9. Festkörperreaktionen
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- Kora Schumacher
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1 9. Festkörperreaktionen Wir hatten bereits bei der Diskussion von Diffusionsvorgängen gesehen, dass auch im festen Zustand Atome ständig ihre Plätze tauschen und so chemische Reaktionen in fester Materie möglich werden. In technischen Prozessen werden diese Reaktionen ausgenutzt, um die während der Erstarrung eingestellte Mikrostruktur zu modifizieren. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Stabilität von Phasen temperaturabhängig. Manche gewünschte Struktur ist deshalb erst bei tiefen Temperaturen, bei denen das System bereits erstarrt ist, erreichbar ist. Als grundsätzliche Regel gilt, Strukturen, die durch eine Festkörperreaktion gebildet werden sind mehrere Größenordnungen kleiner als solche die bei der Erstarrung entstehen. Herstellung gewünschter Strukturen ist ein Aspekt, die Beständigkeit einer einmal eingestellten Struktur ein anderer. Werkstoffe im technischen Gebrauchszustand befinden sich in der Regel nicht im thermodynamischen Gleichgewicht sondern in einem metastabilen oder kinetisch eingefrorenen Zwischenzustand. Sie haben deshalb nur eine begrenzte Lebensdauer. Für die Anwendung ist entscheidend abzuschätzen, wie schnell die Materialien altern und ihre idealen Eigenschaften verlieren. Nach der Ausgangssituation kann man zwei grundlegende Typen von Reaktionen unterscheiden: i) Liegt ein mehrkomponentige Legierung als homogene Mischung vor, obwohl die Thermodynamik bei der Einsatztemperatur ein Mehrphasengebiet vorhersagt, so findet im Festkörper eine Entmischungsreaktion statt, bei der das homogene System in zwei oder mehrere Phasen zerfällt. ii) Umgekehrt, liegt das System bereits als heterogener Materialverbund vor, so neigt es möglicherweise zu Mischungsreaktionen an den Grenzflächen, falls das Phasendiagramm eine Mischung vorhersagt. In diesem Fall wird z.b. eine künstlich hergestellte Schichtstruktur nach und nach degenerieren. Wir betrachten nun zunächst die Entmischungsvorgänge. 9.1 Entmischungsvorgänge Die thermodynamische Situation bei einer Entmischungsreaktion ist in Abbildung 9.1 angedeutet. Aufgrund des Verlaufs der Freien Enthalpiefunktion muss ein System mit der Ausgangszusammensetzung 0 in die beiden Phasen mit der Zusammensetzung α und zerfallen. Ist das System zu Beginn homogen, so besitzt es die Freie Enthalpiedichte g( 0 ). Welche Enthalpiedichte hätte das System nach der Entmischung? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die Freien Abbildung 9.1 1
2 Enthalpien der Gleichgewichtsphasen gemäß ihrer Volumenanteile gewichtet addieren; die Volumenanteile ergeben sich aus dem Hebelgesetz: 0 0 α g = gα + g α α = ( ) α 0 α gα + g gα α α (9.1) (9.1) ist eine einfache Geradengleichung, die der Doppeltangenten an die Freie Enthalpiekurve entspricht. Die Freie Enthalpie des entmischten Zustands liegt also auf der Doppeltangenten bei der Zusammensetzung 0. Der Unterschied zwischen der Freien Enthalpiedichte des Endzustandes und der des Ausgangszustands wird als die treibende Kraft der Gesamt-Reaktion bezeichnet. Aufgrund des Verlaufes der Freien Enthalpie-Funktion muss man zwei verschiedene grundlegende Mechanismen der Entmischung erwarten: Abbildung 9. Abbildung 9.3 i) Keimbildungsmechanismus Ist die Freie Enthapiefunktion bei 0 aufwärts (positiv) gekrümmt, so würde eine kontinuierliche Entmischung in zwei Phasen mit Zusammensetzungen in der Nähe von 0 zunächst zu einer Erhöhung der Freien Enthalpie führen (siehe Abbildung 9.). Ein solcher Reaktionsverlauf ist thermodynamisch gesehen nicht möglich. Stattdessen müssen sich durch zufällige Fluktuation kleine Bereiche mit einer Zusammensetzung bilden, die in etwa bereits den Endkonzentrationen α und entsprechen, um eine Absenkung der Freien Enthalpie zu erreichen. ii) Spinodale Entmischung Anders sieht es aus, falls die Freie Enthalpie-Funktion im Bereich der Ausgangszusammensetzung abwärts (negativ) gekrümmt ist. Hier kann das System kontinuierlich in Fraktionen zerfallen, deren Konzentrationen nach und nach auseinander driften und schließlich die Gleichgewichtswerte α und erreichen. Offensichtlich werden diese beiden kinetischen Bereiche gerade durch die Grenzkonzentrationen getrennt, für die gilt *
