Kafka) oder realer (bei Moníková) Topos ihrer Werke, von dem aus sich die literarischen und essayistischen Werke Libuše Moníkovás als Erinnerungstexte lesen lassen: Damit sind weniger biographische Erinnerungen der Autorin gemeint [...], als vielmehr das spezifische Verhältnis zwischen der Stadt Prag und dem subjektiven und kollektiven Gedächtnis, wie es in Moníkovás Texten entfaltet wird. (VEDDER 1998: 8) In seiner Omnipräsenz bildet Prag bei Moníková das Raster und zugleich eine durchsichtige Folie, auf deren Hintergrund die Prager Geschichte als Weltgeschichte sichtbar und lesbar wird Prag 1968, Prag der Normalisierungsjahre, Prag der Nachwendezeit. Ihr Erstlingswerk Eine Schädigung (1981) ist eine eindringliche Darstellung der physischen Vergewaltigung einer jungen Prager Studentin durch eine uniformierte Macht, einen Polizisten, und lässt sich als metaphorische Parallele des zerschlagenen Prager Frühlings und der physischen wie psychischen Vergewaltigung eines mitteleuropäischen Landes durch die brüderlichen Armeen lesen. Ins Prag der 70er Jahre, in die Zeit der Unterdrückung und Angst, führt Moníková ihre Leser auch in ihrem letzten, posthum veröffentlichten Roman Der Taumel (2000), den sie wegen Krankheit und vorzeitigem Tod nicht mehr beenden konnte. Dessen Hauptfigur, ein Professor der Kunstakademie, bewegt sich durch das dunkle Prag der Normalisierungszeit mit seiner bedrängenden und bedrohenden Atmosphäre. Der Normalität des Unnormalen ausgeliefert, schwankt er zwischen Resignation und Auflehnung. In dem 1996 erschienenen Roman Verklärte Nacht kehrt die Hauptfigur dagegen in ein befreites Prag zurück, in das die Heimkehr einer Exilantin angesichts der sich veränderten und verändernden Nachwendegesellschaft problematisch bleiben muss. Obzwar nicht mehr als Spielkulisse und Handlungsort, ist das goldene und hunderttürmige Prag auch in Moníkovás anderen Werken ständig präsent. In Pavane für eine verstorbene Infantin (1983) stammt die zwischen Sprach- und 304

148 306 Schloß, Kafka, Fassade auf den Spuren Kafkas im Werk von Libuše Moníková Landesgrenzen schwankende Literaturdozentin, die auf der Suche nach ihrem Ursprung und ihrer Identität ist, aus Prag und bleibt in Erinnerungen an diese Stadt, in deren Sagen und Mythen gefangen. In der Fassade (1987) flüchten vier, nach 1968 unbequem gewordene Künstler aus Prag aufs Land und versuchen, in Friedland-Litomyšl die Schlossfassade zu restaurieren, was sich als eine wahre Sisyphos-Arbeit erweist. Im Roman Treibeis (1992) begegnen sich in Österreich zwei Prager Exilanten ein 1948 aus der Heimat vertriebener Englischlehrer und eine nach 1968 emigrierte Germanistin. Trotz der Ähnlichkeit der Schicksale und Erfahrungen müssen sie sich eingestehen, dass die Suche nach dem gemeinsamen Prag, dem Ort, um den sich alles dreht (MA- GENAU 1998) und den sie verlassen haben/mussten, vergeblich bleibt und nur als gemeinsamer Verlust zu orten ist. Um Prag im weiteren Sinne des Wortes geht es auch in Moníkovás zweitem Essayband, der neben Literaturporträts von Milena Jesenská, Ladislav Klíma oder Ingeborg Bachmann die neuere tschechische Geschichte, deren Traumata sowie die deutsch-tschechischen Beziehungen thematisiert. Der Titel Prager Fenster (1994) kann als Motto ihres ganzen Werkes gelesen werden. Die Fenster in und auf Prag bieten einerseits weitreichende und detaillierte Einsichten in die geschichtsträchtige Stadt, in und auf die böhmische sowie neuere tschechische Kulturgeschichte; andererseits ermöglicht Prag als Fenster zur europäischen Geschichte, in dem diese zugleich als Spiegelbild erkennbar wird, einen besonderen Blick auf die Welt, sie sensibilisiert für die Wahrnehmung von Macht und Unterdrückung und für die blinden Flecken der Geschichtsschreibung. Während die Fenster in und auf Prag Szenarien und Bilder entwerfen, die der Lektüre bedürfen, ermöglicht Prag als Fenster gerade solche Lektüre der Sichtbarmachung (vgl. VEDDER 1998: 8). Außer dem Topos Prag als einem realen oder imaginativen Handlungsort verbindet Moníková und Kafka auch die deutsche Sprache für Kafka die Muttersprache, für Moníková die erlernte Fremdsprache, zu der sie sich als Autorin erst während der Arbeit an ihrem ersten Buch durchgerungen hat: Am Ende des Buchs wußte ich, jetzt kann ich Deutsch. Die fremde Sprache hatte sich in diesem Fall als überraschend produktiv erwiesen, da sie die nötige Distanz zum Thema ermöglichte. Diese Sprache begann mich zu interessieren. (ENGELER 1997: 14) Moníkovás Sprache, die in ihrer Kargheit, Genauigkeit und Prägnanz die Faszination an Kafkas Sprachwelt verrät, hat sich bei ihr zu einem eigenständigen und eigensinnigen Deutsch entwickelt, um das sie mancher deutsche Autor beneiden könnte. Aus dem Mangel heraus erarbeitete sie sich eine eigene Sprache, die sich durch den Reichtum der ihr zur Verfügung stehenden Sprachmittel, durch die Originalität ihrer Anwendung sowie durch die Bereicherung der deutschen Sprache auszeichnet. Der Kafka-Preis, der Moníková 1989 für ihr bisheriges Werk verliehen wurde, unterstreicht mit Recht sowohl Renata Cornejo die geistige als auch die sprachliche Verwandtschaft beider Autoren, Moníková räumt ein : [...] mein Schreiben verdanke ich ihm. Er hat mich ermutigt zu schreiben, in einer Sprache, die nicht die meine war, in der ich nie sicher bin. (SAW 142). Libuše Moníková machte sich mit dem Phänomen Kafka bereits während ihres Germanistikstudiums an der Prager Karls-Universität in den 60er Jahren vertraut 1 und er sollte neben Arno Schmidt zu ihrem literarischen Vorbild, ihrem Widersacher und ihrer Stütze (Vgl. PVI 147) werden. In ihren Essays Schloß, Aleph, Wunschtorte aus dem Jahre 1990 widmete Moníková die ersten vier Essays Franz Kafka. Mit Kafka habe ich angefangen zu reflektieren theoretisches Hadern, Essays, Beginn der Prosa (SAW 141), bekennt Moníková bei der Verleihung des schon erwähnten Kafka-Preises. In der Tat lässt sie sich bereits bei ihrem Erstlingswerk Eine Schädigung durch das gestalterische Prinzip von Kafkas Proceß inspirieren, indem sie die nacheinander gereihten Kapitel als abgeschlossene Episoden konzipiert. Auch inhaltliche Parallelen zu Kafkas Texten sind nicht zu übersehen. Die geheimnisvolle Geheimhaltung der Abschirmung des Verwaltungsgebäudes erinnert an Kafkas Schloss, und die Künstlerkolonie, in die sich die Ich-Erzählerin nach ihrer Tat (sie tötet ihren Vergewaltiger) vor der polizeilichen Verfolgung flüchtet, kann als utopischer Gegenentwurf zu Kafkas Strafkolonie gelesen werden (vgl. SCHENK 2002: 141). Sie kehrt in ihrem Werk immer wieder zu Kafka zurück sowohl explizit (Pavane, Fassade) als auch implizit (Fassade). Außer dem tschechischen Kontext, der ambivalenten Beziehung zu Prag und der deutschen Sprache verbindet sie mit Kafka insbesondere das Motiv des Schlosses (Fassade), das zugleich als intertextueller Bezug auf Kafkas Schloss-Roman fungiert. Am Anfang des Romans Pavane für eine verstorbene Infantin (1983) taucht wiederum die dichterische Schilderung der Prager Schauplätze nach Kafkas Erzählungen Die Beschreibung eines Kampfes und nach Kafkas Roman Proceß auf. Darüber hinaus ist der Roman selbst nicht zuletzt ein Versuch, Kafkas Texte beispielsweise das Schloss um- und weiterzuschreiben, indem sie neu oder zu Ende gedacht werden. Die Hauptfigur ist eine Literaturdozentin an einer deutschen Universität, deren Texte einen Versuch der Korrektur bzw. der Rehabilitation des literarischen Schicksals der Familie Barnabas darstellen. Zwischen dem Leben der Protagonistin Francine und der Familie Barnabas, die ohne Hoffnung auf Reintegration aus der dörflichen Gemeinschaft ausgeschlossen ist, besteht zweifelsohne eine Parallele. Im Unterschied zur resignativen Haltung der Familie Barnabas, die ihrem uner- 1 Eduard Goldstücker, bei dem Moníková über den Coriolan von Shakespeare und Brecht promovierte (1970), war der Initiator der ersten Kafka-Konferenz im sowjetischen Machtbereich (1963 in Liblice). 307

149 308 Schloß, Kafka, Fassade auf den Spuren Kafkas im Werk von Libuše Moníková füllten Verlangen nach einem Schuldspruch endlos hinterher rennt, macht die Ich-Erzählerin Francine ihre physische Anwesenheit symbolisch präsent: Während die Barnabasschen sich an vage Hoffnungen halten und in immer neuen, vergeblichen Versuchen verhaftet bleiben, setzt Francine anhand ihres Rollstuhls einen Punkt und erlangt aggressive, selbstversetzenden Übereinstimmung zwischen Zuschreibung und Wahl. Darin liegt gleichzeitig ihr Widerspruchspotential, denn dies ist der Ort, von dem aus sie zu schreiben beginnt und sich um das Schicksal der Familien Barnabas kümmert. (MANSBRÜGGE 2002: 41) Im 12. Kapitel, das in Kafkas genauer Sprache geschrieben ist, schlägt sie als Alternativen die Solidarität eines der Dorfbewohner mit dem Familienvater oder seine Rehabilitierung (Moníková nennt es Begnadigung) durch eine verspätete Übergabe eines Briefes aus dem Schloss vor. Der Brief kann als implizierter Schuldspruch verstanden werden, der jedoch keine grundlegende Veränderung im Schicksal der Familie bedeutet. Am Ende des Romans verlässt Olga ihre Familie, das feindselige Dorf sowie das unerreichbare Schloss und bricht auf: Auf der Brücke, die auf die Landstraße führt, dreht sie sich um. Die Dorfhäuser liegen deutlich umrissen da, kein Schloß weit und breit. (PVI 147). Damit hat sich Olga aus der Schlossenge befreit und das Dorf hinter sich lassend macht sie sich auf den Weg in eine glücklichere Zukunft, umgeben von der verheißungsvollen, blühenden und staubigen Apfelbaumlandschaft der Chaussee. Eine Szene, die idyllisch anmutet gäbe es nicht den ironisierenden Beatles-Schlusssatz she s leaving home, bye, bye (PVI 148). Wie Olga ihren Weg gefunden und eingeschlagen hat, so gelingt es auch der Ich-Erzählerin Francine, sich von der realen Welt loszubinden und in einem Ritual symbolischer Todesaustreibung ihre biologische Schwester durch die literarische (Olga) zu ersetzen (sie verlässt den Rollstuhl, überwindet ihre Appetithemmungen und entledigt sich des Fotos ihrer Schwester): An diesem Punkt ist das erzählende Ich nicht mehr auf sich selbst zurückgebannt, ist nicht mehr Francine, ist nicht Königin noch Fürstin, sondern ist zur Schwester von Amalia Barnabas, zu Olga, verschoben. (MANSBRÜGGE 2002: 42) Sowohl Francine als auch Olga brechen auf und wenden sich ihren Wegen zu. Durch den Schreibprozess haben sich nicht nur die Verhältnisse für Olga verändert, sondern auch der Ich- Erzählerin ist ihr eigener Aufbruch als Autorin in die literarische Fiktion gelungen, da sie sich aufgrund ihres Schreibens neu orten und vom Rollstuhl endgültig befreien kann. Gegen Ende des Romans wird vom Unterkastellan aus Kafkas Schloss nicht bloß vom Naturtheater von Oklahoma aus dem Verschollenen geredet, sondern aus dem Geflecht der intertextuellen Bezüge wird ein selbstständiges, kunstvoll dichterisches Werk mit eigenen Figuren, Erleben und Wissen aufgebaut (vgl. KRAUS 1989: 65). Die Solidarität, die Gnade, die Anpassung (Amalia B. wird schwanger) und schließlich das Fortgehen diese vier Selbstverwirklichungsmöglichkeiten sind radikalisierende Lösungsalternativen des Schicksals der Barnabas-Familie. Diese ist sich ihrer Renata Cornejo Schuld bewusst und in Erwartung einer Strafe, die nicht kommt, schließt sie sich selbst aus der Gesellschaft aus und nimmt die daraus folgende Verachtung in Kauf. Alle vier Vorschläge repräsentieren eine Art Linderung, wobei die letzte Lösung das Fortgehen für Moníková die einzig wahre Lösung darstellt, auch im Sinne Kafkas (vgl. SAW 84). Ihre Vier Versuche, die Familie Barnabas zu rehabilitieren fasste Moníková im gleichnamigen Essay zusammen, das mit anderen Abhandlungen 1990 in der Essaysammlung Schloß, A- leph, Wunschtorte publiziert wurde. 2 Wie Klaus Schenk nachgewiesen hat, sprengt Moníkovás Essayistik die üblichen Grenzen dieses Genres. Ihre Essayistik erweist sich vielmehr als Schnittstelle einer Auseinandersetzung mit der Fiktionalität der Texte und kulturathropologischen Interessen, als ein Schreiben der Differenz zwischen Fiktion und Interpretation, zwischen fremden und eigenem Text, als interkulturelle Relation und nicht zuletzt als Grenze zwischen Identifikation und Selbstbehauptung gegenüber ihrem literarischen Vorbild: Franz Kafka. (SCHENK 2002: 237) Schon aus dem Titel der Essaysammlung Schloß, Aleph, Wunschtorte ist ersichtlich, dass das Motiv und die Symbolik des Schlosses für Moníkovás Werk von zentraler Bedeutung sind (zwei der vier Kafka-Essays sind dem Schloss gewidmet). Das Schloss ist der vielschichtige und vieldeutige Mittelpunkt eines Opus, an dem die (Welt)Geschichte stattfindet, es bildet den Anfangs- und den Endpunkt des breitangelegten Schlossprojekts Die Fassade (1987). Hier, am Schloss Friedland-Litomyšl, beginnt die Handlung und hier geht sie nach einem kurzen Intermezzo in Sibirien auch zu Ende. Friedland-Litomyšl, eine postmoderne Schöpfung eines real nicht existierenden Ortes, ist eine höchst raffinierte Zusammenfügung, die durch Smetanas Geburtsstadt Litomyšl die tschechische Geschichte im europäischen Kontext und durch die Anspielung auf die mutmaßliche Vorlage von Kafkas Schloss (Friedland) den Diskurs über die Entstehung der Macht aus einer Projektion umfasst. Die zweite Komponente der Diskurs über die Entstehung der Macht aus einer Projektion scheint für Moníková die wichtigere zu sein. Sie begreift Kafkas Schloss als Produkt der kollektiven Projektion der Dorfbewohner, die ihre eigenen Vorstellungen von der Machtausübung auf die Schlossbehörde übertragen und durch ihre mentale Zustimmung miterzeugen. Der Name des höchsten Repräsentanten der Schlosshierarchie, Klamm, signalisiert nicht nur die Sinnestäuschung und Illusion (so viel bedeutet das tschechische Wort klam auf Deutsch), etwas Nichtgreifbares, sondern auch die Selbsttäuschung des Einzelnen oder der Gesellschaft, die durch ihre moralische Einstellung die Täuschung (klam) legitimiert, sich damit identifiziert und dadurch an der Herstellung und Wahrung der Illusion partizipiert. Das Schloss funktioniert als Modell, das das Manipu- 2 Tschechisch als Eseje o Kafkovi im Verlag Nakladatelstvi Franze Kafky (2002) erschienen. 309

