ADHS bei Erwachsenen Wider die Ignoranz TDAH chez l adulte L importance du diagnostic

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1 ADHS bei Erwachsenen Wider die Ignoranz TDAH chez l adulte L importance du diagnostic PsyG Couchepins gute Botschaft Loi sur les professions de la psychologie L excellent projet du Conseil fédéral Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP Fédération Suisse des Psychologues FSP Federazione Svizzera delle Psicologhe e degli Psicologi FSP 11/2009 vol. 30

2 Impressum Inhalt/Sommaire Psychoscope 11/2009 Psychoscope ist offizielles Informationsorgan der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP). Psychoscope est l organe officiel de la Fédération Suisse des Psychologues (FSP). Psychoscope è l organo ufficiale della Federazione Svizzera delle Psicologhe e degli Psicologi (FSP). Redaktion/Rédaction/Redazione Susanne Birrer (sb) Vadim Frosio (vf) Redaktionskommission/Commission de rédaction/comitato di redazione Carla Lanini-Jauch, lic. phil. (Präsidentin/Présidente/ Presidente) Michela Elzi Silberschmidt, lic. phil. Cornelia Schoenenberger, lic. phil. Rafael Millan, Dr psych. Susy Signer-Fischer, lic. phil. Redaktionsadresse/Adresse de la rédaction/ Indirizzo della redazione Choisystrasse 11, Postfach, 3000 Bern 14 Tel. 031/ , Fax 031/ Tel. 031/ (FSP-Sekretariat) psychoscope@psychologie.ch Internet: Abonnemente, Inserate/Abonnements, annonces/abbonamenti, annunci Christian Wyniger Choisystrasse 11, Postfach, 3000 Bern 14, Tel. 031/ , Fax 031/ Auflage/Tirage/Tiratura 6150 (WEMF beglaubigt) Erscheinungsweise/Mode de parution/ Pubblicazione 10 mal jährlich/10 fois par année/10 volte l anno Insertionsschluss/Délai pour les annonces/ Termine d inserzione der 15. des vorangehenden Monats/le 15 du mois précédent/il 15 del mese precedente Grafisches Konzept/Conception graphique/ Concezione grafica PLURIAL VISION ( graphic design & communication, Fribourg Layout/Mise en page/impaginazione Vadim Frosio, Susanne Birrer Druck/Impression/Stampa Effingerhof AG, 5200 Brugg Jahresabonnement/Abonnement annuel/ Abbonamento annuale Fr. 85. (Studierende/Etudiants/Studenti Fr. 48. ) Der Abonnementspreis ist im Jahresbeitrag der FSP-Mitglieder eingeschlossen. L abonnement est inclus dans la cotisation annuelle des membres FSP. Il prezzo dell abbonamento é incluso nella quota annuale dei membri FSP Insertionspreise/Tarif des annonces/inserzioni 1 Seite/page/pagina Fr /2 Seite/page/pagina Fr /3 Seite/page/pagina Fr /4 Seite/page/pagina Fr Copyright: FSP ISSN-Nr.: X Dossier Therapie statt Ideologie Von Piero Rossi und Susanne Bürgi 4 Multimodal und kognitiv-behavioral Von Rolf-Dieter Stieglitz und Jacqueline Kammermann 8 Das Syndrom der Missverständnisse Interview mit Cordula Neuhaus 12 TDAH: maladie ou défi? Par Samuela Varisco Gassert 16 Le TDAH chez l'adulte Par Christine Gertsch 21 Les articles signés reflètent l opinion de leurs auteur(e)s Die Artikel widerspiegeln die Meinung der AutorInnen FSP-aktuell / Actu FSP 26 PsyG: Hervorragender Entwurf des Bundesrats 28 Der Entscheid steht noch bevor 30 Decisione attesa 31 Das FSP-Mitglied 32 In Kürze 33 Excellent projet du Conseil fédéral 34 La décision est attendue 36 Le 6000 e membre 37 En bref 38 Panorama 39 «Unkontrollierte Medikamentenabgabe ist fahrlässig» Interview mit ADHS-Coach Corinne Huber 40 Porträt: Psychotherapeut Thomas Barth ADHS im Massnahmenvollzug 42 Agenda 45 Titelbild / Photo de couverture: Ursula Markus

3 Editorial Susanne Birrer Deutschsprachige Redaktion 03 Wissen ist Macht «Ohne ADHS wäre die Welt um einiges ärmer», ist auf S. 39 in diesem Psychoscope zu lesen. Ärmer konkret an sehr viel kreativem, sozialem und innovativem Potenzial, wie auch die an der 1. Nationalen Tagung für Betroffene und Fachleute aufgenommenen Fotos (von Ursula Markus) illustrieren: Diese zeigen eindrücklich positiv emotionale Sensibilität als eine der sichtbaren Folgen der bei ADHS hochgradig erhöhten Reizoffenheit. Der in diesem Psychoscope im Zusammenhang mit erwachsenen Betroffenen verdächtig inflationär aufscheinende Begriff «Odyssee» zeugt indes auch davon, dass ADHS als Basis vieler psychischen Komorbiditäten bei Erwachsenen noch häufig verkannt wird und in der Folge wirksame Hilfestellungen mit zuweilen traumatisierenden Folgen ausbleiben. Fazit: Wissen ist Macht... So verweist die aktuelle Bestandesaufnahme von Piero Rossi und Susanne Bürgi auch acht Jahre nach der ersten Thematisierung von ADHS im Psychoscope auf grossen Aufklärungsbedarf sowohl in der Fachwelt wie in der Öffentlichkeit. Gemäss Rolf-Dieter Stieglietz und Jacqueline Kammermann weist die aktuelle Evaluationsforschung bei erwachsenen ADHS-PatientInnen inbesondere auf die Wirksamkeit multimodaler Therapieansätze mit Medikation und kognitiv-behavioraler Psychotherapie hin. Das Interview mit der deutschen Psychologin und Heilpädagogin Cordula Neuhaus verdeutlicht zudem den Zusammenhang zwischen wahrnehmungsstilbedingten Kommunikations- und Beziehungsstörungen und dem Risiko psychischer Komorbiditäten. Für das französischsprachige Psychoscope-Publikum erläutert Samuela Varisco Gassert die Notwendigkeit eines interdisziplinären Vorgehens für eine seriöse Diagnostik auch bei adulter ADHS. Und zum Abschluss gibt Christine Gertsch einen Überblick über die aktuellen Diagnosekriterien. Zuversichtlich verweist diese Autorin zudem darauf hin, dass die hohe Kompensationsfähigkeit vieler Betroffener ihnen durchaus auch glückliche Lebensverläufe ermöglicht. Savoir, c est pouvoir «Sans TDAH, le monde serait un peu plus pauvre», lit-on à la page 39 de ce magazine. Bien plus pauvre en créativité, en ouverture sociale, en capacité d innovation, comme l illustrent aussi les photos prises (par Ursula Markus) lors du «1 er Congrès national sur le TDAH», qui montrent clairement les aspects positifs de l émotion et de la sensibilité comme l une des conséquences visibles d une transparence toujours plus affirmée autour du TDAH? Si l on use ailleurs du terme d odyssée, aussi emphatique qu ambigu, à propos d adultes souffrant du TDAH, cela montre aussi qu on oublie trop souvent que le TDAH peut être la source de multiples comorbidités psychiques chez l adulte et que, par la suite, si une assistance efficace fait défaut, ce sera avec des conséquences parfois traumatisantes. Conclusion: savoir, c est pouvoir L inventaire dressé par Piero Rossi et Susanne Bürgi, 8 ans après la première apparition du thème du TDAH dans Psychoscope, relève aussi le fort besoin d information et de clarté, aussi bien dans le monde des spécialistes que dans le public. Selon Rolf-Dieter Stieglitz et Jacqueline Kammermann, les récentes recherches en matière d évaluation chez les adultes atteints du TDAH font ressortir l efficacité des approches thérapeutiques multimodales, avec médication et psychothérapie cognitivo-comportementale. Une interview avec la psychologue et pédagogue curative allemande Cordula Neuhaus révèle la corrélation existant entre les troubles de communication et de relation conditionnés par le mode de perception et le risque de comorbidités psychiques. Pour notre lectorat francophone, Samuela Varisco Gassert insiste sur la nécessité d une démarche interdisciplinaire pour obtenir un diagnostic sérieux du TDAH chez l adulte. En conclusion, Christine Gertsch donne un aperçu des critères de diagnostic les plus récents. L auteure termine sur une note de confiance: la forte capacité de compensation de beaucoup de personnes touchées leur permet aussi un parcours de vie tout à fait heureux.

4 04 Dossier ADHS bei Erwachsenen DOSSIER: ADHS bei Erwachsenen Therapie statt Ideologie Eine praxisrelevante Bestandesaufnahme zur ADHS bei Erwachsenen Die FSP-PsychologInnen Piero Rossi und Susanne Bürgi arbeiten spezialisiert im Bereich ADHS. In ihrer aktuellen Bestandesaufnahme für Psychoscope fokussieren sie auf Relevantes für die klinische Praxis bei Erwachsenen: Dazu gehört neben optimierten Diagnoseinstrumenten und -kriterien insbesondere auch die pragmatische Anwendung multimodaler Therapiekonzepte. In zahlreichen aktuellen Medienberichten wird die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als unheilvolle Modeerscheinung dargestellt. Sie sei die Folge gesellschaftlicher Reizüberflutung und Ausdruck erzieherischer Defizite. Immer lauter wird die medikamentöse ADHS-Therapie diskreditierend in einen Zusammenhang mit «Hirndoping» und «Neuro- Enhancement» gebracht. Speziell befremdend klingen die Positionen der anonym operierenden Organisation ADHS-Schweiz, welche der ADHS jegliche Evidenz absprechen ( Betroffene, Angehörige und Fachpersonen sind ob der zahlreichen unsachlichen Medienberichte zur ADHS verunsichert: Sind ADHS-Verhaltensstörungen in Wahrheit Ausdruck und Folge komplexer, frühkind-

