Borderline - Persönlichkeitsstörung oder Traumafolge?
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- Stephan Hauer
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1 Pädagogik Petra Flick Borderline - Persönlichkeitsstörung oder Traumafolge? Diplomarbeit
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3 Borderline Persönlichkeitsstörung oder Traumafolge? Diplomarbeit im Rahmen der staatlichen Abschlussprüfung zur Sozialpädagogin an der Fachhochschule Kiel - Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit - vorgelegt von: Petra Flick Kiel, April 2002
4 Inhalt I-IV 0. Einleitung 1 1. Begriffsbestimmung Borderline- Persönlichkeitsstörung Die Borderline-Persönlichkeitsstörung im ICD Die Borderline-Persönlichkeitsstörung im DSM IV Kritik der Begriffsbestimmung Zusammenfassung 8 2. `Borderline` als Persönlichkeitsstörung Das Borderline-Konzept von Kernberg Borderline-Persönlichkeitsorganisation Entwicklungspsychologisch-genetische Grundannahmen Borderline Bereich der kindlichen Entwicklung Relevanz für die Borderline-Persönlichkeitsstörung Strukturelle Ebene: Die Abwehrmechanismen Hauptabwehrmechanismus Spaltung Primitive Idealisierung Projektive Identifizierung und die Identifizierung mit dem Angreifer Verleugnung 24
5 II Allmacht und Entwertung Deskriptive Ebene: Die Symptomatik Frei-flottierende Angst Polyphobien Zwangssymptome Konversionssymptome Depressionen Polymorph-perverse oder anhedonistisch-multivariante Sexualität Verlust der Impulskontrolle Dissoziative Reaktionen Psychotische Symptome Gegenübertragung Zusammenfassung `Borderline` als Traumafolge Überlegungen zur Entwicklung einer neuen Perspektive Borderline-Persönlichkeitsstörung als komplexe Posttraumatische Belastungsstörung Trauma Psychodynamik der Borderline-Persönlichkeitsstörung als komplexe Posttraumatische Belastungsstörung Dissoziation Spaltung 78
6 III Projektive Identifizierung Instabile Beziehungen Identitätsdiffusion Gegenübertragung Zusammenfassung Synopse von dargestellten Borderline-Konzeptionen 86 Resümee Ausblick: Mögliche Folgen für die sozialpädagogische Praxis Definition der sozialpädagogischen Praxis Ursprünge von Gewalt im Geschlechterverhältnis Sozialpädagogische Hilfen Empowerment Ihriss e.v.: Ein gemeindepsychiatrisches und geschlechtsspezifisches Angebot für Frauen mit und ohne Psychiatrieerfahrung Die Mitarbeiterinnen Die Zielgruppe Zielsetzung und Handlungskompetenzen Ausgesuchte Angebote der Beratungsstelle Ihriss e.v Zusammenfassung 108 Schlussbetrachtung 109
7 Literaturverzeichnis 111 IV
8 - 1 - Einleitung Innerhalb dieser Arbeit werden unter Zuhilfenahme verschiedener Autoren und Autorinnen zunächst zwei Erklärungsansätze zur Borderline-Störung referiert. Gemeinsam ist beiden Ansätzen ihr psychoanalytisches Fundament. Die Psychoanalyse ist als die Wissenschaft vom Unbewussten und ihren Erkenntnissen in verschiedenen sozialen Praxisfeldern von Bedeutung (vgl. FINGER-TRESCHER 2001, S. 1455). Sie kann als Reflexionsinstrument für die Sozialpädagogik gesehen werden, da das psychoanalytische Verständnis von Interaktionsprozessen und interpersonalen Beziehungen auch Gegenstand der Sozialpädagogik ist (vgl. ebd.). Kapitel 1 umfasst einen Einblick über die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung, so wie sie sich im ICD 10 und im DSM IV darstellt. Im Mittelpunkt von Kapitel 2 soll das Borderline-Konzept von Kernberg stehen, dessen Theorien sich mit den Inhalten der psychiatrischen Diagnosen, wie sie sich in Kapitel 1 darstellen, weitestgehend decken. In Kapitel 3 finden sich Perspektiven und Theorien wieder, die einen weiteren Erklärungsansatz beschreiben, der mit dem Borderline-Konzept von Kernberg divergiert und sich in wesentlichen Punkten von diesem unterscheidet. In einem vergleichenden Überblick der beiden Konzepte sollen divergente und konvergente Aspekte der beschriebenen Ansätze gegenübergestellt werden. Dieser Überblick findet sich in Kapitel 4. In Kapitel 5 soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die beschriebenen Erklärungsansätze Folgen für die sozialpädagogische Praxis bedingen.