150 310 Schloß, Kafka, Fassade auf den Spuren Kafkas im Werk von Libuše Moníková lationspotential der Machtstrukturen und ihre Herrschaft über das Individuum, das nicht im Stande ist, sich ihrem Druck zu widersetzen, offen legt. Aus dieser Sicht initiiert das Schloss eine kulturelle und politische Auseinandersetzung mit der nicht nur tschechoslowakischen (1918, 1938, 1948, 1968), 3 sondern auch böhmischen Vergangenheit im europäischen Kontext (der Zeit der Luxemburger, der Hussiten, Wallensteins, der nationalen Wiedergeburt usw.). Durch die Demonstration der Verletzbarkeit der europäischen Kultur am Beispiel der politischen Vergewaltigung in der jüngeren tschechischen Geschichte wird das Schloss zu einer Metapher, die den Rahmen eines konkreten Ortes oder Landes sprengt. Zugleich betreibt Libuše Moníková mit der Rekonstruktion der Schlossfassade eine Mythendekonstruktion, eine Mythenumwertung und Mythenschaffung, da sie die konventionellen, tradierten Vorstellungen, die der tschechischen Kultur und Geschichte eigen sind, verändert oder ihnen ein neues Paradigma entgegenstellt. Während der Mythos der nationalen Wiedergeburt der Lächerlichkeit preisgegeben wird, wird der Libuše-Mythos bewusst umgedeutet. Die Fürstin Libussa ist nur eine der zahlreichen weiblichen Figuren, die die Form des Selbstopfers anzweifeln und den Märtyrer-Mythos unterminieren, indem sie sich ihrer Opferrolle entledigen und sich aus dem Rollenkorsett mittels dekonstruktiver Verfahren befreien (vgl. KLIEMS 1999: 262). Insofern hat die Arbeit der vier Künstler (Podol, Patera, Mahltzahn, Orten), die die stickige Luft in der Metropole Prag nach 1968 für die frische Luft im verschlafenen böhmischen Dorf Litomyšl eingetauscht haben, einen subversiven Charakter. Ihre Arbeit an der Fassade hat einen tieferen, versteckten Sinn. Sie korrespondiert mit Camus Psychologie des Absurden, die von der Vorstellung des Sisyphos als eines glücklichen Menschen ausgeht. Auch sie [...] freuen sich auf die Arbeit wie Sisyphos auf seinen herabgerollten Stein (Fa 9), wobei Sisyphos Stein durch die herabbröckelnde Schlossfassade ersetzt wird: Wenn sie mit einem Durchgang fertig sind, ist die erste Fassade, mit der sie vor Jahren begonnen haben, bereits so angefressen, daß sie von neuem anfangen können. (Fa 8). Die unbequemen Künstler 4 sind nicht bloße Restauratoren, sondern Maler und Bildhauer, die die allegorischen, mythischen oder historischen, kaum erkennbaren Fassadenmotive frei ergänzen oder auch neu schöpfen, dort, wohin sich der Blick der Besucher selten verirrt und wo somit die Kontrolle unterbleibt. Das Umschreiben der Fassade bedeutet die Reflexion der Mechanismen von Geschichtsschreibung und Gedächtnis. Nicht nur 3 Jürgen Eder (1999) konkretisiert die Fassade als monumentale Chiffre für das europäische Gedächtnis am Beispiel der schicksalhaften Acht der tschechoslowakischen Geschichte. 4 Orten hat z.b. die Totenmaske des Studenten Jan Palach abgenommen, der sich 1969 aus Protest gegen den Einmarsch der Sowjetischen Armee auf dem Wenzelsplatz verbrannte. Renata Cornejo die vergangenen Vor-Bilder werden als Sgraffiti wiederhergestellt, sondern auch neue Bilder als Relektüren kreiert: Im Zitieren, Aneignen und Umschreiben zeigt sich auch die Veränderbarkeit der Lektüren der überlieferten Fragmente, so daß sich in diesem Verfahren poetologische und mnemotechnische Überlegungen verschränken. [...] Die Sgraffiti an der Schloßwand lassen sich als Geschichtsbilder lesen, die die Fragen nach den Prozessen, Verlusten und Wirkungen von Gedächtnis und Historiographie mitschreiben. (VEDDER 1998: 18f.) Die Historiographie der Fassade kann weder Überblick noch Exemplarität garantieren, sie dient der (Re-)Konstruktion von Gedächtnisspuren, die zu Auslösern und Trägern einer oft widersprüchlichen Erinnerung werden. Dabei wird der Fokus auf diejenigen gerichtet, die im Gedächtnis aller Sieger die Verlierer sind. Auf diese Weise wird eine andere, fast vergessene Geschichte nicht programmatisch ausgerufen, sondern direkt im Text und am Text praktiziert (vgl. VEDDER 1998: 20). Unter die zahlreichen Sgraffiti, unter die historischen, mythologischen und philosophischen Motive von Yin und Yang zeichnen die Künstler programmatisch die Allegorie der blinden Gerechtigkeit mit einem dritten, strahlend über die Auffahrt blickenden Auge (eine dreiäugige Justitia), die Quijotsche Windmühle und auch Josef K. mit seinem Fahrradausweis in vorgestreckter Hand, die sich als ihr persönlicher Beitrag zur Verwitterung der Normalisierungsfassade deuten lassen. Auf Kafkas Roman Proceß geht Libuše Moníková in ihrem ersten Kafka-Essay ein, in dem sie ihn im Hinblick auf die Frage nach Schuld und Integration zu interpretieren versucht. Sie sieht im Proceß beide Bewegungen des gesellschaftlichen Diskurses vereint die Auflösung der Schuld in Gesellschaften mit komplizierten Familien- und Sozialstruktur und die Individualisierung der Bestrafung. Im Proceß scheitert beides. Josef K. wird zum Sinnbild der Scham, zu einem Memento Mori einer Gesellschaft, die sich über ihre Toten schamlos hinwegsetzt. Der Proceß endet nicht mit einem Schuldspruch, sondern durch die Zerstörung des Verhängnisses in sich selbst. Josef K. wird getötet, und die Scham, die ihn überlebt, fällt der Gesellschaft zu (SAW 21). Es bleibt jedoch nicht nur beim Verputz der Fassade. Ein Schreibtisch-Safe im Schlosskeller erinnert auffällig an den Geheimschreibtisch von Karl Roßmanns Onkel in Amerika. Pepi, eine der weiblichen Figuren, möchte sich in ihrem Abiturthema mit den möglichen Vorlagen von Kafkas Schloss beschäftigen und zieht sowohl eine Erzählung von der französischen Schriftstellerin Rachilde über ein Schloss in Betracht, das immer gleich weit bleibt, trotz aller Anstrengung, es zu erreichen (Fa 209) als auch Němcovás Babička, die Kafka durch die Episode zwischen Kristla und dem italienischen Beamten inspirieren sollte. Alle diese impliziten Hinweise auf Kafka sind zugleich programmatisch gesetzte Signale, die auf eine innere, 5 Kafka dürfte diesen Schreibtisch auf seinen Inspektionsreisen durch Nordböhmen gesehen haben, da er mehrmals nach Friedland kam. 311

151 312 Schloß, Kafka, Fassade auf den Spuren Kafkas im Werk von Libuše Moníková tiefere Vernetzung hindeuten. Die Art und Weise der Darstellung der Tschechoslowakei der 70er Jahre spielt auf die Atmosphäre in Kafkas Schloss an, das durch die Erwähnung Friedlands in dem Namen Friedland-Litomyšl nehmen wir hier einen Zusammenhang zwischen Friedland und dem Schloss an bereits evoziert wird. Im Unterschied zu Kafkas K., für den das Schloss als eine fassbare Realität im Prinzip keine Bedeutung hat, ist für die vier Künstler das Schloss nicht nur real und erreichbar, sondern auch eine objektive Herausforderung, die subjektiv bewältigt werden muss. In ihrer Außenseiterrolle und Künstlerautonomie sind sie zugleich Augenzeugen ihrer Zeit und deren Zustände. Sie sind Zeugen des allmählichen Verfalls und der Vergänglichkeit der Fassade, hinter der Details zu erkennen sind, die dem Durchschnittsbürger verborgen bleiben und auch verborgen bleiben sollen. Sie kennen das Schloss, seine Struktur und sein Inneres, sie sehen nicht nur die Fassade, sondern auch hinter die Fassade als Intellektuelle, die das Gewissen und die verlorene Moral eines gedemütigten und demoralisierten Volkes repräsentieren. Während Kafkas K. alle Informationen über die Machtstruktur Schloss nur vermittelt (durch die Dorfbewohner) gewinnt, verfügen die Künstler über ein Wissen, dass ihnen Macht verleiht, sie sind keineswegs bloß Opfer, die z.b. ihrem Beruf nicht nachgehen können (zwei Maler und zwei Bildhauer müssen reproduktiv statt produktiv arbeiten, ein Objekt restaurieren), sondern sie sind zugleich Ankläger der Gesellschaft, der gegenüber sie sich zu wehren wissen. Der einstige Kollaborateur und gegenwärtig exemplarische, übertrieben gewissenhafte Parteigenosse Jirse nutzt ohne Skrupel seine jetzige Machtposition als Schlossverwalter aus und erpresst schamlos die vier Künstler als vermeintliches Kriegsopfer, das jeder zu bemitleiden moralisch verpflichtet sei (er hat ein Holzbein, das ihn scheinbar verletzlich und hilfsbedürftig macht). Die Schlüssel des Schlossverwalters (des Türhüters aus Kafkas Vor dem Gesetz) und die Prothese fungieren als Attribut der Macht und der Machtbefugnis, hinter dem sich Jirse wie hinter einem Schutzpanzer sicher und unverletzbar fühlt. Wie in der Erzählung Vor dem Gesetz lässt sich diese Inszenierung als eine Parabel für die das ganze Buch durchziehende Thematik verstehen: die Autorität des Staates, des unerreichbaren und durch nichts zu erschütternden Machtapparates, der das absolute Informationsmonopol besitzt. Der subtil ausgetragene Machtkampf der Künstler mit der Obrigkeit findet seinen Höhepunkt in der plötzlichen Umkehrung der Machtverhältnisse und Jirses Bloßstellung vor dem Gericht als Kollaborateur, Nichtsnutz und Alkoholiker. In der Variante des nächsten Jahres (Fa 14f.) verbrennt Podol einen Splitter seines Holzbeines und entledigt Jirse auf diese Weise gewaltsam eines seiner Machtattribute. Indem aus dem Ankläger Jirse im Laufe des Prozesses der Angeklagte wird, findet ein Entmachtungsprozess direkt vor dem Gericht statt. Renata Cornejo Obwohl es sich sowohl bei Kafka als auch bei Moníková immer um Außenseiterfiguren am Rande der Gesellschaft und in der Isolation (aufgezwungen oder freiwillig gewählt) handelt, sind Moníkovás Gestalten überlebensfähig, sie sind in der Lage sich zu wehren, sich durchzusetzen. Das Schloss bedeutet zwar für das Künstler-Quartett eine Fluchtmöglichkeit, eine Notlösung aus der verzwickten Lage, es ist aber zugleich auch eine Möglichkeit der Selbstverwirklichung, eine Möglichkeit der künstlerischen und schöpferischen Freiheit. Dagegen wirkt Kafkas K. weltfremd und der Macht der Bürokratie wehrlos ausgesetzt. K. bleibt als Individuum immer schwächer als der Machtapparat und als das Schloss mit seiner undurchsichtigen Hierarchiestruktur. In beiden Fällen übt jedoch das Schloss eine magische Kraft auf die Hauptfiguren aus, in beiden Fällen handelt es sich um Figuren, die ihre Identität gegen die Macht zu behaupten haben. Ebenfalls die Tatsache, dass das Schloss für den Landvermesser K. ein unerreichbares Ziel bleibt, dessen Konturen im Nebel kaum sichtbar, eher erahnbar sind, hat in Moníkovás Roman Die Fassade ihr literarisches Pendant gefunden. Das Schloss im konkreten Sinne ist erst einmal ein greifbares, erreichbares Objekt, das sich nicht nur anfassen lässt, sondern eine Grundvoraussetzung für die künstlerische Existenz der vier Restauratoren darstellt. In der zweiten, metaphorischen Ebene bleibt das Schloss, wie bei Kafka, ein symbolischer und als solcher unerreichbarer Ort. Die Restauratoren begeben sich auf eine Japanreise, die sie zunächst nach Sibirien führt. Das Reiseziel Japan bleibt jedoch unerreichbar und unerreicht, gleich nah und fern, die Bewegung nach vorne bedeutet nicht unbedingt eine Bewegung zum Ziel hin. Ähnlich wie Kafkas K. werden sie auf ihrer Reise ohne Ankommen mit einigen, sich dem klaren Verstand entziehenden, weitgehend unbegreiflichen und absurden Situationen konfrontiert, sie sind machtlos der Willkür sowohl des bürokratischen Staatsapparates als auch der Gewalt der Natur ausgeliefert (vgl. das Bild des Schneesturmes und das Motiv des Sich-Verirrens). Doch im Unterschied zu Kafkas K., der sich erfolglos bemüht, in der Welt der Macht anzukommen, gelingt es Moníkovás Helden dieser Macht erfolgreich zu entkommen: nicht nur aus der realen Gefangenschaft eines Akademgorodok, 6 in dem sie gegen ihren Willen festgehalten werden, sondern auch aus der geistigen Gefangenschaft der Normalisierungszeit, die in der Maifeier im dritten Teil des Romans ihren symbolischen Höhepunkt erreicht. Im letzten Teil des Romans kehren schließlich die vier Künstler nach einer abenteuerlichen Reise durch die Potemkinschen Dörfer der Sowjetunion wieder in die böhmischen Dörfer Groß-Friedlands zurück, wo gerade der 6 Akademgorodok, ein neuzeitliches Potemkinsches Dorf, fungiert als Vorzeigestadt der Sowjetunion, in der die besten Gehirne des Landes konzentriert werden, um dem westlichen Kapitalismus die Stirn zu bieten. 313

152 Schloß, Kafka, Fassade auf den Spuren Kafkas im Werk von Libuše Moníková 1. Mai gefeiert wird. Begleitet von den Klängen der Internationale, vom Lärm der laut und angetrunken ausgerufenen Parolen und umgeben von den allgegenwärtigen Transparenten, verteilen sich die Künstler auf dem Gerüst, um die Schäden der Fassade zu besehen. Sie müssen feststellen, dass der Fahrradausweis von Josef K. auf der inzwischen abgebröckelten Fassade kaum noch zu erkennen ist. Trotzdem setzen sie ungestört ihre Arbeit fort, denn die aus der Erfahrung heraus entwickelte Einstellung der Heimkehrer heißt Wir müssen annehmen, dass Sisyphos glücklich ist und Wir müssen unseren Garten bestellen (Fa 440). Sie sind mit dem Vorsatz zurückgekehrt, in der Fassade die geheime, also inoffizielle Geschichte der Mongolen unterzubringen. Die Fassade des baufälligen Schlosses wird somit zur einzigartigen Möglichkeit, die eigene Erfahrung, die unterdrückte, verschwiegene und aus dem allgemeinen Bewusstsein schwindende Geschichte zurückzuholen, in der Fassade aufzubewahren und auf diese Art und Weise der Fassade ihr eigenes (wahres) Gesicht zurückzugeben. Die Fassade als strukturbildendes Motiv des Romans wird zum Gedächtnisort, an dem sich der tschechoslowakische politischhistorische Kontext aus der Erinnerung heraus rekonstruieren und trotz der Nichtdarstellbarkeit plastisch schildern lässt. Das Nebeneinander der erzählten Geschichten, Motive und Figuren entspricht dem Nebeneinander der Sgraffiti an der Schlosswand, die nicht nur als Projektionsfläche für restaurierte, erfundene und zitierte Bilder und Embleme, sondern auch als Materialisierung des parataktischen Textverfahrens fungiert (VEDDER 1998: 21). Das Objekt [...] Staatsschloß Friedland-Litomyšl nationales Kulturdenkmal der ersten Kategorie (Fa 26) wird zum Kampf- und Schauplatz von Erinnerungen, die als gruppenspezifische, sprachlich/national geprägte und idiosynkratische Symbolisierungsverfahren weiter differenziert werden können (vgl. MANSBRÜGGE 2002: 91). Durch das behutsame Füllen der weißen Flecken (Sgraffiti an der Fassade) auf der Landkarte (Mittel)Europa beteiligen sich die Restauratoren aktiv an der Konservierung des kollektiven Bewusstseins und Gewissens. Sie übernehmen de facto die Rolle der Schreiber einer Anti- Geschichte, zur Sprache kommt die Korrelation von Rekonstruktion und Konstruktion von Wahrheit, von Geschichte schreiben und Geschichte machen (vgl. VEDDER 1998: 19). Weil diese Form von Geschichtsschreibung nicht in konsistenten Erinnerungsbildern zu fixieren ist, muss eine solche Arbeit prinzipiell unabschließbar bleiben, wie im andauernden Verfall des gerade Restaurierten symbolisch hervorgehoben wird (Sisyphos-Metapher). Durch ihre unendliche, emsige Arbeit (der Titel des dritten Teiles heißt Ohn Unterlaß), die jetzt einen Sinn ergibt, wird die Arbeit an der Schlossfassade für alle vier zum persönlichen Kampf gegen die Falsifikation der Geschichte, gegen die allgemeine Infragestellung aller menschlichen Werte sowie gegen den Gedächtnisverlust der europäischen Kultur. Renata Cornejo Die Potemkinschen Dörfer (Titel des zweiten Teiles), in denen sich die Bizarrerie, Unsinnigkeit und Absurdität der Böhmischen Dörfer (Titel des ersten Teiles) ins Extreme steigern, finden somit in der sinnvollen, da subversiven Sisyphos-Arbeit an der Schlossfassade am 1. Mai nicht nur einen symbolischen, sondern vor allem auch einen ironischen Höhepunkt. Die Tradition der Selbstironie und des tschechischen Humors ist in der Fassade unübersehbar. Doch die von ihr selbst gewählte Schriftsprache wurde ihr paradoxerweise zum Verhängnis. Denn nicht die innere Welt und der Ort des Ursprungs (Prag) scheinen für das tschechische Literaturverständnis entscheidend zu sein, vielmehr die nationale Zuordnung nach der Literatursprache. Libuše Moníková, durch ihr Werk vor allem in der Bundesrepublik Deutschland bekannt und anerkannt, war sich der problematischen Rezeption in ihrem Heimatland durchaus bewusst: Ich bin deutsche Autorin. Ich würde auch, sagen wir, die Proportionen anders bestimmen, wenn ich über die Themen für Tschechen schriebe. (MONÍKOVÁ 1991: 202) Obwohl sie auf deutsch für das deutsche Publikum schrieb, fühlte sie sich als Tschechin und beschäftigte sich das ganze Leben lang mit ihrem eigenen Land, dessen Geschichte, Kultur und Mythologie und vor allem mit Prag, wohin sie vor ihrem frühzeitigen Tod 1998 zurückkehren wollte. In ihren Romanen versucht sie immer wieder das Land ihres Ursprungs aus der Erinnerung und Erfahrung heraus zu rekonstruieren, zu ertasten und als Literatur für sich wiederzugewinnen: Ich bin am Ort meines Ursprungs, lässt sie in Pavane für eine verstorbene Infantin verlauten, nachdem sie den Weg von Petřín durch unterirdische Gänge bis unter die Burg in die Gruft der Kaiser, Könige und Königinnen schildert, wir stehen uns gegenüber, am Ausgang unserer vergeblichen Geschichte die Fürstin und das Wappentier (PVI 79). Sie ist am Ende eines Weges angekommen, der an der Südseite des Berges Petřín begonnen hat und der mit dem Weg von Josef K. gleichzusetzen ist der Weg Josef K.s mit den zwei reinlichen Herren zu dem Steinbruch, wo sie ihm das Messer im Herz umdrehen... (PVI 9). Der Roman endet mit der Austreibung des Todes in Josef K.s Steinbruch, an Kafkas Geburtstag. Somit verwischen sich die Grenzen zwischen Libuše Moníková als Fürstin Libussa und ihrem verstorbenen Fürsten Franz Kafka (SAW 143). Am zutreffendsten hat die ambivalente Zugehörigkeit der in Deutschland lebenden böhmischen Fürstin mit tschechischem Akzent ihr deutscher Verleger Michael Krüger formuliert, der er sie als eine tschechisch denkende, aber deutsch schreibende Schriftstellerin, deren Träume böhmisch eingefärbt sind (PAUL 1991: 31) charakterisierte