5 Foto: Ursula Markus 05 licher Bindungsprobleme? Oder ist die ADHS ein typisches Produkt des «Neurokapitalismus» (Jokeit & Hess, 2009)? Wurden wir Opfer raffinierter Marketingstrategien der Pharmaindustrie? Ist Ritalin gar ein «Verbrechen» (Feuser, 2009)? Was soll man glauben? Evidenz der ADHS Wer ADHS-betroffene Menschen persönlich kennt und ihnen psychotherapeutischen Beistand leistet, dem erscheinen die ideologischen und zum Teil fundamentalistisch anmutenden Glaubenskämpfe über die Ursachen und gesellschaftlichen Hintergründe der ADHS obsolet und fern jeglicher praktisch-therapeutischer Relevanz. Im klinischen Alltag stehen wir vor ganz anderen Herausforderungen. Diese gelten in erster Linie einer möglichst optimalen Behandlung der betroffenen PatientInnen: Ob die ADHS nun die Krankheit der Postmoderne darstellt oder ob die Gewinne der Pharmaindustrie infolge steigenden Absatzes von Stimulanzien noch höher ausfallen als sonst, interessiert im klinischen Alltag angesichts der vielfach guten therapeutischen Wirkung dieser Medikamente nicht. Für die Betroffenen und deren Angehörige sowie für Fachpersonen, welche mit ADHS-Patienten arbeiten, kommt der ADHS dieselbe Evidenz zu wie Angststörungen und anderen psychischen Erkrankungen. Eine unbehandelte ADHS ist eine sich in verschiedenen Lebensbereichen manifestierende, chronisch verlaufende und ernste psychische Störung. Sie hat weitreichende Konsequenzen für die PatientInnen und deren Angehörige und verursacht hohe volkswirtschaftliche Kosten. Betroffen sind neben Kindern und Jugendlichen 3,7 Prozent aller Erwachsenen beiden Geschlechts (1:1). Leben mit einer ADHS Menschen mit einer ADHS werden seit Kindheit durch einen gemäss aktuellem Wissensstand primär neurobiologisch bedingten chronischen Mangel an Selbstbeherrschung und Konzentration in ihrer Entwicklung und Lebensbewältigung behindert. Infolge ihres Unvermögens, Impulse angemessen zu hemmen und ihre Affekte situationsgemäss zu regulieren, stehen sie meist ein Leben lang im Konflikt mit Eltern, Lehrern und Vorgesetzten, mit den eigenen Kindern, PartnerInnen, mit sich selbst und nicht selten auch mit dem Gesetz. Ihrer Zerstreutheit und Vergesslichkeit wegen wirken viele ADHS-Betroffene unzuverlässig, was zu chronischen Scham- und Schuldgefühlen führt. Ihr Stimulationshunger lässt sie immer neue Projekte anreissen, was bei vielen zu Erschöpfungsdepressionen oder einem Burnout führt. Erwartungswidrige schulische Minderleistungen und deren Folgen, berufliches Versagen, Sucht und Delinquenz, Verkehrsunfälle, Scheidungen und Verschuldung stellen einige der schmerzhaften Lebensstationen vieler ADHS-Betroffenen dar. Bis in die tiefsten Schichten ihrer Seele halten sie sich meist ein Leben lang für unfähig und dumm. Diese und andere negative Grundannahmen, ständig genährt durch alltägliche Auswirkungen fortbestehender neurokognitiver Funktionsstörungen, fördern eine unheilvolle Misserfolgserwartung und führen immer wieder in einen Teufelskreis, aus dem die meisten ADHS-Betroffenen ohne psychotherapeutische Hilfe nicht mehr herausfinden (siehe dazu auch Rossi, 2001). Herausforderung ADHS-Diagnostik Noch immer durchlaufen zu viele ADHS-Betroffene eine Odyssee von Abklärungen und verschiedensten Therapien, bis ihre Kernproblematik erfasst und behandelt wird. Zahlreiche psychologische und ärztliche KollegInnen sind sich der klinischen Relevanz der ADHS noch nicht bewusst. Auf der anderen Seite besteht gleichzeitig auch ein Risiko für falsch-positive ADHS-Diagnosen. Warum? Zu Konzentrationsschwächen, impulsivem Verhalten sowie Störungen der Exekutivfunktionen kommt es in unterschiedlicher Ausprägung auch bei anderen psychischen und neurologischen Störungen. Um dem damit verbundenen Verwechslungsrisiko zu begegnen, kommt der Differenzialdiagnostik ein hoher Stellenwert zu. Punkt E der diagnostischen ADHS-Kriterien des Klassifikationssystems DSM-IV-TR verlangt zu Recht den Ausschluss anderer Störungen, welche mit einer ADHS verwechselt werden könnten. Erwähnung finden lei-

6 06 DOSSIER: ADHS bei Erwachsenen der nur Differenzialdiagnosen auf entwicklungs- oder psychopathologischer Ebene. Unberücksichtigt bleiben etwa seit Kindheit bestehende neuropsychologische Funktionsstörungen («Teilleistungsstörungen»), neurologische Erkrankungen oder Folgen von Hirnverletzungen, welche ebenfalls mit ADHS-ähnlichen Beschwerden einhergehen können. Um eben diese auch erfassen und einer entsprechenden Behandlung zuführen zu können, erachten wir bei Verdacht auf ADHS im Gegensatz zu den Empfehlungen verschiedener Leitlinien eine die klinische Untersuchung ergänzende neuropsychologische Abklärung für unverzichtbar. Eine beweisgebende ADHS-Klassifikation ermöglicht eine neuropsychologische Untersuchung indes ebenfalls nicht. Die Diagnose der ADHS beruht deshalb vorläufig auf einer klinischen Untersuchung, einer sorgfältigen Anamneseerhebung und einer zwecks Differenzialdiagnose durchgeführten neuropsychologischen Untersuchung. Unzuverlässige ADHS-Tests? Anders als in einem Forschungssetting stehen wir in der Praxis nicht nur entweder ADHS-Betroffenen oder Gesunden gegenüber. Wir sind mit vielfältigen und sich überschneidenden Störungsbildern konfrontiert und erwarten von einem Test, dass dieser differenziell valide ist und eine verlässliche diagnostische Zuordnung ermöglicht. Leider finden selbst bei neueren ADHS-Tests klinische Vergleichsstichproben wenig oder keine Berücksichtigung. Obwohl sie bezüglich Konzentrationsund Impulskontollproblemen keine signifikanten Unterschiede gegenüber Patientengruppen mit affektiven und anderen psychischen Störungen abbilden und konstruktionsbedingt wenig spezifisch sind, kommt diesen Testbefunden im klinischen Alltag oftmals eine beweisgebende Funktion zu. Das erhöht das Risiko von falsch positiven ADHS-Diagnosen. So wichtig die diagnostischen Kriterien der Klassifikationssysteme DSM-IV-TR und ICD-10 für die Therapieforschung und Krankenkassenentscheide auch sein mögen: Aus einer klinisch-therapeutischen Perspektive erscheinen sie in Bezug auf erwachsene PatientInnen wenig valide. Je mehr erwachsene ADHS-Betroffene wir untersuchten und behandelten, umso deutlicher wurde, dass die ADHS-Diagnose im Sinne der gemäss DSM-IV-TR geforderten klinisch akuten Zustandsstörungen (Achse-I-Störung) nur selten vorkommt. «ADHS-Spektrum-Störung» Was uns begegnet, sind vielmehr Menschen mit chronifizierten ADHS-charakteristischen Verhaltensweisen und festgfahrenen ADHS-Persönlichkeitszügen. Wir sehen mehr oder weniger gut kompensierte ADHS-Kernsymptome und Vermeidungsstrategien, die von verschiedenen akuten psychopathologischen Störungsbildern wie etwa Suchtstörungen überlagert werden und die ADHS maskieren können. Auf Berührungspunkte zwischen der ADHS und der Borderline-Persönlichkeitsstörung haben Winkler und Rossi (2001) hingewiesen. Daneben begegnen uns vor allem bei Frauen sowie bei intelligenten PatientInnen akute, ADHS-ähnliche Beschwerdebilder, welche die diagnostischen Kriterien der Klassifikationssysteme zwar nicht erfüllen, in ihrer Gesamtheit sowie nach Würdigung sämtlicher Differenzialdiagnosen einer ADHS aber sehr nahe kommen. Wiederholt haben wir in diesem Zusammenhang beobachtet, dass PatientInnen mit der Begründung einer zu späten Erstmanifestation (beeinträchtigende ADHS-Symptome müssen vor dem siebten Lebensjahr vorliegen) eine sich später als wirksam erweisende ADHS-Therapie vorenthalten blieb. Mit der Bezeichnung «ADHS-Spektrum-Störung», welche übergeordnet sowohl die ADHS gemäss DSM-IV-TR als auch atypische und subklinische Bilder umfasst, versuchen wir deshalb bei aller diagnostischen Sorgfalt auch solchen PatientInnen und ihren Beschwerden klinischtherapeutische Evidenz zukommen zu lassen. Therapie der ADHS Im Hinblick auf die Therapie von Erwachsenen mit ADHS unterschätzen derzeit noch zahlreiche ärztliche KollegInnen den Stellenwert der Psychotherapie, während viele psychologische PsychotherapeutInnen die Bedeutung der medikamentösen Behandlung verkennen. Erfahrungsgemäss braucht es in der Regel beides. Psychotherapie: Wie für andere PatientInnen bilden auch für erwachsene ADHS-Betroffene «Verstehen» und «Verstanden werden» die wichtigsten Grundpfeiler einer erfolgreichen Therapie. Auf Behandlerseite sind neben neuropsychologischem und psychopharmakologischem Know-how berufliche Erfahrungen mit ADHS-Kindern relevant. Ziel einer Therapie sollte dabei die Etablierung eines angemesseneren Selbstbildes sein, welches die neurokognitiven Handicaps integriert und zu Selbstkontrolle und Handlungsfähigkeit führt. Methodisch haben sich kognitiv-behaviorale Ansätze bewährt, wobei sich die individualisierte Anwendung einzelner Module aus ADHS-Therapiemanualen (z.b. Safren et al., 2009; vgl. auch S. 8 ff) als hilfreich erwiesen haben. Je nach Problemlage, Komorbiditäten und Ressourcen kommt auch anderen therapeutischen Konzepten Berechtigung zu. So gewinnen traumatherapeutische Ansätze zusehends an Bedeutung, weil zahlreiche erwachsene ADHS-PatientInnen durch ADHS-bedingte Lebenserfahrungen traumatisiert sind und Symptome einer leichten, chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung zeigen.

