Angst, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden Angst zu sterben
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- Ralph Waldfogel
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2 10 Kapitel 2 Zum Verständnis von Angst 2 ler Phobie. Eine Phobie ist die ausgeprägte Angst vor Dingen oder Situationen, die in Wirklichkeit nicht gefährlich sind. Wir sprechen von einem Panikanfall, sobald vier der in der folgenden Übersicht genannten Symptome innerhalb von 10 Minuten auftreten. zz Paniksymptome Herzklopfen oder Herzrasen Schwitzen Zittern oder Beben Gefühl der Kurzatmigkeit oder Atemnot Erstickungsgefühle Schmerzen oder Beklemmungsgefühle in der Brust Übelkeit oder Magen-Darm-Beschwerden Taubheit oder Kribbeln Hitzewallungen oder Kälteschauer Schwindel, Unsicherheit, Benommenheit oder Angst, einer Ohnmacht nahe zu sein Gefühl von Unwirklichkeit oder Sich-losgelöst-Fühlen (Depersonalisation) Angst, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden Angst zu sterben Fehlinterpretation von körperlichen Beschwerden Die meisten Panikbeschwerden sind zwar körperliche Missempfindungen. Eine Leib-Seele-Wechselwirkung ist aber dadurch gegeben, dass die körperlichen Empfindungen höchst sensibel wahrgenommen und fälschlicherweise als Anzeichen für drohende Gefahr gewertet werden (z. B. Ohnmacht oder Tod durch Herzinfarkt). Die Grundlagen dieser Befürchtungen sind somit Fehlinterpretationen von körperlichen Empfindungen. Die körperlichen Symptome der Panik, auch physiologische oder vegetative Symptome genannt, weil sie überwiegend vom vegetativen oder autonomen Nervensystem gesteuert werden, sind zunächst fast nicht mit dem Willen oder Verstand zu beeinflussen (7 Abschn ). Angstsymptome kommen in ganz unterschiedlicher Zusammensetzung vor, wie die Beispiele von Arno, Nicole, Julia und Hanna zeigen. Jeder hat seine persönliche und einzigartige Ausprägung von körperlichen Angstsymptomen. Eine Panikattacke kann bis zu einer halben Stunde anhalten; meist dauert sie jedoch nur 5 10 Minuten. Länger anhaltende Angstphasen, die im Zusammenhang mit ständigem Sorgen über Krankheit, Familie, Beruf, die finanzielle Situation etc. häufiger auftreten, gibt es bei der Generalisierten Angststörung
3 Angst ohne wirkliche Gefahr (7 Abschn ). Da sie jedoch nicht so heftig sind, werden sie als Angstepisoden bezeichnet. Der erste Panikanfall tritt bei etwa einem Drittel der betroffenen Personen an öffentlichen Orten auf, bei einem weiteren Drittel während des Autofahrens und beim letzten Drittel im häuslichen Umfeld. Angstattacken sind nicht immer vorhersehbar. Solche, die unerwartet und spontan wie»aus heiterem Himmel«kommen, sind für die Betroffenen unerklärlich und damit belastender als vorhersehbare Panikzustände, die in bestimmten Angstsituationen auftreten und sich auf konkrete Auslöser oder psychologische Hinweise auf Bedrohung zurückführen lassen. Definition Eine Panikstörung liegt dann vor, wenn mindestens zweimal spontane,»situationsunabhängige«panikattacken auftreten, gefolgt von mindestens einem Monat mit anhaltender Besorgnis, einen weiteren Panikanfall zu erleiden (»Angst vor der Angst«). Sie werden begleitet von Befürchtungen hinsichtlich der Begleit- und Folgeerscheinungen solcher Angstattacken. Betroffene haben auch»situative«panikattacken, die entweder immer oder ab und zu in bestimmten Angstsituationen vorkommen. Bereits die Vorstellung einer Angstsituation kann Erwartungsangst oder gar einen Panikanfall auslösen. Voraussetzung für die Diagnose Panikstörung ist jedoch, dass weder eine lebensbedrohliche Situation noch eine medizinische Krankheit oder Substanzeinwirkung, z. B. durch Alkohol, Cannabis oder Koffein (setzt Stresshormone frei), vorliegt. Spontane und situative Panikattacken