153 Literatur Schloß, Kafka, Fassade auf den Spuren Kafkas im Werk von Libuše Moníková EDER Jürgen (1999): Die Jahre mit Acht 1918, 1938, 1948, Zum Historischen bei Libuše Moníková. In: D. Schmidt, M. Schwidtal (Hg.), Prag Berlin. Libuše Moníková (= Literaturmagazin 44). Reinbek: Rowohlt, ENGELER, Jürgen (1997): Wer nicht liest, kennt die Welt nicht. Ein Gespräch mit Libuše Moníková. In: Neue deutsche Literatur 5/45, KLIEMS, Alfrun (1999): Von der Abschiebung des Widerstands ins Mythische. Die Libuše-Saga und der Mythos der Nationalen Wiedergeburt bei Libuše Moníková. In: E. Behring, L. Richter, W.F. Schwarz (Hgg.), Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südeuropas. Stuttgart: Franz Steiner, KRAUS, Wolfgang (1989): Laudatio für Libuše Moníková zum Franz-Kafka- Preis In: Deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas. Kafka- Symposium Klosterneuburg/Wien: Österreichische Franz-Kafka- Gesellschaft, MAGENAU, Jörg (1998): Immer als weiblicher Ahasver gefühlt. In: DIE TAGESZEITUNG, MANSBRÜGGE, Antje (2002): Autorkategorie und Gedächtnis. Lektüren zu Libuše Moníková. Würzburg: Königshausen & Neumann. MONÍKOVÁ, Libuše (1987): Die Fassade. München/Wien: Carl Hanser Verlag. (Fa) MONÍKOVÁ, Libuše (1988): Pavane für eine verstorbene Infantin. München: DTV. (PVI) MONÍKOVÁ, Libuše (1990): Schloß, Aleph, Wunschtorte. Essays. München/Wien: Carl Hanser Verlag. (SAW) MONÍKOVÁ, Libuše (1991): Mitteleuropäische Romanexpedition (Gespräch mit Libuše Moníková). In: Literarisches Colloquium. Berlin. PAUL, Werner (1991): Kein Wettbewerb des Schreckens. Deutsche und Tschechen: Libuše Moníková in den Münchner Kammerspielen. In: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 271 ( ). SCHENK, Klaus (2002): Schreiben der Differenz Libuše Moníkovás Essayistik und die Anfänge ihrer Prosa. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien Slowakei NF 8, VEDDER, Ulrike (1998): Ist es überhaupt noch mein Prag? Sprache und Erinnerung in der Literatur Libuše Moníkovás. In: H. Abret, I. Renata Cornejo Nagelschmidt, (Hgg.), Zwischen Distanz und Nähe. Eine Autorinnengeneration in den 80er Jahren. Bern/Berlin u.a.: Lang,

154 ,Österreicher par exellence... Joseph Roths Beamte und Offiziere. Daniela Blahutková Er glitt und sank. Er fühlte sich auch gleiten und sinken. Er hätte gerne mit jemandem darüber gesprochen [...]. Aber es war ihm, als sei er zu stumm und zu stumpf, um das Richtige und das Wahre sagen zu können. Er schwieg also. Und er trank. 1 In folgender Studie werden drei österreichische Romane Roths behandelt: Der Radetzkymarsch, Das falsche Gewicht und Die Geschichte der Nacht. Stellt man sich die Frage, welchem dieser Romane das obige Zitat entstammt, kann mit Recht an alle drei gedacht werden. Denn die beschriebene Konstellation Verfall, Sprachlosigkeit und Trunksucht ist paradigmatisch für kaiserliche Beamte und Offiziere, deren Existenz und Status eng an die untergehende Habsburger Monarchie gebunden sind. Lucien Goldmann charakterisiert die literarische Gattung des Romans in Anlehnung an Georg Lukács durch den Gegensatz zwischen einem,problematischen Individuum, das nach authentischen Werten sucht, und einer Gesellschaft, die diese Werte nur auf eine degradierte, vermittelte Weise vertritt und das Authentische auf die Ebene des Impliziten zurückdrängt. Das Individuum aber ist von der Gesellschaft nicht ganz zu trennen, deshalb gerät auch seine Suche nach dem Authentischen selbst zu etwas Nicht- Authentischem, Degradiertem (GOLDMANN 1984). Roths Figuren, das sieht der Leser klar, agieren auf dieser Ebene. Dass aber auch sie dies wissen oder zumindest ahnen und ihre eigene Suche als vergeblich betrachten, findet nicht immer eine befriedigende Deutung. So wird z.b. der letzte Trotta aus dem Radetzkymarsch traditionell als dekadenter Schwächling gesehen und seine Unfähigkeit, mit der Familientradition zu brechen, als Verfehlung und Kern seines Unglücks interpretiert. Man argumentiert dabei mit den individuellen Eigenschaften Trottas, lässt aber den Hintergrund des rothschen Ethos beiseite. Noch deutlicher wird dies in den Interpretationen des Eichmeister Eibenschütz aus Das falsche Gewicht und des Baron Taittinger aus Die Geschichte der Nacht, wo der Mechanismus des Untergangs völlig unklar und verhüllt zu sein scheint. 1 Roth, Joseph: Die Geschichte der Nacht. In: Ders. (1991/6: 389).

155 320 Österreicher par exellence... Joseph Roths Beamte und Offiziere Roth war zweifellos ein,spezialist für verlorene Menschen. Aber mit welchen Konsequenzen für die Gestaltung seiner k.k. Figuren? Margaret Willerich- Tocha (1984: 199) stellt sich mit Recht gegen den traditionellen Zugriff auf den Romancier Roth, der diesen einseitig als Chronisten Österreichs darstellt und das Bild eines konservativen, kaisertreuen Menschen konstruiert, der aufgrund des Elends der Gegenwart die Vergangenheit verklärt und damit aus der Gegenwart flieht. Während dieser Rezeptionsstrang das Märchenhaft- Idyllische in Roths Prosa und den apologetischen Aspekt seines Österreichbildes hervorhebt, verweisen Willerich-Tocha und vor allem Claudio Magris (1974) auf Roths scharfsinnige Thematisierung des Ambivalenten und Brüchigen der Welt Altösterreichs. Den kritischen Ansatz seiner Romane führen beide dabei auf seine ostjüdischen Wurzeln zurück. Roths Sehnsucht nach Vergangenheit gelte nicht der bürgerlichen Austria felix, wie oft in Bezug auf den Radetzkymarsch oder Die Geschichte der Nacht wiederholt, sondern der verlorenen Welt des österreichischen Ostjudentums. Diese These wird ausführlich bei Michael Franz Georg Knittel (1986) untersucht. Auf der Grundlage der Analyse mehrerer Romane Roths spricht Knittel von einem rothschen Individualismusbegriff, der sich in seiner religiösen Fundierung von dem bürgerlichen, rationalistisch-aufklärerischen und im Kern areligiösen Individualismus unterscheide. Vor allem im Frühwerk werde der bürgerliche Typus oft karikiert und mit einem starken jüdisch-slawischen Gegenüber konfrontiert. 2 Tatsächlich gilt für das gesamte Werk, dass positiv und lebensfähig nur ostjüdische, nichtassimilierte Figuren erscheinen (Kristianpoller, Mendel Singer, Manes Reisiger). Die Eigenschaften und Werte, für die diese Figuren stehen, sind jedoch am Schwinden begriffen und werden zunehmend mit der Welt der Väter oder Großväter assoziiert, d.h. mit der Vorgeschichte der Romane, die dann den Verfall bzw. das Nicht-Vorhandensein dieser Werte thematisieren. Der Schauplatz der späten Romane Roths ist Österreich, wobei der Donaumonarchie eine ganz bestimmte Bedeutung und Funktion in dem epischen Universum 3 des Autors zukommt. Sie erscheint als (geistiger) Raum zwischen den beiden Polen des rationalistischen Abendlands und des religiös orientierten Ostens 4. Der schleichende Prozess der Säkularisierung, mit dem u.a. Nationalismus, Verlust der kaiserlichen Autorität, Umwertung aller Werte in Bör- 2 So beispielsweise das Gegensatzpaar Paul Bernheim Nikolai Brandeis in Rechts und Links, Theodor Lohse - Benjamin Lenz in Das Spinnennetz u. a. Knittel (1986) weist aber auch darauf hin, dass Roths frühe Figuren aus dem Osten ebenfalls ambivalent dargestellt werden. 3 Zum Gebrauch dieses Begriffs vgl. BRONSEN (1974). 4 Hiermit ist das ostjüdische und das russische bäuerlich-slawische Milieu gemeint, nicht das spätere postrevolutionäre Russland. Den sowjetischen bürokratischen Kollektivismus hielt Roth für eine neue Art der Bürgerlichkeit - vgl. dazu z.b. FREY (1983: 66f.). Daniela Blahutková senwerte (ROTH 1970: 104) einhergehen, zeigt diesen Raum aber zunehmend als Raum des Verfalls. Anders gesagt: Roths Sehnsucht gilt dem Habsburger Reich, insofern es eine - wenn auch schwache - Kopie der Hierarchie des Gesetzes ist, und die Zersetzung des Reiches wird unter religiös-jüdischer Perspektive gesehen. Sie erscheint dann als,gleichnis vom Verlöschen des Heiligen. Die bürgerliche Kultur, der die scharfe Kritik des Schriftstellers gilt, entsteht für Roth aus dem Zerfall dieser Tradition des Reiches, das durch religiöse Werte konstituiert war. (WILL- ERICH-TOCHA 1984: 209) Roth selbst erklärte seine kulturpessimistische Einstellung in seinem am gehaltenen Vortrag Glauben und Fortschritt (ROTH 1976/4: ), wo er zwischen dem horizontalen Charakter der herrschenden technischrationalistischen Fortschrittsvorstellung und der vertikalen Linie der geistigen Situation unterscheidet. Obwohl er mit seinen radikalen politischen, religiösen und philosophischen Ansichten oft auf Ablehnung stieß, ist nicht zu übersehen, dass seine Kritik des instrumentellen Vernunftbegriffs und seine antipositivistische Sicht der Geschichte im Grunde mit den philosophischen Positionen der Frankfurter Schule (Horkheimer, Benjamin 5 ) konvergieren und dass dieses in seinen Romane präsente Denken in einen breiteren kulturkritischen Kontext des 20. Jahrhunderts gehört. Roths Ethos ist im Großen und Ganzen antibürgerlich. Wenn man mit Jürgen Habermas das klassische bürgerliche Milieu als Sphäre privater Autonomie denkt, die auf ökonomischer Selbständigkeit der vom Hof unabhängigen Warenbesitzer basiert, stehen Roths Figuren meist am Rande oder außerhalb dieser Verhältnisse. Seine k.k. Beamten und Offiziere leben in ärarischen Strukturen und in direktem Bezug zu ihrem Kaiser. Der bürokratische Geist Altösterreichs wird hier zur Perfektion geführt - was für Menschen sind der Bezirkshauptmann Trotta oder Graf Morstin privat? Selbst in ihrem intimsten Bewusstsein sind sie Beamte und Diener des Kaisers, dessen Macht sie repräsentieren: [...] so haben wir im Hause und bei der vom Hausherrn geübten Gewalt eben mit einer öffentlichen Gewalt zweiter Ordnung zu tun, die gewiss im Hinblick auf die ihr übergeordnete des Landes eine private ist, aber doch in einem sehr anderen Sinne als in einer modernen Privatrechtsordnung. 6 Roths Österreicher ist Kaiserdiener, d.h. der Repräsentierende, nicht der Autonome. Das Repräsentieren jedoch bezieht sich in letzter Instanz nicht auf den Kaiser, sondern das Göttliche. Die bei Roths ostjüdischen Figuren unmittelbare Beziehung Gott Mensch läuft über eine Zwischenstufe: Unser Kaiser ist ein 5 Knittel (1986: 3 7) zeigt die Konvergenz zwischen Benjamins Begriff des Eingedenkens und Roths Auffassung der Geschichtsschreibung. 6 Habermas Definition der Privatheit im feudalen, vorbürgerlichen Milieu. Vgl. HABER- MAS (1990: 59). 321

156 322 Österreicher par exellence... Joseph Roths Beamte und Offiziere weltlicher Bruder des Papstes, es ist Seine K.u.K. Apostolische Majestät [...] (ROTH 1991/5: 290), sagt Graf Chojnicki im Radetzkymarsch. Ein treuer Kaiserdienst kann als mittelbarer Gottesdienst verstanden werden Roths Beamten,,die Spartaner unter den Österreichern, sind dann gewissermaßen weltliche Brüder seiner frommen ostjüdischen Gerechten. Der Prozess der Säkularisierung gleicht in einem so gedachten Kosmos einer Katastrophe. Und Roths Österreich-Romane spielen tatsächlich in der Atmosphäre einer um sich greifenden Katastrophe, mag sie auch noch so latent sein und nur im Hintergrund spürbar. Das gilt für den Radetzkymarsch wie ebenso für Das falsche Gewicht einen Roman, der Roth den Vorwurf der Flucht ins Irrationale einbrachte. Die Untergangsgeschichte des k.k. Eichmeisters Eibenschütz kann letztlich nur anhand des die Romanhandlung überschreitenden Kontextes des rothschen epischen Universums konsistent beschrieben werden. Auch für Die Geschichte der Nacht ist der Grundgedanke von einer lebensfeindlichen und lebenszerstörenden Ordnung von entscheidender Bedeutung wird dies nicht berücksichtigt, entsteht paradoxerweise das Bild einer,unkomplizierten Welt des Friedens und der Unschuld (WILLERICH- TOCHA 1984: 199). Roths kaisertreue Figuren sind unschuldig und ihre Schicksale erscheinen tragisch in dem Maße, wie sie einen Gegensatz der faustischen Hybris verkörpern. Die Utopie einer geschichtslosen Idylle mit einer ausgeglichenen Beziehung zwischen Gott und Mensch, zwischen dem Kaiser und den Völkern klingt in diesen Figuren an aber nur flüchtig, als unerfüllbarer Traum, der in der Wirklichkeit degradierte Formen annimmt. Alle Figuren Roths sind andererseits an ihrem Unglück mitbeteiligt, indem sie unwahre, falsche Werte verabsolutieren und sich an ihnen orientieren. Das Tragische schwingt ins Ironische um, der Gottesdienst in Götzendienst, Autorität in Verachtung nicht nur Eibenschütz, sondern auch die Trottas, Taittingers, Zippers haben falsche Gewichte. Im Dienste des Habsburger-Mythos: Der Radetzkymarsch Der Radetzkymarsch (1932) ist entgegen der traditionellen Interpretation ein klares Beispiel dafür, dass Roth keine,unkomplizierte Welt des Friedens und der Unschuld malt auch nicht in der Vergangenheit. Zentral für den ganzen Roman und damit für die Sicht der Figuren von Vater und Sohn Trotta ist die Geschichte des Großvaters Joseph Trotta, des Helden von Solferino. Die Geschichte der Adelsfamilie Trotta von Sipolje beginnt mit der Heldentat des einfachen Leutnants Joseph Trotta. In der Schlacht bei Solferino rettet er Kaisers Franz Joseph das Leben, wird ausgezeichnet, befördert und von seinen slowenisch-bäuerlichen Vorfahren durch einen schweren Berg militärischer Grade (ROTH 1991/5: 144) getrennt. Er gründet eine neue, standesgemäße Existenz und unvorstellbar ist für ihn, anders sterben zu können als im Kaiserdienst. Doch eben dies geschieht. Eine pragmatische Veränderung in der Dar- Daniela Blahutková stellung seiner Heldentat, die er im Lesebuch seines kleinen Sohns entdeckt, bewirkt bei Joseph Trotta die völlige Desillusion über das, was den Gang der Welt bestimmt. Trotta, der einfache,ritter der Wahrheit, hatte natürlich an die heilige kaiserliche Vollmacht geglaubt. Nachdem ihm der Kaiser selbst die Klugheit der Minister als letzte Instanz der Weltverwaltung vorstellt, verlässt er die Armee, entzieht sich der Welt und nähert sich wieder der Lebensweise seiner bäuerlichen Vorfahren. Entscheidend für den Verlauf des erst hier einsetzenden Romangeschehens aber ist, dass der Bund mit dem Kaiser sich als unwiderruflich erweist. Trotta wird in den erblichen Adelsstand erhoben und sein Sohn durch geradezu persönliche kaiserliche Unterstützung seiner Ausbildung für den Kaiserdienst beansprucht. Nach dem ersten Bruch mit der Tradition (Trottas Wechsel von der Peripherie ins Zentrum, vom Bäuerlichen ins Kaiserliche) folgt, diesmal eher im Inneren, ein neuer: Vertrieben war er aus dem Paradies der einfachen Gläubigkeit an den Kaiser und Tugend, Wahrheit und Recht, und gefesselt in Dulden und Schweigen [...]. (ROTH 1991/5: 149) Baron Joseph Trotta von Sipolje findet in seiner Umgebung kein Verständnis und fühlt sich zur Stummheit verurteilt. Dem Sohn, der nicht ihm, sondern dem Kaiser gehören soll, vermittelt er seine Erkenntnis nicht, im Gegenteil: mit seinem Testament entzieht er ihm Grund und Boden, um ihm eine als möglichst ungebrochen erfahrene Karriere im kaiserlichen Dienst zu ermöglichen. Franz von Trotta, der spätere Bezirkshauptmann, wird im kaiserlichen Internat erzogen und kennt die Heldentat seines Vaters lediglich aus dem Lesebuch; nach dem Tod des Vaters bleibt ihm nur dessen Porträt. Unbelastet bekleidet er sein Amt und der Dienst für den Kaiser wird ihm, vermeintlich im Einklang mit der Familientradition, heilig. Das Latente taucht erst wieder in der Enkel-Generation auf. Franz von Trotta, der in den Verfilmungen des Romans als Essenz des Österreichertums interpretiert wird, trägt also ziemlich ambivalente Züge. Seine vorbildliche Hingabe an das System, die sich noch in den intimsten Details seines Lebens äußert, sein liebevoll geschildertes ästhetizierendes Spartanertum wird als Produkt einer missverstandenen Tradition dargestellt, als künstliches Gebilde. Die seiner Situation inhärente Ironie ist zwar wiederholt betont worden, hat aber das traditionelle Trotta-Bild noch nicht angemessen korrigiert. Es wird etwas verehrt, was sich schon als degradiert erwiesen hat. Die Bürokratisierung der heiligen Idee des Kaisers wird von Roth als Vorstufe deren völligen Entwertung betrachtet. So ist der Bezirkshauptmann zweifellos einer der rothschen Väter, die blind und,versteinert in der Zeit das Unglück ihrer Söhne der rothschen,letzten Generation vorbereiten. Andererseits wird der Auslöser der Katastrophe noch vor ihrer Zeit lokalisiert, dort, wo manch einer eine märchenhafte Idylle sehen will. Das Problematische einer Tradition, die äußerlich perfektioniert und zugleich nicht zu hinterfragen ist, wird im Roman unter anderem durch das Motiv des 323

