Beitrag: Junge Menschen in der Pandemie Zwischen Angst und Einsamkeit

Transkript

1 Manuskript Beitrag: Junge Menschen in der Pandemie Zwischen Angst und Einsamkeit Sendung vom 1. Juni 2021 von Anne Herzlieb und Sue Odenthal Anmoderation: Die Unbeschwertheit, die erste Liebe, die Aufbruchsstimmung nach dem Schulabschluss die Pandemie hat jungen Menschen viel genommen. Heute ist internationaler Kindertag. Ein Anlass für die Politik, um über die Not der Generation Corona zu reden, gehandelt wurde aber zu wenig und zu spät. Die Bundesregierung hat zwar das sogenannte Aktionsprogramm Aufholen nach Corona aufgelegt. Aber wie lassen sich verpasste Chancen und verlorene Unbeschwertheit aufholen? Längst hat sich eine Welle psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen aufgetürmt zeigen Anne Herzlieb und Sue Odenthal. Text: Als im Shutdown kein Stundenplan mehr ihren Tag ordnet, fängt Ella an, sich auf die Waage zu stellen, mehrmals täglich. Jedes Gramm dokumentiert sie akribisch. Ella ist magersüchtig und hat im Shutdown viel Zeit sich mit ihrem Gewicht zu beschäftigen. Also, durch Corona kann man ja sehr viel nicht erleben. Dann war es eher so, dass ich die Zeit auf sozialen Medien verbracht habe. Dieses Alleinsein und nur für sich, das spielt dann würde ich sagen - auch so eine sehr große Rolle, dass alles zu dem geführt hat, wo ich jetzt gerade bin. Ella folgt immer mehr Influencerinnen auf Instagram und TikTok. Gegenseitig feuern sich die Mädchen an, immer mehr abzunehmen. Sie werden Vorbilder, und das exzessive Konsumieren ihrer Videos zu Ellas neuem Tagesinhalt.

2 O-Ton Frontal 21: Und was gibt dir das? So ein Gefühl von Sicherheit, sage ich mal, weil immer mein Gewicht unter Kontrolle haben, um zu gucken, wie viel sich verändert. An der Charité Berlin wird die Gefühlswelt der Kinder und Jugendlichen im Shutdown erforscht. Erste, bisher noch unveröffentlichte Ergebnisse sind alarmierend: Demnach war vor der Pandemie das Gefühl der Einsamkeit auf einer Skala von eins bis 100 sehr niedrig, nahm in den Folgemonaten zu, verdoppelte sich im Laufe der Shutdowns. Das Gefühl der Hilflosigkeit verstärkt sich ebenfalls. O-Ton Prof. Dr. Christoph Correll, Leiter der COH-FIT Studie, Charité Berlin: Wir haben die Sorge, dass praktisch jetzt unter dem Radar sich immer mehr aufbaut, und wir glauben auch, dass letztendlich die Spätfolgen der Pandemie, wenn es eben darum geht, dass auch ökonomisch für einige Familien eng wird, dass es dann noch zu mehr Druck und auch Ausdruck von Erkrankungen kommt - Verschlechterung von denen, die es schon hatten, oder auch Neuerkrankungen. Die Praxis von Irina Tschochner aus Hannover ist völlig überlaufen. Die Kinderärztin sieht seit Ausbruch der Pandemie auf einmal neue Krankheitsbilder, die selbst sie als erfahrene Ärztin an die Grenzen bringen. O-Ton Irina Tschochner, Kinderärztin: Wir sehen deutlich mehr Tickstörungen, wir sehen auch so Zwänge, also wirklich Waschzwang. Wir haben viele Kinder gehabt, die wirklich hier so handschuhartig teils offene Hände hatten, weil die Kinder sich ständig die Hände waschen, aus Angst, oder dann mit Desinfektionsmitteln hier arbeiten. Und das - finde ich - ist eben schon sehr bedrückend, wie das in diesen Kindern so arbeitet. Bei vielen ihrer Patienten diagnostiziert die Kinderärztin schwere psychische Störungen. Eigentlich bräuchten die Kinder jetzt dringend Therapieplätze, aber davon gibt es zu wenige. O-Ton Irina Tschochner, Kinderärztin: Das heißt, wir werden viele untherapierte Jugendliche haben, die dann irgendwie so durch die Jugend wackeln. Und wir werden dann erkrankte junge Erwachsene haben. Ja, und letztlich, also ich glaube, die Inzidenz an psychischen