7 Medikation stellt in vielen Fällen eine Bedingung für den Behandlungserfolg dar. So bildet das Wiedererlangen der Kernkompetenzen «Selbstaufmerksamkeit», «Handlungsfähigkeit», «Innehalten» und «Zuhören können» die Voraussetzung für das Ansprechen auf eine Psychotherapie. Ein sorgfältiges Ausloten und konsequentes Ausschöpfen der mit einer Medikation verbundenen therapeutischen Möglichkeiten führt denn auch zu erfreulich hohen Responderraten. Dabei stehen Methylphenidat und andere Stimulanzien sowie seit Kurzem auch Atomoxetin zur Verfügung. In einigen Fällen ist eine Kombination mit noradrenerg wirkenden Antidepressiva erforderlich. Multimodale Therapie: Von einer medikamentösen Behandlung der ADHS ohne begleitende Psychotherapie ist abzusehen. Die Medikation kann zwar Aufmerksamkeits- und Exekutivfunktionen stabilisieren, die negativen Grundannahmen und deren Auswirkungen hingegen vermag sie nicht einfach so aufzulösen. Ausserdem verbessert die Behandlung mit Stimulanzien die Selbstaufmerksamkeit und eröffnet Zugang zu Verarbeitungsprozessen, die einer psychotherapeutischen Begleitung bedürfen, wie z.b. Trauerarbeit. Von einer Psychotherapie der ADHS ohne Medikamente raten wir nach einschlägigen Erfahrungen im Regelfall indes ebenfalls ab. Allfälliges Misstrauen gegenüber Medikamenten soll ernst genommen werden. Ihm kann mit Bereitstellung von Fachinformationen begegnet werden. Anstehende Entwicklungen In einigen Jahren werden wir mehr über das wissen, was wir heute als ADHS konzipieren. Biopsychologische Modelle werden voraussichtlich zu einem differenzierteren Störungskonzept und zu wirkungsvolleren therapeutischen Ressourcen führen. Wahrscheinlich werden zudem Biomarker eine zuverlässige Diagnostik ermöglichen hoffentlich ohne die Einzigartigkeit des Individuums zu vernachlässigen. Möglicherweise führt die Erforschung des ADHS-Endophänotyps zu einer Überwindung der Grenzen herkömmlicher Klassifikationssysteme. Zu wünschen ist überdies, dass im Rahmen der Aktualisierung des DSM-IV erwachsenen ADHS-Betroffenen mehr Aufmerksamkeit zukommen wird, ebenso wie der neuropsychologischen Perspektive, der bisher vernachlässigten Impulsivitätsproblematik sowie einer dimensionalen Sichtweise, welche auch subsyndromale Diagnosen ermöglicht. Piero Rossi, Susanne Bürgi Bibliografie Weiterführende Literatur kann bei der Autorenschaft bezogen werden. Siehe auch Feuser, G. (2009). Ritalin ist ein Verbrechen. Weltwoche, 26/09. Jokeit, H., & Hess, E. (2009). Neurokapitalismus. Merkur, 721, Rossi, P. (2001). Zerstreut, gereizt, leicht ablenkbar. Psychoscope, 3/2001, 6 9. Safren, S.A., Perlman, C.A., Sprich, S., & Otto, M.W. (2009). Kognitive Verhaltenstherapie der ADHS des Erwachsenenalters. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Winkler, M., & Rossi, P. (2001). Borderline-Persönlichkeitsstörung und ADHS bei Erwachsenen. Persönlichkeitsstörungen, 5, Die AutorInnen Dipl.-Psych. Piero Rossi ist Fachpsychologe für Psychotherapie FSP und führt in Niederlenz eine psychologische Praxis mit Schwerpunkt ADHS. Lic. phil. Susanne Bürgi ist Psychologin FSP und Mitarbeiterin von Piero Rossi. In den letzten fünf Jahren hatten Dipl.-Psych. Piero Rossi und lic. phil. Susanne Bürgi: Vortragshonorare: ja, indes keine Honorare von pharmazeutischen Firmen. Industriegesponserte Vortragsreihen: nein. Beteiligungen an Medikamentenversuchen: nein. Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Beiräten von pharmazeutischen Unternehmen: nein. Aktienbesitz und Beteiligungen an pharmazeutischen Firmen: nein. Anschrift Dipl.-Psych. Piero Rossi & lic. phil. Susanne Bürgi, Farmweg 4, CH-5702 Niederlenz. praxis@psychologie-online.ch Résumé Depuis 1997, Piero Rossi, psychologue spécialiste en psychothérapie FSP, a examiné et traité d innombrables enfants, adolescents et adultes souffrant de TDAH ou d autres troubles analogues. En compagnie de la psychologue FSP Susanne Bürgi, il dresse ici un inventaire centré sur la pratique en matière de TDAH chez l adulte. Procédures et critères de diagnostic dans le domaine du TDAH chez l adulte se révèlent encore peu satisfaisants. En outre, sur le thème des thérapies multimodales, les praticiens souhaitent davantage de compréhension entre disciplines et moins de déballage public de stériles querelles idéologiques. 07

8 08 DOSSIER: ADHS bei Erwachsenen Multimodal und kognitiv-behavioral Evaluationen zur Psychotherapie bei Erwachsenen mit ADHS Prof. Rolf-Dieter Stieglitz und M. Sc. Jacqueline Kammermann beschäftigen sich im Rahmen einer Arbeitsgruppe an der Psychiatrischen Poliklinik des Universitätsspitals Basel seit einigen Jahren mit der Bedeutung der Psychotherapie bei der adulten ADHS. Für Psychoscope haben sie Ergebnisse aus der aktuellen Literatur zusammengefasst. Der vorliegende Artikel befasst sich mit aktuellen Anwendungen und Auswertungen psychotherapeutischer Ansätze bei der Therapie von Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitässtörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Dabei ist der Stellenwert kombinierter psychologischer Interventionen mit einer pharmakologischen Basisbehandlung resp. die multimodale Therapie inzwischen bereits weitestgehend unumstritten und die Psychotherapie für ADHS-Erwachsene ist daher nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zur psychopharmakologischen Therapie zu sehen. Neben der multimodalen Therapie wird zudem manchmal Coaching angeboten, welches bisher aber empirisch nicht überprüft ist. Coaching (vgl. auch in diesem Heft S. 40 f. oder Nyberg & Stieglitz, 2006) unterscheidet sich dabei von Psychotherapie insbesondere durch den Fokus auf «was, wie und wann ich etwas mache», z.b. Prüfung ablegen, Examensarbeit schreiben. An Bedeutung gewinnen zunehmend auch Selbsthilfegruppen (Nyberg & Stieglitz, 2006). Wer wird abgeklärt und behandelt? Barkley (2009) weist auf eine mögliche ADHS im Erwachsenenalter bei Personen mit folgenden «SKRIPT»- Problemen hin: Selbstkontrolle/-disziplin, Ruhelosigkeit Impulskontrolle, Probleme beim Verfolgen von Aufgaben und Zielen Timemanagement und Organisation. Bei diesen Personen sollte an eine spezifische ADHS- Abklärung und eine evtl. notwendige Therapie gedacht werden. Die Methode erster Wahl zur Behandlung der ADHS auch im Erwachsenenalter ist die Psychopharmakotherapie, speziell mit Stimulanzien. Am meisten eingesetzt und untersucht wurde bisher Methylphenidat (MPH). Da die Responseraten des MPH trotz in der Literatur berichteter guter Wirksamkeit zwischen Prozent schwanken, d.h. nicht alle Patienten eine Vollremission unter MPH zeigen (z.b. Barkley, 2009), sollte die Medikation durch eine Psychotherapie ergänzt werden. Selbst unter optimaler Compliance kann eine Reihe funktionaler Beeinträchtigungen sowie komorbider Störungen und Restsymptome eine Folge der sich früh und oft kontinuierlich manifestierenden Störung sein (National Institute for Health and Clinical Excellence Guidelines, NICE, 2008, Indikation und aktuelle Standards Empfohlen werden psychotherapeutische Einzel- oder Gruppeninterventionen mit kognitiv-behavioralem Ansatz bei: Personen, die trotz stabiler Medikamenteneinstellung über ADHS-bedingte Beeinträchtigungen berichten, Personen, die sich gegen medikamentöse Behandlung entscheiden, Personen, die auf medikamentöse Behandlung nicht bzw. gering ansprechen oder diese nicht tolerieren, Personen, die ihre Diagnose schwer akzeptieren und deren Motivation für medikamentöse Therapie mittels einer Psychotherapie erhöht werden kann. Aufgrund der Komplexität der Störung scheint bezüglich Therapiemethoden eine Kombination mehrerer Elemente nötig mit dem Ziel, die Effektivität der Behandlung zu verbessern. Im Allgemeinen kommen unterschiedliche, teilweise an die ADHS adaptierte kognitiv-behaviorale Techniken (KBT) zur Anwendung (vgl. Elsässer et al., im Druck; Barkley, 2009). Nach Elsässer et al. (im Druck) werden bei der kognitiv-behavioralen Therapie mehrere kognitive Techniken sowie operante und imaginative Techniken, aber auch Techniken zur Selbstkontrolle und Entspan-

