Zur Kritik des (berufsschulischen) Übergangssystems
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- Hetty Böhmer
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1 Zur Kritik des (berufsschulischen) Übergangssystems Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung Christian Schmidt 1
2 Gliederung 1. Das Übergangssystem als Krisensymptom 2. Übergänge in und aus dem Übergangssystem 3. Benachteiligtengruppen im Übergangssystem 4. Bedeutung aus berufspädagogischer Perspektive 5. Auswirkung auf die berufsbildenden Schulen Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 2
3 1. Das Übergangssystem als Krisensymptom Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 3
4 Das Übergangssystem als Krisensymptom Definition Übergangssystem: Bildungsgänge und Maßnahmen, die nicht zum allgemeinbildenden Schulsystem gehören, Jugendliche ohne Ausbildung aufnehmen und selbst keinen berufsbildenden Abschluss vermitteln (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 79)»Übergangssystem«bedeutet auch: Integration in qualifizierte Arbeit gelingt nur über reguläre Ausbildung große Zahl von Jugendlichen kann nicht direkt in eine reguläre Ausbildung übergehen, verleibt in vorgelagertem Segment Übergangssystem beschränkt auf kompensatorische und berufsvorbereitende Funktionen Übergangssystem ist kein System (historisch, institutionell, didaktisch, finanzierungstechnisch) Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 4
5 Das Übergangssystem als Krisensymptom Soll Jugendliche integrieren, ist aber ausgegliedert, strukturell heterogen, kein System Verdacht: Übergangssystem kann daher nicht seine Aufgabe erfüllen Vorgelagerte Frage: Warum erfüllt die berufliche Ausbildung diesen Anspruch nicht mehr, sodass ein Übergangsystem entsteht? Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 5
6 Das Übergangssystem als Krisensymptom Normalbiografie und soziale Integration institutionalisierter Lebenslauf (vgl. Kohli 2003) Integration in Erwerbsarbeit als Ziel»Normalarbeitsorientierung des deutschen Wohlfahrtsregimes führt zu einer besonders hohen Integrationsverpflichtung institutionellen Handelns«(Stauber/ Walther 1999: 29) Duale Ausbildung als nahtloser»übergang in eine berufsförmige Produktionsund Sozialverfassung«(Ostner 1997: 77) Übergangssystem an»normalisierung«des Lebensverlaufs orientiert (vgl. Stauber/Walther 1999: 29) Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 6
7 Das Übergangssystem als Krisensymptom Destandardisierung und Individualisierung Erosion des Normalarbeitsverhältnisses (2007: 35,7% in atypischen Beschäftigungsverhältnissen; Arlt/Dietz/Walwei 2009) längerer Verbleib in Bildungsinstitutionen Späterer Einstieg in die Erwerbstätigkeit steigender Anteil von Jugendlichen, die mehr als eine Ausbildung absolvieren Individuum muss Vergesellschaftung selbst steuern Bastel- oder Bruchbiographie (Beck/Beck-Gernsheim 1994) Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung Christian Schmidt 7
8 Das Übergangssystem als Krisensymptom Krise des Ausbildungsstellenmarktes Große Alterskohorten treffen auf abnehmendes Angebot Höchststand 1984: in Westdeutschland; 2010: im gesamten Bundesgebiet (vgl. Baethge/Solga/Wieck 2007: 25) Anstieg der AltbewerberInnen Anstieg der SchülerInnenzahlen im Übergangssystem von 1992 bis 2005, seither rückläufig Primär konjunkturelles oder strukturelles Problem? Studie Dietrich/Gerner (2007): Konjunktur und struktureller Wandel beeinflussen Ausbildungsstellenangebot Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 8
9 2. Übergänge in und aus dem Übergangssystem Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 9