157 324 Österreicher par exellence... Joseph Roths Beamte und Offiziere Bildes thematisiert. Im Herrenzimmer des Bezirkshauptmanns führt der Enkel stumme Gespräche mit dem Porträt des Helden von Solferino: Es zerfiel in zahlreiche tiefe Schatten und helle Lichtflecke, in Pinselstriche und Tupfen [...]. Nichts verriet der Tote. Nichts erfuhr der Junge. (ROTH 1991/5: 169) Ähnlich ergeht es dem Bezirkshauptmann, der das Antlitz des Vaters erst dann zu studieren versucht, als er mit dem Unglück seines Sohns konfrontiert ist: Das Gemälde zerfiel in hundert kleine, ölige Lichtflecke und Tupfen [...]. Und im tiefen Dämmer glaubte er, das Angesicht seines Vaters lebendig schimmern zu sehen. Bald näherte es sich ihm, bald entfernte es sich, schien hinter die Wand zu entweichen und wie aus einer unermeßlichen Weite durch ein offenes Fenster ins Zimmer zu schauen. Herr von Trotta verspürte eine große Müdigkeit. [...] Er schloss die Augen. (ROTH 1991/5: 369) Zwischen den Schicksalen von Enkel und Großvater Trotta gibt es zahlreiche Parallelen, doch steht der Enkel immer im Schatten des Helden. Carl Joseph Trotta wird vom Vater wieder im vermeintlichen Einklang mit der Familientradition zur Karriere beim Militär bestimmt. Als Enkel des Helden von Solferino versteht er seine Aufgabe in der permanenten Bereitschaft, für den Kaiser eingesetzt zu werden. Je mehr er aber Zeuge der Entweihung und Entwertung der kaiserlichen Autorität wird, desto weniger fühlt er sich der Tradition der Trotta gewachsen. Zwischen der Pflicht, den Kaiser zu retten, und der Unrettbarkeit des allmählich absterbenden Vielvölkerstaats besteht für ihn ein unüberwindbarer Widerspruch. Er weiß nichts von der Desillusion seines Großvaters und orientiert sich an einem Ethos, das für ihn eine zu hohe Messlatte darstellt. Ähnlich wie der Großvater kann Carl Joseph seine zwiespältige Erfahrung der Welt nicht mitteilen, ähnlich wie der Großvater entscheidet er sich, die Armee und den Kaiserdienst zu verlassen und die bäuerlichen Wurzeln der slowenischen Trotta wiederzufinden; ähnlich wie der Großvater geht er zuletzt für den Kaiser in den Krieg. Nur geschieht all dies ohne Glanz und Entschlossenheit. Wo der Großvater aktiv handelt, duldet und erleidet sein Enkel oder wird getrieben. Er stirbt im Krieg, wie es sich für einen Trotta ziemt, aber der ihm in Ohren klingende Radetzkymarsch unterstreicht nur den zivilen, nicht-heroischen Charakter seiner letzten Tat: er will seinen durstigen Männern Wasser vom Brunnen holen. Das ist, was er für seinen Kaiser tun kann. Erst der Tod des Sohns lässt den künstlichen Lebensraum des Bezirkshauptmanns endgültig in sich zusammenbrechen. Franz von Trotta akzeptiert die unheimliche Tatsache, dass seine Welt tot ist er wartet nur noch den Tod des alten Kaisers ab, um auch zu sterben. Der stille Seufzer des sterbenden Kaisers: Wär ich nur bei Solferino gefallen! (ROTH 1991/5: 453) umspannt gleichsam die Existenz des Adelsgeschlechts Trotta von Sipolje und stempelt sie definitiv zu Schicksalen, welche die Geschichte fallen lässt. (ROTH 1976/4: 406) Daniela Blahutková Die Möglichkeit, den letzten Trotta als,modernen Menschen zu entwerfen und ihn die patriarchalische Tradition überwinden zu lassen, verfolgt Roth in seinen anderen Romanen. Vor allem in seinen früheren Werken, aber auch z.b. in der Kapuzinergruft, wo Europa nach dem I. Weltkrieg geschildert wird, gelangt er im Kontext der Heimkehrerproblematik immer wieder zu einer konstanten Schlussszene: die Fesselung der Überlebenden und Entwurzelten in der geräuschvollen Leere der Gegenwart. (ROTH 1976/1: 845) Das ist Roths moderne Alternative zum altmodischen Pathos eines kaisertreuen Todes. Sie ergibt sich aus seiner Sicht der,zerstörerischen Neuzeit, die zugleich von I- deologien und von Chaos beherrscht wird. Roths späte Hinwendung zum Thema Altösterreich ist zweifellos als Apologie der Monarchie zu verstehen, doch in einem sehr spezifischen Sinne: insofern sie der Vorstellung eines utopischen Reichs, das Lebensmöglichkeiten für alle ethnischen und religiösen Gruppen bot, (WILLERICH-TOCHA 1984: 206) entspricht. Im Großen und Ganzen kann sein Österreichbild keinesfalls als i- dyllisch und bloß affirmativ betrachtet werden. Mensch und Gesetz: Das falsche Gewicht Nach Václav Bělohradský (1990:46) entwickelte sich im alten Österreich durch die Bürokratisierung der universalistischen Idee des Reichs ein spezifisches Ethos, das sich durch Flucht in Unpersönlichkeit, in Paragraphen und Gesetze auszeichnete. Eben diese heutzutage zentrale Tendenz, die nichtexakte, vieldeutige Lebenswelt auf einen gemeinsamen Nenner mit der Rationalität des Staates zu bringen, sei aber gerade für die geistige Krise des abendländischen Menschen verantwortlich. Die Denker aus dem geistigen Raum der ehemaligen Monarchie haben nach Bělohradský sehr früh auf diese Situation reagiert und folgende Zentralfragen gestellt: Kann das Gesetz im Sinne einer unpersönlichen Exaktheit Quelle einer wirklichen Universalität und Grund einer Zivilisation sein? Kann der Mensch sich von all dem lossagen, was,anders als Gesetz ist? Verbirgt sich hinter der allgemeinen Flucht zu Gesetz und Uniform nicht etwas Nihilistisches? Die mitteleuropäische Literatur, so Bělohradský, ist voller Figuren, die aus den Requisiten der Exaktheit herausfallen und von einer elementaren Lebensenergie mitgerissen werden, um sich von ihr tödlich und zugleich tröstlich überwältigen zu lassen. An erster Stelle nennt er in diesem Zusammenhang den Eichmeister Eibenschütz von Joseph Roth. In der Untergangsgeschichte eines staatlichen Eichmeisters in der östlichen Peripherie der Habsburgermonarchie spielt die Beziehung Mensch Gesetz eine zentrale Rolle. Jemand, der ähnlich wie die Trottas seine Identität von der Zugehörigkeit zu einer Institution ableitet dem Militär, dem staatlichen Verwaltungsapparat wird wortwörtlich aus der Bahn geworfen (ROTH 1991/6: 174) und vernichtet sich selbst durch eine dunkle Leidenschaft. Er 325

158 326 Österreicher par exellence... Joseph Roths Beamte und Offiziere fühlt Selbsthass und Desillusion, ist aber nicht im Stande irgendeine Ursache für seinen Fall auszumachen. Der Tod wird als Erlösung angenommen. Anselm Eibenschütz ist ein ehemaliger Soldat, der nach zwölfjährigem Militärdienst auf Wunsch seiner Frau in die zivile Laufbahn wechselt und staatlicher Eichmeister im östlichen Grenzgebiet der Monarchie wird. Den Schritt aus der Obhut der Kaserne empfindet er bald als verhängnisvoll. Er war nicht gewohnt zu entscheiden. Zwölf Jahre hatte er gedient. Er war gewohnt zu gehorchen. (ROTH 1991/6: 174) Seine Haltung gegenüber der Umwelt besteht aus Gehorchen und Verlangen: Er verlangt Liebe von seiner Frau, der er gehorcht; er gehorcht dem Gesetz und verlangt seine Befolgung von der Bevölkerung. Die Frau betrügt ihn mit seinem eigenen Schreiber, die Bevölkerung hasst ihn und hintergeht ihn auf eine tückische, ungreifbare Art. Eibenschütz versteht all das nicht: Wie ist es möglich, dass das Gesetz seine persönliche Richtlinie und zugleich das öffentlich anerkannte Schutzmittel gegen das Chaos [ ] nicht verhindern kann, dass das Chaos in Eibenschütz Leben einbricht? (BRONSEN 1974: 574) Er misst, gleichsam als Eichmeister des Privaten, seiner untreuen Frau eine,gerechte Strafe zu, verfällt aber kurz danach einer irrationalen Liebesleidenschaft zu der Freundin seines größten Gegners, des nicht zu fassenden Betrügers und Verbrechers Jadlowker. Das gesetzlose Milieu der Grenzschenke, die jene unerreichbare Frau, die Zigeunerin Euphemia Nikitsch, bewohnt, saugt ihn völlig auf. Sein Handeln, das aus dieser Situation folgt, kann er selbst kaum noch gerecht finden, kann aber auch nicht beurteilen, ob er mehr Unrecht erleidet oder zufügt. Verzweifelt fragt er, wer die Welt eigentlich regiere. Eine Art Antwort erhält er, als er, von Jadlowker tödlich verletzt, in einem Todestraum dem,großen Eichmeister begegnet, der ihm sagt: Alle deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig. Wir werden dich also nicht anzeigen! (ROTH 1991/6: 222) Das Ende des 1937 erschienenen Romans ist unterschiedlich interpretiert worden, oft in dem Sinne, dass Roth vor der unerträglichen Realität der 30er Jahre ins Irrationale geflohen und zu einer völligen Indifferenz 7 gelangt sei. Zu bedenken ist aber auch folgende wichtige Bedeutungsebene der Geschichte: Das Wort Gesetz impliziert bei Roth sowohl das bürokratische, dessen Unzulänglichkeit vorgeführt wird, als auch das göttliche, jenes des Alten Testaments. Das Zusammenspiel dieser beiden Aspekte ergibt folgende Konstellation: Eichmeister Eibenschütz gehört erstens dem untergehenden k.k. Kosmos an: Die Peripherie spiegelt die Zerfallserscheinungen in verstärkter Form, der Untergang des Doppeladlers vollzieht sich weit vom Zentrum des Verwaltungsapparats entfernt und mit einem gewissen Vorlauf. Der Eichmeister als Symbol der zentralisierten, uniformierten Ordnung wird von einer ordnungswidrigen Welt absorbiert und vernichtet. Die wilde Welt ohne Regel verfügt über mehr 7 Vgl. z.b. die Interpretation des Romans bei BRONSEN (1974: 576) Daniela Blahutková Lebenskraft als jene bürokratisch organisierte. So gesehen ist Eibenschütz ein Verwandter Carl Joseph Trottas beide sind zu schwach, um die Aufrechterhaltung des Kaiserlichen zu sichern. Zweitens gehört Eibenschütz in die Gemeinschaft von Roths jüdischen Figuren. Durch den Verweis auf seine jüdische Abstammung wird seine Hingabe an das weltliche, militärische und bürokratische Universum als ein Sich- Entfernen von der religiösen Tradition entlarvt, als Verlust des Heiligen. 8 Die Beschwörung des Unwahren ist hier nicht nur Irrtum, sondern zugleich Sünde. In dieser Hinsicht ähneln Eibenschütz und sein Schicksal der Figur des Militärarztes Max Demant aus dem Radetzkymarsch. Eibenschütz,,der Redliche, wird im Roman dem frommen jüdischen Gerechten Mendel Singer gegenübergestellt. Der existenzvernichtende Eingriff des Eichmeisters im armseligen Geschäft der Frau Singer und der sich anschließende Dialog zwischen Eibenschütz und Mendel Singer konfrontieren das (bürokratisch) Legale mit dem (menschlich) Legitimen. Der,Große Eichmeister, von dem Eibenschütz schließlich symbolisch gerichtet wird, hat das äußere Erscheinungsbild Mendel Singers: es ist ein jüdischer,großer Eichmeister, der Eibenschütz falsche Gewichte sieht und ihn trotzdem nicht verurteilt. Das, was Bělohradský Tragödie des Rationalismus nennt, wird also bei Roth vor einem religiösen Hintergrund gesehen. In diesem Punkt unterscheidet sich Roth von anderen Zeitgenossen, deren Prosa den Zerfall der Donaumonarchie thematisiert. 9 Welt der Unerlösten. Die Geschichte der Nacht Der letzte Roman Roths (1939) leugnet jede Illusion eines idyllischen Gestern. Der Wertezerfall, dessen Auswirkungen Roth in seinem Frühwerk an der Nachkriegswelt demonstrierte, wird hier als längst gegeben präsentiert. Während die Melancholie der Desillusionierung der Handlung im Radetzkymarsch einen tragischen Hauch verleiht, tummelt sich hier vor den Augen des Lesers eine trügerische Vielfalt reizvoll leichtbewegter Szenen aus einer des Individuellen entleerten und daher nihilistischen Welt so erscheint das franziscojosephinische Wien des Rittmeisters Baron Taittinger, seiner Geliebten,aus dem Volke Mizzi Schinagl und der anderen Funktionsträger einer vergehenden Ordnung, aus der, einem Labyrinth gleich, es kein Entrinnen gibt. (KNITTEL 1986: 255) Wie Knittel betont, zeigt sich eine gedankliche Armut und die Entindividualisierung Baron Taittingers schon auf der Ebene seiner Sprache, in der das Besondere, Unverwechselbare dem Klischee zum Opfer fällt. Für Taittinger gibt es nur drei Klassen von Menschen: an der Spitze standen die,charmanten ; 8 Zu dieser These vgl. MAGRIS (1974: 302f.) 9 Vgl. z.b. das Bild der Monarchie in Musils Der Mann ohne Eigenschaften. 327

