Weitere Beispiele zur Anwendung komplexer Zahlen

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1 Weitere Beispiele zur Anwendung komplexer Zahlen Harmonische Schwingungen Anwendung: Zeigerdiagramm bei der Wechselstromrechnung Additionstheoreme für Sinus und Kosinus Formel von Machin Harmonische Schwingungen Es soll die Überlagerung zweier gleichfrequenter harmonischer Schwingungen, z.b. zweier Wechselspannungen u 1 (t) = u 1 sin(ωt + ϕ 1 ), u 2 (t) = u 2 sin(ωt + ϕ 2 ), bestimmt werden. Man löst diese Aufgabe durch Komplexifizierung der Schwingungen, d.h. man betrachtet: u 1 (t) = u 1 e i(ωt+ϕ 1) = u 1 e iωt e iϕ 1, u 2 (t) = u 2 e i(ωt+ϕ 2) = u 2 e iωt e iϕ 2, und addiert die komplexen Größen: u(t) = u 1 (t) + u 2 (t) = u 1 e iωt e iϕ 1 + u 2 e iωt e iϕ 2 = e iωt ( u 1 e iϕ 1 + u 2 e iϕ 2 ) = e iωt Ae iϕ = Ae i(ωt+ϕ). 27

2 Weitere Beispiele zur Anwendung komplexer Zahlen Nun ist die Summe u(t) der Sinusschwingungen gerade der Imaginärteil von u(t) : u(t) = Im (Ae i(ωt+ϕ) ) = A sin(ωt + ϕ). Die Hauptaufgabe besteht darin, die komplexe Zahl u 1 e iϕ 1 + u 2 e iϕ 2 in trigonometrischer bzw. exponentieller Form als A iϕ darzustellen. Bemerkung 0.1 Anstelle von Sinusschwingungen hätte man auch Kosinusschwingungen betrachten können. Die Betrachtung ist aber nur für gleichfrequente Schwinungen möglich. Anwendung: Zeigerdiagramm bei der Wechselstromrechnung Quelle: Wikipedia Wechselstromrechnung Sehr verwirrend ist zunächst, dass in der Elektrotechnikgemäß DIN 1302 die imaginäre Einheit mit j und nicht mit i bezeichnet wird, da i für die Stromstärke reseviert ist. Charakterisierende Werte Eine sinusförmige Wechselspannung mit dem Maximalwert û und dem Nullphasenwinkel ϕ u : u(t) = û sin(ωt + ϕ u ). Momentanwerte, die sich zeitlich ändern werden mit Kleinbuchstaben bezeichnet. 1 = Scheitelwert Û, 2 = Spitze-Spitze-Wert, 3 = Effektivwert U eff = Periodendauer T, 1 T u(t)u(t) dt, 4 = T 0 28

3 Anwendung: Zeigerdiagramm bei der Wechselstromrechnung Der Effektivwert eines Wechselstroms entspricht dem Wert eines Gleichstroms, der in einem ohmschen Widerstand dieselbe Wärme erzeugt. Aus dem Effektivwert und dem Formfaktor 2 eines sinusförmigen Wechselstroms kann dessen Amplitude î berechnet werden î = 2 I eff Bei nicht sinusförmigem Wechselstrom ergibt sich in Abhängigkeit der Kurvenform ein anderer Zusammenhang zwischen Scheitelwert und Effektivwert. Weltweit wird die elektrische Energieversorgung am häufigsten mit sinusförmigem Wechselstrom vorgenommen. Physikalische Grundlagen Als passive lineare Elemente des Wechselstromkreises treten Ohmsche Widerstände, Spulen (Induktivitäten) oder Kondensatoren (Kapazitäten) auf. Für diese Elemente gilt: Ohmscher Widerstand R: die Stromstärke ist der Spannung proportional: i = u R. Spule L: die Stromstärkeänderung ist zur Spannung proportional: di dt = u L L i = u(t) dt. Kondensator C: die Spannungsänderung ist zur Stromstärke proportional: du = i dt C C u = i(t) dt. Komplexe Größen Formelzeichen komplexer Größen werden gemäß DIN und DIN durch einen Unterstrich gekennzeichnet. So wäre die komplexe Spannung zur sinusförmigen Spannung gerade u(t) = û(cos(ωt + ϕ u ) + j sin(ωt + ϕ u )) = ûe j(ωt+ϕu) und die Spannung u(t) = Re u(t) dem Realteil der komplexen Spannung. Häufig werden die Amplituden und die Nullphasenwinkel zu den komplexen Effektivwerten U = û 2 e jϕu = Ue jϕu. 29

