Fallbesprechung Grundrechte. Fall 7 Burkini
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- Lena Wolf
- vor 7 Jahren
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1 Fall 7 Burkini 1
2 I. Schutzbereich Die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, I. Schutzbereich 1. Sachlicher Schutzbereich Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 I GG und das Recht der ungestörten Religionsausübung aus Art. 4 II GG bilden ein einheitliches Grundrecht. Immer zusammen zitieren!! Begriff der Religion und der Weltanschauung Erklärung der Stellung des Menschen in der Welt und seine Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten. einschränkend: BVerfG: Religion oder Religionsgemeinschaft erforderlich! Behauptung, dass eine solche vorliegt muss nach äußerem Erscheinungsbild und geistigem Gehalt plausibel sein. 2
3 I. Schutzbereich Geschütztes Verhalten: 1. Innere Freiheit (forum internum), religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zu bilden und zu haben 2. Äußere Freiheit (forum externum), diese Überzeugungen zu bekennen, zu verbreiten und entsprechend zu handeln (kultische Feiern und Gebräuche) Achtung: Verhalten nur geschützt, wenn von Religion geboten, nicht, wenn lediglich erlaubt (Verzehr von Schweinefleisch durch Christen)! Nicht geschützt ist ferner rein wirtschaftliches oder politisches Handeln (Erwerb von Mietgrundstücken) Beim Kirchengeläut zu unterscheiden zw. liturgischem Läuten und Zeitschlagen! 3
4 I. Schutzbereich II. Eingriff III. Verf. Rechtfertigung II. Eingriff Moderner Eingriffsbegriff III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 1. Einschränkbarkeit a) Fraglich, ob einfacher Gesetzesvorbehalt aus Art. 136 I, III, 137 III 1 WRV i.v.m. Art. 140 GG? pro: Art. 136 f. WRV sind gemäß Art. 140 GG Bestandteil des GG contra: Überlagerung durch Art. 4 GG um dessen Bedeutung (kein Gesetzesvorbehalt in Art. 4 GG selbst) gerecht zu werden (nach h.m. und BVerfG) Somit: Kein einfacher Gesetzesvorbehalt aus WRV 4
5 I. Schutzbereich II. Eingriff III. Verf. Rechtfertigung b) Daher einschränkbar durch kollidierendes Verfassungsrecht 2. Formelle Verfassungsmäßigkeit Keine Besonderheiten 3. Materielle Verfassungsmäßigkeit a) Verhältnismäßigkeit aa) Legitimes Ziel bb) Geeignetheit cc) Erforderlichkeit dd) Angemessenheit b) Sonstiges Materielles Verfassungsrecht 5
6 Fall 7: Burkini Muslima M, die die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, besucht 2011/2012 die 5. Klasse des G Gymnasiums in Hessen. Dort wird gemäß des Hessischen Schulgesetzes (HSchG) der Schwimmunterricht für Jungen und Mädchen gemeinsam erteilt (sog. koedukativer Schwimmunterricht). Unterrichtsbefreiungen können aus besonderen Gründen gem. 69 III 1 HSchG vorgenommen werden. Die Eltern von M stellten in ihrem Namen einen Antrag auf Befreiung der M vom Schwimmunterricht. Denn im Islam sei zwar die sportliche Betätigung jeglicher Art erlaubt und erwünscht. Jedoch würden die islamischen Kleidungsvorschriften verbieten, dass Mädchen und Jungen gemeinsam am Schwimmunterricht teilnehmen. Noch dazu werde M mit dem Anblick von nur mit Badehosen bekleideten Jungen konfrontiert. Der Schulleiter lehnte den Antrag mit der Begründung ab, M könne in einer Badebekleidung am Schwimmunterricht teilnehmen, die den Vorgaben des Islam gerecht werde. Konkret sei dies mit einem sog. Burkini möglich, der den ganzen Körper bis auf Hände, Füße und Gesicht bedecke, ohne das Schwimmen zu behindern. Bei einer Befreiung entfiele im Übrigen die positive Integrationskraft des Sportunterrichts, manche Schüler lernten nicht mehr schwimmen und durch Befreiungen vom Sportunterricht im Allgemeinen bestünde die Gefahr des Bewegungsmangels. 6
7 Dagegen erhoben die Eltern von M in M s Namen Klage, blieben aber in allen Instanzen erfolglos, so auch zuletzt vor dem BVerwG. Sie tragen vor, dass der staatliche Erziehungs- und Bildungsauftrag nicht auch koedukativen Schwimmunterricht umfasse und daher eine Befreiung für den staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag unschädlich sei. Außerdem sei nach der religiösen Anschauung der Beteiligten das Tragen eines Burkini nicht möglich, weil sich auch bei einem solchen Kleidungsstück bei einzelnen Bewegungen oder Übungen die Körperformen abzeichnen würden. Die Eltern fragen sich, was sie noch für M gegen das Urteil des BVerwG unternehmen können. Bearbeitervermerk: Prüfen Sie in einem Gutachten, was noch gegen das Urteil des BVerwG unternommen werden kann. Von der formellen Verfassungsmäßigkeit des HSchG ist auszugehen. Leseempfehlung: BVerfGE 93, 1 Kruzifix; BVerfG, NJW 2002, 663 Schächten; BVerfGE 108, 282 Kopftuch für Lehrerin; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, 29. Aufl. 2013, Rn
