Herausgegeben von Thomas Spitzley und Ralf Stoecker
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- Jakob Winter
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1 Herausgegeben von Thomas Spitzley und Ralf Stoecker In der Reihe map mentis anthologien philosophie erscheinen in regelmäßigen Abständen Studienbücher zu systematischen philosophischen Themen Getreu der mit dem Reihentitel map verknüpften Landkartenassoziation enthält jeder Band eine für das jeweilige Thema repräsentative Auswahl von (gegebenenfalls übersetzten) Texten Um die Benutzung von Sekundärliteratur zu erleichtern, sind alle Übersetzungen um die Originalpaginierungen ergänzt Außerdem umfasst jeder Band eine ausführliche Einleitung sowohl in das Thema als auch in die ausgewählten Texte, eine Auswahlbibliographie, sowie ein Sach- und ein Personenregister Aufgrund ihres Aufbaus, Umfangs und Preises können die Bände gut als Textgrundlage für Anfänger- oder Fortgeschrittenenseminare dienen oder auch zur eigenständigen Einarbeitung in das Thema verwendet werden Zuletzt erschienen: Ralf Stoecker (Hrsg): Handlungen und Handlungsgründe ISBN Mark Textor (Hrsg): Neue Theorien der Referenz ISBN Thomas Spitzley (Hrsg): Willensschwäche ISBN Weyma Lübbe (Hrsg): Tödliche Entscheidung Allokation von Leben und Tod in Zwangslagen ISBN Michael Hampe (Hrsg): Naturgesetze ISBN Sven Walter (Hrsg): Vagheit ISBN Markus Stepanians (Hrsg): Individuelle Rechte ISBN
2 Albert Newen Joachim Horvath (Hrsg) Apriorität und Analytizität PADERBORN
3 Albert Newen / Joachim Horvath Apriorität und Analytizität: Zwei Grundbegriffe der Philosophie und ihre Entwicklung Eine Einleitung 1 Das Phänomen Ausgangspunkt der Diskussion ist die Beobachtung, dass die erste und die zweite Klasse der folgenden Sätze intuitiv ganz wesentlich verschieden sind: (1a) Junggesellen sind unverheiratet (1b) Es regnet oder es regnet nicht (1c) 5+7=12 (2a) Peter ist ein Junggeselle (2b) Essen ist die Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2010 (2c) Angela Merkel ist eine Christdemokratin Die Sätze der ersten Klasse lassen sich offenbar unabhängig von einer Untersuchung des tatsächlichen Zustands der Welt als wahr erkennen; dagegen sind wir für die Bewertung von Sätzen der zweiten Klasse in jedem Fall auf Erfahrungen über den gegenwärtigen Weltzustand angewiesen Die Unabhängigkeit von der Erfahrung beim Feststellen der Wahrheit (oder Falschheit) eines Satzes weist diesen als aprioriaus, während wir ihn bei einer Abhängigkeit von der Erfahrung als a posteriori bezeichnen Nach der klassischen Auffassung gehören zu den apriorischen Sätzen vor allem begrifflich wahre Sätze wie (1a), logische Sätze wie (1b) und mathematische Sätze wie (1c) Allerdings stellen gerade mathematische Sätze einen sehr umstrittenen Fall dar, wie wir noch sehen werden Daher besteht die philosophische Herausforderung darin, die zentralen Merkmale für die Unterscheidung der beiden Satzklassen zu finden und dabei auch die erste grobe Einteilung noch weiter zu differenzieren Gleich zu Beginn sei auf eine Klasse von Sätzen hingewiesen, die wir unabhängig von Erfahrung als wahr bewerten können, die jedoch wesentlich davon abhängig sind, dass unsere Welt eine bestimmte Struktur hat Diese theoretisch in den Griff zu bekommen, fällt von Anfang an schwer, weshalb sie neben den mathematischen Sätzen eine besondere Herausforderung darstellen, die bis in die gegenwärtige Debatte hineinragt Beispiele für solche Sätze sind: 9
