4 Hypothesen des Bilder-Paradigmas: Wernicke- Areal, Broca-Areal, ventraler Pfad, Gyrus praecentralis
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- Thomas Weiner
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1 Hypothesen Bilder-Paradigma Wernicke-Areal, Broca-Areal, ventraler Pfad, Gyrus praecentralis 35 4 Hypothesen des Bilder-Paradigmas: Wernicke- Areal, Broca-Areal, ventraler Pfad, Gyrus praecentralis Im Folgenden werden die Hypothesen bezüglich der Aktivierungsmuster in den festgelegten Regions of interest (= ROI) Wernicke-Areal, Broca-Areal, ventraler Pfad und Gyrus praecentralis getrennt formuliert. 4.1 Hypothesen zum Wernicke-Areal Im Mittelpunkt des Interesses der vorliegenden Arbeit steht die Modalitätsspezifität der sprachdominanten Hemisphäre. Es sollen Vergleiche zwischen hörenden und auditivdeprivierten Menschen angestellt werden, um zu klären, inwiefern sprachliche Funktionen modalitätsspezifisch (modalitätsabhängig) oder supramodal (modalitätsunabhängig) organisiert sind. Das Wernicke-Areal gilt als klassisches Sprachareal zur Verarbeitung lexikalischer und semantischer Aspekte von Sprache. Bei Gehörlosen und hörenden Probanden spielen zwei unterschiedliche Sprachmodalitäten bezüglich der Verarbeitung ihrer Muttersprache eine Rolle: die oral-auditive Lautsprache und die visuell-manuelle Gebärdensprache. Aus diesem Grund sind die Ergebnisse zahlreicher Studien von Interesse, in denen nachgewiesen wurde, dass das Wernicke-Areal modalitätsunabhängig aktiviert wird und somit die Aufgabe des Sprachverständnisses sowohl bei Hörenden als auch bei Gehörlosen übernimmt (vgl. Nöth, 1992; Poizner et al., 1990; Bellugi & Klima, 1991). Obwohl es in der Literatur häufig divergente Aussagen zur zeitlichen Abfolge der Beteiligung der Sprachareale am Sprachverarbeitungsprozess gibt, werden einige Sprachareale, die an der Sprachwahrnehmung und Produktion beteiligt sind, konsistent beschrieben. Beim Lesen eines geschriebenen Wortes (visuell) sowie dem Hören eines Wortes (akustisch) kommt es zu Aktivierungen im posterioren Anteil des Sulcus temporalis superior, wo die Wortbedeutung des Wahrgenommenen entschlüsselt wird. Nach der Artikulationsplanung findet dann im inferioren präfrontalen Kortex die Sprachproduktion statt (vgl. Pritzel, Brand & Markowitsch, 2003). Inzwischen ist auch bekannt, dass die Darbietung unsinniger Stimuli (z. B. einzelne Buchstaben) nur Aktivierungen im Broca-Areal hervorrufen und nicht im Wernicke-Areal (vgl. Carlson,
2 Hypothesen Bilder-Paradigma Wernicke-Areal, Broca-Areal, ventraler Pfad, Gyrus praecentralis ). Obwohl für die Gehörlosen im Fall dieser Studie neben dem Leseprozess auch das Sehen von Gebärden (Abbildungen mit semantischer Bedeutung) stattfindet, wird dennoch der gleiche Verarbeitungsprozess wie beim Lesen angenommen. Es wird folglich für alle Gruppen bezüglich des Wernicke-Areals Aktivierungen bei den Kategorien (genaueres zu den Kategorien siehe Kapitel 5.3) erwartet, die von der jeweiligen Gruppe semantisch dekodierbar sind. So sollten Gebärdensprachdolmetscher und Gehörlose Aktivierungen im Wernicke-Areal auf alle Kategorien bis auf Gebärden ohne Pfeil zeigen. Für die Kontrollgruppen werden keine Aktivierungen bezüglich der Kategorien Gebärden mit Pfeil, Gebärden ohne Pfeil und Gebärden statisch erwartet. Aufgrund der eben dargestellten Erkenntnisse wird folgende gerichtete Hypothese aufgestellt: Hypothese 1: Alle Versuchspersonen zeigen für die Kategorien, die sie semantisch dekodieren können, Aktivierungen im Wernicke-Areal. Diese Aktivierungen sind unabhängig von der Modalität ihrer Muttersprache. Neben der eben beschriebenen Fragestellung interessieren die Lateralisierungsmuster der Aktivierungen für die vier Probandengruppen. Neville et al. (1998) und Bavelier et al. (1998b) konnten anhand von fmrt-untersuchungen an Gehörlosen und hörenden Gebärdenden nachweisen, dass bei diesen Gruppen die klassischen Sprachareale in beiden Hemisphären an der Verarbeitung von Sprache beteiligt sind. Der Gebrauch einer visuellräumlichen Sprache führt folglich zum Verlust der klassischen linkshemisphärischen Asymmetrie bei der Verarbeitung von Sprache, wie sie für die Hörenden der Fall ist. Deswegen wird folgende gerichtete Hypothese postuliert: Hypothese 2: Die Gruppen Gehörlose und Gebärdensprachdolmetscher weisen bei der Verarbeitung der dargebotenen Stimuli ein bilaterales Aktivierungsmuster in den klassischen Spracharealen auf. Die hörenden Kontrollgruppen 1 und 2 zeigen dagegen die klassische linkshemisphärische Asymmetrie bei der Sprachverarbeitung.