9 nung eingesetzt. Viele dieser Therapieansätze orientieren sich an der kognitiven Therapie nach Beck und in jüngster Zeit u.a. auch an der Schema-orientierten Therapie nach Young (Nyberg & Stieglitz, 2006). Settings und Besonderheiten In der Psychotherapie für ADHS-Erwachsene finden sich u.a. Einzel- und Gruppensettings (z.b. Safren et al., 2009; Hesslinger et al., 2004), wobei aufgrund deren Ökonomie gemäss NICE (2008) letztere angeboten werden sollten. Bei den Gruppentherapien, in denen mit max. 10 Teilnehmern gearbeitet wird, werden zeitbegrenzte, semistrukturierte Sitzungen mit spezifischen Zielen und Themen empfohlen (Nyberg & Stieglitz, 2006). Bei den kognitiv- behavioralen Einzel- und Gruppentherapien ist neben der Psychoedukation die Vermittlung von Selbstkontroll-/Managementstrategien zur Bewältigung der ADHS-assoziierten Problematik wesentlich (Nyberg & Stieglitz, 2006). Ziel ist es, dass die PatientInnen Fertigkeiten im Umgang mit den störungsspezifischen Problemen lernen und Selbstbewusstsein gewinnen. Sie sollen die Kontrolle über die ADHS haben und nicht umgekehrt. Viele erwachsene ADHS-PatientInnen entwickeln zur Kompensation ihrer alltäglichen, neuropsychologisch bedingten Beeinträchtigungen und aufgrund mangelnder Bewältigungsstrategien zudem ein deutliches Vermeidungsverhalten. Sie nehmen z.b. schwierige Aufgaben nicht in Angriff, beenden sie nicht oder setzen keine adäquaten Prioritäten (Nyberg & Stieglitz, 2006). Kognitive Techniken dienen u.a. dazu, typische, u.a. aus solchen Prozessen entstehende Schemata zu verändern, wie z.b. Unzulänglichkeit («Ich bin nicht in Ordnung»), Erfolglosigkeit («Ich werde es sowieso nicht schaffen») oder Undiszipliniertheit («Ich bin nicht diszipliniert genug»). verändern. Als wichtiger Therapiebestandteil ist die Psychoedukation in allen zum Thema ADHS bei Erwachsenen publizierten Therapieprogrammen enthalten und kann mittels Ratgebern oder Internet ergänzt werden (vgl. Nyberg & Stieglitz, 2006; Barkley, 2009). Empathie und Struktur Der Therapeut nimmt eine aktive Rolle mit betont empathischer und wertschätzender Haltung ein. Er ist für die genaue Strukturierung der Sitzungen und die Themenfokussierung verantwortlich. Verschiedene Autoren weisen explizit darauf hin, dass u.a. wegen den assoziierten neuropsychologischen Defiziten unstrukturierte Therapien ineffektiv sind. AHDS-PatientInnen versäumen oft Termine, nehmen ihre Medikamente unregelmässig ein, erledigen Hausaufgaben nicht und tendieren zu Selbstmedikation wie z.b. mit Cannabis oder übermässigem Konsum von koffeinhaltigen Getränken. Bei Nichteinhalten von Vereinbarungen sollte der Therapeut in wertschätzender und ermutigender Weise den Schwerpunkt auf die Verhaltens-, Lösungs- und Präventionsanalyse legen. Für die TherapeutInnen ist es hilfreich, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass es sich um eine primär neurobiologisch determinierte und nicht «neurotische» Störung handelt (Nyberg & Stieglitz, 2006). Manualisierte Therapieprogramme Manualisierte Therapien sind entsprechend dem allgemeinen Standard besonderes bedeutsam (vgl. Elsässer et al., im Druck; Nyberg & Stieglitz, 2006). Eine Übersicht zu den heute vorhandenen manualisierten Programmen (zwei in deutscher Sprache) findet sich in Elsässer et al., im Druck). Zwei manualisierte Therapien, eine Einzel- und eine Gruppentherapie, werden hier exemplarisch skizziert, weil sie bereits gut etabliert und untersucht sind: 09 Verhaltensanalyse und Psychoedukation Um eine individuelle Fallkonzeption für jeden Patienten/jede Patientin zu erhalten, sollte zu Therapiebeginn eine Verhaltensanalyse des Problemverhaltens erstellt werden. Die meist plausibel erscheinenden Kompensationsstrategien, die auf maladaptiven Schemata beruhen, werden überprüft. Wiederkehrende Frustrationen und negative Rückmeldungen der Umwelt (z.b. «schwierig», «sprunghaft») führen bei ADHS-PatientInnen zu negativen Gedanken über sich und die Welt. Stimmungsschwankungen, Niedergeschlagenheit, Ärger und Vermeidungsverhalten können die Folge sein (Elsässer et al., im Druck). Mittels Psychoedukation lernen die Patienten und Patientinnen einerseits die Krankheit zu verstehen, andererseits die obigen Prozesse zu erkennen und zu 1. Das kognitiv-behaviorale Konzept für die Einzeltherapie von Safren et al. (2009): Dieses für die Einzeltherapie vorgesehene Konzept, das auch in einer randomisierten kontrollierten Studie evaluiert wurde, geht von neuropsychiatrischen Beeinträchtigungen (v.a. Aufmerksamkeit und Selbstregulation) aus, die seit Kindheit existieren und Betroffene daran hindern, effektive Copingstrategien zu entwickeln (z.b. Organisation, Planung von Aufgaben). Die Intervention beinhaltet drei Basismodule sowie weitere optionale Module. Die Basismodule sind: 1. Psychoedukation/Organisation und Planung (vier Sitzungen) 2. Umgang mit Ablenkbarkeit (drei Sitzungen) und 3. kognitive Restrukturierung (Anzahl offen). Die optionalen Module beinhalten den Um-

10 10 DOSSIER: ADHS bei Erwachsenen gang mit Aufschieben sowie auch mit Ärger und mit Kommunikation. Nach ausführlicher Psychoedukation lernen die PatientInnen z.b. im ersten Basismodul u.a. das Benutzen eines Notizbuchs und Terminplaners, das Führen von «to do»-listen, sowie das Zerlegen von Aufgaben («Salamitaktik»). Sie lernen zudem, ablenkende Gedanken aufzuschreiben und sich diesen erst nach Beendigung der aktuellen Aufgabe wieder zu widmen. 2. Ein Gruppentherapie-Ansatz nach Hesslinger et al. (2004): Da einige Symptome der ADHS sich mit den Symptomen einer Borderline-Störung decken, hat eine deutsche Arbeitsgruppe (Hesslinger et al., 2004) einige Module aus dem im Borderline-Bereich bereits erprobten Fertigkeitentraining nach dem dialektisch-behavioralen Therapie(DBT)-Ansatz von Linehan für die Behandlung der ADHS adaptiert. Dieses Training stellt einen weiteren wichtigen Baustein für die psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten der ADHS dar. Neben der Psychoedukation, Hilfe beim Umgang mit Chaos und Desorganisation sowie Informationen über mögliche komorbide psychische Störungen und Probleme (v.a. Depression, Sucht und Partnerschaftsprobleme) liegt der Schwerpunkt dieses für Gruppentherapie konzipierten Programms auf den Modulen der DBT. Zu Beginn erhalten die Teilnehmenden eine Einführung in ein aus dem Zen-Buddhismus abgeleitetes Achtsamkeitstraining. Durch dessen konsequente Anwendung sollen Aufmerksamkeit und Konzentration verbessert werden. Ein weiterer wichtiger Fokus der Behandlung ist die Analyse problematischer Verhaltensweisen: Die Gruppenteilnehmer lernen ungünstige Verhaltensmuster zu analysieren und Strategien zur Erreichung eines erwünschten Zieles aufzubauen. Weitere aus der DBT adaptierte Module sind «Gefühlsregulation» und «Umgang mit Impulsivität». Das gesamte Training besteht aus 13 Gruppensitzungen à 2 Stunden im wöchentlichen Rhythmus. Jede Sitzung beginnt mit einer Achtsamkeitsübung, im Anschluss daran werden Hausaufgaben besprochen. Nach der Pause, in der Mitte der Gruppensitzung, werden neue Inhalte vermittelt und zum Schluss noch die Hausaufgaben bis zur nächsten Sitzung festgelegt. Gruppentherapie mit KBT-Ansatz Einzeltherapie mit KBT-Ansatz Selbsthilfe-Ansatz im Einzelsetting Anderer Ansatz Anzahl Studien 6 Studien 3 Studien (1 randomisiert) 1 Studie 1 Studie Therapeutische Techniken Psychoedukation (1) Kognitive Therapie (3) Dialektisch-behaviorale Therapie (1) Mindfullnesstraining (1) Kognitive Therapie (3) Selbsthilfemanual mit minimalem Therapeutenkontakt Kognitive Remediation, (keine direkte Psychotherapie) Design Prä-Post-Vergleiche (6) Prä-Post-Vergleiche (2) Retrospektive Auswertung dokumentierter Patienten (1) Prä-Post-Vergleiche 2-Monats-Follow-up Prä-Post-Vergleiche, 2-Monats- und 1- Jahres-Follow-up Stichprobengrösse der Therapiegruppe Weiter Range von N= 9 (ältere Studie) bis N=61 (neuere Studie) Range von N= 15 bis N= 43 N= 17 N= 22 Untersuchte Bereiche Ergebnisse Eindimensional (1): ADHS- Symptomatik Mehrdimensional (5): ADHS-Symptomatik, u.a. Depression, Angst, Selbstwert, Ärger Mehrdimensional (3): ADHS-Symptomatik, u.a. Depression, Angst Signifikante Verbesserung gegenüber der Kontrollgruppe in allen bzw. den meisten Bereichen Mehrdimensional: ADHS-Symptomatik, u.a. Selbstwert, Ärger, Compliance Mehrdimensional: ADHS-Symptomatik, u.a. Selbstwert, Ärger, Compliance Signifikante Verbesserung gegenüber der Kontrollgruppe in allen Bereichen Tabelle 1: Übersicht zur Psychotherapie bei Erwachsenen mit ADHS Quelle: Elsässer et. al. (im Druck)