4 Weitere Beispiele zur Anwendung komplexer Zahlen Zeiger Eine sinusförmige Spannung u(t) = û sin(ωt) mit der Phasenverschiebung Null wird eine komplexe Spannung U(t) = ûe jωt und ein Zeiger u = û zugeordnet. Komplexe Spannung: u(t) =ûe jωt =û (cos(ωt)+j sin(ωt)) Zeiger: Rotierender Zeiger: u =û ûe jωt Wechselspannung: u(t) =ReU(t) û u(t) =û sin(ωt) Das Ohmsche Gesetz für komplexe Größen Der komplexe Widerstand (auch Impedanz genannt) ist Z = R + jx, dabei ist R der Wirkwiderstand (Resistanz) und X der Blindwiderstand (Reaktanz). Weiterhin wird Z = Z = R 2 + X 2 als Scheinwiderstand bezeichnet. Der allgemeine Ansatz lautet Z = u i = ûej(ωt+ϕu) îe j(ωt+ϕ i ) = û î ej(ϕu ϕ i ). Ohmscher Widerstand Da der Ohmsche Widerstand R eine reelle Größe ist erhält man mit u i = R, dass e j(ϕu ϕ i ) = 1 sein muss bzw. ϕ u ϕ i = 0. D.h. u und i sind gleichphasig. Der komplexe Widerstand (Impedanz) ist dann Z R = R = u = û i î. 30

5 Anwendung: Zeigerdiagramm bei der Wechselstromrechnung Induktiver Widerstand An einer Spule mit der Induktivität L gilt u L = di dt = d dt (îej(ωt+ϕ i ) ) = îe j(ωt+ϕ i ) jω i = Mit Hilfe der Eulerschen Formel erhält man und damit Für die Nullphasen gilt hier e j π 2 = cos π π + j sin 2 2 = j i = îe j(ωt+ϕ i ) = û Lω ej(ωt+ϕu π 2 ). ϕ i = ϕ u π 2 ϕ u ϕ i = π 2. u Lω ( j). Im Falle der idealen Spule ist u gegenüber i um π phasenverschoben. Man sagt in diesem Fall 2 auch, dass die Spannung der Stromstärke vorauseilt. Mit ϕ u = 0 ergibt sich damit die folgende Situation: Rotierende Zeiger: ûe jωt Wechselstromgrößen: u(t) =û sin(ωt) û i(t) =î sin(ωt + ϕ i ) î ϕ i = π 2 îe j(ωt+ϕ i) Zeigerdiagramm: u =û i =îe jφ i In diesem Fall gilt für die Impedanz Z L = jx L = u i = j ωl. Kapazitiver Widerstand Am Kondensator mit der Kapazität C gilt nun i C = du dt = d dt (ûej(ωt+ϕu) ) = ûe j(ωt+ϕu) jω. 31

6 Weitere Beispiele zur Anwendung komplexer Zahlen Mit Hilfe der Eulerschen Formel erhält man und damit e j π 2 Für die Nullphasen gilt in diesem Fall = cos π 2 + j sin π 2 = j i = îe j(ωt+ϕ i ) = Cuωe j π 2 = Cωûe j(ωt+ϕ u+ π 2 ). ϕ i = ϕ u + π 2 ϕ u ϕ i = π 2. Im Falle des idealen Konsators ist u gegenüber i um π phasenverschoben. Man sagt hier, 2 dass die Spannung der Stromstärke hinherhinkt. Die Impedanz ist dann Z C = jx C = u ( ) 1 = j. i Cω RCL-Reihenschaltung Wir berechnen die komplexe Spannung u(t) und den Phasenwinkel ϕ u für die Reihenschaltung mit dem Zeigerdiagramm für die Teilspannungen u R (t), u C (t) und u L (t). In Reihenschaltung liegt überall die Stromstärke i(t) vor und die Spannung ergibt sich als Überlagerung (Summe) der Teilspannungen. Bei der Reihenschaltung dient der Zeiger der Stromstärke i als Aufganspunkt. Wir nehmen an, dass i in Richtung der x-achse liegt. a) Die am Ohmschen Widerstand liegende Teilspannung u R (t) = Ri(t) ist mit der Stromstärke in Phase. Ihr Zeiger u R = ir liegt damit in Richtung des Zeiger i. b) Am induktiven Widerstand Z L = jx L = jωl liegt folglich die Teilspannung u L (t) = jωli(t) mit dem Zeiger u L = i ω L e j π 2 = j i ω L und eilt dem Zeiger i um π 2 voraus. 1 c) Am kapazitiven Widerstand Z C = jx C = j ωc liegt folglich die Teilspannung u i(t) C (t) = j ω C mit dem Zeiger u C = i π i ej 2 ω = j C ω C und hinkt dem Zeiger i um π 2 nach. 32

