Die Einschätzung des Strukturniveaus
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- Helmuth Sachs
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1 4.3 Strukturmerkmale und Strukturniveau 57 Die Einschätzung des Strukturniveaus Für jedes strukturelle Item, aber auch für jede strukturelle Dimension (Selbstwahrnehmung, Objektwahrnehmung, Selbstregulierung etc.) sowie für die Struktur als Ganzes lässt sich ein strukturelles Niveau einschätzen. Die OPD-Struktureinschätzung unterscheidet vier Niveaus der strukturellen Integration: gut, mäßig, gering, desintegriert. Die vier Stufen sind inhaltlich definiert, wobei die Markierung von Zwischenstufen möglich ist. 1 Gut integriert: Ein relativ autonomes Selbst verfügt über die Möglichkeiten, Nähe und Distanz zu den Objekten zu regulieren und bei ihnen ggf. Unterstützung und Sicherheit zu erfahren. Das Selbst verfügt über einen strukturierten psychischen Binnenraum, in dem konflikthafte Erfahrungen intrapsychisch durchgespielt werden können. Es gibt Steuerungsmöglichkeiten, welche die Konflikte intrapsychisch halten, sowie die Fähigkeit, die innere Welt selbstreflexiv, die äußere Welt realitätsgerecht und empathisch wahrzunehmen. In der inneren Welt finden sich ausreichend gute innere Objekte. Zentrale Angst: Die Zuneigung der Objekte zu verlieren, beschämt, bestraft oder beschädigt zu werden und in der eigenen sozialen und psychosexuellen Identität bedroht zu sein. 1,5 Gut bis mäßig integriert: Anteile von 1 und 2 2 Mäßig integriert: Die Erfahrung von Nähe, Bindung, Autonomie und Identität ist eingeschränkt möglich. Die entsprechenden Bedürfnisse sind heftig, die Konflikte sind scharf, die Steuerung ist schwierig. Es bestehen autoaggressive und selbstentwertende Tendenzen. Das Selbst ist bedürftig und kränkbar, die Bilder der Objekte sind auf wenige Muster eingeengt, Konflikte können nur mit Mühe intrapsychisch gehalten werden, dyadische Beziehungen sind vorherrschend. Zentrale Angst: Angst, das wichtige Objekt zu verlieren, von dem gewährenden Objekt verlassen zu werden; Angst vor Verlust der Kontrolle und Steuerung, Angst vor den eigenen heftigen Impulsen. 2,5 Mäßig bis gering integriert: Anteile von 2 und 3 3 Gering integriert: Das Selbst ist sehr bedürftig, sehr kränkbar, sehr impulsiv, das Bild der Objekte ist bedrohend-verfolgend oder als Sehnsuchtsobjekt ideal-gut. Positive Erfahrungen von Nähe, Bindung, Autonomie und Identität werden selten gemacht. Es besteht ein wenig entwickelter psychischer Binnenraum und eine geringe Differenzierung psychischer Substrukturen, Konflikte werden interpersonell statt intrapsychisch erfahren. Die Beziehung zu den anderen ist durch fehlende Empathie und eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit belastet. Zentrale Angst: Angst vor der Überwältigung und Auslöschung durch die gefährlichen Objekte, vor dem vernichtenden Gekränktwerden, Angst vor den gnadenlosen inneren und äußeren Objekten. 3,5 Gering bis desintegriert: Anteile von 3 und 4
2 58 4 Strukturelle Störungen 4 Desintegriert: Desintegriert ist nicht gleichbedeutend mit desorganisiert. Die fehlende Kohärenz des Selbst und die überflutende Emotionalität werden durch Abwehrmuster im Sinne postpsychotischer, posttraumatischer, perverser Organisationsformen überdeckt. Selbst- und Objektbilder erscheinen konfundiert. Gute innere Objekte sind nicht verfügbar. Empathisches Objektwahrnehmen ist so gut wie unmöglich. Verantwortung für eigenes impulsives Handeln wird nicht erlebt; Handlungen erfolgen teilweise in dissoziativen Bewusstseinszuständen. Gegenübertragung ist geprägt durch die Erfahrung des Unverständlichen oder unheimlich Bedrohlichen. Zentrale Angst: Angst vor den unheimlichen Objekten, die eher medial als objektal erscheinen, Angst vor Ichverlust und Selbstauflösung; Angst vor dem Druck der eigenen Partialtriebe. Tabelle 4-4 stellt die Erfahrungen des Selbst und die Qualität der Angst auf den vier Strukturniveaus einander gegenüber. Jedes einzelne strukturelle Merkmal verändert sich über die Stufen hinweg quantitativ im Sinne einer größeren oder geringeren Verfügbarkeit über die jeweilige strukturelle Funktion (z. B. Selbstwertgefühl kann aufrechterhalten werden / ist störbar / ist sehr fragil / Selbstbewertung ist erheblich