11 Der Stellenwert multimodaler Therapien Es besteht inzwischen ein unumstrittener Konsens, dass kognitiv-behaviorale Interventionen die geeignetsten Ansätze bei der Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter sind (NICE, 2008; Barkley, 2009). Eine PubMed-Suche im September 2009 mit den Stichworten «ADHD, adults and psychotherapy» ergab immerhin 315 Treffer (zum Vergleich: «pharmacotherapy» 1262 Treffer). Für eine kombinierte bzw. multimodale Therapie lassen sich zudem empirische Daten und v.a. klinische Argumente finden (Nyberg & Stieglitz, 2006). Tabelle 1 (siehe unten links) bietet eine Übersicht zur Psychotherapie für Erwachsene mit ADHS, die Hinweise zu Setting, Design und Ergebnissen der bisherigen Forschung zusammenfasst. Die detaillierte Übersicht dazu findet man in Elsässer et al. (im Druck). Die untersuchten Psychotherapien wurden dabei meist mit Methylphenidat kombiniert, was auch dem State of the Art entspricht. In fast allen Studien zeigten sich signifikante Verbesserungen unter der Kombinationsbehandlung. Bisher gibt es aber nur eine randomisierte kontrollierte (RCT) Studie (Safren et al., 2009), deren Ergebnisse eine klare Wirksamkeit aufzeigten. Da erst eine kleine Anzahl Studien existiert, sollte die Evidenz der kognitiv-behavioralen Therapie aktuell als Tendenz interpretiert werden. Zukünftige Forschung sollte die differenzierte Wirkungsweise dieser Therapieform untersuchen (NICE, 2008; Barkley, 2009). Fazit und Perspektiven Im Gegensatz zu anderen psychischen Störungen (z.b. Angststörungen, z.t. depressive Störungen) wird bei ADHS im Erwachsenenalter per se ein multimodales Vorgehen empfohlen. Obwohl die Psychotherapie der ADHS noch nicht lange untersucht wird, liegen erste interessante Studien und gute manualisierte Therapieprogramme vor. Diese lassen sich unter dem Begriff der kognitiv-behavioralen Therapie subsummieren, deren Wirksamkeit durch aktuelle empirische Daten belegt wird. Aufgrund methodischer Probleme, wie kaum randomisierte Studien, zu geringe Stichproben und unzureichende Medikation- und Komorbiditätkontrolle, benötigt es aber noch weitere Forschung, um eine abschliessende Bewertung vorzunehmen. Jacqueline Kammermann, Rolf-Dieter Stieglitz Bibliografie Barkley, R.A. (2009). Attention Deficit Hyperactivity Disorders in Adults. The latest assessment and treatment strategies. Boston: Jones and Bartlett Publishers. Elsässer, M., Nyberg, E., Stieglitz, R.D. (im Druck). Kognitive-behaviorale Strategien in der Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter. Z Psychiat Psychol Psychother. Hesslinger, B., Philipsen, A., & Richter, H. (2004). Psychotherapie der ADHS im Erwachsenenalter. Göttingen: Hogrefe. Nyberg, E. & Stieglitz, R.D. (2006). Psychotherapie der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Z Psychiat Psychol Psychother 54: Safren, SA., Perlman, C.A., Sprich, S., & Otto, M.W. (2009). Kognitive Verhaltenstherapie der ADHS des Erwachsenenalters (deutsche Bearbeitung von E. Sobanski, M. Schumacher-Stien & B. Alm). Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Die AutorInnen M. Sc. Jacqueline Kammermann arbeitet als Psychologin mit kognitiv-behavioralem Ansatz in der Psychiatrischen Poliklinik des Universitätsspitals Basel. Neben ihrer klinischen Tätigkeit im Einzel- und Gruppensetting ist sie Mitarbeiterin des SNF-Projekts «Psychotherapieevaluation bei ADHS im Erwachsenenalter». Prof. Dr. rer. nat. Rolf-Dieter Stieglitz, Dipl.-Psych., ist leitender Psychologe an der Psychiatrischen Poliklinik des Universitätsspitals Basel. Er leitet das SNF-Projekt «Psychotherapieevaluation bei ADHS im Erwachsenenalter» und die Spezialsprechstunde für «ADHS im Erwachsenenalter». Anschrift M. Sc. J. Kammermann, Psychiatrische Poliklinik, Universitätsspital Basel, Petersgraben 4, CH-4031 Basel. jacqueline.kammermann@upkbs.ch Résumé Dans le cadre d un projet de recherche du Fonds national suisse, plusieurs groupes de travail sont en train d évaluer des programmes de psychothérapie pour adultes souffrant de TDAH. Le Prof. Rolf-Dieter Stieglitz et sa collaboratrice Jacqueline Kammermann, M.Sc., de la Policlinique psychiatrique de Bâle, en résument les premiers résultats pour Psychoscope. Ceux-ci parlent clairement en faveur d approches thérapeutiques multimodales, combinant médicaments et techniques thérapeutiques de type cognitivo-comportemental. Les auteurs appellent de leurs vœux davantage d études randomisées sur le sujet, et plus d évaluations sur la médication et les comorbidités. 11

12 12 DOSSIER: ADHS bei Erwachsenen Das Syndrom der Missverständnisse Cordula Neuhaus über Beziehungsaspekte der ADHS Die ADHS-Expertin, Diplompsychologin und Heilpädagogin Cordula Neuhaus äussert sich im Psychoscope-Interview zu Beziehungsaspekten der ADHS. Neben der Rolle des privaten Umfelds werden dabei Interaktionen mit Schule und Öffentlichkeit angesprochen. Cordula Neuhaus, Sie haben sich als Autorin, Verhaltenstherapeutin und Heilpädagogin im Themenbereich ADHS einen klingenden Namen gemacht. Wie ist es dazu eigentlich gekommen, worin liegt Ihre Motivation? Schon während meines Praktikums in der Kinderklinik Esslingen, nach meinem Schweizer Hochschulstudium an der Universität Fribourg, wurde ich von den Kinderärzten Walter Eichelseder Autor des Büchleins «Unkonzentriert» und Rudolf Kemmerich angefragt, mir speziell etwas zur Elternberatung unruhiger, impulsiver, zappeliger Kinder zu überlegen. Fasziniert von der wachen, interessierten Offenheit dieser Kinder, deren ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, nicht nur für sich, sondern auch für andere, der blitzschnellen Reaktionsfähigkeit in kritischen Situationen, der ausgeprägten Liebe zu Tieren und Natur einerseits aber auch von ihrem «rätselhaften» Scheitern an den Entwicklungsaufgaben, die andere Kinder mit denselben Erziehungsmethoden unproblematisch erfüllen konnten, «rutschte» ich sozusagen immer mehr in diese Problematik. Nachdem bereits während eines Vorpraktikums im Kinderzentrum München mein Interesse an der Kinderverhaltenstherapie geweckt worden war, lernte ich später viel in Fortbildungen zur gerade bei ADHS erfolgreich umsetzbaren Entwicklungsrehabilitation und von grossen Therapeutinnen wie Marianne Frostig oder Felice Affolter. Durch die beginnenden internationalen Kontakte ab den 90er- Jahren und verstärkt durch die enge Kooperation mit nationalen und internationalen Selbsthilfegruppen wurde deutlich, dass eben nicht nur Kinder ADHS haben. Es wurde zudem immer klarer, dass ein Kernsymptom bei ADHS die leider extreme Affektlabilität ist, verbunden mit regelrechtem «Ausrutschen» auf dem Gefühl, wenn man sich, ohne es merken und stoppen zu können, in etwas hineinsteigert, dabei alles nur aus seiner Perspektive sieht, viel zu schnell rein emotional etwas bewertet und damit bei anderen Menschen polarisierend wirkt. Betroffene formulieren die eigenen Erwartungen oft nicht ausreichend deutlich und setzen sozusagen voraus, dass man «weiss», welche Bedürfnisse sie haben. ADHS ist das «Syndrom der Missverständnisse». Sie haben ADHS in allen Lebensphasen untersucht und beschrieben und können sogar betroffene Babys identifizieren. Welche Rolle genau spielen Ihrer Erfahrung nach die erwähnten Missverständnisse für Beziehungen und Lebensverlauf von ADHS-Betroffenen? Menschen mit ADHS haben schon als Kind grösste Schwierigkeiten, sich fremdbestimmt und schnell von einer Situation auf die andere umstellen zu sollen. Sie bekommen bei subjektiv nicht sehr Interessantem ausserdem in der Regel nur etwa einen Drittel der Instruktion mit, ebenso bei nochmaliger Wiederholung mit anderen Worten und gar nichts mehr, wenn der Tonfall des Gegenübers danach gereizt entgleist. Entsprechend wird schon in frühen Kindertagen Neues, Unerwartetes zunächst abgewehrt. Im Umfeld entsteht dabei rasch die Annahme, das Kind «wolle» nur nicht. Dabei wollen die Kinder sehr wohl, sie können nur oft nicht so wollen, wie sie wollen sollen! Die Impulssteuerungsschwäche bringt zudem vorschnelles Sprechen und Handeln mit sich, das den Eindruck erweckt, die betreffenden Kinder bzw. Jugendlichen «wollen sich nur in den Vordergrund stellen» resp. «die Aufmerksamkeit auf sich ziehen». Tatsächlich können sie sich nur eben nicht so regulieren, wie Nichtbetroffene das können. Dies führt zu entsprechenden Schwierigkeiten bezüglich der situationsangepassten Selbstdarstellung, was oft auch noch im Erwachsenenalter gilt. Im eigentlichen Sinn stellt ADHS deshalb eine Anpassungsstörung dar, die zur Anpassungsbehinderung und im schlimmsten Fall, mit Komorbiditäten sozusagen «angereichert», zu einem eigentlichen Anpassungsversagen werden kann. Letzteres führt im Extremfall zu Verläufen, wie in «Hochrisiko ADHS» beschrieben. Konkret zu psychischen

13 13 Sekundärerkrankungen wie Depression, Aggression, Angststörungen, Borderline, Tics, folgenschwer geschwächtem Selbstbewusstsein bis hin zu Suchtabhängigkeit, Kriminalität und erhöhter Unfallgefahr. Können optimierte Interaktionen/Beziehungen hier präventiv wirken? Definitiv sind komplizierte negative Verläufe mit den dazugehörigen typischen Komorbiditäten auf suboptimale resp. schuldzuweisende, «vorführende», abwertende Interaktionen zurückzuführen, die oft sogar traumatisch sein können! Daher: Je früher man die Störung erkennt, man die Eltern und das Umfeld aufklärt, den Kindern das Umfeld gibt, das sie brauchen, mit altersadäquaten klarsten Regeln und Strukturen und einem schnörkellosen, aber freundlichen Kommunikationsstil, desto ungestörter verläuft die Entwicklung. Dabei ist zu akzeptieren, dass subjektiv Uninteressantes, das aber eben auch gelernt werden muss, mindestens die 8-fache Zeit der Wiederholung benötigt, und dass es bestimmte entwicklungspsychopathologische Aspekte gibt, die bei ADHS eben einfach entstehen: So reift die Fähigkeit zum «Perspektivenwechsel» definitiv nicht bis zum 12. Lebensjahr heran, wie dies bei Nichtbetroffenen der Fall ist. In der Pubertät wird man mit ADHS wie andere auch noch zusätzlich extrem verletzlich. Betroffene entwickeln in dieser Phase häufig eine externale Kontrollüberzeugung und haben damit als Jugendliche und junge Erwachsene das Problem, dass eine schwierige Aufgabe nie als Herausforderung empfunden wird, sondern nur als Stress erzeugende Belastung. Die Identitätsentwicklung setzt bei den meisten zudem erst mit über 18 ein und ist meist erst mit 30 Jahren beendet. Wie sollen sich die Menschen im Umfeld von ADHS-Betroffenen konkret verhalten, um zu gelingender Identitätsbildung resp. positiven Lebensverläufen beizutragen? Vor dem Hintergrund wirklich profunden Störungsbildverstehens und entsprechender Akzeptanz kommen die Kinder und Jugendlichen und später auch die Erwachsenen am besten mit einem Interaktionsstil zurecht, der freundlich, wertschätzend, klar und direktiv ist. Ungünstig wirken sich dagegen eine permanente Vorwurfshaltung, wiederholtes Ansprechen vergangener Missetaten, appellierendes Moralisieren und Verhaltensvorschriften aus erst recht, wenn dies alles noch mit negativen nonverbalen Kommunikationssignalen gepaart ist. Konkret: Wenn man etwas von einem Kind oder Jugendlichen mit ADHS will, gilt es, dies vorher freundlich, kurz und knapp anzukündigen. Und dies ohne Zusätze anzuhängen wie «Hast du gehört?» oder «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!». Sollte es dann dennoch schwierig werden, gilt es, den Blickkontakt sofort wegzunehmen, die Stimme zu senken und auch ein zweites Mal kurz vor der Situation die Ankündigung vorzunehmen, um dann ruhig, fest und freundlich nach der dritten Aufforderung das entsprechende Verhalten oder die Handlung einzufordern. Die Eltern brauchen dazu eine gewisse «Hütehundperspektive» nach dem Motto «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser». Das heisst: beobachten, ob die Regeln eingehalten werden, aber ohne ständiges Mahnen und Erinnern mit den Verben «müssen» und «sollen», dafür mit sehr viel Verstärkung der Anstrengungsbereitschaft! Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADHS müssen sich für die Bewältigung der Routinen des Alltags nämlich meist doppelt anstrengen, um auch nur annähernd das zu bewerkstelligen, was für Nichtbetroffene völlig selbstverständlich ist. Oft sind Beziehungen zwischen betroffenen Kindern und ihren Eltern durch im obigen Sinn ungünstige Kommunikation gestört: Wo sehen Sie Versöhnungspotenzial? Nach sauberer und umfassender Diagnostik ist insbesondere eine gute Aufklärung der Eltern sowie auch der über sieben Jahre alten Kinder/Jugendlichen über die neurobiologischen Hintergründe ein effektives Wirkmodul. Ebenso wirksam ist ein ressourcenorientiertes, stark auf die Modifikation der Kommunikation abhebendes Elterntraining unter besonderer Berücksichtigung des selbst betroffenen Elternteils (s. Literaturhinweis S. 15). Bei älteren Jugendlichen/jungen Erwachsenen helfen