159 328 Österreicher par exellence... Joseph Roths Beamte und Offiziere dann kamen die,gleichgültigen ; die dritte und letzte Klasse bestand aus,langweiligen. (KNITTEL 1986: 256f.; ROTH 1991/6: 360) Dies ist Taittingers Sicht der Menschen, aber auch der Ereignisse selbst seine eigene Geschichte lässt sich mit diesem Begriffsapparat fassen: zunächst eine charmante Liaison mit der süßen,kleinen Mizzi aus Sievering, die den Baron an eine Gräfin erinnert, dann die gleichgültige Phase von Mizzis Schwangerschaft und von Taittingers Distanzierung sowie ihres Wiedertreffens im Freudenhaus, wo Mizzi Arbeit und zugleich ein Zuhause gefunden hat, schließlich das langweilige Stadium von Taittingers peinlicher Kuppeleiaffäre im diplomatischen Dienst: Zwar gelingt es ihm, die Prostituierte Mizzi zur Lieblingsfrau des persischen Schahs zu machen, er verwickelt sich dabei jedoch in eine fatale Serie banaler Ereignisse, an deren Ende Öde und Ausweglosigkeit stehen. Er erkennt, dass seine vermeintlich vergessene Affäre ihn immer wieder einholt und eine Rückkehr zum Militär vereitelt. In dieser Situation begeht er Selbstmord. Die Existenz Baron Taittingers erscheint eigentlich nur in dem Ordnungsrahmen des Militärs denkbar. Zweimal hat er die Obhut der Kaserne verlassen: das erste Mal, um im diplomatischen Dienst die alte, liebe, gutvertraute Luft der weltmännischen Lüge (ROTH 1991/6: 360) zu atmen, doch scheitert er an der unauflöslichen Verwicklung der privaten und dienstlichen Sphäre. Das zweite Mal ist er nicht mehr der Herr der Situation. Es sind die Folgen seiner früheren Affäre, die ihn aus dem Militärdienst drängen. Er wird zum Instrument in den Händen seiner pragmatischen,freunde aus dem Volke, lässt sich erpressen und in weitere Affären verwickeln, die ihm das Einzige, worauf er noch hofft, nämlich die Rückkehr zu seinem Regiment, definitiv versperren. Wie Magris treffend formuliert, ist der elegante und zugleich lebensunfähige Rittmeister Taittinger ein in den sozialen Mechanismen gefangenes Individuum, dessen Seichtheit, Oberflächlichkeit und ganzes Schicksal aus der ständigen Verdrängung des Beunruhigenden und Problematischen (MAGRIS 1974: 313) resultieren. Bis zu seinem Ende ist er wie von einer ihm unbekannten,mechanik getrieben. Den Zusammenhang zwischen seinem Handeln, und den,fremden Geschichten, die in sein Leben eindringen und ihn zuletzt vernichten, kann er zwar ahnen, aber nicht durchschauen. Er findet keinen Ausweg aus der,banalen Hölle der Alltäglichkeit die jeden Bezug zur Transzendenz verwehrt. Dementsprechend ist sein Ende sinnlos und zufällig, Konsequenz trivialer Verirrung (MAGRIS 1974: 313) und bedeutet auch nicht das Ende des Romans; dieser mündet vielmehr in das Überleben der Kleinbürgergestalten, die sich dem falschen Glanz des lächerlich lebensuntüchtigen Aristokraten Taittinger als überlegen erweisen. (KNITTEL 1986: 267) Taittinger wird mitunter als karikierte Version von Carl Joseph Trotta verstanden: Ähnlich wie die Trottas figuriert auch er in den geheimen Akten der kai- Daniela Blahutková serlichen Ministerien. Aber es ist nicht Heldentat, sondern Skandal, was seinen Namen bekannt macht. Der,beneidenswert gelangweilte Rittmeister steht im Mittelpunkt einer äußerst profanen, aus dem Rahmen der 1001 Märchennächte verbannten Geschichte, die nicht im Lesebuch, sondern zuerst im Schundroman und zuletzt in einem Prater-Panoptikum verewigt und den Massen als Attraktion verkauft wird. Illusion der pietas und Treue, die Roth noch im Radetzkymarsch auf die Vergangenheit projiziert hatte, erfährt hier laut Magris ihre völlige Zerstörung. Taittingers Schicksal spannt sich zwischen zwei Besuchen des persischen Schahs in Wien, die den Wiederholungscharakter des im Kern nichtigen Geschehens verdeutlichen. Dem kontemplativen Blick des persischen Eunuchen Pantominos erscheint das Gesetz der ewigen Abwechslung, dem die Menschen unterliegen, als Quelle der Verirrung und des Unglücks. Der Beschnittene, dessen vitaler Trieb geschwächt ist, der in diesem Sinne eine nichtmenschliche Existenz führt (KNITTEL 1986: 251) und eine Art Instanz des Jenseits darstellt, ist gegen eine unkritische Verklärung der Vergangenheit immun:,alles verändert sich, Herr, antwortete der Eunuch.,Und alles bleibt sich dennoch gleich. (ROTH 1991/6: 512) Roths späte Skepsis äußert sich hier auf eine Weise, die seinen,rückzug aus der Geschichte 10 zugleich rechtfertigen soll: die märchenhaften Kulissen seiner späten Romane und Novellen lassen diese literarischen Werke als Exempel erscheinen, die die universelle Geltung des Werteverfalls demonstrieren. Roths Österreich Im Werk Joseph Roths wird bis heute unkritisch und einseitig der apologetische Aspekt seines Österreichbildes hervorgehoben. Roths positive Wertung der Habsburger Monarchie beruht auf der Überzeugung, dass sie,ein Mehr an Humanität bot als das von Ideologien beherrschte Europa nach dem 1. Weltkrieg. Eine Analyse seiner Romane verdeutlicht aber zugleich Roths sehr kritische Haltung gegenüber den rationalistischen und säkularisierenden Tendenzen der Moderne. Sein Österreichbild muss daher im breiteren Rahmen seiner Kritik der abendländischen bürgerlichen Welt gesehen werden, welcher er jüdisch-religiöse Werte entgegenstellt. Während im Frühwerk beide gesellschaftlichen und religiösen Modelle konkurrieren, bilden die jüdisch-religiösen Werte später eher einen ordnenden gedanklichen Hintergrund, vor welchem auch Roths Österreichbild zu lesen ist. Sein wachsender Kulturpessimismus verlegt die für ihn positiven Werte der Tradition, der Religiosität und des humanistischen Universalismus in die uner- 10 Roth thematisiert in seinen letzten Romanen deren historischen Bezugsrahmen nicht, obwohl einige Untersuchungen nachweisen, dass er sich auch hier gezielt historisch belegbarer Ereignisse bedient. Vgl. dazu WIRZ (1997). 329

160 Österreicher par exellence... Joseph Roths Beamte und Offiziere reichbare Vergangenheit, so dass seine letzten Romane eher als Anti- Bildungsromane über Einsamkeit und Depersonalisation zu verstehen sind. Der letzte Roman, Die Geschichte der Nacht, bietet ein desillusioniertes Bild auch noch jener Vergangenheit, die als Austria felix traditionell mit Roth assoziiert wird 11 (was jedoch nicht einmal bei Roths berühmtem Österreichroman Der Radetzkymarsch völlig gerechtfertigt ist). Die einzige uneingeschränkte Verklärung des alten Kaiserreichs findet sich in der Novelle Die Büste des Kaisers (1935). Es ist aber bezeichnend, dass der Protagonist Graf Morstin, einer der edelsten und reinster Typen des Österreichers schlechthin (ROTH 1991/5: 654), zugleich wie aus einer anderen Welt (ROTH 1991/5: 660) erscheint. Alle so genannten,typischen Österreicher bei Roth sind Außenseiter: je mehr dem Kaiser und seinem bürokratischen Apparat ergeben, desto weltfremder; je weiter vom Kaiser als zumindest vermeintlich ordnungsstiftender Instanz, desto hilfloser in der chaotischen, amorphen Welt. Außer einer Transzendenz, die Magris,vage und,synkretistisch nennt, gibt es beim späten Roth kaum positive Werte. Auf das Herausfallen aus den Strukturen des Gesetzes reagieren zwar die Figuren mit einer spontanen Bejahung, sie erweist sich jedoch als Todestrieb. Das,Schöne an Roths Österreich-Romanen ist lediglich die Illusion, die der Autor selbst zerstört. Doch er genießt sich auch, und daher wird manchmal übersehen, dass in der Form der klassischen Epik eine alle klassischen Ideale widerlegende Handlung erzählt wird. (MAGRIS 1988: 302) Die Figuren seiner k.k. Beamten und Offiziere zeigen aber deutlich, wie zwiespältig seine Trauer nach dem Kaiserreich war. Daniela Blahutková HABERMAS, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp. HACKERT, Fritz (1967): Kulturpessimismus und Erzählform. Bern: H. Lang & Cie, a.g. KNITTEL, Michael Franz Georg (1986): Das säkularisierte und jüdisch- religiöse Individualismus im Erzählwerk Joseph Roths. University of California, Irvine (Diss.), LUKÁCS, Georg (1965): Die Theorie des Romans. Neuwied: Luchterhand. MAGRIS, Claudio (1988): Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg: Otto Müller Verlag. MAGRIS, Claudio (1974): Weit von wo. Die verlorene Welt des Ostjudentums. Wien: Europaverlag. ROTH, Joseph (1970): Der neue Tag. Köln: Kiepenheuer & Witsch. ROTH, Joseph (1976): Joseph Roth Werke. Hg. v. Hermann Kesten. Bd. 1, 4. Köln: Kiepenheuer & Witsch. ROTH, Joseph (1991): Joseph Roth Werke. Hg. v. Fritz Hackert. Bd. 5, 6. Köln: Kiepenheuer & Witsch. WILLERICH-TOCHA, Margarete (1984): Rezeption als Gedächtnis. Studien zur Wirkung Joseph Roths. Frankfurt/Main: Peter Lang. WIRZ, Irmgard (1997): Joseph Roths Fiktionen des Faktischen. Das Feuilleton der zwanziger Jahre und Die Geschichte der Nacht im historischen Kontext. Berlin: Erich Schmidt. Literaturverzeichnis BĚLOHRADSKÝ, Václav (1990): Mitteleuropa: rakouská říše jako metafora [Mitteleuropa: Habsburgerreich als Methapher]. In: Tvar 6 9, Praha, 46. BRONSEN, David (1974): Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch. FREY, Reiner (1983): Kein Weg ins Freie. Joseph Roths Amerikabild. Frankfurt/Main: Peter Lang. GOLDMANN, Lucien (1984): Literatursoziologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp. 11 Vgl. dazu MAGRIS (1974). Was Roths Spätwerk betrifft, beruft sich diese Abhandlung vorwiegend auf Magris und seine höchst konsequenten Analysen

161 Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur Petr Štědroň Die Frage nach dem Erinnern ist eine Frage des Wie nicht des Ob. (KLÜGER 1996: 29) Die Vorstellung vom Gedächtnis als abbildendem Speicherphänomen wird heute weitgehend von der Kultursoziologie verfolgt (vgl. SIEGMUND 1996: 69). Theater wird dann als öffentlicher Ort betrachtet, wo Erfahrungsbilder vermittelt, deponiert und vom Publikum rezipiert werden. Somit gelangt das Theater auf die Position einer gesellschaftlichen Institution und erstellt einen Anteil an der Konstitution des Gedächtnisses einer Kultur. Das Gedächtnis, das vom Theater vermittelt wird, stiftet die Kontinuität, wobei das Gedächtnis der Gruppe stellt sich von einer Reihe individueller Gedächtnisse zusammen, die immer im Horizont des kollektiven Gedächtnisses stehen (ebd. 70). Jeder von uns, jedes Individuum verteilt sein Gedächtnis auf zwei Arten, sein autobiographisches und historisches, da schließlich die Geschichte unseres Lebens zur Geschichte allgemein gehört. (ebd. 70) Die Fragen nach der Darstellbarkeit des Todes (Mordes, Massenmordes) auf dem Theater und in anderen Medien modifizieren mit dem Zeitalter, konstant und prägend bleibt der Reiz und die Anziehungskraft des Theatertodes und seine kulminierende Rolle. Obwohl es vielleicht seltsam klingen mag, gehört der Bühnentod zu konventionellen Elementen des Dramas und aller seiner Genres, er gehört zum Theatergenuss. Mit der Entwicklung der Art des die Menschheit begleitenden Tötens und Mordens entstehen die Fragen, Möglichkeiten und Prämissen seines Darstellens. Wie sich die Dimensionen des tatsächlichen, realen Tötens und Mordens entwickelt hatten, ändern sich auch die Vorgehensweisen der Bühnendarstellung. Die nachahmende Form des Theaters wirkte jedoch als nicht mächtig, die Leiden und den Schmerz der Opfer und Hinterbliebenen des Holocausts darstellen zu können. Die mimetische Vorgehensweise des Theaters sei nicht möglich, möchte man nicht zu Vereinfachungen oder Übertreibungen gelangen. Der Mord an Millionen Juden entziehe sich den eingeübten Begriffen wie Tragik, Katharsis, Mimesis, Utopie, Transzendenz, sie wirken im Zusammenhang mit der Massenvernichtung verdächtig und spekulativ (STRÜMPEL 2000: 9). Der Kern des Holocaust- Diskurses wurde auch im Kontext des Theaters von den Kategorien der Glaubwürdigkeit, Erträglichkeit und Zumutbarkeit des Dargestellten geprägt, die nicht überschritten werden sollen. Wie wird das Thema dem Rezipienten (Zuschauer, Leser) transformiert, wie werden die KZ s metaphorisiert, falls sie

162 Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur überhaupt metaphorisiert werden können? Von den Augenzeugen und Betroffenen wird oft die Möglichkeit einer Metaphorisierung abgelehnt: There are no metaphors for Auschwitz, just as Auschwitz is not metaphor for anything else. Why is that the case? Because the flames were real flames, the ashes only ashes, the smoke allways and only smoke. (ROSENFELD 1980: 27) Ausgrenzung, Erniedringung, Massenvernichtung und die anthropologischen Konsequenzen der Greueltaten des Holocausts bilden die Quintessenz des Werkes George Taboris. Der Holocaust als singuläre Erscheinung und Zäsur der abendländischen Erfahrung kann nicht mittels konventioneller Techniken dargestellt werden. So zu verfahren, hieße sich der Gefahr der Produktion kitschiger Dramen auszusetzen. Sich einfühlende Autoren stünden dann einem begeisterten und tief bewegten Publikum gegenüber. 1 Das Ausmaß des historischen Geschehens Holocaust ist nicht Betroffenen schwer zu vermitteln, auch wenn das unsagbare Grauen ästhetisch erfahrbar zu machen gleichwohl eigentliches Ziel jeglicher Holocaust-Dramatik bleibt. Unmenschlichkeit, Hölle, Inferno, Teufel, Bestien, danteske Szenen diese und andere Bezeichnungen kommen in dokumentarischen und literarischen Zeugnissen vor, die die Verbrechen des Nationalsozialismus thematisieren. Es scheint, als ob hier die ästhetische Abstraktion des Bösen an die Stelle konkreter Wirklichkeit träte. Das Aufstellen von Bildverboten einerseits und die Auffassung, dass es sich bei Auschwitz um ein gleichsam metaphysisches Konstrukt handeln würde, kann aber dazu führen, dass die Opfer des Holocausts mit einer Aura des Heiligen (DAHLKE 1997: 131) versehen und so verdrängt werden. Das Unglück hatte aber Namen, Millionen Namen der Verfolgten und Ermordeten ebenso wie sehr viele Namen der Täter. Und beide verdienen es nicht, namenlos zu werden durch die Erklärung, es habe sich um ein namenloses Unglück gehandelt. (MONK 1993: 111) Das Konkrete, nämlich die menschliche Dimension von Auschwitz hat auch Martin Walser zum Ausdruck gebracht: Nun war aber Auschwitz nicht die Hölle, sondern ein deutsches Konzentrationslager. Und die Häftlinge waren keine Verdammten oder Halbverdammten eines christlichen Kosmos, sondern unschuldige Juden, Kommunisten und so weiter. Und die Folterer waren keine phantastischen Teufel, sondern Menschen wie du und ich. Deutsche, oder solche, die es werden wollten. (WALSER 1968: 11) Petr Štědroň Die Kannibalen gelangen 1969 als das erste Stück George Taboris auf eine deutschsprachige Bühne. 2 Es war also nicht wie häufig behauptet R.W. Fassbinder, der mit der Figur des hyperkapitalistischen, reichen Juden in Der Müll, die Stadt und der Tod (1975) als erster von der Maxime der Nachkriegsdramatik Abstand nahm, Juden durchweg positiv abzubilden. Die kommenden Kontroversen um die Enttabuisierung der Judengestalt auf der deutschen Bühne, die sich hauptsächlich in den siebziger und achtziger Jahren abspielten und auch als Ende der Schonzeit apostrophiert wurden, sind schon in George Taboris Die Kannibalen spürbar. Ironischerweise wurde der erste Versuch, das im deutschen Theater mit den Juden und dem Holocaust verbundene Tabu zu brechen, von einem Juden, nämlich dem Autor und Regisseur George Tabori [...] unternommen, schreibt FEINBERG (1988: 56) in ihrem Buch, das sich mit dem jüdischen Schicksal in der deutschen Nachkriegsdramatik auseinandersetzt. Das vorangestellte Motto des Stücks Die Kannibalen weist deutlich auf die fiktional- autobiographische Inspiration Taboris, die in mehreren Stücken variiert wird: Zum Gedenken an Cornelius Tabori, umgekommen in Auschwitz, ein bescheidener Esser. (TABORI 1994/I: 3). In der Gestalt des Onkels dürfte man Taboris Vater Cornelius erkennen. Ähnlich wie im Falle der Hauptfigur seines Stücks Mutters Courage (1979) Taboris Mutter Elsa handelt es sich auch hier um stark fiktionalisierte und auratisierte Figuren (SANDER 1996: 636). Das als Spiel im Spiel konzipierte Stück zeigt die Gäste eines Erinnerungstreffens, die Nachkommen von in einer KZ-Baracke dahinvegetierenden Häftlingen. Die Teilnehmer des Treffens versuchen die Erfahrungen ihrer Väter zu begreifen. Reich an Assoziationen ist dabei der permanente Rollentausch zwischen Toten und Überlebenden, Opfern und Tätern. Eindeutige Kategorisierungen werden damit neutralisiert oder zumindest erschwert. Der Rahmen, eine Jubiläumsfeier, die an den 25. Jahrestag der Ermordung von Puffi Pinkus erinnert, ermöglicht den spielerischen Entwurf einer Bewältigungsstrategie, die sich durch die Integration verschiedenster Formen sozialer Interaktionen auszeichnet. Den Versuch der therapeutischen Bewältigung von Auschwitz unternimmt Tabori damit auf grundsätzlich andere Weise, als z.b. P. Weiss Die Ermittlung (vgl. SANDER 1996: 636). Der dicke Puffi Pinkus, der zu einem Stück Brot gelangt ist, wird von seinen Mithäftlingen erschlagen. Der ehemalige Gänseleber-Exporteur Pinkus geht aber keinesfalls den konventionellen Weg allen Fleisches. Der von Cornelius angestimmte Kaddisch wird in folgende Worte gefasst: Möge seine Grabschrift lauten: Er speiste seine Mitmenschen. (TABORI 1994/I: 8) Dieser Satz bringt die Insassen auf die Idee, Pinkus könne sie vor dem Verhungern bewah- 1 Die Auseinandersetzung zu dem Begriff KZ-Kitsch bringt KLÜGER (1996), und zwar besonders im Kapitel II: Missbrauch der Erinnerung: KZ-Kitsch (KLÜGER 1996: 29 44) Die Kannibalen von G. Tabori wurden im Oktober 1968 in New York uraufgeführt. Die europäische Uraufführung fand am in der Werkstatt des Berliner Schiller- Theaters statt. 335