Panikstörung Panikpatienten befürchten meist Gefahr für Leib und Seele. Sie haben Angst, ohnmächtig zu werden, an Herzinfarkt oder Ersticken zu sterben oder die Kontrolle über sich zu verlieren. Im Gegensatz zum Hypochonder, der trotz anders lautender Beteuerungen der Ärzte ständig davon überzeugt ist, eine oder zwei ernsthafte Krankheiten zu haben, mit denen er sich wie Molières eingebildeter Kranker immerzu beschäftigt, ist ein Angstpatient nur während des Angsterlebens davon überzeugt, ernsthaft gesundheitlich gefährdet zu sein. Er kommt wieder zur Vernunft, sobald die Angst vorbei ist oder ein Arzt ihm versichert, dass keine Gefährdung für Leib und Leben vorliegt zumindest bis zum nächsten Panikanfall. Im Ruhezustand sieht ein Panikpatient im Gegensatz zum Hypochonder ein, dass seine Angst unbegründet ist. Etwas über 20 % der Panikpatienten leiden an einer reinen Panikstörung, bei der fast nur spontane, unerwartete Panikatta- Keine Hypochondrie
4 12 Kapitel 2 Zum Verständnis von Angst 2 cken vorkommen. Sie vermeiden nichts oder nur ganz wenig. Der größere Teil der Patienten mit Panikstörung hat zusätzlich noch eine Agoraphobie und/oder eine Depression. Ein schleichender Beginn ist bei Panikstörung eher selten. In der Mehrzahl der Fälle beginnt Panikstörung (mit oder ohne Agoraphobie) mit einem einzigen»traumatisierenden«angstanfall. Die Befürchtung weiterer Panikattacken führt bei vielen allmählich zur Vermeidung von verschiedenen Angstsituationen (Agoraphobie). Agoraphobie Definition Die Angst vor Situationen, die nicht wirklich gefährlich sind, und das Vermeiden dieser Situationen wird als Agoraphobie bezeichnet. Hauptmerkmal der Agoraphobie ist die Angst, in Situationen zu geraten, in denen Paniksymptome wie Schwindel oder Kurzatmigkeit auftreten und zu einem Panikanfall führen, eine Flucht schwierig oder unmöglich und Hilfe nicht verfügbar ist. Agoraphobische Ängste werden oft von der Befürchtung begleitet, der Situation alleine, ohne eine Sicherheit vermittelnde Person ausgeliefert zu sein. Agoraphobie ist in den meisten Fällen eine Folgeerscheinung von Panikattacken. Phobien werden oft durch konkrete Auslöser hervorgerufen, z. B. durch das Betreten eines Fahrstuhls. Panik bricht häufig wie ein Sommergewitter aus heiterem Himmel aus. Nur die Auslöser unterscheiden sich bei panischen und phobischen Angstanfällen, die Angstsymptome sind dieselben (vgl. Panikattacke, 7 Abschn ). Tritt nur eine phobische Angst auf, z. B. die Angst vor Hunden, wird spezifische, isolierte Phobie diagnostiziert. Kommen mehrere phobische Ängste vor, wie Höhen-, Kaufhausund Fahrstuhlphobie, lautet die Diagnose Agoraphobie. Agora ist das altgriechische Wort für Plätze, auf denen man öffentlich zusammenkommt. Agoraphobie meinte ursprünglich Platzangst, wird heute jedoch in einer sehr viel breiteren Bedeutung verwendet. Spezifische Phobien Definition Spezifische Phobien sind übersteigerte, anhaltende und umschriebene Ängste vor einzelnen Situationen (enge und geschlossene Räume, weite Plätze, Reisen, Alleinsein), Tieren (besonders häufig tritt Angst vor Hunden, Spinnen oder Schlangen auf ),
5 Angst ohne wirkliche Gefahr Umwelterscheinungen (Gewitter, Wasser, Höhen), Blut, Spritzen, Verletzungen, Ärzten, Krankheiten (Aids, Krebs- oder Herzerkrankungen) oder Ersticken, Erbrechen, lauten Geräuschen oder anderen heftigen körperlichen Empfindungen. Nicht alle Reize werden gleichermaßen zu Angstauslösern. Möglicherweise entwickeln sich bestimmte Ängste leichter infolge einer biologischen Bereitschaft. Jedenfalls werden aus Erwartungsangst oder»angst vor der Angst«besonders oft Supermärkte, Kinos, Konzerte, Theater, Autofahrten ohne Begleitung, öffentliche Verkehrsmittel (einschließlich Flugzeugen), Höhen, Brücken, Tunnel und