4 ALBERT NEWEN / JOACHIM HORVATH (3a) Ein Gegenstand, der vollständig rot ist, ist nicht blau (3b) Ein Gegenstand, der unter bestimmten Bedingungen zu einem Zeitpunkt 1 m lang ist, ist nicht gleichzeitig unter denselben Bedingungen 2 m lang Der Satz vom Farbenausschluss (3a) scheint nicht eine rein sprachliche Eigenschaft einzufangen, sondern erweist sich als wesentlich von der Art und Weise bestimmt, wie sich Farben in der Welt verhalten Trotzdem können wir ihn ohne eine spezifische Erfahrung des gegenwärtigen Weltzustands als wahr erkennen Die Herausforderung besteht nun darin, eine theoretische Erklärung für diese scheinbar»mysteriöse«form der Welterkenntnis zu finden 2 Die Grundlinien der Entwicklung Bevor die ausgewählten Autoren der Reihe nach kurz vorgestellt werden, möchten wir zunächst den roten Faden der historischen Entwicklung skizzieren: Sie beginnt mit einer Hervorhebung der Unterscheidung von a priori und a posteriori in der frühen Neuzeit durch John Locke, Gottfried Wilhelm Leibniz und David Hume Ein Satz ist a priori wahr (bzw falsch), wenn man ihn unabhängig von der Erfahrung als wahr oder falsch bewerten kann Entsprechend ist eine Erkenntnis genau dann eine Erkenntnis a posteriori, wenn sie nur mit Hilfe von Erfahrung als wahr oder falsch bewertet werden kann Beispielsweise ist der Satz»Junggesellen sind unverheiratet«aprioriwahr, weil das bloße Satzverständnis ohne weitere Erfahrung genügt, um seine Wahrheit zu erkennen»angela Merkel ist eine Christdemokratin«ist dagegen a posteriori wahr, weil wir über das Satzverständnis hinaus Informationen über die Parteizugehörigkeit von Frau Merkel benötigen, um den Satz als wahr bewerten zu können Selbstverständlich führen die Verneinungen dieser Sätze entsprechend zu Falschheiten, ohne dass ihr Status als a priori oder a posteriori sich dabei ändern würde, zb ist»junggesellen sind verheiratet«eben a priori falsch Diese Grundideen haben einen wichtigen Ausdruck in Leibniz und Humes Unterscheidung von Vernunftwahrheiten, die a priori sind, und Tatsachenwahrheiten, die a posteriori sind, gefunden Die Frage, welches die Entitäten sind, denen man Apriorität sinnvoll zuschreiben kann, wird in diesen Texten nur grob beantwortet: Es werden sowohl Sätze, Äußerungen, Urteile, Erkenntnisse und Gedanken genannt Welche Entitäten dabei als die primären Träger von Apriorität zu verstehen sind, ist eher eine Frage der Philosophie des Geistes oder der Erkenntnistheorie, die vor allem den Zusammenhang von Sprache und Denken betrifft Dieser Aspekt soll hier jedoch weitgehend im Hintergrund bleiben Wir werden daher meist von Sätzen sprechen, weil dies in weiten Teilen der gegenwärtigen Debatte die übliche Praxis ist Auch wenn die Begriffe analytisch und synthetisch (wie auch notwendig und kontingent) schon bei den neuzeitlichen Autoren vor Kant Anwendung finden, so werden sie noch nicht scharf von Apriorität unterschieden (Ausnahme: Leibniz, su) In jedem Fall aber gebührt Kant die Ehre, eine erste unabhängige Definition von»analytisch/ 10
