Dissozialität und Garantenpflicht
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- Helge Kohler
- vor 8 Jahren
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1 Dissozialität und Garantenpflicht Prof. M. Karl-Heinz Lehmann, Burgdorf Wer beruflich oder auch nur zufällig mit Personen, die sich dissozial verhalten, konfrontiert wird, ist nicht immer sicher, ob Gesetze über moralisch-fundierte Verpflichtungen hinaus, das Einschreiten, also Hilfe gebieten. Wird die möglicherweise unterlassene Hilfe gar strafrechtlich unter dem Begriff der Verletzung der Garantenpflicht ( 13 StGB) geahndet? Im Strafgesetzbuch wird nicht nur sozial missbilligtes aktives Tun wie z.b. Diebstahl mit Strafe bedroht, sondern auch das Unterlassen einer an sich gebotenen Handlung, nämlich dann, wenn zu dieser Handlung eine rechtliche Verpflichtung besteht. Eine solche rechtliche Verpflichtung besteht z. B. nicht für einen Passanten, der zusieht, wie eine Sprayer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert - wie es in 303 Abs. StGB heißt. Der Passant, der hier das Einschreiten unterlässt, kann nicht etwa selbst wegen Sachbeschädigung bestraft werden. Anders zu beurteilen ist jedoch das Verhalten eines Arztes, der sich auf den Telefonanruf der Mutter wegen ihres erkrankten Kindes mit einer Ferndiagnose und Fernbehandlung begnügte, obwohl die ihm mitgeteilten Krankheitserscheinungen die Möglichkeit einer beginnenden Blinddarmentzündung nahe legten und er daher angesichts der Gefährlichkeit dieser Erkrankung - wenn er schon die Behandlung übernahm - die Patientin hätte persönlich untersuchen und überwachen müssen. Hier bestand für den Arzt eine Rechtspflicht zum Handeln, nämlich die Pflicht, die Patientin zu besuchen. Die Patientin starb. Hätte der Arzt den Hausbesuch nicht unterlassen und wäre sie vom dem Arzt pflichtgemäß untersucht und der Krankheitsverlauf selbst von diesem beobachtet worden, wäre sie nicht an den Folgen der Blinddarmentzündung gestorben. Der Bundesgerichtshof hat mit seiner Entscheidung (BGHSt, Urteil vom StR 115/64) die bereits erfolgte Verurteilung des Arztes wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu einer Geldstrafe von 2000 DM bestätigt und in dem Urteil auch klargestellt, dass die Ansicht, dass ein Arzt einen Hausbesuch nur auf Verlangen vorzunehmen habe, irrig ist. Übernimmt der Arzt die Behandlung, so hat er pflichtgemäß selbst zu prüfen, ob die persönliche Untersuchung und damit ein Hausbesuch bei einem bettlägerigen Kranken erforderlich ist. Garantenstellung Wer in besonderer Weise für den strafrechtlichen Schutz eines Rechtsgutes z.b. das Leben oder die Gesundheit anderer verantwortlich ist, kann das Strafrecht wegen der vielen Fallmöglichkeiten nicht im Einzelnen gesetzlich regeln, sondern muss es der Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen, Maßstäbe zu entwickeln. Beide gehen heute davon aus, dass aufgrund besondere Beziehungen von Menschen untereinander Pflichten entstehen. Dazu gehört die Pflicht, drohende en abzuwehren, also davon betroffene Personen zu beschützen. Der Arzt im Beispielfall hatte eine spezifische Schutzaufgabe gegenüber dem Kind und damit eine Garantenstellung. 1
2 Im Strafgesetzbuch finden wir in 13, der die Garantenstellung beschreibt (... wenn er rechtlich dafür einzustehen hat), eine Formulierung, die für Nicht-Juristen besonders deshalb nicht nachvollziehbar ist, weil der Begriff Erfolg hier im strafrechtlichen Gebrauch nicht wie sonst eher positiv besetzt ist. Als Erfolg im Sinne des Strafgesetzbuches gilt die Vollendung einer Straftat, also z.b. die fahrlässige Tötung. 