verzerrt). Darüber hinaus werden aber auch qualitative Unterschiede erkennbar (Beispiel: Internalisierung: andere haben emotionale Bedeutung / starke Objektabhängigkeit / emotionale Bedeutung des Objekts nur bei Realpräsenz / aggressiv-destruktive oder unheimliche Qualitäten der inneren Objekte). Im Anhang findet sich eine Struktur-Checkliste (ursprünglich entwickelt von Rudolf, Oberbracht und Grande 1998, überarbeitet von Rudolf, Oberbracht, von der Tann 2003). Die Strukturthematik ist bezüglich ihrer philosophischen (Küchenhoff 2002), historisch-psychoanalytischen (Pouget-Schors 2002), affektpsychologischen (Krause u. Fabregat-Ocampo 2002) und psychodynamischen (Rudolf) Aspekte in dem Band Die Struktur der Persönlichkeit (Rudolf et al. 2002b) ausführlicher diskutiert. An dieser Stelle soll der bisher verwendete Strukturbegriff reflektiert werden, insbesondere wird der Zusammenhang von Funktion, Entwicklung und Dynamik der Struktur betrachtet. Struktur und Funktion: Struktur beschreibt nicht Inhalte (z. B. bestimmte Typen des neurotischen Selbsterlebens oder der konflikthaften Beziehungsgestaltung), sondern das Organisationsniveau der psychischen Funktionen, die das Selbsterleben und das Beziehungsverhalten regulieren. Die diagnostische Frage lautet nicht: Was beschäftigt diesen Menschen inhaltlich?, sondern Wie funktioniert seine Persönlichkeit in bestimmten Situationen? Struktur und Dynamik: Struktur wird zuweilen als Ausdruck statischer Eigenschaften missverstanden: Jemand ist, wie es z. B. das Persönlichkeitsmodell der Big Five nahe legt, mehr oder weniger offen, mehr oder weniger aggressiv, mehr oder
3 4.3 Strukturmerkmale und Strukturniveau 59 Tab. 4-4 Erfahrungen des Selbst auf unterschiedlichen Strukturniveaus Strukturniveau gut integriert Es gibt Nähe zu den Objekten und Möglichkeiten der Distanzregulierung; Sicherheit und Versorgung werden erlebt; es gibt ein autonomes Selbst mit der Erfahrung psychosexueller und sozialer Identität. Es gibt die Möglichkeit, konflikthafte Erfahrungen intrapsychisch durchzuspielen (psychischer Binnenraum); es bestehen normative Instanzen, die Maßstäbe setzen; es gibt Steuerungsmöglichkeiten, die Konflikte intrapsychisch halten. Angst um die Gefährdung der Beziehung zwischen Selbst und Objekt Angst vor Verlust der Liebe des Objekts Angst um die eigene psychosexuelle soziale Identität Angst vor Beschädigung, Bestrafung, Zurückweisung Strukturniveau mäßig integriert Die Erfahrung von Nähe, Bindung, Autonomie, Identität ist deutlich eingeschränkt. Die entsprechenden Bedürfnisse sind heftig, die Konflikte sind scharf, die Steuerung ist schwierig. Das Selbst ist bedürftig und kränkbar. Die Objekte, die das Gute gewähren könnten, entziehen sich, fordern und strafen. Konflikte können nur mit Mühe intrapsychisch gehalten werden und brechen ins Interpersonelle durch. Angst vor den eigenen heftigen Impulsen (Gier, Hass, Neid) Angst vor Verlust der Kontrolle und Steuerung Angst, von dem gewährenden Objekt verlassen zu werden, das Objekt zu verlieren Angst vor Beschämung und Beschuldigung Strukturniveau gering integriert Die positive Erfahrung von Nähe, Bindung, Autonomie, Identität wird nicht gemacht, entsprechende negative Aspekte stehen im Vordergrund. Die Objekte erscheinen zerstörend, verfolgend, nur böse (oder als Sehnsuchtsobjekte ideal gut). Das Selbst ist sehr bedürftig, sehr kränkbar, sehr impulsiv. Das Selbst entwickelt keine objektbezogenen Affekte, wenig Empathie, schwierige Kommunikationstechniken. Angst vor den gnadenlosen Objekten, die verfolgen, quälen, zerstören (mangels Empathie) Angst vor der aggressiven Überwältigung und Auslöschung durch die gefährlichen Objekte Angst vor auslöschendem Gekränktwerden Angst vor der eigenen impulsiven Triebhaftigkeit (Aggressivität, Sexualität, Oralität) Desintegriertes Strukturniveau Das Selbst ist inkohärent, es wird von negativen Affektzuständen überflutet. Triebimpulse haben Partialtriebcharakter. Ausgeprägte Abwehrvorgänge der Dissoziation, Spaltung, Projektion regulieren Innenwelt und Außenwahrnehmung. Durch Identifikation mit partiellen Aspekten erhalten Selbst und Objekte ein scheinbar glattes Bild, Handlungen erfolgen in dissoziativen Bewusstseinszuständen. Gute innere Objekte sind nicht verfügbar.