8 I. Zuständigkeit II. Berechtigung Lösung Fall 7 Obersatz: Eine Verfassungsbeschwerde der M gegen die letztinstanzliche Verurteilung hätte Erfolg, wenn sie zulässig und begründet wäre. I. Zuständigkeit des BVerfG (Art. 93 I Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) Das BVerfG ist für die Verfassungsbeschwerde der M zuständig, soweit sie sich auf die Verletzung von Grundrechten beruft. II. Beschwerdeberechtigung (Art. 93 I Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 I BVerfGG) Die Verfassungsbeschwerde kann von Jedermann, also jedem der potentiell Träger von Grundrechten sein kann, erhoben werden. Bei M als lebende natürliche Person unproblematisch. 8
9 I. Zuständigkeit II. Berechtigung III. Prozessfähigkeit III. Prozessfähigkeit = wer nach seiner individuellen geistigen Reife in der Lage ist, die Bedeutung des Sachverhalts und seiner eigenen Grundrechte im Wesentlichen zu umreißen (Volle) Geschäftsfähigkeit nicht nötig Hier: Schülerin der 5. Klasse (-) Vertretung durch Eltern (+) 9
10 I. Zuständigkeit II. Berechtigung III. Prozessfähigkeit IV. Gegenstand V. Befugnis IV. Beschwerdegegenstand (Art. 93 I Nr. 4a GG, 90 I BVerfGG) Jeder Akt der öffentlichen Gewalt. Hier: Urteil der deutschen Judikative V. Beschwerdebefugnis (Art. 93 I Nr. 4a GG, 90 I BVerfGG) 1. Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung Eine Verletzung der Art. 4 I, II, 2 I GG sowie Art. 3 I GG ist nicht völlig ausgeschlossen Unproblematisch: M ist keine Deutsche In Frage kommende Grundrechte sind Jedermannsgrundrechte 2. Eigene, unmittelbare und gegenwärtige Betroffenheit Hier: Bei einer letztinstanzlichen Verurteilung unproblematisch der Fall M ist somit beschwerdebefugt! 10
11 I. Zuständigkeit II. Berechtigung III. Prozessfähigkeit IV. Gegenstand V. Befugnis VI. Rechtsweger. VII. Subsidiarität VIII. Form/Frist VI. Rechtswegerschöpfung ( 90 II 1 BVerfGG i.v.m. Art. 94 II 2 GG) Hier: Gegen Urteil des BVerwG steht kein weiterer Rechtsweg mehr zur Verfügung, der Rechtsweg ist erschöpft. VII. Subsidiarität Verfassungsbeschwerde nur zulässig, wenn Grundrechtsverletzung auf keine andere Weise hätte abgewendet werden können. Hier: Andere Möglichkeiten der Grundrechtswahrung sind nicht ersichtlich. VIII. Form und Frist ( 23 I, 92, 93 I BVerfGG) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde der M wäre zulässig. 11
12 B. Begründeth. I. 1. Schutzbereich B. Begründetheit Obersatz: Die VB der M wäre begründet, wenn das Urteil Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte der M verletzt. I. Religions- und Bekenntnisfreiheit, ist verletzt, wenn das Urteil in den Schutzbereich eingreift, ohne verfassungsrechtlich gerechtfertigt zu sein. 1. Schutzbereich Islam ist eine Religion Gebote des Islam verbieten es Mädchen sich gegenüber Angehörigen des männlichen Geschlechts in knapp geschnittener Badebekleidung zu zeigen Somit: Schutzbereich des eröffnet 12
13 B. Begründeth. I. 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. verf. Rechtfertigung 2. Eingriff Nach dem modernen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff vor, da das Urteil M weiterhin dazu verpflichtet am koedukativen Schwimmunterricht teilzunehmen und M daher nicht die Gebote des Islams beachten kann. Ihr wird somit ein Verhalten, welches in den Schutzbereich des Art. 4 I, II GG fällt unmöglich gemacht. 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung a) Einschränkbarkeit Kein einfacher Gesetzesvorbehalt aus WRV i.v.m. Art. 140 GG Somit nur durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbar Hier: Aufsicht des Staates über das ganze Schulwesen und der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag, Belange mit Verfassungsrang aus Art. 7 I GG 13
14 B. Begründeth. I. 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. verf. Rechtfertigung bb) Verfassungsmäßigkeit der Eingriffsgrundlage im Hinblick auf Art. 4 I, II GG (1) Formelle Verfassungsmäßigkeit Nach Bearbeitervermerk zu unterstellen (2) Materielle Verfassungsmäßigkeit (a) Verhältnismäßigkeit (aa) Legitimes Ziel Die Aufsicht des Staates über das ganze Schulwesen und die Verwirklichung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags stellen legitime Ziele dar. (bb) Geeignetheit Die Pflicht am koedukativen Schwimmunterricht teilzunehmen ist geeignet, die Verpflichtungen aus Art. 7 I GG zu erfüllen. 14
