Transitiver, intransitiver und reflexiver Bildungsbegriff
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- Paul Baumhauer
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1 Bildungsbegriff Transitiver, intransitiver und reflexiver Bildungsbegriff Werner Sesink Institut für Pädagogik. Technische Universität Darmstadt Pädagogisch gesehen geht es bei der Entwicklung eines Menschen immer um eine Entwicklung besonderer Qualität. Bezeichnet wird diese Qualität traditionell mit dem Begriff der Bildung. Die besondere Qualität, die mit dem Bildungsbegriff angesprochen wird, besteht darin, daß es um die Entwicklung eines Menschen in bezug auf seine Menschlichkeit gehen soll. Wenn wir versuchen zu bestimmen, was Bildung ist, kommt also das jeweilige menschliche Selbstverständnis ins Spiel: Worin sehen Menschen heute eigentlich ihre Menschlichkeit? Diese Frage kann niemand allein für sich beantworten. Denn menschliches Leben ist Zusammenleben; und die Sinnbestimmungen menschlicher Existenz müssen sich miteinander vermitteln. Was Menschsein bedeutet, ist abhängig von gesellschaftlicher Verständigung darüber, damit von Zeit und Ort, von kultureller Tradition und gesellschaftlicher Verfassung, vom Stand der Produktivkräfte und von der Reflexion auf dies alles. Es ist immer in Bewegung, vielfältig differenziert; auch in sich widersprüchlich. Daß man was Techniker, Naturwissenschaftler, Mathematiker und Informatiker so oft als Verschwommenheit und Mangel an Präzision in der Pädagogik beklagen den Bildungsbegriff nicht einfach definieren kann, liegt in der Natur dieser Sache. Was Bildung ist, steht ständig zur Disposition; und eben dies noch ist Moment der Bildung: daß sie sich selbst bestimmt und deshalb nicht vorweg bestimmbar ist. Bildung ist nicht eine irgendwie von woanders von Natur, gesellschaftlichen Institutionen oder Wissenschaft her 35
2 I. Lernumgebungen bestimmte oder bestimmbare, sondern eine sich selbst bestimmende Entwicklung. Betrachten wir nun diesen Begriff genauer. Das dazugehörige Verb heißt bilden und ist ein transitives Verb. Es bezieht sich also auf ein Objekt. Bildend ist eine Person, die eine andere Person bildet. Das entspricht gängigem pädagogischem Denken. Wenn von Jugendbildung, Erwachsenenbildung, Lehrerbildung usw. gesprochen wird, dann sind damit normalerweise die Tätigkeiten von Personen gemeint, die als Bildner andere Personen (Jugendliche, Erwachsene, angehende LehrerInnen) bilden. Dieser Bildungsbegriff ist in seiner konsequenten Fassung ein technischer, ein Bearbeitungsbegriff. Bildner bilden (transitiv) Zu Bildender Bildung gebildet werden Gebildeter Abbildung 1: transitiver Bildungsbegriff Aber es gibt auch eine andere Bedeutung von Bildung, worin Bildung intransitiv verstanden wird. Bildung meint dann eine Entwicklung aus eigener Kraft. Auch das Wort Entwicklung hat ja diese Doppeldeutigkeit, sowohl transitiv als auch intransitiv gemeint sein zu können. Ich kann etwas, zum Beispiel eine Schule, entwickeln. In diesem Sinne wird heute viel von Schulentwicklung gesprochen. Das ist der transitive Begriff von Entwicklung. Und ich kann mich selbst 36
3 Bildungsbegriff entwickeln. Dann mache ich eine Entwicklung durch. Das ist der intransitive Begriff von Entwicklung. Für die intransitive Bedeutung von Entwicklung oder Bildung gibt es kein Verb. Sie wird durch den Zusatz der Reflexivform des Personalpronomens ausgedrückt: sich entwickeln, sich bilden. Bildner Bildung ermöglichen, unterstützen Sich Bildender Bildung sich bilden (intransitiv) Gebildeter Abbildung 2: intransitiver Bildungsbegriff Die intransitive Bedeutung von Bildung meint aber etwas anderes, als die Reflexivform unmittelbar ausdrückt. Sie verweist nämlich darauf, daß jene Trennung von Subjekt und Objekt der Bildung, wie sie auch in der Reflexivform noch ausgesprochen wird, nicht möglich ist, weil sie das Ganze dessen, was Bildung meint, nicht trifft, so wie es für das Verb leben kein Objekt gibt in dem Sinne, daß ich einen anderen Menschen leben kann. Die reflexive Formulierung Ich lebe mich erschiene uns daher als eine absurde Formulierung. Vom intransitiven Verständnis des Begriffs Bildung wäre die Formulierung Ich bilde mich eigentlich ein ebenso abwegiger Ausdruck. Denn es meint, daß Bildung ein spontanes, aus eigenem Antrieb und eigener Dynamik sich vollziehendes oder ereignendes Geschehen ist; eben wie das Leben selbst, der es als Lebensäußerung zugehört wie das Atmen. 37