3 g = 0 * (9.) Die Linie * ( T ) im Phasendiagramm wird als Spinodale bezeichnet. Diese liegt innerhalb des Zweiphasengebiets (=Mischungslücke) Abb. 9.4: Schematisches Phasendiagramm eines entmischenden Systems. Die Spinodale liegt innerhalb der Mischungslücke. 10. Klassische Keimbildungstheorie Die klassische Beschreibung der Keimbildung geht auf Becker und Döring (etwa 1930) zurück. Ähnlich wie bereits bei der Erstarrung von Schmelzen diskutiert, erfordert die Bildung eines Keims der neuen Phase zunächst sogar einen Aufwand an Freier Enthalpie, der zum Aufbau von Grenzflächen benötigt wird. Im Falle von Festkörperreaktionen tritt sogar oft Abbildung 9.5: schematischer Verlauf der Konzentrationsänderung und Dimension bei Entmischung durch (a) Keimbildung und Wachstum, (b) spinodale Entmischung noch eine elastische Verzerrungsenergie hinzu, so dass wir genauer formulieren müssen 4π 3 4π 3 G = r gv + r gelast + 4π r σ (9.3) 3 3 3
4 Bei dem gewählten Ansatz gilt für die drei auftretenden Koeffizienten die Vorzeichenwahl: g > 0; g > 0; σ > 0 v elast Allgemein findet man in der Elastizitätstheorie, dass der Aufwand an elastischer Energie bei Einschluss von fehlgepassten Teilchen proportional zum Volumen der Ausscheidungen wächst. Für den speziellen Fall einer harten Ausscheidung der -Phase, welche kohärent in eine weiche Matrix (α-phase) eingebettet ist, gilt z.b.: Eα g ( ) elast = δ α ϕ (9.4) 1 Hierbei bedeuten E α und das Elastizitätsmodul und die Querkontraktionszahl der Matrixphase. δ bezeichnet die relative Variation des Gitterparameters a 0 mit der lokalen Zusammensetzung gemäß d ln a0 1 da0 δ : = = d a d und ϕ bezeichnet einen Formfaktor, der für eine kugelförmige Ausscheidung exakt 1 und für andere ellipsoide Geometrien von gleicher Größenordnung ist. Bei der Bildung des ersten kleinen Keimes wird die Zusammensetzung der Matrix praktisch nicht verändert, so dass zur Berechnung der momentanen treibenden Kraft pro Volumen der Ausscheidung (g v ) etwas anders vorgegangen werden muss, als bei der Gesamtbetrachtung in Abschnitt 9.1. Es werden cp 0 V B-Atome und ( 1 cp ) V A-Atome von der Matrixphase in die Ausscheidungsphase überführt, also p m p m g = 1 c µ µ + c µ µ ( )( ) ( ) v p A A p B B (9.5) (Der Index p steht hier und im Weiteren immer für Ausscheidung = precipitate.) Durch Umordnung der Terme p p p m m m g = µ + c µ µ µ c µ µ ( ) ( ) v A p B A A p B A erkennt man die geometrische Interpretation der treibenden Kraft, wie in Abbildung 9.7 angedeutet. Für eine noch genauere Betrachtung müsste man darüber hinaus berücksichtigen, dass der kritische Keim momentan im lokalen Gleichgewicht zur Matrix steht, d.h. die Abbildung 9.6: Bei der Bildung eines sehr kleinen Keims (V << V Probe ) der Zusammensetzung c p verändert sich die Konzentration der Matrix praktisch nicht. Abbildung 9.7 4
5 Grenzfläche muss stabil sein gegen Austausch eines A-B Paares. In der Sprache der chemischen Potentiale bedeutet dies! m p p m µ + µ = µ + µ A B A B m m! p p A B A B µ µ = µ µ (9.6) d.h. die Steigungen der Tangenten an die Freie Enthalpie-Funktion bei der Matrix- und der Keimzusammensetzung (gestrichelt in der Zeichnung) müssen gleich sein. Ein kritischer Keim hat also genau genommen noch nicht die erwartete Gleichgewichtszusammensetzung p, sondern die Zusammensetzung p ' der Skizze, was die treibende Kraft zur Bildung des kritischen Keimes noch ein wenig modifiziert. In guter Näherung kann dieser Unterschied in der Praxis oft vernachlässigt werden. 5
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