10 Übergänge in und aus dem Übergangssystem Selektionsprozesse: Erster Schritt Ausbildungsplatz ja/nein (Eignungstests/Ausbildungsreife) Zweiter Schritt: welche Schulform im Übergangssystem (gestaffelt nach vorhandenem Schulabschluss, unterschiedliche Schulformen mit unterschiedlichen Berufsfeldern, Eignungsanalyse der BA) Dritter Schritt: nach Schulabschlüssen segregierter Ausbildungsstellenmarkt Vierter Schritt: Selektionsprozesse an der zweiten Schwelle Drei Jahre nach Ausbildungsabschluss 70% der Absolventen integriert beschäftigt, 20% prekär beschäftigt, 10% arbeitslos (vgl. Dorau 2010) Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 10
11 Übergänge in und aus dem Übergangssystem Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung Christian Schmidt 11
12 Übergänge in und aus dem Übergangssystem Anfänger im Ausbildungsgeschehen 2010 Sektor Schülerzahlen Veränderung 2005 bis 2010 Berufsausbildung (dual + vollschulisch) ( dual) -1,8% (-1.4% dual) Übergangssystem ,5% Erwerb HZB ,9% Studium ,8% Insgesamt ,7% Quelle: Stat. Bundesamt 2011 Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung Christian Schmidt 12
13 Übergänge in und aus dem Übergangssystem Übergangsquoten in betriebliche Ausbildung drei Monate nach Abschluss: BVJ/BvB: 29% BGJ: 37% BFS: 31% (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 168) Nach einem Jahr: BVJ/BvB: 50% BGJ: 63% BFS: 57% Nach drei Jahren: BVJ/BvB: 61% BGJ: 83% BFS: 69% (vgl. Beicht 2009: 9) Übergangschancen steigen, je höher der Bildungsabschluss Unterschiedliche Interpretation der Übergangsquoten Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 13
14 Duale Ausbildung: Erosion am Rande? Bei rückläufigen Jahrgangsstärken: a) Funktionsprobleme am unteren Rand: schwächere Jugendliche verbleiben im Übergangssystem Statuspassage von Bildungsphase in Erwerbsphase wird prekär Nimmt das Übergangssystem weiterhin ab? Öffnet sich die duale und vollschulische Ausbildung nach unten? b) Wettbewerb am oberen Rand: Anteil der Hochschulzugangsberechtigten steigt 3 Jahre Berufsausbildung vs. 3 Jahre Bachelor geringe Durchlässigkeit zur Hochschule Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung Christian Schmidt 14
15 3. Benachteiligtengruppen im Übergangssystem Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 15
16 Benachteiligtengruppen im Übergangssystem Jugendliche mit Migrationshintergrund Anteil der Auszubildenden mit ausländischem Pass rückläufig Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Übergangssystem hoch schlechtere Schulabschlüsse (Beicht/Friedrich/Ulrich 2008) diskriminierende Selektionsprozesse durch Ausbildungsbetriebe bei gleichen Leistungsvoraussetzungen Nach dem Übergangssystem Chancen um 40% geringer (vgl. Beicht 2009: 11f.) Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 16
17 Benachteiligtengruppen im Übergangssystem Genderaspekte Männlich dominierte duale Ausbildung Weiblich dominierte vollschulische Ausbildung Elend der jungen Männer (Baethge/ Solga/ Wieck 2007) mehr junge Männer mit niedrigen Schulabschlüssen als junge Frauen größeres Risiko des Verbleibs im Übergangssystem höhere Jugendarbeitslosigkeit bei jungen Männern Dienstleistungsorientierung kommt jungen Frauen entgegen (vgl. Schlüter 2009: 285ff.) Segmentation wird im Übergangssystem nachvollzogen Übergangssystem fördert junge Frauen nicht besser als junge Männer 17
18 4. Bedeutung aus berufspädagogischer Perspektive Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 18