5 EINLEITUNG synthetisch«geliefert zu haben Damit hat er einen Standard für die philosophische Begrifflichkeit geschaffen, der bis in die Mitte des 20 Jahrhunderts als Orientierungsmarke galt Ein Satz heißt bei ihm analytisch, wenn das Prädikat im Subjekt des Satzes schon enthalten ist bzw synthetisch, wenn dies nicht der Fall ist: Der Satz»Junggesellen sind unverheiratet«ist analytisch, weil das Prädikat eine definierende Eigenschaft von Junggesellen (als der vom Subjekt des Satzes bezeichneten Klasse) ausdrückt Analytische Sätze sind stets auch a priori, denn wenn das Prädikat im Subjekt enthalten ist, dann ist der Satz unabhängig von Erfahrung als wahr (bzw als falsch) erkennbar Im Fall von synthetischen Sätzen finden wir bei Kant jedoch beide Möglichkeiten, nämlich dass es synthetische Sätze sowohl a priori als auch a posteriori gibt Ein synthetischer Satz a posteriori ist zb die Feststellung»Angela Merkel ist eine Christdemokratin«Warum der Satz a posteriori ist, haben wir bereits weiter oben verdeutlicht Synthetisch ist er deshalb, weil es nicht definierend für Angela Merkel ist, eine Christdemokratin zu sein Von entscheidender theoretischer Bedeutung sind für Kant jedoch die synthetischen Sätze apriori, wie zb»alles, was geschieht, hat eine Ursache«Der Satz ist a priori, weil er für Kant unabhängig von Erfahrung als wahr bewertet werden kann, jedoch ist die Eigenschaft, eine Ursache zu haben, nicht definierend für Ereignisse als solche, dh der Satz ist synthetisch und liefert eine Erkenntnis, die über einen rein begrifflich-analytischen Zusammenhang hinausgeht Es handelt sich gemäß Kant damit um eine ausgezeichnete Klasse von Sätzen (bzw Urteilen), die einerseits informativ, aber andererseits trotzdem unabhängig von Erfahrung sind Seine Transzendentalphilosophie sieht die Aufgabe der Philosophie darin, zu erklären, wie synthetische Urteile a priori möglich sind Der von Kant geschaffene Standard ist in der Folge von Frege und Ayer in unterschiedlicher Weise weiterentwickelt bzw philosophisch genutzt worden Frege hat eine modifizierte Definition für»analytisch«vorgeschlagen, sein Hauptkritikpunkt an Kant bestand aber in dessen Einordnung der mathematischen Sätze als synthetisch a priori Frege dagegen möchte vor allem die arithmetischen Sätze als analytisch ausweisen, und zwar indem er die Grundelemente der Arithmetik die natürlichen Zahlen auf logische Begriffe zurückzuführen versucht (der so genannte Logizismus in der Philosophie der Mathematik) Ayer hat für den Begriff des Analytischen die Erläuterung»wahr (bzw falsch) aufgrund von Bedeutung«etabliert Auf dieser Grundlage beabsichtigt er, im Geiste des logischen Empirismus, die Kantische Dimension eines synthetischen Apriori zurückzuweisen: Alle Sätze, die wir a priori als wahr oder falsch bewerten können, sind gemäß Ayer zugleich analytisch Es ist damit für ihn nicht nur so, dass alle analytischen Sätze zugleich a priori sind (wie auch für Kant), sondern auch umgekehrt alle a priori erkennbaren Sätze analytisch sind Der theoretische Spielraum für synthetische Sätze a priori geht damit vollständig verloren Für den logischen Empiristen Ayer gibt es somit nur analytische Sätze a priori und synthetische Sätze a posteriori In diesen Diskussionskontext fällt Willard VO Quines berühmte Radikalkritik an den Begriffen»analytisch«und»a priori«er will dabei vor allem zeigen, dass diese Begriffe philosophisch nicht hinreichend fundiert sind Wenn wir versuchen, den Begriff des Analytischen zu erläutern, benötigen wir immer schon entweder den Synonymie-Begriff oder andere verwandte Terme wie»bedeutung«oder»definition«quine argumentiert 11