4 60 4 Strukturelle Störungen Tab. 4-4 Erfahrungen des Selbst auf unterschiedlichen Strukturniveaus (Fortsetzung) Desintegriertes Strukturniveau Angst vor Selbstauflösung und Selbstverlust/Ichverlust Angst vor den unheimlichen Objekten, die eher medial als objektal erscheinen Angst vor dem Druck der eigenen Partialtriebe weniger religiös usw. Eine psychodynamische Sicht auf die Struktur lässt hingegen auch hier das Wirken eines inneren Kräftespiels erkennen, das sich von der konfliktneurotischen Dynamik qualitativ unterscheidet. In Tabelle 4-5 wird die strukturelle Dynamik der konfliktneurotischen gegenübergestellt. Bedürfnisdynamik meint, dass dem Patienten die strukturellen Fähigkeiten, sich selbst und seine Beziehungen zu regulieren, unter den real gegebenen Bedingungen des Erwachsenenlebens nicht zur Verfügung stehen; sie sind an entwicklungspsychologisch frühere Bedingungen (Erwartungen an die Objekte) geknüpft, welche von den jetzigen Objekten nicht erfüllt werden. Tab. 4-5 Strukturelle und konfliktneurotische Dynamik Konfliktdynamik Strukturdynamik Bedürfnisdynamik: Was will das Subjekt von den Objekten? Es sucht (aktiv) Befriedigung für Wünsche, Triebregungen, Impulse und dadurch Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung. Es erwartet (passiv) von den Objekten Bedingungen, unter denen es strukturell funktionieren kann. Dynamik der kognitiven Überzeugungen: Wie reagieren die Objekte im Erleben des Subjekts? Sie reagieren versagend, strafend, ängstigend, beschämend, fordernd. Sie reagieren überwältigend, bedrohend, verfolgend, zerstörend, vernachlässigend. Affektdynamik: Wie reagiert das Subjekt emotional auf die erlebte Situation? Es reagiert mit objektgerichteten Emotionen wie Angst, Scham, Schuld, Ärger. Es reagiert mit diffuser emotionaler Überflutung (arousal) oder Entleerung und mit maladaptiven Emotionen (Verzweiflung, Schmerz, Enttäuschung, Gekränktheit, Empörung). Dynamik regulierender Prozesse: Wie steuert das Subjekt seine Emotionen? Es reagiert durch Sichanpassen, Sichunterordnen, Verzichten, Sichauflehnen; ferner durch Aktivierung von Abwehr, so dass die verdrängte Konfliktdynamik unbewusst wirksam bleibt. Es reagiert kurzfristig mit Notfallmaßnahmen der Selbstschädigung, Selbstentleerung, Suchtentwicklung, destruktiven Beziehungsgestaltung. Es reagiert langfristig mit der Ausbildung neurotischer Bewältigungsmuster (z. B. schizoid, narzisstisch).