163 Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur ren. Das Mahl wird zubereitet, die Versuche des die Menschenwürde beschwörenden Onkels, sie vom Kannibalismus abzuhalten, scheitern. Erst als der Lagerkommandant Schrekinger erscheint und den Häftlingen unter Androhung des Todes das Essen des menschlichen Fleisches befiehlt, werden sie sich der inhumanen Grausamkeit ihres Tuns bewusst. Nur Hirschler und Heltai befolgen den Befehl Schrekingers, essen das Fleisch Pinkus und überleben. Der Zeugenschaft beider verdankt sich die Tradierung des Geschehens, die wie es im Vorwort des Stückes heißt Kenntnis von Fakten, weil alle anderen potentiellen Zeugen, die bescheidenen Esser nämlich, vergast werden. Über die skandalträchtige Zuspitzung gelangt Taboris Drama zum Kern seiner Aussage. Mit dem Ob der Teilnahme am Akt des Kannibalismus verweist Die Kannibalen auf die Kategorie der inneren Freiheit, die der Psychologe und KZ-Häftling V. E. Frankl angesichts seiner persönlichen Erfahrungen entwirft und die darin besteht, dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein So oder so! (FRANKL 1991: 108) Frankls Frage nach der inneren Einstellung zur Inhumanität, die auch an die Opfer herangetragen wird, transformiert Tabori dadurch, dass er in seinem Stück die Opfer dem Zwang aussetzt, sich für oder gegen die aktive Teilnahme an der Inhumanität entscheiden zu müssen. Wer sich den Verhältnissen anpasst, überlebt und kann Zeugnis ablegen. Wer in Zeiten der Inhumanität an der Menschlichkeit festhält, geht zugrunde und verstummt. Die komödiantisch nachgestellte Szenenfolge und die ungewöhnliche Perspektive von Die Kannibalen rief zur Zeit der deutschen Uraufführung vielfache Reaktionen hervor. Der Menscheneintopf als Sujet des Dramas wirkte zwar provokant, war aber schon damals nicht vollkommen neu. 3 Völlig anders als bisher gestaltete Tabori aber die Opferrolle der Juden. Was vor ihm nicht angetastet wurde, Moral und Würde der Opfer, geriet nun zum eigentlichen Thema seines Stückes. Dieses dehumanisierte Bild vom Juden steht für eine offensichtliche Abkehr von etablierten Mustern. Ihm war daran gelegen, den Hohn und Ekel der Menschlichkeit der Opfer zu zeigen, ihre beinahe vollständige Reduktion auf den Überlebens-Trieb (SANDER 1996: 638). Einspruch gegen Die Kannibalen erhob die jüdische Gemeinde Berlin, von deren Seite aus dem Petr Štědroň Stück die Demütigung der Opfer des Holocaust vorgeworfen wurde. 4 Der beabsichtigte Bruch von Tabus löste eine heftige, journalistische Debatte aus, die unter dem Aspekt der Geschmacklosigkeit ablief. Auf Adorno anspielend äußerte sich Kritik, etwa unter der signifikanten Überschrift Darf man denn das? : George Tabori ist also der richtigen Meinung, dass nach Auschwitz nicht das Gedichteschreiben, sondern lamentierende Pietäts-Duselei unmöglich geworden ist. 5, antwortete ein Teil der Kritik. Im Zuge der relativ breiten Mediendebatte zu Taboris Die Kannibalen wurde aber auch generell die Bühnentauglichkeit des Stückes in Zweifel gezogen. Es artikulierte sich darüber hinaus der Vorwurf der Blasphemie, auf die dem Stück inhärente Möglichkeit des simplifizierenden Missverstehens wurde hingewiesen (vgl. GUERRERO 1999, 39 44). Die Kannibalen wirkten jedoch in der Form ihrer Auseinandersetzung mit dem Holocaust erleichternd. Tabori gelang damit einer der ersten überzeugenden Versuche, die falsche Sentimentalität zu beheben. Das Stück war auch darin bahnbrechend, der Auschwitz-Thematik ein reichhaltigeres Register zu erschließen. Taboris Inszenierungsverfahren Die Kannibalen bedeuteten Taboris Einstieg in die deutschsprachige Theaterlandschaft, die den Weg des Dramatikers, seine Wirkungsästhetik und die Art seiner Rezeption vorausbestimmten. So kann man noch 25 Jahre nach der Uraufführung von Die Kannibalen über die dramatischen Vorgehensweisen George Taboris lesen: Er darf das. Er darf KZ-Häftlinge ihren Mitgefangenen auffressen lassen [ ]. Er darf über Gott und die Welt lästern, den alltäglichen Schrecken mit Kalauern unterlaufen. (Die Wochenpost, ; zitiert nach PETERS 1997: 99) Hier wird eigentlich implizit und unterschwellig ausgesprochen, was wie ein ungeschriebenes Gesetz die deutsche Holocaust-Verarbeitung bestimmt nämlich die zentrale Rolle des biographischen Hintergrunds des Autors. Besonders im Bezug auf Fassbinders skandalöses Theaterstück vom Reichen Juden wird sichtbar, dass Juden und Holocaustopfer gewissermaßen über eine Lizenz zum Tabubruch verfügen, die anderen nicht erteilt wird. Die unangreifbare und unzweifelhafte Opferrolle, in der sich Tabori befindet ob von ihm gewollt oder nicht ist bis heute spürbar. Die Reaktion auf die Uraufführung seines bisher letzten Stückes Das Erdbeben-Concerto verdeutlicht, dass es 3 In der zeitgenössischen Presse wurde auf andere Stücke verwiesen, die den Verzehr von Menschenfleisch thematisiert haben (Edward Bonds Trauer zu früh, Uraufführung 1968; Fernando Arrabals Der Architekt und der Kaiser von Assyrien, Uraufführung 1967). Siehe GUERRERO (1999: 40) Heinz Galinski vom Zentralrat der Juden warf Tabori im Zusammenhang mit Die Kannibalen,Geschmacklosigkeit vor. Er sei selbst in Auschwitz gewesen, habe aber niemals das Wort,Pisse gebraucht. Vgl. ROTHSCHILD (1997: 8). 5 MÜLLER (1970). Müllers Äußerung verarbeitet Taboris Zitat aus dem Programmheft zur Uraufführung des Stückes: Was nach Auschwitz unmöglich geworden ist, das ist weniger das Gedicht als vielmehr Sentimentalität oder Pietät. 337

164 Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur auch im Jahre 2002 nur Autoren wie Tabori gestattet ist, das Grauenhafte im Komischen darzustellen: Es werden antisemitische Witzchen vorgebracht, wie sie nur Tabori erzählen darf. (vgl. FRIEDRICH 2002) Tabori gilt als der erste Dramatiker des deutschsprachigen Theaters, der mit gezwungenphilosemitischen Bildorganisationen des Juden (SANDER 1996: 638) auf provozierende Weise bricht. Dem deutschen Philosemitismus der 50er Jahre kann man sicherlich nicht seine emotionale Emphase absprechen, obwohl er unter verschiedensten, auch negativen Vorzeichen, gesehen werden kann. 6 Denn prinzipiell birgt der Philosemitismus immer die Gefahr falscher Toleranz, die denjenigen, denen sie gilt, erst dann zugute kommt, wenn er darauf verzichtet, das zu sein, was er eigentlich ist. (TORBERG 1969: 11f.; zitiert nach BAYERDÖRFER 1996: 10) Friedrich Torberg skizziert in diesem Sinne die Denkweise des Philosemiten als die eines Menschen, der den Juden einen Gefallen zu erweisen glaubt, wenn er ihr Jude-Sein nicht zur Kenntnis nimmt. Er akzeptiere damit den Juden als Deutschen, als Menschen, sogar als Christen, als alles, nur nicht als Juden und spricht ihm damit das entscheidende Merkmal seines Daseins ab (ebd.: 10). Für C. Blasberg wendet sich Taboris Vorgehensweise gegen den deutschen Erinnerungsdiskurs, in dem er durch die Verschiedenheit (BLASBERG 2000: 399, 403f.) seines Theaterdiskurses und die ganz spezifische spielerische Profilierung seiner Dramen davon absetzt. In Die Kannibalen wird das Credo der Verschiedenheit in den Mund Schrekingers, des ehemaligen SS-Manns gelegt, während er das demütigende Aufwischen der Strassen von Juden beschreibt: Er wischte den Bürgersteig auf. Er hielt sich vollkommen rein, nein, intakt in seiner Verschiedenheit. [ ] Und dabei waren sie nicht etwa gütig oder tapfer, nein, sie stahlen, sie betrogen, sie verrieten sich gegenseitig, sie stanken, sie hungerten, sie mordeten, das ist nichts Besonderes, das kann jeder, aber da war außerdem immer diese Verschiedenheit, diese unvertraute Art, wie sie sich abschlachten ließen, um dadurch das Wesen der Schlächterei genau zu kennzeichnen. (TABORI 1994/I: 171) Blasberg fügt noch hinzu, dass Tabori immer dann, wenn er auf Verschiedenheit beharrt, ein kompliziertes System von Transitwegen, Übergängen, Über-Setzungen im Auge hat, zu dessen Grundlagen es gehört, dass auf keiner Seite der imaginären Grenzen feste politische, gedankliche und sprachliche Positionen zu erwarten sind. (BLASBERG 2000: 404) Die Aufnahme von Taboris Die Kannibalen verlief musterhaft für die Rezeption seiner weiteren Stücke. Zu den bahnbrechendsten Provokationsversuchen des Dramatikers zählt seine Shakespeare-Transformation Improvisationen zu Petr Štědroň Shakespeares Shylock, die die nach 1945 im deutschen Raum weitgehend tabuisierte Gestalt des Juden Shylock völlig neu verarbeitete. 7 Die problematische Figur schreckte deutsche Theaterregisseure deshalb ab, weil das Wie des Umgangs mit dem klischeehaft antisemitisch gezeichneten jüdischen Kaufmann die Deutschen nach den Ereignissen der NS-Zeit schlichtweg überforderte. Die Auseinandersetzung mit der Shylock-Figur leisteten in der Nachkriegszeit vorwiegend Regisseure jüdischer Abstammung, wie z. B. E. Deutsch, F. Kortner oder P. Zadek (FEINBERG 1988: 57). Taboris Shylock-Bearbeitung aber zeigt am eindringlichsten die nach der Erfahrung des Holocaust völlig neue Wirkung antisemitischer Klischees. Seine Shylocks es treten gleich mehrere auf tragen krumme Nasen, lecken lüstern die Lippen, schneiden Grimassen und starren mordgierig in die Augen der Zuschauer (HENSEL 1978: 57, zitiert nach FEINBERG 1988: 57). Die Pläne Taboris gingen aber weit darüber hinaus und konnten deshalb nicht realisiert werden. Der Regisseur und Autor Tabori wollte das Stück nicht auf der Bühne, sondern in einer Baracke des Konzentrationslagers Dachau aufführen. Die Idee war es, das Münchner Kammerspielpublikum mit Bussen zum Hauptbahnhof zu bringen und es dort in einen Zug Richtung Venedig einsteigen zu lassen. In Dachau sollte die Reise unterbrochen werden. Auf Lastwagen sollten die Zuschauer dort in das Lager verbracht werden, wo das Stück von Häftlingen, bedroht durch die Anwesenheit von Wachpersonal, zur Aufführung gebracht werden sollte. Vor allem an den Einwänden des Dachau-Komitees scheiterte die Umsetzung dieser Pläne (vgl. MÜLLER 1979: 101). Ähnlich wie in Der Voyeur (1982) und Jubiläum (1983) bringt Tabori mehrdimensionale Aspekte jüdischer Identität in sein Theaterstück ein, um zum erstaunten Weiterdenken anzuregen. Indem er mit Samuel Pepys Ballade von Shylock aus dem 17. Jahrhundert eine ganz offen antijüdische Moritat verwendet, greift er die Zeitlosigkeit des Antisemitismus auf und markiert diese als anthropologische Konstante auf. Antisemitismus gerät damit in Gefahr zu dem zu werden, was eine jüdische Anekdote wie folgt ausdrückt: Antisemitismus ist, wenn man die Juden noch weniger leiden kann, als es natürlich ist. Tabori bearbeitet Erinnerung nicht mimetisch. Die Erinnerung geschieht sinnlich, mittels mehrerer das ganze Werk gleichermaßen durchziehender Elemente: Dazu gehören die Dekonstruktion des traditionellen Spielcharakters vor allem durch Einbau von Spiel im Spiel -Elemente, Perspektivenwechsel durch Rollentausch, Witz, Groteske, Gag, Blasphemie, Geschmacklosigkeiten und irritierende Kontrastdramaturgie, Elitäres versus Populäres, etc. Da Tabori in seinen Theaterstücken auch mit unterschiedlichen Temporalebenen arbeitet, 6 Oft werden philosemitische Tendenzen mit dem Weg des politischen Eskapismus vor den historischen Problemen verbunden (Antisemitismus, Drittes Reich, Holocaust). Vgl. BA- YERDÖRFER (1996) Die Uraufführung von George Taboris Ich wollte meine Tochter läge tot zu meinen Füssen und hätte Juwellen in den Ohren/ Improvisationen über Shakepseares Shylock fand am 19. Novemeber 1978 in den Kammerspielen München statt. Vgl. WELKER/BERGER (1979). 339

165 340 Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur kann man sein charakteristisches, dramatisches Verfahren auch als Indirektheit des Zeigens bezeichnen. 8 Er zielt damit nicht, wie z. B. das Dokumentardrama, auf die unmittelbare Abbildung der Zeitgeschichte und verzichtet auf jegliche moralische Wertung. Seine Stücke sollten vielmehr beides indirekt auf Seiten der Rezipienten initiieren. In besonderer Weise wird dieses von MICHAELIS (1970: 10) als Zug von spielerischer Beliebigkeit bezeichnete Verfahren, das Tabori zunächst in Die Kannibalen einbringt, in seinen letzten Stücken sichtbar. Der spielerische Zugang zur Zeitgeschichte wird zur eigentümlichen Manier des Autor, das Nebeneinader verschiedenster Zitate macht wertende Schlussfolgerungen vollkommen unmöglich. Zur erwähnten Technik des Rollenspiels gehört auch das Erwachen des totgeschlagenen zwölften Häftlings in Die Kannibalen. Dieser kehrt allerdings nur deshalb für einen Augenblick ins Leben zurück, um an geführten Diskussionen teilzunehmen. Verfremdet zeichnet Tabori die Söhne dadurch, dass sie sich in der dritten Person an das Publikum wenden, um dieses über die von ihnen verkörperten Figuren der Väter zu belehren. Dieser Verfremdungseffekt in der Tradition Brechts kann in zwei Zielpunkten gelesen werden: Im Sinne des epischen Theaters übernehmen sie die Rolle des Regisseurs Nein, nein, so war es überhaupt nicht (TABORI 1994/I: 40), die verfremdenden Korrekturen verdeutlichen aber, wie schwer, ja unmöglich es ist, die Vergangenheit authentisch mittels des Dramas zu erspielen. Als prägnantes Beispiel dafür kann Taboris Stück Mutters Courage (1979) gelten. Darin zeigt sich anhand der vielfältigen Ironisierungen der Verfahren des epischen Theaters das ambivalente Verhältnis Taboris zu Brecht. Die Authentizität der vom Sohn erzählten Geschichte seiner Mutter ist a priori als unauthentisch anzusehen: MUTTER: Eine schöne lyrische Anmerkung, mein Schatz. SOHN: Machst du dich lustig über mich? MUTTER: Aber nein. Nur na ja, ich habe dir eine Geschichte erzählt, jetzt erzählst du eine Geschichte, wie können zwei Geschichten gleich sein? (ebd.: 296) Auch der Wechsel verschiedener Zeitebenen markiert die Unerreichbarkeit des Geschehenen. Die uneinheitliche Zeit 9 und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, wird zum Mittel indirekten Zeigens. Um die direkte Relation zwischen Dargestellten und Gewesenen zu destabilisieren, benutzt Tabori groteske Absurdität. Vor allem in seinem Stück Jubiläum (1983) wird dies deutlich. Er- 8 GUERRERO (1999: 118) meint mit diesem Terminus den chronologischen Abstand des Autors (Die Kannibalen werden von den Nachgeborenen, Mein Kampf im Vorfeld des Dritten Reiches erzählt) und somit Taboris Verzicht auf die Erfassung der Zeitgeschichte und moralische Bewertungen. 9 Zu den Zeitebenen von Die Kannibalen vgl. SCHULZ (1996: 152). Schulz unterscheidet zwei Zeitebenen: 1. Zeitebene: Ich wurde 1874 geboren, Ich bin einundsiebzig (was heißen kann: im 71 Lebensjahr (68); Jahreszeit: nach Weihnachten (16), es schneit (9); 2. Zetebene: Das ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her (was heißen kann: rund 25 Jahre (14)), seit fünfundzwanzig Jahren (65). Petr Štědroň neut benutzt Tabori mehrere Zeitebenen, hier zwei: die Zeit nationalsozialistischer Judenverfolgungen und die bundesrepublikanische Gegenwart. Letztere sollte sehr exakt den Tag der Dramenentstehung abbilden (Uraufführung , 50. Jahrestag der sog. Machtergreifung). Die groteske Ausgangssituation formiert sich im Auftreten von Toten unter ihnen auch Juden, die Gespräche auf einem Friedhof am Rhein (TABORI 1994/II: 51) führen und sich in verschiedenen Stadien der Verwesung befinden. Konventionell- klassische poetische Formen wie Versepos, gereimtes Lied, Novelle, Märchen oder Roman werden nur simuliert, um sie über inhaltliche Veränderungen zu brechen bzw. ihre Dekonstruktion zu initiieren (KIE- DAISCH 1996: 267). Der Autor verwendet dazu Mittel wie Montage, Parodie oder Ironie. Ein sehr wichtiges Moment von Taboris Ästhetik ist neben der Variation als Stilmittel die Provokation als Ausdrucksmittel. Durch das ganze Werk Taboris zieht sich wie ein roter Faden die auf mehreren Ebenen erfolgende, sich zwischen Hochachtung und verspottender Ironisierung bewegende Auseinandersetzung mit Bertolt Brecht. Sie bewirkt die Wiederkehr bestimmter formaler Verfahren. Erzählerinstanz oder lyrisches Ich unterlaufen die vorgespiegelte formale Schein-Klassizität und deren spezifische Sinnvermittlung: Manchmal bietet sich die Technik des Textes selbst zur kontroversen Debatte an, der Text wird durch diese Öffnung als Spielraum gekennzeichnet (ebd.: 267). Tschechische Rezeption (allgemein) Die Rezeption des Werkes George Taboris im tschechischen bzw. tschechoslowakischen Kontext beginnt erst mit der politischen Wende des Jahres Die erzwungene Zäsur 10 in der Wahrnehmung des Schaffens Taboris im tschechoslowakischen Raum bedeutete für die tschechische und slowakische Theaterwissenschaft eine anfängliche Leere. Tabori war Anfang der 90er Jahre ein völlig unbeschriebenes Blatt. Der natürliche Ausgangspunkt beim Entdecken Taboris für die tschechoslowakischen Bühnen war zunächst die Feststellung, dass Tabori im deutschsprachigen Raum ein etablierter Dramatiker ist. 11 Zu Beginn der 90er Jahre war Taboris Mein Kampf zum ersten Mal auf einer 10 Vor der Wende im Jahre 1989 bemühte sich vergeblich um die Inszenierung von Mein Kampf der Theaterregisseur Peter Scherhaufer im Brünner Divadlo Na provázku (Theater auf der Schnur). 11 Von den außerliterarischen, autobiographischen Texten und Interviews ist im Tschechischen die im Theater heute (5/94) erschienene umfangreiche Schilderung des Lebens im Gespräch mit P. von Becker (Die große Lebensreise) zugänglich: Velká cesta životem. George Tabori: svědek století. I, II, III. - In: Divadelní noviny , 1.11., Die wichtigsten Interviews: Na počátku bylo slovo a ne kec (Am Anfang war das Wort, kein Quatschen. Ein Interview mit G. Tabori) - In: Svět a divadlo 4/1991; Dřív to tady vypadalo jinak. Rozhovor v Berlíně. Arnošt Goldflam a George Tabori. (Früher sah es hier anders aus. Ein Interview in Berlin.) - In: Salon, literární příloha Práva,