9 - 2-1 Begriffsbestimmung Borderline-Persönlichkeitsstörung Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen Wort entspricht dem Unterschied zwischen einem Blitz und einem Leuchtkäfer. MARK TWAIN Die Fachliteratur beschreibt die Borderline-Persönlichkeitsstörung so polymorph, dass nicht deutlich wird, nach welchen Regeln dieser Begriff verwendet wird. Es finden sich Konstruktionen wie Borderline-Zustände, Borderline-Syndrom, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Borderline-Struktur, Borderline-Persönlichkeitsorganisation. Die Einheit, die das gegenseitige Verstehen seit 100 Jahren wenigstens annähernd möglich macht, ist der bedeutungstragende Bestandteil Borderline. Bereits 1884 publizierte Hughes über das `borderland` der Krankheit. 23 Jahre später führte Bleuler den Begriff der Schizophrenie ein (vgl. DULZ / SCHNEIDER 1999, S. 6f.). Über einige Jahre gab es innerhalb der Psychiatrie immer wieder Neuerungen in bezug auf Neurosen und Psychosen. Zunehmend tauchten sogenannte Borderlinefälle auf. Diese Fälle nannte Schilder 1923 Grenzfälle zwischen Psychose und Neurose verwendete A. Stern erstmalig die Diagnose `Borderline`, um einen Typ von Patienten zu beschreiben, die mit den klassischen psychoanalytischen Methoden nicht behandelt werden konnten (vgl. DULZ / SCHNEIDER 1999, S. 7). Die Besonderheit des Phänomens Borderline ist, dass es sich als Einheit nur schwer betrachten lässt. Ein feststehender Begriff würde das Krankheitsbild eingrenzen, obwohl sich dieses dazu nicht eignet. Für die vorliegende Arbeit mag die Feststellung genügen, dass sich die psychiatrische Forschung als auch die Psychoanalyse, insbesondere Kernberg (1998), mit der Psychopathologie Borderline-Persönlichkeitsstörung auseinander gesetzt haben. Psychoanalyse als auch Psychiatrie haben sich darauf geeinigt, dass es sich bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung um die Eigenart einer überdauernden Charakter- bzw. Persönlichkeitsstörung handeln könnte. Diese Eigenart beschreibt ROHDE-DACHSER: `Borderline` meint ein eigenständiges psychisches Krankheitsbild, das phänomenologisch im Grenzbereich von Neurose, schwere Charakterstörung und Psychose angesiedelt ist, sich differenzialdiagnostisch aber hinreichend genau von diesen nosologischen Kategorien unterscheiden lässt (1989, S. 39).
10 - 3 - Da Einigkeit herrscht, hat die Borderline-Persönlichkeitsstörung Eingang in die Klassifikationssysteme ICD 10 und DSM IV gefunden, auf die im Weiteren eingegangen werden soll. 1.1 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung im ICD 10 Das ICD 10 ist ein internationales Klassifikationssystem psychischer Störungen Die Abkürzung ICD steht für International Classifikation of Disease. Die 10 gibt an, dass es sich um die 10. Ausgabe handelt. Es wurde von der Weltgesundheitsorganisation entwickelt und ist seit 1998 die offizielle Diagnoseklassifikation in der Bundesrepublik Deutschland (SAß u.a. 1996, S. XII). Das ICD 9 enthielt noch die Unterscheidung von Neurose und Psychose. Im ICD 10 findet sich diese Unterscheidung nicht mehr. Die ICD 10 Kommission entschied, psychosoziale und kulturelle Unterschiede herauszunehmen. Eine allgemein verbindliche Formulierung in Form eines Kriteriums sei durch die weltweite Anwendung des ICD 10 nicht möglich (vgl. DILLING u.a 1991, S. 15ff.). Deutlich sei darauf hingewiesen, dass die nach Code F60 F62 klassifizierten Persönlichkeitsstörungen nicht ohne Zweifel in das ICD 10 aufgenommen worden sind. So sagen DILLING u.a: Wieviel Kriterien erfüllt sein müssen, bevor die Diagnose als gesichert angesehen werden kann, ist bei dem heutigen Kenntnisstand ein noch ungelöstes Problem. (1991, S. 30). Die ICD 10 Aufnahme der Borderline-Persönlichkeitsstörung als eine Untergruppe der emotional instabilen Persönlichkeit erfolgte nur sehr zögerlich und mit der Hoffnung die Forschung anzuregen (vgl. ebd.). Unter der Codierung F60.3 sind die diagnostischen Kriterien der emotional instabilen Persönlichkeit aufgeführt: Eine Persönlichkeitsstörung mit deutlicher Tendenz, Impulse auszuagieren. ohne Berücksichtigung von Konsequenzen, und wechselnder, launenhafter Stimmung. Die Fähigkeit, vorauszuplanen, ist gering und Ausbrüche intensiven Ärgers können zu oft gewalttätigen und explosiven Verhalten führen; dieses Verhalten wird leicht ausgelöst, wenn impulsive Handlungen von anderen kritisiert oder behindert werden. Zwei Erscheinungsformen dieser Persönlichkeitsstörung können näher beschrieben werden, bei beiden finden sich Impulsivität und mangelnde Selbstkontrolle (DILLING u.a. 1998, S. 215). Näher beschriebene Erscheinungsformen sind die emotional instabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typus F60.30 und die emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline Typus F DILLING u.a. beschreiben den Borderline Typus wie folgt:
11 - 4 - Einige Kennzeichen emotionaler Instabilität sind vorhanden, zusätzlich sind oft das eigene Selbstbild, Ziele und `innere Präferenzen` (einschließlich der sexuellen) unklar und gestört. Die Neigung zu intensiven, aber unbeständigen Beziehungen kann zu wiederholten emotionalen Krisen führen mit Suiziddrohungen oder selbstschädigenden Handlungen (diese können auch ohne deutliche Auslöser vorkommen). Dazugehöriger Begriff: Borderline Persönlichkeit(sstörung) (1998, S. 215). 1.2 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung im DSM IV Das DSM IV ist eine internationale Klassifikation psychischer Störungen. Die Abkürzung DSM steht für Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Die IV gibt an, dass es sich um die 4. Ausgabe handelt. Es wurde von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung entwickelt und gilt in Amerika als offizielle diagnostische Klassifikation (SAß u.a.1996, S. XIX). Insgesamt enthält das DSM IV ca Kriterien für die Erfassung von 395 Störungen (SAß u.a. 1996, S. XIII). Das System ist im Aufbau multiaxial. Es verfügt über V Achsen. Die relevanten Achsen für die Borderline-Persönlichkeitsstörung sind Achse II und Achse I. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist auf Achse II codiert. Die die Borderline-Persönlichkeitsstörung häufig begleitenden Entwicklungsstörungen, sind auf Achse I codiert. Im Vergleich zu früheren Ausgaben z.b. DSM III, sind im DSM IV insofern Fortschritte gemacht worden als dass die kulturelle Anwendbarkeit verbessert wurde. Es gibt sowohl einen Leitfaden zur Beurteilung kultureller Einflussfaktoren im Anhang I, sowie zu jeder Störung ein Unterkapitel (vgl. SAß u.a. 1996, S. XI ff.). Im Unterkapitel werden besondere kulturelle, Alters- und Geschlechtsmerkmale beschrieben. SAß u.a stellen fest: Die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird überwiegend (ungefähr 75%) bei Frauen diagnostiziert. (1996, S. 737). Das DSM IV als unabhängiges diagnostisches Instrument zu verstehen, ist nicht empfehlenswert. Das DSM IV enthält eine Reihe von psychopathologischen, taxonomischen und nosologischen Entscheidungsregeln, die es zu beherrschen gilt. Es ist für eine hohe Anzahl von Nutzern schwierig, ständig auf dem Laufenden zu bleiben und sämtliche Neuerungen in der diagnostischen Praxis zu kennen. Aus diesem Grunde sollte das DSM IV als ein ergänzendes diagnostisches Instrument genutzt werden. Andere diagnostische Instrumente sind z.b. der Selbst- und Fremdbeurteilungsbogen, vor allem strukturierte Checklisten und diagnostische Interviews (vgl. SAß u.a. 1996, S. XVIII).
12 - 5 - Unter der Codierung (F60.31) sind die diagnostischen Kriterien der Borderline- Persönlichkeitsstörungen aufgeführt: Ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und manifestiert sich in den verschiedenen Lebensbereichen. Mindestens 5 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: (1) verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassen werden zu vermeiden. Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind. (2) Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist. (3) Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. (4) Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgeben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, Fressanfälle ). (5) Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten. (6) Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z.b. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnliche einige Stunden und nur selten Tage andauern). (7) Chronische Gefühle von Leere. (8) Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z.b. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen). (9) Vorübergehende, durch Belastung ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome (SAß u.a. 1996, S. 739). SAß u.a. weisen darauf hin, dass in der Kindheitsgeschichte von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung gehäuft körperlicher und sexueller Missbrauch 1, Vernachlässigung, feindselige Konflikte sowie früher Verlust oder Trennung von den Eltern vorkommt. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung häufig begleitenden Störungen 1 Sexueller Mißbrauch ist immer eine Gewalttat [...]. Sexueller Mißbrauch ist [...] zentraler Angriff auf die Identität und ein `Totalangriff auf das Mensch sein` [...]. Sexueller Mißbrauch ist immer ein Ausnutzen von Macht und Autorität, von körperlicher oder beziehungsbedingter Überlegenheit. Abhängigkeit und Vertrauen des Mädchens [oder des Jungen] werden ausgenutzt, sie [er] wird massiv unter Druck gesetzt und zur Geheimhaltung verpflichtet. Sie [er] wird damit zu Sprachlosigkeit, Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit verurteilt. Der Begriff sexueller Mißbrauch umfasst das ganze Spektrum sexueller Gewalthandlungen, von scheinbar harmlosen Berührungen bis zu den unterschiedlichen Formen der Penetration (WILDWASSER 1993, S. 61)
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