4 I. Lernumgebungen Wir haben zwar keine andere Möglichkeit, die intransitive Bedeutung von Bildung verbal auszudrücken als durch die Formulierung sich bilden. Aber man sollte daran denken, daß diese reflexive oder selbstbezügliche Formulierung immer noch mißverständlich ist. Wir müssen uns Bildung in ihrer intransitiven Bedeutung als spontanes Geschehen, als Ereignis vorstellen. Weil wir den intransitiven Bildungsbegriff nicht anders als in der Reflexivform ausdrücken können, geht uns die Möglichkeit verloren, den reflexiven Bildungsbegriff vom intransitiven Bildungsbegriff terminologisch abzusetzen. Es gibt zwei Möglichkeiten, den reflexiven Bildungsbegriff zu bestimmen. Die erste Möglichkeit geht vom transitiven Bildungsbegriff aus. Sie operiert entsprechend mit einer Spaltung in Subjekt und Objekt der Bildung. Bildung erscheint dann als eine Form von Selbst-bearbeitung. Ich würde es vorziehen, hierfür den modernen Terminus der Selbstbezüglichkeit zu nehmen, der ja zu gern mit dem der Reflexivität verwechselt wird. Von Selbstbezüglichkeit wird zum Beispiel gesprochen, wenn ein Computerprogramm sich selbst aufruft. Denn dabei geht es ja eine Beziehung zu sich selbst ein. Und das so behaupten manche sei doch vergleichbar mit der Reflexivität des Selbstbewußtseins, d.h. eines Bewußtseins, das Bewußtsein seiner selbst ist, also sich als Bewußtsein weiß. Aber mit sich selbst etwas machen, zu sich selbst eine Beziehung aufzunehmen, macht noch keine Reflexivität aus. Ich kann mein Bild im Spiegel sehen, ohne mich zu erkennen. Ein äußerer Beobachter wird sagen: Er sieht sich selbst; denn der Spiegel reflektiert sein Bild. Aber ich schaue in den Spiegel und sehe möglicherweise jemand anderes. Zur Reflexivität der Selbsterkenntnis gehört die Identifikation mit dem, was ich wahrnehme: Dies bin ich. Allein im Spiegel kann ich mich nicht selbst wahrnehmen; dazu muß das Spiegelbild in eine Beziehung gebracht werden zu dem, was ich in mir selbst spüre. In Bezug auf die Reflexivität der Bildung heißt dies: Was ich in mir selbst spüre, ist die Spontaneität der Bildungsbewegung, ein 38
5 Bildungsbegriff ursprünglicher Drang nach Vermittlung. Dieser erfährt, wenn alles gut geht, durch andere Menschen eine Resonanz. Und durch die Erfahrung dieser Resonanz wird einem Menschen eine Objektivierung seiner selbst und seiner Bildungsbewegung ermöglicht, durch die er sich bewußt zu sich, zu seiner Bildung verhalten kann. Die sich bildende individuelle Vernunft nimmt die Spontaneität der eigenen Bildungsbewegung auf und bezieht sie auf die äußeren Bedingungen, auf die natürliche und soziale Welt. Sie bezieht sie daher auch auf die Einflüsse, die aus dieser Welt auf den einzelnen Menschen einwirken; insofern auch auf die von dort ausgehenden erzieherischen und bildenden Einflüsse. Die Vernunft vermittelt zwischen der spontanen Bildungsbewegung, welche im intransitiven Bildungsbegriff gefaßt wird, und den bildenden Einflüssen von außen, welche im transitiven Bildungsbegriff erfaßt werden. So wird Bildung reflexiv. Erst durch reflexive Vernunft wird Bildung sich selbst bestimmend. Das Konzept der Programmierten Instruktion sieht die Computertechnologie als Instrument ausschließlich intransitiv, nämlich technisch verstandener Bildung vor. Doch ist dies ein Instrumentalismus der jeweils eingenommenen pädagogischen Haltung, nicht einer, welcher der Technologie als solcher zwangsläufig innewohnte. Computertechnologie kann vielmehr eine ebenso große Bedeutung entfalten für die intransitive Dimension von Bildung, wenn sie Räume eröffnet für menschliche Kreativität. Und schließlich bildet sie einen Spiegel, in dem Menschen ihre eigenen Hervorbringungen im Prozeß ihrer Entwicklung distanzieren, betrachten, analysieren und bedenken können. 39
6 40 I. Lernumgebungen
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