3 Hypothesen Bilder-Paradigma Wernicke-Areal, Broca-Areal, ventraler Pfad, Gyrus praecentralis Hypothesen zum Broca-Areal Das Broca-Areal dient unter anderem der Sprachproduktion und besitzt, analog zum Wernicke-Areal, modalitätsunabhängige Funktionen. Beide Hirnstrukturen zählen zu den klassischen Spracharealen (vgl. Nöth, 1992; Poizner et al., 1990; Bellugi & Klima, 1991). Es wird angenommen, dass der Prozess der Sprachproduktion durch internales Verbalisieren (inneres Vorsprechen des Wortes) beim Verstehen eines Wortes aktiviert wird. Welche Kategorien von welcher Gruppe laut der formulierten a priori-annahme verstanden wurden, ist in Abschnitt 4.1 bereits beschrieben. Folgende gerichtete Hypothese wird in Bezug auf die Aktivierungen im Broca-Areal aufgestellt: Hypothese 3: Alle Versuchspersonen zeigen für alle dargebotenen Kategorien, die sie semantisch dekodieren können, Aktivierungen im Broca-Areal. Diese Aktivierungen sind unabhängig von der Modalität ihrer Muttersprache. Da das Broca-Areal neben dem Wernicke-Areale zu den klassischen Hirnstrukturen bei der Sprachverarbeitung gilt, werden bezüglich der Hemisphären die Lateralisierungsmuster postuliert, wie bereits in Abschnitt 4.1 formuliert: Hypothese 4: Die Gruppen Gehörlose und Gebärdensprachdolmetscher weisen bei der Verarbeitung der dargebotenen Stimuli ein bilaterales Aktivierungsmuster in den klassischen Spracharealen auf. Die hörenden Kontrollgruppen 1 und 2 zeigen dagegen die klassische linkshemisphärische Asymmetrie bei der Sprachverarbeitung. 4.3 Hypothesen zum ventralen Pfad Der ventrale Pfad (Teil des Gyrus fusiformis) erfüllt Funktionen bezüglich der Objektdiskriminierung. In diesem Zusammenhang werden alle relevanten Informationen bezüglich des dargebotenen Stimulus wahrgenommen, die der Identifikation des Objektes dienen. So werden z. B. Farbe und Form perzipiert (vgl. Milner & Goodale, 1993). Ebenso wichtig bei Gebärdensprach-Nutzern ist die Verarbeitung von Informationen über bekannte Handzeichen, Gesichtsausdrücke und soziale Zeichen, welche ebenfalls im ventralen Pfad
4 Hypothesen Bilder-Paradigma Wernicke-Areal, Broca-Areal, ventraler Pfad, Gyrus praecentralis 38 geschieht. An der Diskriminierung von Objekten ist der ventrale Pfad unabhängig davon beteiligt, ob die wahrnehmende Person hörend oder gehörlos ist. Ebenso sind diese Aktivierungen unabhängig davon, ob der diskriminierte Gegenstand semantisch dekodierbar ist (z. B. Bild eines Balles) oder nicht (z. B. unbekannte Handzeichen von einer Person dargestellt). Die Verarbeitung komplexer, visueller Informationen erfolgt bei allen Personen bilateral im ventralen Pfad. Diese bilateralen Aktivierungsmuster stehen im Gegensatz zu den linksdominanten Aktivierungen in den klassischen Spracharealen. Zu den bilateralen Aktivierungen wurde mit Untersuchungen an hörenden und gehörlosen Probanden und der Darbietung von Bildern mit Gesichtern mehrfach nachgewiesen, dass zwar beide Gruppen starke Aktivierungen in beiden Hemisphären im ventralen Pfad zeigten, sich aber bei den Gehörlosen dennoch eine Dominanz der sprachdominanten, linken Hemisphäre zeigte (vgl. Hypothese 6). Die Autoren führten die Aktivierungen in der rechten Hemisphäre auf die Diskriminierung nicht-sprachlicher und sozialer Signal- Informationen zurück, wogegen die linke Hemisphäre bei den Gehörlosen stärker aktiviert wurde, da sie den Gesichtsausdrücken semantische Informationen entnehmen konnten (vgl. McCullough, Emmorey & Sereno, 2005). Für die Verarbeitung des hier dargebotenen Stimulusmaterials werden deswegen folgende gerichtete Hypothesen aufgestellt: Hypothese 5: Alle Versuchspersonen zeigen auf alle sechs dargebotenen Kategorien starke bilaterale Aktivierungen im ventralen Pfad. Die zweite Hypothese bezieht sich auf die Aktivierungen in der sprachdominanten, linken Hemisphäre: Hypothese 6: Für die Gruppen Gehörlose und Gebärdensprachdolmetscher wird eine erkennbare Dominanz der linken, sprachdominanten Hemisphäre bei der Verarbeitung der Kategorien bezüglich des ventralen Pfades erwartet, die für diese beiden Gruppen semantisch dekodierbar sind. Die Kontrollgruppen 1 und 2 zeigen dagegen diese Überlegenheit der linken Hemisphäre nur bei den für sie semantisch dekodierbaren Kategorien Objekte, Wörter und Gesten.