14 14 DOSSIER: ADHS bei Erwachsenen Kommunikations- und Selbstwerttrainings. Oft reagieren Eltern während und nach den Erklärungen über die neurobiologischen Hintergründe parallel zum funktionellen Verstehen der Symptomatik sehr betroffen. Es tut ihnen unendlich leid, dass sie nicht gewusst haben, dass ihr Kind ja gar nicht anders agieren/reagieren konnte, und sie brauchen Entlastung bezüglich ihrer Schuldgefühle. Kinder/Jugendliche/junge Erwachsene erkennen oft statt «Willkür» ADHS-typisches Verhalten bei den Eltern. Häufig gelingt im Verlauf sogar manchmal Lachen über «syndromtypische» Kollisionen. Was lehren Ihre Erfahrungen über Beziehungen zwischen erwachsenen Personen? Auch im Erwachsenenalter wird oft, wirklich völlig unbewusst, bei subjektiv Uninteressantem nicht richtig hingehört, werden Absprachen nicht eingehalten, die Kritikempfindlichkeit bleibt, ebenso impulsives Aufbrausen oder beleidigtes «Zuklappen» in der Reaktion Anecken ist sozusagen programmiert. Aber: Niemand sieht wohl so genau, was andere falsch machen, weiss so genau, wie man es besser/anders machen könnte, wie jemand mit ADHS und «erzieht» oder belehrt gern andere. Betroffene sind unendlich hilfsbereit, setzen sich ein mit extremem Gerechtigkeitsempfinden, merken ihre «Übergriffigkeit» jedoch nicht, meinen es doch nur gut und sind sehr enttäuscht, wenn man ihr Engagement nicht entsprechend schätzt! Sie erwähnen in Ihren Büchern oft, dass ADHS-Betroffene «häufig unter sich bleiben»... Bei ADHS handelt es sich offensichtlich, und wie durch die Forschung immer besser belegt, um eine in vieler Hinsicht «andere» Netzwerknutzung des Gehirns: Man kann nur sehr schlecht aus Erfahrung lernen, entwickelt kein inneres Gefühl für Zeit und Zeitverlauf, ist spontan, hochempathisch und kreativ. Die Betroffenen denken zudem funktional, können nur lernen, was nachvollziehbar ist sowie plausibel und anwendungsbezogen dargelegt wurde. Man kann sich zudem super über subjektiv Interessantes unterhalten aber keinen Smalltalk. Man kann spontan und rein gefühlsmässig gut «entscheiden» aber nicht reiflich überlegt. Entsprechend «funkt» es oft regelrecht blitzartig, wenn urplötzlich Sympathie entsteht. Aufgrund der hohen Personenbezogenheit der Betroffenen klappt eine Beziehung nur, wenn «die Chemie stimmt». Nichtbetroffene empfinden schon in Kindertagen MitschülerInnen mit ADHS als komisch, z. T. aufdringlich, besserwisserisch, später als naiv, irgendwie «daneben». Unverstanden, sich selbst nicht verstehend, empfinden sich Betroffene mit meist extrem niedrigem Selbstwertgefühl entlastet, wenn sie auf jemanden treffen, der irgendwie genauso «tickt» wie sie. Wie unterscheiden sich die Verlaufsgeschichten von ADSund ADHS im Hinblick auf Beziehungen? Der vorwiegend unaufmerksame Typ (ADS) fällt oft erst deutlich später auf, er/sie stört ja nicht mit «lauter» Symptomatik wie Personen mit ADHS. Die emotionale Reaktion bei Konflikten ist beim «Träumertyp» in aller Regel «beleidigtes Zuklappen» in Form eines zähen, unüberwindbaren und unumgehbaren, gummiartigen Widerstands. Das impulsiv-wütende Überreagieren bei ADHS führt dagegen häufiger zu offensichtlichem Anecken und Ausgegrenztwerden, auch häufiger zu frühen, unbewussten Selbstmedikationsversuchen mit Alkohol, Nikotin oder Haschisch. Betroffene mit ADHS werden oft auch oppositionell. Ängstlich und depressiv sind aber beide Subtypen oft schon ab dem Kindergartenalter. Sie haben mehrere Privatschulen für ADHS-Kinder gegründet (s. S. 15): ein Zeichen der Resignation? Selbstverständlich ist eine spezielle Schulgründung ein deutliches Signal der Resignation bezüglich des öffentlichen Schulsystems, das von Jahr zu Jahr forcierter eigenständiges Lernen fordert, sehr unsystematisch vorgehend mit einer Methodik und Didaktik, die zu einer erheblichen Lautstärke während des Unterrichts führt was auch sehr belastend für die Lehrer ist. Die «Mini-Notschule» in Esslingen und der Versuch der gymnasialen Internatsgründung haben immerhin eine allgemeine Diskussion angeregt. Man denkt inzwischen vermehrt auch über die Notwendigkeit des Nachteilsausgleichs für ADHS-Betroffene nach. Welche Rolle spielt die Öffentlichkeit? Ausgesprochen ärgerlich empfinde ich die immer wiederkehrenden Fehlinformationen in den Medien über die Diagnose und Behandlung von ADHS, mit Behauptungen wie, es gäbe dieses Störungsbild gar nicht oder es sei eine «Modediagnose», mit der Eltern ihre Erziehungsunfähigkeit entschuldigen wollten, bis hin zur Verunglimpfung der medikamentösen Behandlung. Das Ärgerlichste ist dabei, dass die Quellen mit diesem Tenor nicht ebenfalls kritisch hinterfragt werden, obwohl doch jeweils so grosser Wert auf «ausgewogene Information» gelegt wird. ADHS ist eine valide Diagnose. Welche Rolle spielen die beteiligten Fachdisziplinen Medizin, Psychologie und Pädagogik? Leider ist in der Medizin, der Psychologie und der Pädagogik das psychoanalytische Denken und seit einigen Jahren der systemisch-konstruktivistische Ansatz dominant. Man betreibt sehr gern vorwiegend «psychodynamische Ursachenforschung», favorisiert aktuell Bindungs- und Beziehungsstörungen oder erklärt sich schwere Verläufe «lieber» über eine Störung aus dem Autismusspektrum. Es macht mich immer wieder fas-