5 4.4 Strukturelle Anteile der Grundkonflikte 61 Die Dynamik der kognitiven Überzeugungen resultiert daraus, dass pathogene Überzeugungen extrem negative Objektbilder und extrem hilflose Selbstbilder enthalten. Die Affektdynamik entspringt aus der eingeschränkten Verfügbarkeit über objektbezogene Affekte und dem Ausgeliefertsein an die beschriebenen maladaptiven Emotionen. Kennzeichen der regulativen Dynamik bei strukturellen Störungen ist es, dass das Subjekt in Abwehr und Bewältigung nur mit Notfallmaßnahmen reagieren kann, die das Verhalten und die Beziehungsgestaltung mehr und mehr destruktiv und vor allem selbstschädigend gestalten. Ergänzend zu diesen kurzfristigen Reaktionen entstehen langfristige Bewältigungsmuster, die vor allem kompensatorische Strategien beinhalten. Die vier dynamischen Perspektiven lassen erkennen, wie der qualitative Unterschied zwischen dem Neurotischen und dem Strukturellen beschaffen ist: Im konfliktneurotischen Bereich herrscht eine neurotische Akzentuierung der Inhalte (Bedürfnisse, kognitive Überzeugungen, emotionale Antworten, Regulation) vor unter dem Druck von unbewussten Bedürfniskonflikten gegenüber den Objekten. 4.4 Strukturelle Anteile der Grundkonflikte Das strukturelle Funktionsniveau ist vor allem unter dem Aspekt der Entwicklung zu verstehen. Die strukturellen Funktionen reifen in frühen Lebensabschnitten heran (z. B. die Fähigkeit, die eigene emotionale Verfassung differenziert wahrzunehmen und selbstreflexiv zu verstehen). Dabei sind es explizit die interpersonellen emotionalen Erfahrungen, unter deren Einfluss die frühen strukturellen Entwicklungsschritte in Richtung auf ein stabiles oder eingeschränktes Organisationsniveau verlaufen. Das eingeschränkte strukturelle Funktionsniveau ist nicht einfach nur Ausdruck eines Defizits (jemand kann etwas nicht), sondern spiegelt spezifische Erwartungen des Subjekts an die Objektwelt wider (Patient kann die Selbstregulierung oder Beziehungsgestaltung nicht anders als unter bestimmten Bedingungen leisten). Das macht einen wesentlichen Aspekt der Dynamik struktureller Störung aus. Wenn gesunde, konfliktneurotische und strukturelle Modi des Erlebens (und speziell der Emotionserfahrung) typologisch abgegrenzt und einander gegenüber gestellt wurden, so handelt es sich dabei um eine Vereinfachung. Die klinische Realität ist bekanntlich dadurch komplizierter, dass Aspekte von Konflikt und Struktur durchaus miteinander verwoben sind. Das kommt in dem Konzept der Grundkonflikte zum Ausdruck (Rudolf 2000g, S. 145f.), in dem bezogen auf die wichtigen frühkindlichen Entwicklungsaufgaben (Entwicklung des Systems der Nähe, der Bindung, der Autonomie und der Identität) die basalen konflikthaften Beziehungserfahrungen ebenso wie die daraus resultierenden strukturellen Störungen beschrieben werden.
6 62 4 Strukturelle Störungen Grundkonflikt der Nähe: Konflikt : Das instinktive Bedürfnis nach einer nahen Beziehung und die Unmöglichkeit einer emotional kommunikativen Beziehung stehen sich widersprüchlich gegenüber. Strukturelle Folgen: Es besteht scheinbar kein Erleben und kein Bild des Selbst, speziell das Körperselbst erscheint fremd. Die selbstreflexive Wahrnehmung, speziell für eigene Affekte, ist erheblich erschwert. Es besteht keine Toleranz für die andrängenden, intensiven und undifferenzierten Affekte. Die Objekte erscheinen fremd, häufig bedrohlich oder sogar als Verfolger. Das Selbst muss sie fürchten und sich vor ihnen schützen. Es gelingt nur schwer, einen verstehenden Kontakt, eine empathische Beziehung zwischen Selbst und Objekten herzustellen. Beziehungen hinterlassen keine Spuren im Sinne der Internalisierung. Grundkonflikt der Bindung/depressiver Grundkonflikt: Konflikt: Das intensive Verlangen richtet sich auf das idealisierte Objekt, während zugleich Objektenttäuschung und daraus resultierende Objektentwertung und Objektvermeidung wirksam werden. Strukturelle Folgen: ein schwaches, bedürftiges, bemühtes Selbst, noch nicht sicher von den Objekten unterschieden, bemüht um Anpassung, welche die Zuwendung der Objekte sichern könnte, bemüht um Steuerung der Impulse und Affekte, welche die Objektbeziehung gefährden könnten, bemüht, das idealisierte Bild der Objekte aufrechtzuerhalten und Objektenttäuschungen zu verarbeiten, unfähig, die passive Erfahrung des Verlassenwerdens und des Verlustes zu ertragen. Grundkonflikt der Autonomie: Konflikt: Der dringende Wunsch, unabhängig und autonom zu leben, steht im Kontrast zu der Angst, dadurch die Objekte zu verlieren oder gar zu zerstören. Strukturelle Folgen: ein Selbst voller Angst gegenüber seinen eigenen expansiven, aggressiven und sexuellen Impulsen und den zugehörigen Affekten, welche die wichtigen Objekte treffen könnten, ausgesprochene Steuerungs- und insbesondere Vermeidungsbemühungen, auch im Hinblick auf emotionale Kommunikation, Vermeidung aktiver Loslösung von den Objekten.
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