6 ALBERT NEWEN / JOACHIM HORVATH nun, dass diese Begriffe, die uns beim Verständnis von»analytisch«weiterhelfen sollen, erstens mindestens ebenso erläuterungsbedürftig sind und zweitens, dass sie sich bestenfalls wechselseitig bzw mit Hilfe des Ausgangsbegriffs der Analytizität definieren lassen Somit bleiben wir entweder im Bereich unzureichender Begriffsklärungen stehen oder geraten in einen Zirkel von verwandten Termen In jedem Fall sollten wir so Quines Schlussfolgerung diese Begriffe vermeiden, da sie uns derart unklar bleiben Dieser Verzicht auf die Unterscheidung von»analytisch/synthetisch«(sowie auf alle damit verwandten Begriffe, so) begründet dann die These, dass wir keine klare Trennung von sprachlichen Tatsachen und Tatsachen in der Welt vornehmen können Quine behauptet zudem, dass letztlich alle Sätze einer Sprache empirisch revidierbar sind, so dass es für ihn keine Erkenntnisse gibt, die in einem starken Sinne unabhängig von Erfahrung sind und denen im Sinne der Kantischen Unterscheidungen eine so besondere Rolle zukommt wie den synthetischen Sätzen a priori Die Quinesche Kritik ist allerdings nicht ohne Antwort geblieben Eine frühe Zurückweisung von Grice und Strawson kritisiert vor allem die überzogenen Anforderungen, die Quine an eine Begriffsklärung stellt sowie seinen radikalen Bedeutungsskeptizismus Obwohl die Quinesche Kritik sehr wirkungsmächtig war, hat sie Saul A Kripke nicht davon abgehalten, einen neuen Standard zu entwickeln, der das Kantische Begriffsraster weitgehend abgelöst hat Das oben erläuterte Kantische Verständnis von»a priori«und»a posteriori«hat er zwar in seinen Grundzügen übernommen, Kripkes neuartige und originelle Einsicht ist hingegen, dass Notwendigkeit und Kontingenz ein grundlegendes und davon unabhängiges Begriffspaar darstellen Anders als bei Kant gibt es nicht nur Sätze, die notwendig und a priori, sondern auch solche, die notwendig und a posteriori sind Entsprechend gibt es nicht nur Sätze, die kontingent und a posteriori, sondern auch solche, die kontingent und a priori sind Die entsprechenden Beispielsätze und ihre nähere Erläuterung finden Sie im Abschnitt 310 über Kripke Hier soll der Übersicht halber die Andeutung genügen, dass Kripke überzeugend deutlich gemacht hat, dass Apriorität primär eine epistemische Eigenschaft ist, die mit den Erkenntnisvoraussetzungen für das Zuordnen eines Wahrheitswertes zu einem Satz zu tun hat, während Notwendigkeit primär eine metaphysische Eigenschaft der Struktur der Menge aller möglichen Welten ist: Der von einem Satz ausgedrückte Sachverhalt ist notwendig, wenn es keine mögliche Welt gibt, in der er nicht besteht andernfalls ist er kontingent Seit Kripke ist es in der Sprachphilosophie und in der Philosophie des Geistes daher üblich geworden, Apriorität und Notwendigkeit klar zu trennen Die neuesten Diskussionen zu Apriorität und Analytizität sind exemplarisch durch relativ junge Aufsätze dokumentiert Laurence BonJour versucht dabei in seinem neorationalistischen Ansatz, Apriorität gegen die radikal-empiristische Quinesche Kritik zu verteidigen, während sich Boghossian einer Wiederbelebung des Begriffs der Analytizität verschreibt Im Folgenden finden Sie zu allen für den Band ausgewählten Autoren eine kurze Darstellung ihres Kernbeitrags zur theoretischen Entwicklung des Verständnisses von Apriorität und Analytizität bzw zur gegenwärtigen systematischen Diskussion 12
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