3 Erkrankungen insgesamt in der Bevölkerung wird deutlich steigen. Hilfe verspricht das Zwei-Milliarden-Euro-Paket der Bundesregierung Aktionsprogramm Aufholen nach Corona. Es wurde erst 14 Monate nach Ausbruch der Pandemie beschlossen. Die Hälfte des Geldes soll in Nachhilfe- und Förderprogramme fließen, die andere in Freizeitaktivitäten, Feriencamps, Urlaubszuschüsse. O-Ton Anja Karliczek, CDU, Bundesbildungsministerin, am : Mit dem Aktionsprogramm wollen wir erreichen, dass die Kinder und Jugendlichen möglichst unbeschadet durch die Pandemie kommen. Im Bundestag ist Kai Gehring von den Grünen Obmann im Bildungsausschuss. Er kritisiert das Aufholpaket: O-Ton Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen, MdB, Obmann Bildungsausschuss: Es hat ein dreiviertel Jahr gebraucht, bis ein Leitfaden für Schulen in der Pandemie von der Ministerin kam. Es gab kein bundesweites Programm für Luftfilter. Es gab keine Aufstockung von Schulsozialarbeit oder Unterstützungsstrukturen für die psychosoziale Gesundheit. Und das sind alles Versäumnisse. Nachfrage bei der Ministerin: O-Ton Frontal 21: Hätte man nicht früher da schon mit mehr Geld agieren müssen? O-Ton Anja Karliczek, CDU, Bundesbildungsministerin: Ich glaube nicht, dass Sie mit mehr Geld in dem Moment etwas erreicht hätten, weil, wenn Schulen zu sind, sind sie zu. Es ist ja immer eine Gratwanderung gewesen, wie viel Bildungsmöglichkeit können wir geben und wie viel Gesundheitsschutz müssen wir leisten. Die magersüchtige Ella braucht mittlerweile dringend professionelle Hilfe, sonst droht ein Klinikaufenthalt mit Magensonde. In ihrem Heimatort findet sie keinen Therapieplatz. Erst 40 Minuten mit dem Auto weiter hat Kinder- und Jugendtherapeutin Eva Frank noch einen freien Platz für Krisenfälle. O-Ton Eva Frank, Psychotherapeutin für Kinder- und Jugendliche:

4 Magersucht, Anorexie, ist eine schwere psychische Krankheit, also die kann bis zum Tod führen. Da muss man sofort handeln, und die Jugendlichen brauchen sofort Therapieplätze. Denn eine psychische Erkrankung muss schnell behandelt werden, um Langzeitfolgen im Erwachsenenalter zu verhindern. Die meisten Jugendlichen kommen mit Essstörungen, wie Ella, Angstzuständen und Depressionen. Fast jedes dritte Kind ist psychisch auffällig während der Pandemie. Ich gebe mich mit dem zufrieden, was ich hier - sage ich mal - habe, oder was da ist, irgendwie, ja. Universitätsklinik München. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es 40 stationäre Therapieplätze. Die Warteliste bei Klinikleiter Schulte-Körne ist lang. Bis zu einem Jahr müssen sich Kinder und Jugendliche gedulden. Nur Notfälle gehen vor. O-Ton Prof. Gerd Schulte-Körne, Leiter Kinder- und Jugendpsychiatrie, LMU München: Wir befürchten, dass wir überhaupt noch nicht den Peak erreicht haben, ja. Also, wir sehen, dass die Psyche der Kinder mit einer extremen Verzögerung auf diese Belastung reagiert. Wir gehen davon aus, dass die nächsten Monate noch viel mehr Bedarf entsteht, den wir dann wiederum nicht decken können, und das ist aus meiner Sicht eine Katastrophe. Der Psychiater entwickelte bereits im letzten Jahr eine Webseite für Hilfesuchende, weil es an niedrigschwelligen Angeboten mangelte. Auf Corona und Du können sich Eltern, Kinder- und Jugendliche in Krisensituationen informieren - wie Sandra, die nicht gezeigt werden will. Die Seite wird für sie und ihre Mutter zum Anker. Denn die Angst vor dem Virus versetzt die Schülerin in Panik. O-Ton Sandra (Name geändert), 15 Jahre: Ich konnte nicht mehr rausgehen. Ich hatte Angst, dass ich jemand anderen anstecke oder jemand anders mich ansteckt und ich dadurch dann schuld bin, wenn jemand anderes krank wird oder sogar stirbt. Und, ja, da kriegt man Panik und fühlt sich alleine, und ich habe mich gefühlt wie im Gefängnis. Die digitale Anlaufstelle des Klinikums wird von einer privaten Stiftung finanziert, denn das bayrische Wissenschafts-

5 ministerium hatte Forschungsgelder für das Projekt Corona und Du abgelehnt. O-Ton Prof. Gerd Schulte-Körne, Leiter Kinder- und Jugendpsychiatrie, LMU München: Da haben wir gemerkt, dass dieses Thema in der Forschungspolitik überhaupt keine Bedeutung hatte, sondern dass alles in andere Aspekte investiert wurde, aber nicht in die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie. Bei der magersüchtigen Ella schlägt die Therapie mittlerweile an. Sie kann das gemeinsame Essen mit der Familie wieder genießen. Sandra traut sich wieder auf die Straße zusammen mit ihrer Mutter. Dank monatelanger Behandlung nimmt die Schülerin wieder am Leben teil. O-Ton Sandra (Name geändert), 15 Jahre: Ich nehme ein Schokoladeneis. Die Pandemie hinterlässt tiefe Spuren - und das Gefühl bei vielen Jugendlichen: Die Politik hat ihre Generation alleine gelassen. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.