15 B. Begründeth. I. 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. verf. Rechtfertigung (cc) Erforderlichkeit Mildere Mittel (Aufklärung, Verbot ohne Sanktion) versprechen nicht denselben Erfolg wie die Verpflichtung der Teilnahme. (dd) Angemessenheit Der Eingriff dürfte nicht außer Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen. Abstrakte Abwägung: Aufsicht des Staates über das ganze Schulwesen und die Verwirklichung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags mit Einschränkung der Religions- und Bekenntnisfreiheit Kein genereller Vorrang eines der genannten Rechtsgüter Somit ist eine Abwägung im Einzelfall (Herstellung praktischer Konkordanz) erforderlich. 15
16 B. Begründeth. I. 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. verf. Rechtfertigung Konkrete Abwägung: Den staatlichen Wirkungsbefugnissen im Schulbereich kommt wegen der Bedeutung der Schule für eine gleichmäßige Entfaltung der Lebenschancen der nachwachsenden Generation und für den Zusammenhalt der Gesellschaft eine immense Bedeutung zu. Religionsfreiheit aber ist ebenso wichtig. Staat hat bei Ausgestaltung des Unterrichts Neutralität und Toleranz zu wahren, insbesondere in religiöser Hinsicht. Aber: kein genereller Vorrang individueller Glaubenspositionen, da sonst das staatliche Bestimmungsrecht ins Leere laufen würde. 16
17 B. Begründeth. I. 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. verf. Rechtfertigung Rechtsgrundlage sieht Ermessen vor. Keine generelle Bevorzugung eines Rechts, sondern Abwägung im Einzelfall (b) Sonstiges materielles Verfassungsrecht Keine Verstöße ersichtlich Zwischenergebnis: Das Gesetz stellt eine im Hinblick auf verfassungsgemäße Eingriffsgrundlage dar. 17
18 B. Begründeth. I. 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. verf. Rechtfertigung cc) Verfassungsmäßige Anwendung der gesetzlichen Grundlage (1) Prüfungsmaßstab Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz. Es überprüft fachgerichtliche Entscheidungen nur am Maßstab spezifischen Verfassungsrechts. Richtige Anwendung der Grundrechte Wahrung der Verhältnismäßigkeit (2) Anwendung des Maßstabs Verpflichtung zum koedukativen Schwimmunterricht verfolgt ein legitimes Ziel, ist geeignet und erforderlich. Problem: Angemessenheit!? 18
19 B. Begründeth. I. 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. verf. Rechtfertigung Hier: Burkini nach M s Ansicht auch keine ausreichende Bekleidung. Befreiung von einzelnen Unterrichtseinheiten nicht als routinemäßige Option der Konfliktlösung. Keine strikte Verwirklichung beider Recht möglich. Bekleidungsvorschrift im Islam eher von weniger hohem Stellenwert Burkini generell gangbarer Weg Somit: Glaubensfreiheit hat in diesem Einzelfall hinter den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu treten.. Zwischenergebnis: Der Eingriff in die Religionsfreiheit der M ist daher verfassungsrechtlich gerechtfertigt, ist nicht verletzt. 19
20 B. Begründeth. I. 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. verf. Rechtfertigung II. Art. 2 I GG III. Art. 3 I GG 2. Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 I GG Die allgemeine Handlungsfreiheit tritt als subsidiäres Auffanggrundrecht hinter zurück. 3. Allgemeiner Gleichheitssatz, Art. 3 I GG Ein Verstoß gegen den allg. Gleichheitssatz liegt vor, wenn das Urteil auf einem gleichheitswidrigen Gesetz beruht und/oder das Urteil selbst gleichheitswidrig ist. a) Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem aa) Wesentlich Gleiches In Betracht kommen hier Schüler unterschiedlicher Glaubensrichtungen Jedoch liegen mit den unterschiedlichen Glaubensrichtungen der Schüler keine derart gravierenden Unterschiede vor, die es rechtfertigen, unterschiedliche Gruppen zu bilden 20
21 B. Begründeth. I. 1. Schutzbereich 2. Eingriff 3. verf. Rechtfertigung II. Art. 2 I GG III. Art. 3 I GG Ergebnis: Die Klage wäre unbegründet und hätte damit keine Aussicht auf Erfolg. 21
22 Hinweise zur Nachbearbeitung: Der Schwerpunkt von Fall 7 liegt auf dem Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit gem.. Es war zweistufig zu prüfen (Gesetz als Eingriffsgrundlage, Anwendung der Eingriffsgrundlage durch Einzelakt). 22
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