13 StGB Begehen durch Unterlassen (1) Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. (2) Die Strafe kann nach 49 Abs. 1 gemildert werden. Die Formen dissozialen Verhaltens sind jedoch so unterschiedlich, dass den beruflichen oder spontanen Helfern nicht pauschal unterstellt werden kann, sich überhaupt in einer Garantenstellung zu befinden. Dissoziales Verhalten begegnet uns zum Beispiel bei Menschen, die ihre Wohnungen mit Gegenständen bis hin zum Müll vollstopfen oder bei Personen, die ihre eigene Körperpflege so vernachlässigen, dass ihre Gesundheit gefährdet wird oder bei anderen, die an Beziehungsschwäche oder Bindungsstörungen leiden. Welche ehrenamtlichen oder berufsmäßigen Helfer solcher Personen befinden sich also in einer Garantenstellung, aus der sich dann eine Garantenpflicht zum Handeln ergibt? Beschützergaranten sind demnach Personen, die besonderen Obhutspflichten zum Schutz anderer aufgrund folgender Beziehungen haben: familiäre Bindungen gegenüber Kindern, Eltern, Großeltern, Ehepartnern, eingetragenen Lebenspartnern, Geschwistern (dabei gibt es zur Reichweite dieser Schutzpflichten verschiedene Auffassungen, auf jeden Fall sollen bei familiärer Verbundenheit Leben, Leib und Freiheit geschützt werden. Es soll dabei auch nicht darauf ankommen, ob Verwandte in gerader Linie tatsächlich zusammenleben); nicht auf Verwandtschaft beruhende Lebens- und engemeinschaften (z. B. Bergsteigergruppe, Expeditionsteilnehmer, jedoch nicht etwa in jedem Falle die Mitbewohner einer Wohngemeinschaft); freiwillige Übernahme der Beschützerfunktion (z. B. Notarzt, Rettungsdienstpersonal, Babysitter). 2
3 Beschützergarant Ungeziefer hat die Pflicht Rechtsgut: Kranker Mensch (Obhutspflicht), andere Rechtsgüter (hier: Kranken) vor drohenden en wie Ungeziefer, Straftaten Dritter etc. zu schützen. 2 Als Überwachungsgaranten gelten dagegen solche Personen, die für bestimmte enquellen verantwortlich sind und insoweit Sicherungspflichten haben. Sie müssen dafür sorgen, dass eine latente nicht zur konkreten wird, die schließlich zu Schäden für andere führen kann. Typische Überwachungsgaranten sind Hauseigentümer für Räumung und Streuung der Zufahrt bei Schnee und Eis; ihnen obliegt die Verkehrssicherungspflicht zu Gunsten der Teilnehmer am Straßenverkehr im weiteren Sinne Pflichten zur Beaufsichtigung Dritter (z. B. Aufsichtspflicht von Eltern über ihre eigenen Kinder oder von Erziehern für anvertraute Kinder), Pflichten aus eigenem gefährdendem Vorverhalten (Unfallverursacher hat dafür zu sorgen, dass die Schadensstelle abgesichert wird.). 3
4 Überwachergarant Gehbehinderter Baufällige Treppe hat die Pflicht (Sicherungspflicht), eine enquelle (hier die baufällige Treppe) zu beherrschen, d.h. konkret, die Gefährdungen zu beseitigen, indem er die Treppe repariert. 3 Unter Berücksichtigung der Systematik solcher Entstehungsgründe für die Garantenpflicht stützt sich die Rechtsprechung auf materielle Zurechnungskriterien und differenziert dabei nach 1. Garantenstellung, die aus dem Gesetz folgt wie die von Eltern gegenüber ihren Kindern, die von Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartnern, die von Polizeibeamten zum Schutz von Rechtsgütern Dritter, von Sozialarbeitern nach SGB VIII, von Schulleitern zu Gunsten seiner Schüler; 2. Garantenstellung, die durch Gewährsübernahme entsteht wie die von Ärzten, Krankenschwestern, Bademeistern 3. Garantenstellung, die durch besonderes Vertrauensverhältnis entsteht wie beim gemeinsamen Bergsteigen oder auch Streifendienst 4. Garantenstellung, die sich aus dem tatsächlichen Herbeiführen einer enlage ergibt wie die Verhinderung der Tötung eines Opfers durch einen Beteiligten bei vorangegangener gemeinsamer beabsichtigenden bloßen Misshandlung; Ausheben einer Baugrube; 5. Garantenstellung, die aus der Verantwortlichkeit für eine besondere enlage entsteht. So kann z.b. die Stellung als Vermieter eine Garantenstellung begründen, wenn sich aus besonderen Umständen die Pflicht zum Schutz von Rechtsgütern ergibt (Abwendung von Gesundheitsgefahren, die von einer vermieteten Wohnung ausgehen). Garantenpflicht 4