7 Anwendung: Zeigerdiagramm bei der Wechselstromrechnung RCL-Reihenschaltung: Zeigerdiagramm u C u L u C u L u C u ϕ u u R u L u C Die Addition der drei Spannungszeiger den Zeiger u = u R + u C + u L als Vektoraddition bzw. Addition der zugehörigen komplexen Zahlen. Die Phasenverschiebung ϕ u ergibt sich nun als Argument der komplexen Zahl u. Die Spannung u(t) ist somit u(t) = Re u(t) = Re ( u e jωt) = Re ( ûe jϕu e jωt) = Re ( û e j(ωt+ϕu)) = û sin(ωt + ϕ u ). Leistung und Scheinleistung Der Momentanwert der Leistung p ist das Produkt der reellen Momentanwerte von Spannung und Strom. Die zeitunabhängige komplexe Größe S = U I = Se j(ϕu ϕ i ) = P + jq wird in DIN und DIN als komplexe Leistung oder komplexe Scheinleistung bezeichnet. Darin sind die in der Wechselstromtechnik üblichen Kenngrößen der Leistung enthalten: die Scheinleistung S die Wirkleistung P die Blindleistung Q S = S = UI, P = Re S = UI cos(ϕ u ϕ i ), Q = Im S = UI sin(ϕ u ϕ i ), sowie der Leistungsfaktor cos(ϕ u ϕ i ) = P S. Bemerkung 0.2 Einschränkungen Es ist zu beachten, dass die komplexe Wechselstromrechnung nur für Netzwerke im eingeschwungenen Zustand anwendbar ist. Dies folgt auch aus der Forderung nach einem sinusförmigen Verlauf aller Spannungen und Ströme in der zu untersuchenden Schaltung. 33

8 Weitere Beispiele zur Anwendung komplexer Zahlen Somit kann mit dieser Methode der komplexen Wechselstromrechnung nicht die Berechnung von Schaltvorgängen, wie das An- und Ausschalten, Pulse oder Pulsfolgen erfolgen. Diese Vorgänge können jedoch mit Hilfe von Differenzialgleichungen beschrieben werden. Weiterhin müssen auch alle Bauelemente einer Wechselstromschaltung wie Widerstände, Kondensatoren und Spulen lineare Eigenschaften im betrachteten Frequenzbereich zeigen. Dies trifft beispielsweise bei Spulen mit magnetischer Sättigung oder Kondensatoren, deren Dielektrizitätszahl von der elektrischen Feldstärke abhängt, nicht zu. Ferner sind in der Regel die Kennlinien von Halbleiterbauelementen nicht linear. In all diesen Fällen würde bei einer sinusförmigen Spannung ein nicht sinusförmiger Strom entstehen (oder umgekehrt), und die komplexe Wechselstromrechnung kann dann nicht angewendet werden. Additionstheoreme für Sinus und Kosinus Die Additionstheoreme für Sinus und Kosinus lassen sich elementar geomatrisch herleiten. Das ist nicht ganz einfach und merken kann man sich die Additionstheoreme auch nur schwer. Mit Hilfe komplexer Zahlen und der Eulerschen Formel geht es aber ganz einfach. Satz 0.3 (Additionstheoreme) Für beliebige Winkel α, β R gilt: sin(α + β) = sin α cos β + cos α sin β, sin(α β) = sin α cos β cos α sin β, cos(α + β) = cos α cos β sin α sin β, cos(α β) = cos α cos β + sin α sin β. Beweis: Die Eulersche für α bzw. β lautet: e iα = cos α + i sin α bzw. e iβ = cos β + i sin β. Analog erhält man e i(α+β) = cos(α + β) + i sin(α + β) = e iα e iβ, da die Potenzgesetze auch für komplexe Zahlen gelten. Wir berechnen das Produkt e iα e iβ = (cos α + i sin α) (cos β + i sin β) = cos α cos β sin α sin β + i (cos α sin β + sin α cos β) 34