15 sungslos, mitansehen zu müssen, wie die Odysseen der Betroffenen nach wie vor sehr lang sind, bis zielführende Diagnostik und Therapie greifen können. Ebenso, dass parallel zu regelrecht rasantem Zuwachs der Erkenntnisse bezüglich der neurogenetischen Verursachung der ADHS noch so viel Abwehr, Skepsis besteht und leider oft falsche Behandlungen stattfinden, die sich verschlimmernd auswirken. Das Allerwichtigste wäre die endgültige Akzeptanz dieses Wahrnehmungs- und Reaktionsstils durch möglichst viele Pädagogen und Pädagoginnen auch im Bereich der Sozial- und Sonderpädagogik. Es erscheint perfid, wenn «Fachleute» «unvoreingenommen» mit Symptomen umgehen wollen, um dann lediglich wild herumzuinterpretieren, ohne konkrete und zielführende Hilfe geben zu können. Offenheit für seriöse Fort- und Weiterbildung erscheint mir dazu das A und O. Gerade in den Fachdisziplinen müsste endlich erkannt und akzeptiert werden, dass die Basis von ADHS eine Reizoffenheit bei Reizfilterschwäche ist in einer Umwelt, in der die «Bereizung» seit Jahren gigantisch zunimmt. Ebenso, dass eben immer mehr Betroffene, die in früheren Jahren noch recht gut mit ihren Intelligenzressourcen kompensieren konnten, dies einfach oft nicht mehr können und immer früher Sekundärstörungen entwickeln, ihr tatsächliches Potenzial nicht nutzen können und somit Gefahr laufen, der Gesellschaft zur Last zu fallen. Anders als früher, wo Betroffene mit sehr guten Begabungen nach oft schwieriger Schulzeit später zu Leistungsträgern wurden. Viele sehr erfolgreiche Manager, Schriftsteller, Musiker, Künstler, Erfinder, Mitglieder von Helferberufen haben/hatten ADHS. Ihre Vision einer «ADHS-freundlichen» Welt? Mein grösster Wunsch wäre es, dass ADHS als chronische Störung genauso akzeptiert würde wie Legasthenie oder Asthma, inklusive breiter Akzeptanz der notwendigen spezifischen Unterstützungsmassnahmen und Schulungen. Toll wäre, wenn dazu noch das Ergebnis der umfangreichen Studie von Prof. Matthias Grünke von der Universität Köln bezüglich der Effektivität von Lernfördermethoden Beachtung fände, und man zur Kenntnis nähme, dass 20 Prozent der Kinder zwar Fertigkeiten auch ohne Lehrer lernen können, 60 Prozent von einem entwicklungsstufenangepassten Curriculum profitieren und die restlichen 20 Prozent eben nur von einem direktiven, kleinschrittigen, systematisch aufbauenden, übenden und wiederholenden, lehrpersonenbezogenen Unterricht. Geschähe dies, dann müssten nicht immer mehr Betroffene aus ihrem Frust heraus mehr und mehr in die mit erheblicher Suchtgefahr verbundenen modernen Medien flüchten. Interview: Susanne Birrer Literatur zum Thema Neuhaus, C., Trott, G.E., Townson, S., Schwab, S., Berger-Eckert, A. (2009). Neuropsychotherapie der ADHS: Das Elterntraining für Kinder und Jugendliche (ETKJ ADHS) unter Berücksichtigung des selbst betroffenen Elternteils. Stuttgart: Kohlhammer. Neuhaus, Cordula (2005). Lass mich, doch verlass mich nicht. ADHS und Partnerschaft. München: dtv. Neuhaus, Cordula (2007/2009). ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Symptome, Ursachen, Diagnose und Behandlung. Stuttgart: Kohlhammer. Stollhoff, K., Mahler, W., Duscha, K. (2003). Hochrisiko ADHS. Plädoyer für eine frühe Therapie. Lübeck: Schmidt- Römhild. Zur Person Dipl. Psych. Cordula Neuhaus ist Verhaltenstherapeutin und Heilpädagogin. Sie arbeitet seit vielen Jahren mit ADHS-Betroffenen und wirkt zudem als Dozentin und Supervisorin in der Weiterbildung ( An der von ihr im Jahr 2000 gegründeten «ADHS-Mini- Notschule» am kindertherapeutischen Zentrum Esslingen wurden in 3 Kleinstklassen bisher 117 aus der Schule ausgegrenzte Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 16 Jahren beschult, behandelt und rückintegriert. Diese kamen dabei aus allen Schultypen auch aus der Sonderschule für Erziehungshilfe. Ein aus der Mini-Notschule zusätzlich entstandenes privates Gymnasium hat zwar noch immer finanzielle Probleme, aber grossen Zulauf. Ein weiteres, 2008 in Münsingen gegründetes Internatsgymnasium scheiterte nach der wirtschaftlich bedingten Übernahme und Konzeptänderung durch eine christliche Trägerschaft. Anschrift Dipl. Psych. Cordula Neuhaus, Praxis Cordula Neuhaus, Alleenstrasse 29, D Esslingen. praxis.neuhaus@gmx.de Résumé Dans son interview, Cordula Neuhaus, pédagogue curative, psychologue diplômée et expert reconnu en TDAH traite des aspects relationnels liés au TDAH. Elle est persuadée qu une meilleure image du trouble pourrait améliorer les interactions entre les malades et leur entourage et empêcher des développements négatifs. Fondatrice de diverses écoles privées, elle ne ménage pas ses critiques à l égard de l évolution actuelle de l école, qui irait aujourd hui jusqu à exiger des personnes souffrant du TDAH un excès d indépendance en contradiction avec l état des connaissances en psychologie du développement. Une situation qui ne peut qu accroître dans les familles plusieurs fois touchées par le TDAH le risque de conflits et la pression sur les rapports intrafamiliaux. 15

16 16 Dossier TDAH chez l adulte DOSSIER: TDAH chez l adulte TDAH: maladie ou défi? Une approche pluridisciplinaire nécessaire pour un bon diagnostic et une prise en charge adéquate Considéré comme un trouble neurobiologique, le Trouble Déficitaire de l Attention avec ou sans Hyperactivité (TDAH) a, dans la plupart des cas, une composante génétique. Ce trouble se modifie avec l âge, mais il continue à altérer le fonctionnement de la personne adulte. Samuela Varisco Gassert, psychologue FSP, aborde certaines causes et conséquences de ce trouble; d où l importance, pour elle, d un bon diagnostic. Depuis quelques années, il y a un intérêt scientifique et médiatique grandissant pour le Trouble Déficitaire de l Attention avec ou sans Hyperactivité (TDAH). A vrai dire, l attention a été plus portée à ce qui vient à la fin du sigle TDA, c est-à-dire le H d hyperactivité. Une des répercussions de ce phénomène dans la pratique clinique a été une hyperfocalisation sur la manifestation la plus voyante/visible de ce trouble, la bougeotte physique. Celle-ci est devenue en quelque sorte LE symptôme à repérer lors d une première prise de contact avec le patient (qu il soit enfant ou adulte). Faire redevenir LE symptôme UN symptôme parmi d autres, ce n est

17 Photo: Ursula Markus 17 pas toujours évident surtout lorsque le patient n est plus, permettez-moi l image, un «diablotin» qui bouge dans tous les sens (ce qui n est pas nécessairement LE signe d un trouble hyperactif), mais un adulte, qui a peut-être su canaliser sa bougeotte physique dans des sports. Pour revenir aux «diablotins», qui rendent la vie des autres un enfer (et eux-mêmes souffrent les peines de l enfer), il est intéressant de relever le pourcentage grandissant de «petits anges» (pour lesquels la vie est loin d être un paradis sur terre) qui nous sont adressés en consultation. Ces derniers sont sages comme des images et ne dérangent personne, mais ils ont la tête dans les nuages et sont souvent (et injustement) étiquetés fainéants, suite à leurs résultats scolaires insatisfaisants. Les «diablotins» et les «petits anges» sont deux réalités qui appartiennent au même diagnostic, à savoir le Trouble Déficitaire de l Attention avec ou sans Hyperactivité (TDAH). Actuellement, dans le monde scientifique, on discute même de transformer ce diagnostic en deux entités distinctes: les «diablotins» (Trouble Déficitaire de l Attention avec Hyperactivité) d un côté et les «petits anges» (Trouble Déficitaire de l Attention sans Hyperactivité) de l autre. Ce débat, bien que passionnant, dépasse le propos de cet article, qui veut tout simplement être le point de départ pour une réflexion sur le processus de diagnostic du TDAH auprès des adultes. Altération du fonctionnement Le TDAH touche environ 5% des enfants, dont la moitié garderont des symptômes à l âge adulte. Autrement dit, ce trouble se modifie avec l âge, mais continue à altérer le fonctionnement de la personne adulte. D une manière succincte, ces manifestations pourraient être illustrées comme suit: présence de troubles cognitifs attentionnels (distractibilité, bougeotte des idées) avec la désorganisation qui s ensuit (difficulté à commencer puis à terminer les tâches, éparpillement, difficulté avec la notion de temps écoulé), impulsivité qui influence négativement la sphère du travail ainsi que celle de la vie privée et, souvent, difficulté à moduler l intensité des réponses émotionnelles. Le TDAH est considéré comme un trouble neurobiologique qui pourrait être expliqué par un dysfonctionnement de certains mécanismes de transmission de l information impliquant des neurotransmetteurs comme la dopamine et la noradrénaline. Le TDAH semble avoir dans la plupart des cas une composante génétique; plus rares seraient les situations où ce trouble est lié à des séquelles d atteintes neurologiques en bas âge (i.e. prématurité, souffrance néonatale ou maladie neurologique précoce d origine infectieuse comme la méningite). Etablir un diagnostic Comment les deux classifications mondialement connues définissent-elles le diagnostic de TDAH? Dans le Manuel Diagnostique et Statistique des troubles mentaux (DSM IV), le terme diagnostique utilisé est celui de trouble: déficit de l attention/hyperactivité (ADHD). Deux groupes de symptômes y sont illustrés: inattention et hyperactivité-impulsivité. Il y a plusieurs conditions sine qua non pour l établissement du diagnostic: ces symptômes doivent être persistants, la gêne provoquée par certains de ces symptômes doit apparaître avant l âge de 7 ans et cette gêne fonctionnelle doit être présente dans deux environnements différents ou plus (par ex. travail, maison). Il faut en outre mettre en évidence une altération cliniquement significative du fonctionnement social, scolaire ou professionnel. L ADHD est divisé en trois sous-types cliniques: un déficit de type mixte ou combiné, un déficit de type inattention prédominante et un troisième déficit de type hyperactivité/impulsivité prédominante. Par contre, dans la Classification statistique Internationale des Maladies et des problèmes de santé connexes (CIM 10), le terme diagnostique utilisé est celui de troubles hyperkinétiques (THK), dont les critères ressemblent plus au déficit de type mixte ou combiné dans le DSM IV. En effet, doivent être présents simultanément des symptômes d inattention, d hyperactivité et d impulsivité. Dans les THK, on trouve quatre sous-catégories: perturbation de l activité et de l attention; trouble hyperkinétique et trouble des conduites; autres troubles hyperkinétiques; trouble hyperkinétique sans précision. Il est intéressant de souligner que, dans les deux clas-

18 Photo: Elena Martinez 18 DOSSIER: TDAH chez l adulte sifications, les mêmes critères du TDAH sont utilisés, autant pour l enfant que pour l adulte. En dehors de ces deux classifications, il existe d autres critères diagnostiques complémentaires auxquels le clinicien peut se référer, à savoir les critères de l UTAH (inspirés par le DSM IV), qui mettent en évidence l aspect plus émotionnel du syndrome à l âge adulte. En effet, à côté des trois symptômes cardinaux du DSM IV (difficultés attentionnelles, impulsivité et hyperactivité), nous retrouvons quatre autres caractéristiques: intolérance au stress, labilité émotionnelle, tempérament bouillant et difficulté de planification et d organisation. Quid des adultes non diagnostiqués? Le TDAH a une prévalence de 4% auprès de la population adulte: qu en est-il des adultes qui n ont pas été diagnostiqués pendant leur enfance? Un certain nombre d entre eux découvriront souffrir de TDAH suite à la détection de ce trouble auprès de leurs enfants, d autres se poseront la question en lisant un article sur le TDAH. D autres encore consulteront parce qu ils présentent un problème psychiatrique et découvriront ainsi que leur malaise fait partie de la constellation symptomatique du TDAH. Face à une personne adulte auprès de laquelle on suspecte un TDAH, le clinicien devra jouer l archéologue et recoller attentivement tous les morceaux de l histoire longitudinale du patient, afin d en obtenir une anamnèse rigoureuse. Il explorera méticuleusement son développement pendant l enfance, ainsi que son cheminement scolaire. Il cherchera la présence des symptômes du TDAH avant l âge de 7 ans, de même qu une persistance de ces derniers jusqu à l âge adulte. Pour ce faire, plusieurs questionnaires existants pourraient lui être utiles (Wender-UTAH, Brown ADD Scale, Conners, Barkley). Une probable recrudescence des difficultés de concentration et d attention pourra être mise en évidence au début de l âge adulte, moment où les obligations et les responsabilités augmentent. Il est important de préciser que la réussite sociale et professionnelle n excluent pas d emblée le TDAH, car les capacités d adaptation permettent à l adulte de développer des stratégies qui compensent le déficit (par ex. usage intensif de l agenda ou de listes écrites). Mais le surinvestissement, par exemple dans la sphère professionnelle, aura des répercussions négatives dans la sphère privée. Voilà pourquoi le clinicien devra également évaluer l incidence actuelle des symptômes du TDAH sur les interactions familiales et so ciales du patient. En effet, il est fréquent de relever une vie sentimentale chaotique, ainsi qu un nombre de changements de lieu de travail et de déménagements au-dessus de la moyenne. Il est souhaitable de compléter les informations fournies par le patient avec un de ses proches le connaissant de longue date.