5 Hypothesen Bilder-Paradigma Wernicke-Areal, Broca-Areal, ventraler Pfad, Gyrus praecentralis Hypothesen zum Gyrus praecentralis Der Gyrus praecentralis gilt, neben anderen Strukturen, als Ursprungsort von Willkürbewegungen. Folglich wird dieses somatotop organisierte Areal aktiviert, wenn Bewegungen der Arme, Hände, Zunge oder Lippen ausgeführt werden. Die Bedeutung dieses Areals bei der Ausführung der manuellen Gebärdensprache liegt auf der Hand. Zahlreiche Studien konnten nachweisen, dass der Gyrus praecentralis auch aktiviert wird, wenn eine Person einer anderen bei der Ausführung von Bewegungen zuschaut. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob die Bewegungen statisch-passiv (einzelne Bilder) oder dynamisch-aktiv (Videosequenzen) dargeboten wurden (vgl. Aziz-Zadeh, Maeda, Zaidel, Mazziotta & Iacoboni, 2002; Johnson-Frey et al., 2003). Die Ergebnisse machen deutlich, dass der motorische Kortex eine wichtige Rolle bei der internalen Repräsentation von Bewegungen spielt. In Bezug auf die Hypothesenbildung zum Gyrus praecentralis wird zwischen den Gruppen unterschieden, die die Gebärdensprache beherrschen und denen, die keinen Kontakt zur Gebärdensprache haben. Die hörenden, nicht gebärdenden Kontrollgruppen sollen Aktivierungen im Motokortex auf die Stimuli aufweisen, die Bewegungen andeuten oder zeigen, auch wenn es statische Bilder sind. Nach Angaben der oben aufgeführten Autoren müsste der Gyrus praecentralis aktiviert werden, wenn Hörende die Personen sehen, die Gebärden ausführen. Es wird folgende gerichtete Hypothese aufgestellt: Hypothese 7: Die Kontrollgruppe 1 und Kontrollgruppe 2 zeigen Aktivierungen im Gyrus praecentralis bei den Kategorien, die Bewegungen durch andere Personen statisch darstellen. Das betrifft die Kategorien Gesten, Gebärden mit Pfeil, Gebärden ohne Pfeil und Gebärden statisch. Diese Hypothese kann nicht in Bezug auf die Gehörlosen und Gebärdensprachdolmetscher aufgestellt werden. Den Erwartungen zufolge dekodieren diese beiden Gruppen jegliche dargebotenen Gebärdenbilder in das entsprechende Wort im Gegensatz zu den Kontrollgruppen, die dazu aufgrund fehlender Gebärdensprachkompetenz nicht in der Lage sind. Dagegen werden vermutlich dargebotene Wörter und Alltagsgegenstände von den Gehörlosen und Gebärdensprachdolmetschern internal in die entsprechende Gebärde überführt. Folglich müssten sich dort, im Gegensatz zu den Kontrollgruppen,
6 Hypothesen Bilder-Paradigma Wernicke-Areal, Broca-Areal, ventraler Pfad, Gyrus praecentralis 40 Aktivierungen im Motokortex nachweisen lassen, was zu folgender gerichteter Hypothese führt: Hypothese 8: Im Gegensatz zu den beiden Kontrollgruppen weisen die Gruppen Gehörlose und Gebärdensprachdolmetscher Aktivierungen im Gyrus praecentralis für die Kategorien Wörter und Objekte gegen die Baseline auf.
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