166 342 Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur tschechischen Bühne aufgeführt worden. 12 Bis jetzt kamen folgende Stücke hinzu 13 : Weismann und Rotgesicht, Die Ballade vom Wiener Schnitzel, Jubiläum und Die Kannibalen. In gedruckter Übersetzung liegen inzwischen weitere Werke vor: Die Kannibalen, Mein Kampf, Weissmann und Rotgesicht, Die Ballade vom Wiener Schnitzel, Die Goldberg- Variationen und Die letzte Nacht im September (vgl. TABORI 1997). Die Beiträge zur Person und zum Schaffen George Taboris orientieren sich zwar vor allem an der deutschsprachigen Literatur, der Holocaust- Diskurs und Erinnerungsdiskurs hinterlassen jedoch im tschechischen Kontext keine tieferen Spuren. Adornos Auschwitz-Diktum erwähnt vergleichswiese kurz der Theaterwissenschaftler J. Balvín, der die bisher umfangreichste Übersetzung von Taboris Dramen leistete (vgl. TABORI 1999). In seinem Beitrag über Taboris Goldberg-Variationen konstatiert er: Ja, nach dieser kollektiven Verfehlung und dem Sturz des Menschen sind keine Kunstwerke und Gedichte mehr möglich, ohne zu wissen, dass es diesen Massenmord tatsächlich gab, aber auch nicht ohne Bewusstsein, dass die Möglichkeit des humanen, der Menschlichkeit immer noch erhalten geblieben ist. (BALVÍN 1992: 74) Obwohl die jüdische Thematik bei tschechischen Regisseuren und Dramatikern ein relativ großes Interesse findet 14, werden die Fragen der theatralischen und metaphorischen Darstellbarkeit des Holocausts in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts nur marginal angesprochen und reflektiert. Mag die Randstellung des Fragenkomplexes zur Holocaustdramatik auch damit zusammenhängen, dass sich die Tschechen im Zweiten Weltkrieg als auf der richtigen Seite stehend betrachteten, auf jeden Fall blieben die hemmende Wirkung und ethische Diskussionen zum Thema Holocaust bzw. Erinnerung aus. Die langjährige antizionistische Politik der Ostblockstaaten und die marginale oder fehlende Wirkung der Frankfurter Schule mag ein weiterer Grund dafür sein. Heranzie- 12 Die tschechische Erstaufführung George Taboris Mein Kampf fand am im Prager Realistischem Theater (Realistické divadlo) statt. Regie: Jiří Fréhar, Bühnenbild: Karel Glogr. Übersetzung: Josef Balvín. 13 Mein Kampf (siehe Anm. 12); Bílý muž a Rudá tvář (Weismann und Rotgesicht, übersetzt von J. Balvín): Stavovské divadlo, Prag 1991, Regie: M. Krobot; Balada o vídeňském řízku (Die Ballade vom Wiener Schnitzel, übersetzt von J. A. Haidler): Divadlo Na zábradlí, Praha 2001, Regie: Jiří Pokorný; Jubileum (Jubiläum, unbekannte Übersetzung), szenische Lesung, Divadlo Na zábradlí, Prag, Regie: David Czesany; Kanibalové (Die Kannibalen, ü- bersetzt von J. Balvín): Pražské komorní divadlo, Prag 2003, Regie: Jan Nebeský. 14 Zur jüdischen Thematik auf den tschechischen Bühnen der 90. Jahre vgl. ŽANTOVSKÁ, (1997). Petr Štědroň hen kann man sicherlich auch die Situation in der DDR, die jegliche Kontinuität mit dem Dritten Reich ablehnte und sich damit auch der Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen entledigte. Generell lässt sich sagen, dass die Judenvernichtung im historischen Bewusstsein der ostdeutschen Bevölkerung bis heute erheblich weniger präsent ist als im Westen (BAYER- DÖRFER 1996: 7). Die politische Kehrtwende, die die sowjetisch dominierten Staaten Mittel- und Osteuropas in den 50er Jahren in ihrer Israel-Politik vollzogen, und die Politik des auch gegen die USA gerichteten Antizionismus, hinterließen gewiss auch seine Spuren. Deshalb wurde die für Tabori spezifische Darstellung des Holocausts, seine Obszönitäten sowie das sogenannte Lachen am Rande der Folterkammer etc., zwar als eine einigermaßen merkwürdige, doch absolut plausible Manier fast vorbehaltlos angenommen. Markant wird diese Tatsache in der Inszenierung von Taboris Die Kannibalen im Prager Pražské komorní divadlo (Prager Kammertheater), die zugleich auch die tschechische Uraufführung 15 von Taboris europäischem Erstling ist. Die wörtliche und unmittelbare Körperlichkeit (das Aufgebot der Nacktheit, der Perversionen ), Zeitlosigkeit (die zwei Grundebenen des Stücks werden um weitere erweitert), die Menge der Verfremdungen der Prager Inszenierung zeigen deutlich eine Unberührtheit von den Versuchen, Wege der Fiktionalisierung des Holocausts zu steuern. Taboris störende Ästhetik ist kalkuliert bewusst und systematisch veranlasst sie zu Kontroversen, Diskussionen, anstatt schwarzweißer Urteile kultiviert sie die Verunsicherung. Einen gewissen Grad der deutschen Spezifika des Stücks (auf der doppelten Zeitebene beruhende Frage nach der Schuld der Väter sowie die Diskrepanz der Massenvernichtung und des ästhetischen Genusses hat die Prager Inszenierung gemieden. Völlig im Geiste Taboris späterer Stücke haben sie jedoch die absolute Gültigkeit des Gesagten abgeschafft. Der getötete Puffi Pinkus blickt neugierig um sich und flüchtet aus dem Kessel, wo aus seinem Leichnam der Menscheneintopf vorbereitet werden soll. Wenn ihn der Koch zu transchieren beginnt, raucht er, liegend und unbeteiligt, seine Zigarette. Die Tatsache, dass Die Kannibalen auf dem tschechischen Theater fast 35 Jahre nach der deutschen Premiere uraufgeführt wurden, ermöglicht auch einen weniger voreingenommenen Zugang zur Inszenierung. Das tschechische Theater nicht so vielfach in die Gesamtproblematik von Bewältigung und Verdrängung eingebunden, die das Verhältnis der Deutschen zum Dritten Reich auf Jahrzehnte kennzeichnet (BAYERN- DÖRFER 1996: 4). Auch die Zeitspanne von der Entstehung des Stückes bot den Prager Inszenatoren von Die Kannibalen die Möglichkeit, Taboris dramatisches Verfahren der späten 60er Jahre mit dem heutigen, nämlich der Dekonstruktion und anything goes zu verbinden. 15 George Tabori: Kanibalové. [Die Kannibalen]. Premiere am , Pražské komorní divadlo (Prager Kammertheater), Regie: J. Nebeský, Übersetzt von J. Balvín. 343

167 344 Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur Das Erdbeben-Concerto zwischen Montage und Dekonstruktion Das Jahr 2002 brachte zwei neue Titel in der Bibliografie George Taboris: Es fand die Uraufführung des Stückes Das Erdbeben-Concerto 16 am Berliner Ensemble statt und die lange erwarteten Memoiren des beinahe neunzig Jahre alten Theatermachers Autodafé. Erinnerungen (2002b) sind erschienen. Beide Neuerscheinungen dokumentieren in unterschiedlicher Weise die gegenwärtigen ästhetischen Verfahren des Autors. Im Theaterstück kann man die Umwandlungen der ästhetischen Prinzipen Taboris in Bezug auf sein dramatisches Werk der 90er Jahre verfolgen, die Erinnerungen zeichnen das Verhältnis von Authentizität, Autobiographie und Fiktion in Taboris Schaffen aus. Acht Tage vor dem 88. Geburtstag G. Taboris fand in Berlin die Premiere seines Schauspiels Das Erdbeben-Concerto statt. Trotz der linear verlaufenden Handlung kann der Handlungsfaden des neuen Taborischen Stücks nur schwer beschrieben werden. Dafür verantwortlich sind der verzweigte Stammbaum handelnder Personen und die Verwendung von kleineren Formen (wie Geschichten, Witze, Gedichte, Songs). Bereits der Ausgangspunkt des Dramas deutet auf etwas Eigenartiges hin. Die oxymoronartige Verbindung eines Erdbebens mit einem Concerto deutet bereits die Widersprüchlichkeit des Geschehens an. Die sechs Personen des Stücks stellen Instrumente eines Ensembles dar (Klavier, Violine, Cello, Sängerin, Posaune, Kontrabass), der Ort der Handlung ist dann laut einer szenischen Bemerkung Ein Irrenhaus (wie das Theater). Den Rahmen des Stückes bildet die Probe eines Musik-Ensembles; offensichtlich aus den Patienten der Irrenanstalt bestehend. Dies wurde in der Inszenierung am Berliner Ensemble noch durch das stumme Durchgehen des medizinischen Personals hervorgehoben. Das kaum strukturierte Stück (die einzige Strukturierung ist eigentlich ein kurzer Prolog) bringt im Prolog das Motto des Geschehens zum Ausdruck, das von dem einleitendem Prosa-Gedicht verkündet wird: Verliebte und Verrückte/ Sind beide von so siedendem Gehirn/ So üppig-wuchernd Phantasie, die mehr sieht/ Als kühlere Vernunft begreift./ Wahnsinnige. (TABORI 2002a: 7) Die Thematisierung der Narrheit deutet an, dass auf der Bühne manches möglich wird, da hier ein eigenes Leben geführt wird. Wieder wird für surreale Katastrophen, hinterlistigen Humor und absurde Konstellationen gesorgt. Die ihre Instrumente einstimmenden Figuren (Instrumente) eröffnen ein Konversationsstück einer Truppe geheimnisvoller und absonderlicher Menschen, die sich streiten, gegenseitig nerven, ihre Lebenswege und Hundeleben (das Ensemble bilden nämlich zum Teil sich als Hunde fühlende Menschen gebildet) 16 TABORI (2002a). Inszenierung: George Tabori, Bühne: Etienne Pluss, Kostüme: Margit Koppendorfer, Musik: Stanley Walden, Dramaturgie: Henrik Adler. Mit: Margarita Broich, Ursula Höpfner, Eleonore Zetzsche, David Bennent, Boris Jacoby, Axel Werner. Premiere am Petr Štědroň temperamentvoll beschreiben. Die Rede ist von Leidenschaften und Schlemmereien, Naturkatastrophen und Hundefutter, Rauchen und Oldenburger Staatstheater, Fernseh-Talkshows und einem Kalbsfrikassee sowie von dem, woran wir alle leiden: B.S.E.. Tabori folgt einem ziemlich einfachen Schema. Die auftretenden Personen werden durch ihre Geschichten beschrieben, ihre Persönlichkeit wird mithilfe symptomatischer Hunderassen charakterisiert es treten Hunde vom sanften Affenpinscher bis zum faschistischen Mein- Kampf-Hund auf. Die Figuren des Stücks leben wie Monaden in ihrer eigenen Welt und nerven mit narzisstischer Überheblichkeit ihre Mitinstrumente und Mitmenschen. (DERMUTZ 2002) Es wird geredet, man giftet sich an und schließt sich in die Arme. Dabei greift der Autor modellhafte Situationen, wie z.b. die alttestamentarische Geschichte von Kain und Abel 17 (als brüderliche Rivalität zwischen Klavier und Violine ) oder die Dreieckkonstellation einer Liebesbeziehung auf. Sechs Patienten der Irrenanstalt erhalten eine Musiktherapie. Das im Laufe des ganzen Stückes angedeutete Erdbeben (die Wände wackeln, das Neonlicht flackert) wird nicht ernstgenommen. Schließlich ist der Zerfall allgegenwärtig, der Raum wird zertrümmert. Die letzte szenische Bemerkung lautet: Dunkel. Tohuwabohu. Licht. Der Raum ist in Trümmern. Die Musiker sitzen in einer Reihe und spielen (Tonband) Vivaldi, Wagner oder Walden, es ist egal. (TABORI 2002a: 43) Der darauffolgende letzte Satz des ganzen Stückes sagt uns Folgendes: SÄNGERIN: Die Musik überlebt alles. (ebd.: 43) Wenn alle denkbaren Themen ausreichend ausdiskutiert wurden, dann kommt ein definitives und vernichtendes Erdbeben. Soll sich dahinter vielleicht eine Botschaft verbergen? Ist dieses Erdbeben heutzutage in Berlin nötig, oder anderswo? Nein, wir befinden uns irgendwo zwischen Beckettheim und Kafkanien, wo es um Gaga-Alles und um Gaga-Nichts geht, wie STADELMAIER (2002) bemerkt hatte. Verblüffend ist an dem Text die Zahl und Vielfalt der geführten Diskurse, ihre gegenseitige Widersprüchlichkeit, Naivität und Einfältigkeit des Gesagten in Bindung mit einer tieferen Bedeutung. Ein sehr symptomatisches Merkmal für das späte Schaffen George Taboris ist das große Zitiervermögen der Texte. Sowohl die Texte anderer Autoren, als auch die eigenen werden zitiert, persifliert und ironisiert. Am Beispiel von Das Erdbeben-Concerto lassen sich einige allgemeine Momente im späten Werk des kosmopolitischen Dramatikers feststellen. Die barocke Formel des theatrum mundi, des Welttheaters, weist auf das Theater als Erklärungsmodell für unterschiedliche soziologische, psychologische und philologische Fragestellungen hin. Das Theater wird demnach als eine alle 17 Zur Taboris Aufarbeitung biblischer Motive siehe PETERS (1997). 345