9 Formel von Machin Zwei komplexe Zahlen sind genau dann gleich, wenn ihre Real- und Imaginärteile gleich sind, folgich gilt: cos(α + β) = cos α cos β sin α sin β, sin(α + β) = cos α sin β + sin α cos β. Analog erhält man die anderen beiden Formeln aus e i(α β) = e iα e iβ und der Anwendung der Eulerschen Formel. Alternativ kann man auch verwenden, dass e i(α β) = e i(α+( β)) ist und der Kosinus eine gerade Funktion, d.h. cos( x) = cos x, bzw. der Sinus eine ungerade Funktion, d.h. sin( x) = sin x, ist (siehe reelle Funktionen). Damit ist der Satz vollständig bewiesen. Formel von Machin John Machin ( ) war ein englischer Astronom und Mathematiker. Seine Formel zur Berechnung von π und damit π lautet: 4 Lemma 0.1 (Formel von Machin) π 4 = 4 arctan 1 5 arctan Wir wollen als erstes die Richtigkeit der Formel nachweisen. Mit Hilfe komplexer Zahlen errechnet man sofort (5 + i) 4 (239 i) = ( i) 2 (239 i) = ( i 100)(239 i) = ( i)(239 i) = ( )i = i Das Argument der komplexen Zahl z 0 = i ist tan ϕ 0 = = 1 und damit ϕ 0 = arctan 1 = π 4. Andererseits kann man das Argument auch aus dem Argument der Zahlen z 1 = 5 + i und z 2 = 239 i bestimmen. Es gilt tan ϕ 1 = 1 5 ist das Argument von z 1 und das Argument von z1 4 ist gerade 4 mal das Argument von z 1, also 4 arctan 1 5. Das Argument von z 2 ergibt sich aus tan ϕ 2 = und damit ϕ 2 = arctan ( ) = arctan 1. Das Argument des Produkts zweier komplexer Zahlen ist gerade die Summe der Argumente, 239 deshalb 35

10 Weitere Beispiele zur Anwendung komplexer Zahlen gilt Damit ist die Formel bewiesen. Wie kommt man aber auf so eine Formel?? ϕ 0 = π 4 = 4ϕ 1 + ϕ 2 = 4 arctan 1 5 arctan Zunächst muß man wissen, dass Machin mit Zettel und Bleistift rechnete und auch keine Ahnung von komplexen Zahlen hatte. Zu seiner Zeit waren aber bereits Formeln von Euler verfügbar, so hatte Euler gezeigt, dass gilt π 4 = arctan arctan 1 3. Wie man mit komplexen Zahlen leicht überprüft ist (2 + i)(3 + i) = i = 5 + 5i. Euler hat seine Formel aber rein geometrisch bewiesen und Machin dürfte schon das Additionstheorem für den Tangens gekannt haben. Lemma 0.2 Für beliebige Winkel α, β R gilt: tan(α + β) = tan α + tan β 1 tan α tan β. Wir beweisen diese Formel mit Hilfe der Additionstheoreme für Sinus und Kosinus: tan(α + β) = sin(α + β) sin α cos β + cos α sin β = cos(α + β) cos α cos β sin α sin β = cos α cos β (tan α + tan β) cos α cos β (1 tan α tan β) = Gute Zahlen zum Rechnen sind immer 1, 2, 5, 10. Da die Sache mit 1 2 und 1 so gut funktioniert, 3 versuchen wir es einmal mit 1. Wir beginnen also mit 5 tan α + tan β 1 tan α tan β tan α = 1 5. Aus dem Additiontheorem für den Tangens ergibt sich nun tan(2α) = 2 tan α 1 tan 2 α = = (25 1) = = Nochmalige Anwendung führt auf tan(4α) = 2 tan(2α) 1 tan 2 (2α) = = ( ) = = 120 = 1,

11 Formel von Machin Damit ergibt sich der Term 4α = 4 arctan 1. Den zweiten Term erhalten wir indem wir 5 setzen. Dann ist tan β = tan(4α) + tan ( π ( 4 1 tan(4α) tan β = 4α π 4 ) pi 4 ) = D.h. wir haben die folgende Formel erhalten: ( ) = 119( ) = π 4 = 4α β = 4 arctan 1 5 arctan Bemerkung 0.4 Mit Hilfe seiner Formel gelang es Machin, die Zahl π auf 100 Stellen genau zu berechnen (Weltrekord seiner Zeit). Bei Funktionenreihen werden wir sehen, warum die Formel von Machin der Formel von Leibniz π 4 = arctan 1 für die näherungsweise Berechnung von π überlegen ist. 37