das Alleinsein zu Hause gemieden sowohl abgeschlossene als auch offene Räume und solche mit kleinsten Bewegungen und Schwankungen. Darüber hinaus haben manche extreme Angst vor Prüfungen oder dem Besuch beim Zahnarzt. Obwohl viele Panik- und Angstpatienten Angst davor haben, ohnmächtig zu werden, fallen sie bei Angst in der Regel nicht in Ohnmacht, denn Angst schützt normalerweise vor Ohnmacht. Ausnahmen sind Blut- und Spritzenphobiker (7 Abschn ) oder Menschen, die sehr lange intensiv flach atmen (Hyperventilation, 7 Abschn ). Vermeiden ist ein entscheidendes Symptom bei der Agoraphobie. Ausweichen beendet die Angst sofort, aber nur kurzfristig. Wer jedoch etwas aus Angst vermeidet, wie Einkaufen im Supermarkt oder Fahrstuhlfahren, hindert sich daran, die Erfahrung zu machen, dass die Angstsituation in Wirklichkeit nicht gefährlich ist. Langfristig verstärkt Vermeiden die Angst. Durch Meiden wird die Panikbereitschaft aufrechterhalten und es kommt häufig zu einer Ausweitung (Generalisierung) der Angst, die zu ernsthaften Einschränkungen und Behinderungen führen kann (z. B. nicht mehr alleine das Haus verlassen können). In seltenen Fällen tritt Agoraphobie auch ohne Panikattacken auf. Möglicherweise ist im Entstehungsstadium ein heftiger, erschütternder Panikanfall vorgekommen, der in Vergessenheit geraten ist. In vielen Fällen reicht bereits eine einzige schreckliche Panikattacke, um eine Behinderung vorzuprogrammieren. Ich erinnere mich an eine Patientin, die 25 Jahre unter Agoraphobie ohne Panikattacken litt. In der Straßenbahn hatte sie damals nur einen einzigen heftigen Panikanfall erlebt. Dieser muss jedoch eine derart traumatisierende und einschneidende Wirkung gehabt haben, dass sie fortan radikal alle öffentlichen Verkehrsmittel ver- Ohnmacht bei Blut- und Spritzenphobie Meiden hilft nicht, sondern verschlimmert
6 14 Kapitel 2 Zum Verständnis von Angst 2 mied. Für den Preis dieser Einschränkung gelang es ihr, weiteren Panikattacken erfolgreich aus dem Weg zu gehen. Sie hatte insofern Glück, als ihre Angst nicht weiter generalisierte. Agoraphobische Ängste sind hartnäckig. Wir wissen aus der Tierforschung, dass Versuchstiere Vermeidungsverhalten nach hunderten von Versuchsdurchgängen ohne den gefürchteten Angstreiz immer noch zeigen können. Das Ausmaß des Vermeidens ist individuell unterschiedlich: Julia wurde vollkommen in ihrer Lebensführung behindert, während Arno, wie viele Männer, vergleichsweise wenig mied. Er wollte seine Anfälle auch nicht als Angstzustände bezeichnet wissen. Dennoch litten beide in vergleichbarer Weise unter panischer Angst. Panische und agoraphobische Ängste Zusammenfassung Panische und agoraphobische Ängste sind gewaltige Überreaktionen in nicht wirklich gefährlichen Situationen, führen zu folgenden Einschränkungen: Entfernung von sicheren Orten oder beschützenden Personen, Einengung der Bewegungsfreiheit, können nicht während des Angsterlebens durch vernünftige Argumente widerlegt werden, sind von den Betroffenen schwer zu kontrollieren, weil sie ihre eigenen Bewältigungsmöglichkeiten meist unterschätzen, führen infolge der völlig überzogenen Befürchtung der Folgen von Panik zu Sicherheitsverhalten, wie Begleitung durch andere, Mitführen eines Handys oder eines Angst dämpfenden Medikaments, bleiben aus diesen Gründen beharrlich bestehen. Personen mit Panikstörung und Agoraphobie haben eine etwas intensivere Angststörung: Sie beginnt meist früher, dauert länger, bringt mehr und heftigere Symptome mit sich und führt oft zu Beeinträchtigung und depressiven Verstimmungen Weitere Angststörungen Psychische Störungen sind in Europa zu einer großen Herausforderung geworden und die Versorgungslage lässt noch sehr zu
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