168 346 Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur Phänomene der Lebenswelt umgreifende Metapher verstanden. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Funktion der Handlungen in Taboris Das Erdbeben- Concerto; sie stehen da als Zeichen für bestimmte Sinngehalte, ihre Bedeutung erhalten sie jedoch nicht aus ihrer Form oder Gestalt, sondern durch ihre Sinnzuschreibung des sie umgebenden kulturellen Kontexts. Die semiotische Ebene in Das Erdbeben-Concerto ist im Zusammenhang mit Taboris früherem Werk in Bezug auf alle drei Morrisschen Zeichendimensionen interessant: Hinsichtlich ihrer Syntaktik (d.h. die Frage nach der Kombination der Zeichen), ihrer Semantik (die Bedeutungsebene des Zeichens) und ihrer Pragmatik (in der Wirkung des Zeichens auf den Rezipienten). Durch die Rekombination der Zeichen, die bei Tabori, wie wir sehen werden, öfters vorkommt, entstehen oft neue Zusammenhänge und Bedeutungen auf der pragmatischen und semantischen Ebene. Im Zusammenhang mit Das Erdbeben-Concerto ergeben sich auch die entstehungs-technischen Aspekte von Taboris neuestem Spiel. Diesbezüglich müssen wir uns fragen, ob es sich bei Taboris Stück Das Erdbeben-Concerto tatsächlich um ein neues Spiel handelt? Die Antwort darauf ist überraschenderweise nicht eindeutig. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Collage älterer, teilweise schon gedruckter Texte, dramatisierter Gedanken, Einflüsse, die jedoch in ein neues Milieu gestellt werden und somit auch eine neue Ganzheit bilden. Es scheint, als ob die Produktionsmechanismen von Das Erdbeben-Concerto mit seinem vielschichtigem Inhalt korrespondieren würden. Das Zitieren eigener Texte soll als eine Technik (der Montage, Collage, Variation) begriffen werden, mithilfe derer Tabori in letzter Zeit seine Dramen gestaltet. Als ob die Texte Scherben eines Mosaiks wären, die jahrelang fragmentarisch gedruckt in verschiedenen Zeitschriften erscheinen und dann (mehrmals) in anderen Texten verwertet werden, womit sie an (neuer) Bedeutung gewinnen. Diese Vorgehensweise ist jedoch nicht nur in Das Erdbeben-Concerto, sondern auch in anderen Taboris Dramen vorhanden. Das bekannte Witzemachen des Autors im Zusammenhang mit dem Holocaust, antisemitische Witzchen [...], wie sie nur Tabori erzählen darf (vgl. FRIEDRICH 2002) (was allerdings schon jahrelang von der deutschsprachigen Kritik behauptet und somit den biographischen Hintergrund der Autoren der Holocaust-Literatur unterstreicht), ist auch im Das Erdbeben-Concerto präsent: KLAVIER: [...] Was ist der kürzeste Witz? Auschwitz. Oder Wie kriegt man 30 Juden in einen Volkswagen? Zwei vorne, drei hinten, den Rest in den Aschenbecher (TABORI 2002a: 35). Eine analoge Stelle findet man in Taboris älterem Stück Jubiläum (1983) 18, nur die Zahl der in einen VW hineinzupassenden Juden variiert. Die im Erdbeben-Concerto darauffolgende 18 Wie kriegt man 2O Juden in einen VW? Zwei vorne, drei hinten, den Rest in den Aschenbecher. (TABORI 1994/II: 59) Petr Štědroň Abhandlung über die Gestalt und Entstehung jüdischer Namen korrespondiert hingegen mit einer Stelle aus Taboris Mein Kampf (1987). Der Dialog in Das Erdbeben-Concerto beschreibt die Möglichkeit eines Juden, sich während des Emanzipierungsprozesses mitteleuropäischer Juden einen Namen zu kaufen: KLAVIER [...] Besagter Josef ging hin, und der Mann fragte ihn, was für einen Namen er haben wolle. Josef antwortete: Lessing oder Goethe. Die sind schon vergeben. Wie heißen Sie im Moment? Josef der Taube. Nun, dann bleiben Sie dabei, Herr Taube. (TABORI 2002a: 35) In Taboris um fünfzehn Jahre jüngeren Stück Mein Kampf lesen wir folgendes: HERZL [...] schickten sie Benjamin zum Amt für Germanisierung von Eigennamen, um etwas angemessen Wohlklingendes zu erstehen. Hohenzollern und Beethoven hätten ihm zugesagt, aber die waren nicht für den öffentlichen Gebrauch bestimmt. Rosenduft und Rosenkranz waren zu teuer. [...] (TABORI 1994/II: 155) Das Gedicht der Violine im Erdbeben-Concerto, das von der Vergeblichkeit des Daseins, immer knapper werdender Zeit und schlapper werdenden Schwänzen handelt, hat Tabori auch schon im Rahmen eines anderen Theaterstücks verwendet (nämlich Die hohe Kunst des Nichtseins, 1988), wo das Gedicht in den Mund des Revolutionärs Victor Jara gelegt wurde. 19 Die Debatte von der Schädlichkeit des Rauchens, die ein seine Instrumente einstimmendes Ensemble führt, modifiziert den Text der unlängst veröffentlichten Skizze Die Sprechstunde aus dem Jahre Ein Jahr danach erschien noch der Einakter Hund und Herr, dessen Text, bis auf die Abänderung der Namen handelnder Personen, restlos in die Fassung von Das Erdbeben- Concerto übernommen wurde. Im dramatischen Schaffen George Taboris der letzten zehn Jahre kommen auffallend viele Mittel der Dekonstruktion zum Tragen, die Montage, das Gewirr der Texte und Hypertexte, die aus allen denkbaren Gebieten der postmodernen Kultur stammen. Birgit Haas stellt in diesem Sinne fest, dass [d]er postmoderne Angriff auf hierarchische Denkmuster und Interpretationsversuche, der schon an den Goldberg-Variationen ablesbar ist, wird in Requiem für einen Spion (1993), Die Massenmörderin und ihre Freunde (1995), Die Ballade vom Wiener Schnitzel (1996) und Die letzte Nacht im September (1997) zum Prinzip. (HAAS 2000: 213) Es kann nur ergänzt werden, dass die Konfrontation von verschiedenen Zeichencodes bereits früher festzustellen ist, die Verschmelzung von Elitärem mit Populärem, Erhabenem mit Lächerlichem und Heiligem mit Profanem konnte schon immer als Taboris Schöpfungsprinzip bezeichnet werden, nur die Art, 19 Die Zeit wird immer knapper/ Der Schwanz wird immer schlapper/ Die Mädchen bleiben trocken/ Hörst du die Totenglocken?/ Noch bimmeln sie für einen andern/ So lass uns durch die Schenkel wandern. (TABORI 2002a: 32) Das kurze Stück Die hohe Kunst des Nichtseins wurde bei GRONIUS/KÄSSENS (1989) abgedruckt. 347

169 348 Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur wie und mit welcher Intensität dies durchgeführt wird, hat sich merklich stark zugunsten der Codierung geändert. Der schon zum Ansatz von George Taboris Wirken im deutschsprachigen Raum von Rolf Michaelis diagnostizierte Zug von spielerischer Beliebigkeit (MICHAELIS 1970: 10), den Tabori in seinem Stück Die Kannibalen bringt, scheint sich in den letzten Stücken massiv verstärkt zu haben. Der spielerische Zugang wird zu Taboris Manier, das Ineinandergreifen verschiedener Zitate aus allen möglichen Ebenen und Bereichen macht definitive Schlussfolgerungen über das Gesagte unmöglich. Einem bestimmten Zeichenträger ist also keine feste Bedeutung mehr zugeteilt, die Relation von Zeichenträger und Interpretant kann im Falle des Theaterstücks von jedem Regisseur anders gestaltet werden (vgl. FISCHER-LICHTE 1983). Dies kann vielleicht auch die Tatsache erhellen, dass Tabori in der Regel selbst Regie bei den Uraufführungen führt und somit die Richtung der Interpretation bestimmt. Die Fülle an Interpretationsmöglichkeiten die aus dem arbitraire du signe resultiert, gibt dem Rezipienten völlige Freiheit bei der Auslegung, im Extremfall ergibt sich aus der Uninterpretierbarkeit der Zeichenträger eine Bedeutungszerstörung, eine Desemiotisierung (vgl. HAAS 2000: 24). Zu den bei Tabori wiederkehrenden Elementen gehört das Rollenspiel (hier auf dem Boden einer Irrenanstalt). Patienten einer Nervenanstalt, die sich in signifikante Tiere verwandeln, konnten wir schon in Taboris Die Ballade vom Wiener Schnitzel begegnen, bewährt sind schon auch die variierten Techniken der Bühne auf der Bühne und der Rollenspiele (das wohl ausgeprägteste Beispiel ist das Stück Die Goldberg-Variationen (1991), wo den Rahmen des Stückes das scheiternde Einstudieren einer Inszenierung bildet). Durch Taboris montagehafte Vorgehensweise in seinem bislang letzten dramatischen Text, durch das Nebeneinanderstellen von Textteilen, werden neue Bedeutungen der bereits erschienenen Textteile generiert. So entstehen durch eine Rekombination der Zeichen oft neue Zusammenhänge und Bedeutungen auf der pragmatischen und semantischen Ebene des Zeichens entstehen. In Das Erdbeben-Concerto ist hierfür ein markantes Beispiel zu finden. Die Debatte zwischen KLAVIER und VIOLINE thematisiert die Maschinerie der Schlachthöfe in Bezug auf den Vegetarismus: VIOLINE Ich möchte dir deinen allabendlichen Appetit nicht verderben, aber ein kleines haarsträubendes Detail wird deine widerliche Fresserei vielleicht in Grenzen halten. Warst du jemals in einem Schlachthof? KLAVIER Natürlich nicht. Nie. VIOLINE Darin rotiert langsam ein 50 Meter langes Fliessband. Daneben stehen Männer in weißen Kitteln und lächeln mörderisch. Das kleine Kälbchen tritt auf. Was für ein schöner Raum!, denkt es. Werde ich hier wohnen? Was wird es zum Frühstück geben? Guten Tag, meine Herren! Die Mörder im weißen Kittel nicken, packen es, ziehen ihm das Fell über die Ohren, hacken ihm den Kopf ab, schlitzen ihm den Bauch auf, zerstückeln sein Fleisch weitere blutrünstige Details erspare ich uns, das Fliessband rotiert langsam weiter, und am Petr Štědroň Ende ist von dem Kälbchen nichts übrig als die großen freundlichen Kalbsaugen, die in einem Eimer landen, wer braucht die schon Guten Appetit! (TABORI 2002a: 10) Eine analoge Stelle, jedoch mit einer anderen semantischen und pragmatischen Besetzung, findet man auch in dem weiter unten behandelten Taboris Prosa- Buch Autodafé. Erinnerungen (2002). Im großen Raum am hinteren Ende gleitet ein Fliessband langsam vorwärts, darauf ein nackter Jude, einer von vielen, die noch kommen sollen. Die Schlächter in weißen Kitteln, sechs an der Zahl, packen ihn, er versucht aufzustehen, fällt zu Boden, sie schneiden ihm erst mal den Kopf ab, am Ende des unerbittlichen Bandes, wie es Brauch ist, nichts ist übrig von dem Mann, ein Triumph der Wirtschaftlichkeit, außer seinen stinkenden Innereien, die weggeworfen werden, auf das Sägemehl, aber seine baumelnden Testikel werden sorgsam entfernt und, wie der Rest von ihm, zum weiteren Verzehr in eine Flasche gesteckt. (TABORI 2002b: 75) Der Unterschied zwischen beiden Passagen besteht in der Wirkung auf den Rezipienten (Pragmatik), Während im ersten Beispiel primär die Ermordung von Tieren thematisiert, und sekundär die Vivisektion oder auch Holocaust konnotiert wird (mehrere Zeichencodes), wird im zweiten Beispiel nur der Holocaust konnotiert. Allerdings wissen wir, dass Tabori von dem Verfahren doppeldeutigen (und mehrdeutigen) Redens schon früher Gebrauch machte. Marcus Sander weist darauf hin, dass die einzelnen Szenen vom Jubiläum (1983) durch Isotopien verknüpft sind. Eine solche Isotopie bilden beispielsweise die Lexeme brennen, verbrennen, Feuer, Ofen und Aschenbecher. 20 Ähnlich wie in unserem Beispiel lässt sich dieses Verfahren in zweierlei Hinsicht an semantische Referenzbereiche anschließen. Erstens als ein konkretes Denotat, zweitens kann diese Isotopie auf ein Konnotat der Massenvernichtung bezogen werden, nämlich auf die Massenvernichtung, Holocaust. Taboris intertextuelle Querverweise zu Brecht in Das Erdbeben-Concerto Die Beziehung George Taboris zu Bertolt Brecht, die intensive Auseinandersetzung mit dem epischen Theater, lässt sich gerade an Taboris frühen Stücken wie z.b. Die Kannibalen (1968), Mutters Courage (1979) oder Jubiläum (1983) nachweisen. Diese Stücke werden sogar als theaterästhetische Antwort auf Brechts Theaterarbeit (HAAS 2000: 49) interpretiert. Hans-Peter Bayerdörfer schreibt zur Beziehung Tabori-Brecht folgendes: Kaum einem Dramatiker englischer oder deutscher Sprache ist in den letzten Jahrzehnten der kreative und phantasievolle Umgang mit Brechtschen Techniken so von der Hand gegangen wie Tabori. Dennoch ist ein Unterschied markant. Nie erschöpft sich die spielende verfremdende Souveränität in einer letztlich ideologisch-didaktischen Zielsetzung, immer 20 SANDER (1997a: 203). SCHULZ (1996) konstatiert, dass Taboris Mittelbarkeit der Darstellung von Auschwitz (Holocaust) auf verschiedensten Ebenen verläuft, beispielsweise werden durch analogische Konstellationen und Prozesse der Geschichte, durch Stellvertretungen oder durch synekdochische und metonymische Relationen abgebildet. 349

170 350 Tabori im Kontext der deutschen Erinnerungskultur bleibt ein Überschuss erhalten, der sich nicht lehrhaft verrechnen lässt. (BAYERDÖRFER 1997: 9) Taboris Umgang mit den Techniken des Brechtschen Theaters bewegt sich zwischen Bewunderung und tiefer Ironie, die Ideen des Augsburger Dramatikers werden von Tabori zwar verarbeitet, zugleich werden sie aber in Frage gestellt. 21 Tabori hält sich fern von einer Konzeption, die die Vielfalt an Funktionen des Theaters auf die Aufgabe einer didaktischen Anstalt zur Umsetzung primär moralischer und pädagogischer Ziele reduziert sehen will (SANDER 1997a: 186). In Das Erdbeben-Concerto finden wir ebenfalls viele Verweise auf das Werk Bertolt Brechts (wieder mit ambivalenter Sicht betrachtet). Taboris intertextuelle Querverweise zu Brecht kann man am besten an der Paraphrasierung von Brechts wohl bekanntesten Versen zeigen: Und der Haifisch, der hat Zähne Und der Schwarze hat ein Messer Und die trägt er im Gesicht Und das trägt er im Gesicht Und Macheath, der hat ein Messer Doch der Weiße weiß es besser Doch das Messer sieht man nicht. [...] Bis der Scheiß zusammenbricht [...] (BRECHT 1973: 11; TABORI 2002a: 32 33) Die Anlehnung an Brecht in Das Erdbeben- Concerto funktioniert als ein Spiel mit dem Bewusstsein des Publikums, sie ist vielmehr eine spielerische Nutzung, eine an Stilisierung grenzende Manier des Dramatikers. Ähnlich stellt Tabori seine Bewunderungen für S. Beckett, F. Kafka 22 oder W. Shakespeare heraus. Im Gegensatz zum Brechts epischen Theater kann nämlich bei Taboris Das Erdbeben-Concerto von der rationalen Erkenntnis der eigenen Situation, von der Einsehbarkeit der Fabel und der Geschichte nicht die Rede sein. Statt einer vom Brecht geforderten kausalen Folge der einzelnen Handlungsschritte, folgt dort Tabori dem Prinzip des Spielens, der Alogizität, der Willkür. G.Tabori vor der Statue B. Brechts 21 In Taboris Stücken wie Der Voyeur oder Die Demonstration bewegt sich die Rezeption Brechts von der Zitatanleihe (Die Dreigroschenoper) bis zur dramaturgisch direkten Orientierung (Mann ist Mann, Lehrstücke). Zur Taboris Brecht-Rezeption siehe SANDER (1997b) sowie HAAS (2000). 22 Vom F. Kafka wird allerdings in Das Erdbeben-Concerto auch die Rede: VIOLINE [...] Übrigens hat ein begabter Schreiberling namens Koffka oder Kiefke die Kunst des Hungerns beschrieben. (TABORI 2002a: 9) Petr Štědroň Taboris indirektes Zeigen, wo ein Zeichen als Vertreter eines anderen Zeichencodes (oft des Holocausts) vorhanden ist, und wo das Morden mit der Tiermetaphorik umgeschrieben wird, kann man auch in seiner Farce Mein Kampf (1987) entdecken. Das Einverleiben des Huhnes Mizzi, fachgemäß vorbereitet von der Figur namens Himmlischst (Anspielung auf Heinrich Himmler?) und in Ofen als Hühnerkotelett Mizzi in delikater Blutsauce TABORI (1994: 199) gebacken, ist eine klar erkennbare Metapher für die in Krematorien verbrannten Menschen (vgl. SAN- DER 1997a: 214). Schon im Jahre 1996 vergleicht SCHULZ (1996: 149) Taboris semiotisches Vorgehen mit der Spitze eines Eisbergs: Der Rezipient kann von seinem historischen Wissen gar nicht absehen, er rezipiert das tatsächlich gezeigte vor dem Hintergrund des eigentlich zu Zeigenden und nicht Zeigbaren, von dem er weiß. Wenn er die Spitze eines Eisbergs sieht, dann wird ihm aufgrund seines Wissens diese Spitze zum Hinweis auf die sechs Siebtel des Eisberges, die unsichtbar sind und unsichtbar bleiben. Wir können allerdings nur hinzufügen, um Schulzens Metapher zu bewahren, das die imaginäre Spitze des Eisbergs im Werk Taboris immer kleiner wird und das Verhältnis des Sichtbaren und Unsichtbaren fortschreitend zugunsten des Unsichtbaren, nicht Zeigbaren anwächst, die Verwirrung wird noch durch den schnellen Wechsel der aneinanderfolgenden Handlungen und Sprechakte gesteigert. Es ist evident, dass Tabori, in der Zerstörung der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimension des theatralen Codes, die Funktion des Theaters in Frage stellt. Die Fülle widersprüchlicher Zeichen desorientiert den Rezipienten, jedes Verständnis verliert sich in endloser Ausdeutbarkeit, da eine Aussage die andere negiert und ad absurdum führt (HAAS 2000: 212). Autodafé Die Verselbstständigung der widersprüchlichen Zeichen ist auch für Taboris Erinnerungen charakteristisch, die im Jahre 2002 erschienen sind. Das hohe Lebensalter des Dramatikers zusammen mit der außerordentlichen Stellung des Theatermagiers im deutschsprachigen Raum (Tabori erhielt 1992 als erster und einziger Autor «fremder Zunge» den Georg-Büchner-Preis), sollte natur- 351

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