19 Difficultés du travail Ce qui rend le travail du clinicien difficile est qu un certain nombre de symptômes appartenant à des troubles psychiatriques se superposent à ceux du TDAH. De plus, environ la moitié des adultes atteints de TDAH présentent également des troubles psychiatriques concomitants, tels que des troubles d apprentissage, des troubles anxieux, des troubles de l humeur et des troubles liés à la consommation d alcool et de drogue. Regardons de plus près ces troubles comorbides. Le TDAH n est pas un trouble d apprentissage, mais 40 à 70% des enfants atteints de TDAH présentent des troubles de l apprentissage. Les difficultés occasionnées par ces troubles à l école peuvent continuer à poser des problèmes à l âge adulte. Des arrangements et un encadrement spéciaux peuvent s avérer utiles pour surmonter ce type de problèmes (par ex.: certains de ces patients à l âge adulte utilisent un clavier plutôt que d écrire à la main). Les recherches estiment qu environ un adulte sur deux atteints de TDAH peut présenter également une forme de trouble anxieux (trouble d anxiété sociale, trouble obsessionnel compulsif, syndrome post-traumatique) et donc être sujet à des sentiments de peur, d inquiétude ou de panique extrême, avoir des obsessions ou des compulsions. Le patient ayant un tableau clinique d anxieux performant devrait également être évalué avec vigilance, car il pourrait s agir d un TDAH. Les troubles de l humeur sont très fréquents chez les personnes atteintes de TDAH, puisque certains neurotransmetteurs en cause dans la dépression (noradrénaline, dopamine) le sont aussi dans le TDAH. Cela n empêche pas que les personnes avec TDAH sont souvent confrontées à l échec, ce qui est source de découragement. Les patients dépressifs, tout comme les patients souffrant de TDAH, peuvent avoir des difficultés à s alimenter correctement, à dormir et à se concentrer. Une différence entre ces deux types de troubles tient au fait que les personnes dépressives ont tendance à avoir continuellement des pensées négatives. Dans le TDAH, on retrouve plusieurs symptômes qui peuvent également se chevaucher avec le trouble bipolaire: un débordement soudain d énergie, une irritabilité marquée et un moindre besoin de sommeil peuvent aussi être les signes d une manie qui est circonscrite dans le temps, au contraire du TDAH qui s inscrit dans le long terme. Enfin, chez les adultes atteints de TDAH non diagnostiqué, l abus de substances, ainsi que la dépendance à l alcool, est de deux à trois fois plus élevé. Ces mêmes sujets peuvent s automédiquer avec des psychostimulants en vente libre (caféine, nicotine) ou en ayant recours au cannabis ou à la cocaïne. Complément au diagnostic Un examen neuropsychologique nous permet également de mieux qualifier et quantifier les atteintes cognitives et donc de confirmer ou d éliminer d autres diagnostics possibles. Bien évidemment un examen neurologique peut aussi être envisagé, afin d exclure toute une série de problèmes qui peuvent ressembler au TDAH chez l adulte, ou être la cause de l inattention ou de l hyperactivité (par ex. hyperthyroïdisme, épilepsie partielle, trouble de l audition, maladie hépatique, apnée du sommeil, interactions médicamenteuses). Etant donné la complexité du tableau clinique du TDAH chez l adulte, une approche pluridisciplinaire pour l établissement du diagnostic (on ajoute: «a posteriori») semble incontournable. Les traitements Une fois le diagnostic avéré, il faut mettre en place un traitement pour aider la personne adulte avec TDAH à améliorer son quotidien. Plusieurs traitements pharmacologiques sont aujourd hui disponibles sur le marché, mais il faut préciser que chaque cas doit être évalué singulièrement. En utilisant l image d Annick Vincent, experte québécoise dans le domaine du TDAH, la médication agirait comme une paire de lunettes biologiques qui permettraient d améliorer la capacité du cerveau à faire le focus. Par ailleurs, la grande quantité de littérature scientifique qui s est développée à ce sujet nous suggère que, pour avoir un plus grand succès dans le traitement du TDAH à l âge adulte, ce traitement devrait être constitué non seulement de médicaments (qui diminuent considérablement les symptômes), mais aussi par des prises en charge spécifiques. En un mot the pill does not replace the skill or the will. Le premier pas obligatoire est la psycho-éducation: informer le patient de la nature et des conséquences de son trouble, sensibiliser également son entourage, ainsi que rendre le patient proactif dans la recherche d informations sur le sujet. Rejoindre une des différentes associations de personnes atteintes de TDAH peut également aider le patient à considérer sa maladie comme un défi plutôt que comme une fatalité. Il existe à l heure actuelle plusieurs manuels d auto-assistance (selfhelpbook) qui donnent des conseils pour mieux gérer son quotidien. Les mots-clés sont: organisation et structuration. Par exemple, pour favoriser l organisation du travail, il faut d abord comprendre dans quelles conditions la personne travaille le mieux (avec ou sans musique, une ou plusieurs tâches devant les yeux, etc.) afin de réduire les distracteurs. Pour favoriser l organisation du temps, il faut d abord le concrétiser (par ex. avec un sablier, une montre, une alarme sonore) et ensuite le structurer en utilisant des listes, des mémos, des agendas. Il est également très utile de partager une 19

20 20 DOSSIER: TDAH chez l adulte tâche en plusieurs étapes et de se donner des échéances raisonnables pour chaque étape. Souvent, les patients préfèrent s adresser à un professionnel, car cela a l avantage d un côté de se faire aider pour trouver et développer des stratégies personnalisées, et de l autre d avoir un support pour leur mise en place. L idée étant que la personne puisse devenir progressivement indépendante dans la recherche et la mise à jour de ces stratégies. A côté du coaching pour l organisation et la structuration des différentes activités, il est souvent conseillé d entreprendre une psychothérapie. L approche du TDAH devrait être structurée, concrète et applicable au quotidien. Les différentes recherches suggèrent que l approche cognitivo-comportementale a un bon répondant auprès de ces patients. Le travail sur l estime de soi, qui est très souvent atteinte chez les adultes ayant un TDAH, joue un rôle important. Il est également très utile de travailler sur la gestion des émotions et la résolution des problèmes. Pour terminer, un aspect me paraît des plus centraux: lorsqu on interagit avec une personne atteinte de TDAH, il faut s assurer de capter toute son attention au travers du contact visuel, sonore et tactile. Samuela Varisco Gassert Bibliographie Une bibliographie plus complète peut être obtenue auprès de l auteure. Fallu, A. Richard, C. & Vincent, A. (2000). Le trouble déficitaire de l attention/hyperactivité chez l adulte (T:DA/H). Le clinicien, * *critères UTAH Kessler, R.C., Adler, L., Barkley, R. et al. (2006). The prevalence and correlates of adult ADHD in the United States: Results from the National Comorbidity Survey Replication. AmJPsychiatry, (4), Todd, R.D., Huang, H., & Henderson, C. A. (2008). Poor utility of the age of onset criterion for DSM-IV attention deficit/hyperactivity disorder: recommendations for DSM- V and ICD-11. Journal of Child Psychology and Psychiatry 49(9), Weiss, M., Safren, S., A., Solanto, M. V. et al. (2008). Research Forum on Psychological Treatment of Adults with ADHD. J. of Att. Dis., 11 (6), Vincent, A. (2007). Mon cerveau a encore besoin de lunettes. Québec: Impact! Editions. L auteure Samuela Varisco Gassert a fait ses études de psychologie aux universités de Lausanne, Bologne et Genève. Après avoir obtenu son Diplôme en Psychologie, elle a travaillé pendant 5 ans auprès des Hôpitaux Universitaires de Genève, à l Unité de Psychiatrie du Développement Mental. C est dans ce contexte qu elle a entrepris et obtenu le Diplôme de Psychothérapie cognitivo-comportementale (ASPCo). A l heure actuelle elle collabore avec deux cabinets privés à Bellinzone et à Zurich. Elle travaille aussi bien avec des enfants qu avec des adultes. Adresse Samuela Varisco Gassert, psych. dipl. FSP, c/o Studio di psicologia e di psicoterapia di Francesca Leonardi Rizzi, Via Camminata 9, 6500 Bellinzona. samuela.varisco@gmail.com. Zusammenfassung Die Aufmerksamkeitsdefizit/-Hyperaktivitätsstörung ADHS kann als neurobiologische Störung bezeichnet werden, die vorwiegend genetisch verursacht zu sein scheint. Deren Symptomatik verändert sich dabei zwar mit dem Alter, beeinträchtigt aber dennoch auch noch das Funktioneren der erwachsenen Person. Der Artikel der FSP-Psychologin Samuela Varisco Gassert versteht sich als Ausgangspunkt einer vertieften Reflexion zur ADHS-Diagnostik bei Erwachsenen, für die ein interdisziplinärer Zugang vorrangig zu sein scheint. Darauf gestützt können dann geeignete Massnahmen entwickelt werden, um die Lebensqualität bzw. den Alltag der Betroffenen zu verbessern.