5 Durch die Garantenstellung besteht eine Rechtspflicht zum Handeln; kommt der Verpflichtete dieser nicht nach, wird sein Unterlassen so behandelt als habe er das Recht durch positives Tun verletzt. Die Bestrafung des Unterlassungstäters folgt aus dem verletzten Strafgesetz. Allerdings kann eine Bestrafung nur erfolgen, wenn für den Unterlassungstäter die tatsächliche Möglichkeit der Erfolgsabwendung bestanden hat. Denn die Rechtsordnung kann nur das verlangen, was dem Verpflichteten tatsächlich möglich ist. Die Verletzung muss gerade auf das Unterlassen zurückzuführen sein: Denkt man die gebotene Handlung hinzu, dürfte die Verletzung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten sein. Liegen hier Zweifel vor, ist die Strafbarkeit zu verneinen. Helfer von Dissozialen Der kurze Überblick zur Garantenstellung und zur Garantenpflicht lässt Sie als Zuhörer wohl eher ratlos zurück, wenn Sie die Hoffnung hatten, nun zu erfahren, durch welches Unterlassen genau denn nun die Garantenpflicht verletzt wird. Das ist Tatfrage und die Fallkonstellationen sind so vielfältig, dass die Beschreibung und Katalogisierung auch nicht weiterführen würde. Festhalten können wir lediglich, dass alle die, die mit Dissozialen umgehen, also Angehörige, Pflegedienstleistende, Psychiater, Sozialarbeiter, Ärzte, Krankenpfleger, Psychologen, Vermieter, Hauseigentümer, gesetzliche Betreuer, Angehörige der Feuerwehr usw. in einer Garantenstellung sein können und die daraus resultierenden Pflichten von ihnen selbst eingeschätzt werden müssen. Lehmann, M. Karl-Heinz, Prof., Ass.jur., Referent für Fortbildungsveranstaltungen von Jugendämtern, freien Trägern und Wohlfahrtsverbänden mit den Schwerpunkten Aufsichtspflicht und Haftung sowie Sozialdatenschutz. Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Hannover, außerdem tätig beim Institut LüttringHaus (Institut für Sozialraumorientierung, Quartier- und Case-Management) sowie als externer Datenschutzbeauftragter in sozialen Einrichtungen ( Von 1971 bis 2001 Professor an der Ev. Fachhochschule Hannover und gleichzeitig von 1970 bis 1993 Rechtsanwalt (Strafverteidiger) in Ladenburg und Hannover Burgdorf, Am Försterberg 28 5
6 Garantenpflicht 13 StGB Begehen durch Unterlassen (1) Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes ge-hört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unter-lassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. (2) Die Strafe kann nach 49 Abs. 1 gemildert werden. 1
7 Beschützergarant Ungeziefer hat die Pflicht (Obhutspflicht), ande- Rechtsgut: Kranker Mensch re Rechtsgüter (hier: Kranken) vor drohenden en wie Ungeziefer, Straftaten Dritter etc. zu schützen. 2
8 Überwachergarant Gehbehinderter BaufälligeTreppe hat die Pflicht (Sicherungspflicht), eine enquelle (hier die baufällige Treppe) zu beherrschen, d.h. konkret, die Gefährdungen zu beseitigen, indem er die Treppe repariert. 3
9 Garantenstellung, die aus dem Gesetz folgt wie die von Eltern gegenüber ihren Kindern, die von Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartnern, die von Polizeibeamten zum Schutz von Rechtsgütern Dritter, von Sozialarbeitern nach SGB VIII, von Schulleitern zu Gunsten seiner Schüler; Garantenstellung, die durch Gewährsübernahme entsteht wie die von Ärzten, Krankenschwestern, Bademeistern Garantenstellung, die durch besonderes Vertrauensverhältnis entsteht wie beim gemeinsamen Bergsteigen oder auch Streifendienst Garantenstellung, die sich aus dem tatsächlichen Herbeiführen einer enlage ergibt wie die Verhinderung der Tötung eines Opfers durch einen Beteiligten bei vorangegangener gemeinsamer beabsichtigenden bloßen Misshandlung; Ausheben einer Baugrube; Garantenstellung, die aus der Verantwortlichkeit für eine besondere enlage entsteht. So kann z.b. die Stellung als Vermieter eine Garantenstellung begründen, wenn sich aus besonderen Umständen die Pflicht zum Schutz von Rechtsgütern ergibt (Abwendung von Gesundheitsgefahren, die von einer vermieteten Wohnung ausgehen).
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