19 Bedeutung aus berufspädagogischer Perspektive Anspruch: Bildungsmöglichkeit für Jugendliche, die»zur Praxis und zur Erwerbsfähigkeit hindrängen«(spranger 1963: 183) Zugang zum Beruf als»medium humaner Personwerdung«(Blankertz 1975: 2)»etwa 2/3 eines Altersjahrgangs zu bedienen, nämlich all diejenigen Jugendlichen, die nicht zu allgemeinen oder beruflichen Vollzeitschulen oder zu den Hochschulen gehen«(lipsmeier 1996: 4) Realität: Doppelte Herausforderung beruflicher Bildung: marktgesteuerte Ausbildung für Facharbeiterpositionen Integration und Bildung großer Anteile von Jugendlichen ohne Hochschulzugang Übergangssystem Krisensymptom für die Unvereinbarkeit beider Ansprüche Verschärfung des Problems durch Rückgang ungelernter Arbeit Übergangssystem einzige große Systemveränderung der letzten Jahrzehnte Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 19
20 Bedeutung aus berufspädagogischer Perspektive sozialintegrative Funktion der dualen Erstausbildung steht zur Disposition Übergänge in duale Ausbildung als Zielkategorie unzureichend Scheitern an jeder Schwelle im Übergang in Erwerbstätigkeit möglich Statuslücke zwischen Bildungsphase und Erwerbstätigkeit (Abschluss der Hauptschule mit 16 bis 17Jahren, durchschnittlicher Eintritt in berufliche Bildung mit 19,6 Jahren) Übergangssystem als Krisensymptom destandardisierter Statuspassage gleichzeitig bleibt Normalbiografie Zielvorstellung (vgl. Stauber Walther 1999) Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 20
21 Bedeutung aus berufspädagogischer Perspektive Stellt das Übergangssystem einen Teilbereich beruflicher Bildung dar, der systematisch Übergänge in eine reguläre Ausbildung ermöglicht? Abgangsselektion Niedrige Übergangsquoten Risikogruppen an der ersten Schwelle Kann das Übergangssystem die Übergangschancen benachteiligter Personengruppen (z. B.: Jugendliche mit Migrationshintergrund, junge Frauen) nachhaltig verbessern? Abgangsselektion verbessert die Chancen nicht nachhaltig (aber Erwerb von Schulabschlüssen) Gelingt der Versuch einer sozialen Integration durch das Übergangssystem? Orientierung Normalbiografie als Zielkategorie schwierig Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 21
22 5. Auswirkungen auf die berufsbildenden Schulen Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung Christian Schmidt 22
23 Heterogenität der Bildungsgänge 23
24 Heterogenität der Bildungsgänge 24
25 Heterogenität der Bildungsgänge 25
26 Heterogenität der Bildungsgänge 26
27 Heterogenität der Bildungsgänge 27
28 Heterogenität der Abschlüsse 28
29 Heterogenität der Abschlüsse 29
30 Ambivalente Ziele/ambivalentes Selbstverständnis der Lehrenden Cooling out oder Bestätigung unrealisitischer Berufsvorstellungen? Defizitorientierung oder Lebensweltorientierung? Berufsvorbereitung oder Berufsgrundbildung? Strafkolonie oder gleichberechtigter Profilierungs- und Entwicklungsbereich der berubsb. Schulen? Vermittlung allg. Abschlüsse Positivbeispiel InLab Fokus: Kompetenzerwerb Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung Christian Schmidt 30
31 Fazit Übergangssystem kann Chancen eröffnen (hauptsächlich über Erwerb von Schulabschlüssen) Übergangssystem als Krisensymptom: Dauerhafte Veränderung berufsbildender Schulen Problem: keine eigenständige berufsqualfizierende Funktion, stattdessen Übergänge in richtige Ausbildung Berufsvorbereitung, Berufsgrundbildung, erweiterte berufliche Kenntnisse als unbestimmte Zielkategorien Zertifizierter Kompetenzerwerb als Alternative? Wie kann man gering qualifizierten Jugendlichen durch tätigkeitsbasierte Qualifikationsmodelle Kompetenzen vermitteln, die sie zur Bewältigung einer Bastelbiografie im Sinne Becks befähigen? Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung Christian Schmidt 31
32 Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit! Universität Duisburg Essen - Fachgebiet Berufspädagogik/Berufsbildungsforschung - Christian Schmidt 32
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