Diabetes heute und später? Informationen über mögliche Folgeerkrankungen bei Diabetes mellitus Typ I
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- Gerrit Hartmann
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1 Medizinische Universitäts-Kinderklinik Prof. Dr. med. Primus E. Mullis Abteilungsleiter Pädiatrische Endokrinologie / Diabetologie & Stoffwechsel CH 3010 Bern Diabetes heute und später? Informationen über mögliche Folgeerkrankungen bei Diabetes mellitus Typ I Diabetes heute Die Vorteile möglichst normaler Blutzuckerwerte (Ziel: mmol/l) kann der Diabetiker/die Diabetikerin zwar nicht in jedem Moment spüren, doch sie beeinflussen schon heute sein Wohlbefinden. Die körperliche Fitness und Leistungsfähigkeit hängen von einer guten Blutzuckereinstellung ab (Zielwert: HbA1c <7.7%), da die Energieversorgung vom Gehirn, wie auch der Muskulatur nur bei normalen Blutzuckerwerten optimal ist. Im Alltag hat sich gezeigt, dass Jugendliche bei fast normalen Blutzuckerwerten weniger anfällig für Infektionskrankheiten oder Hautprobleme sind. Bei sehr hohem Blutzuckerspiegel wird die Haut weniger gut durchblutet, so dass sich Pickel und kleinste Verletzungen eher entzünden und langsamer abheilen. Warum es sich lohnt, eine möglichst normale Blutzuckereinstellung zu erzielen, zeigt dem Diabetiker die Zukunft. Ziel ist die Vermeidung der Folgeerkrankungen, die sich nach vielen Jahren Diabetes entwickeln können und wenn sie auftreten, die Lebensqualität deutlich einschränken können. Diabetes später Folgeerkrankungen sind ein unangenehmes Thema, über das viele am liebsten gar nicht reden möchten. Dennoch ist es sinnvoll, genauer über Folgeerkrankungen Bescheid zu wissen. Diabetiker und Angehörige machen sich häufig Sorgen, weil sie sich nicht richtig auskennen. Was sind Folgeerkrankungen bei Diabetes mellitus? Unter Folgeerkrankungen versteht man vor allem Veränderungen der Blutgefässe. Bei Diabetes sind typischerweise die besonders kleinen Blutgefässe, die Kapillaren (Mikroangiopathie), betroffen. Sie können sich so verändern, dass das Blut nicht mehr richtig hindurchströmen kann. Zusätzlich können sie brüchig werden, so dass Blutbestandteile austreten können. Auch in den grossen Blutgefässen, den Arterien (Makroangiopathie), können Engstellen (Stenosen) entstehen, durch die dann kaum noch Blut fliessen kann. 1
2 Gefässveränderungen, man nennt sie Angiopathien ( z. B. Arteriosklerose), können sich bei jedem Menschen entwickeln. Je älter ein Mensch ist, um so häufiger sind die Blutgefässe geschädigt. Jedoch wurde bei Menschen mit Diabetes mellitus festgestellt, dass sich die Blutgefässe oft früher verändern als bei Menschen ohne Diabetes mellitus. Wie entstehen Folgeerkrankungen? Wenn Blutgefässe und anderes Gewebe im Körper über viele Jahre zu hohem Blutzucker ausgesetzt sind, können Folgeerkrankungen entstehen. Ähnlich wie ein zu hoher Blutzucker nicht nur das Hämoglobin (roter Blutfarbstoff) verändert, messbar an einem zu hohen HbA1c-Wert, werden auch andere Bestandteile des Körpers negativ beeinflusst und in ihrer Funktion gestört. Vor allem die feinen Blutgefässe in den Augen und den Nieren sind gefährdet. Aber auch in den grossen Blutgefässen am Herzen, im Gehirn und in den Beinen kann es zu Verengungen kommen. Ausserdem können die Nervenfasern im Laufe der Zeit geschädigt werden. Solche Veränderungen entstehen langsam. Bis sie sich bemerkbar machen, vergehen selbst bei andauernd hohen Blutzuckerwerten meistens Jahre. Es gibt aber auch viele Diabetiker, die seit 20 oder mehr Jahren mit Diabetes leben und trotzdem keine oder nur sehr geringe Folgeerkrankungen haben. Diese Diabetiker zeichnen sich meist mit einer, über Jahre, guten Stoffwechselkontrolle aus. Einteilung diabetischer Folgeerkrankungen Man unterteilt die diabetischen Gefässchäden in eine unspezifische Makroangiopathie (= Erkrankung der grossen Gefässe, v.a. Arterien) und eine diabetesspezifische Mikroangiopathie (= Erkrankung der kleinen Gefässe, v.a. Kappilaren) mit Verdickung der kapillären Basalmembran, unter anderem durch Einlagerung von Zucker. Makroangiopathie mit Früharteriosklerose: - Koronare Herzkrankheit (Herzkranzgefässerkrankung)!Angina pectoris, Herzinfarkt - Periphere arterielle Verschlusskrankheit (schwere Durchblutungsstörung v.a. in den Beinen) - Arterielle Verschlusskrankheit der Hirnarterien und Hirninfarkt!Hirnschlag Mikroangiopathie: - Augen (Retinopathie = Erkrankung der Netzhaut im Auge)! Blutungen im Auge, Erblindung - Nieren (Nephropathie = Erkrankung der Nieren)! Funktionsausfall der Nieren - Nervenfasern (Neuropathie = Erkrankung vor allem der Nerven, die die Empfindlichkeit der Haut, den Magen-Darm-Trakt und die Genitalfunktion steuern)! diabetischer Fuss, Impotenz - Mikroangiopathie der kleinen Koronararterien (Herzkranzgefässe) 2
3 Veränderungen der grossen Blutgefässe (Makroangiopathie) Schäden an den grossen Blutgefässen, den Arterien, treten nicht nur bei Diabetikern auf. Auch viele andere, vor allem ältere Menschen leiden unter den Folgen von Gefässverengungen und Durchblutungsstörungen. Einige Gründe für solche Gefässprobleme sind höheres Alter, falsche Ernährung und Übergewicht, Rauchen und hoher Blutdruck. Anfangs sind Veränderungen an den grossen Gefässen nicht spürbar. Erst bei erheblichen Durchblutungsstörungen am Herzen, im Gehirn oder in den Beinen gibt es eindeutige Symptome. Unbehandelt können sie später zum Herzinfarkt, Hirnschlag oder zu schweren Durchblutungsstörungen in den Beinen führen. Bei Diabetes kann das Risiko für die Veränderungen an den grossen Gefässen durch andauernd erhöhte Blutzuckerwerte deutlich ansteigen. Veränderungen der kleinen Blutgefässe (Mikroangiopathie) Häufig wichtiger als die Veränderungen an den grossen Blutgefässen sind für den Diabetiker die Veränderungen an den kleinen Gefässen. Die einzelnen Erkrankungen werden nun ausführlicher beschrieben: Gefässschäden am Auge (Retinopathie) Das Sehen findet im Auge auf der Netzhaut (Retina) im Augenhintergrund statt. In der stark durchbluteten Retina befinden sich viele Millionen lichtempfindlicher Sehzellen. Sie wandeln das Bild, das von aussen auf die Netzhaut trifft, so um, dass im Gehirn ein Seheindruck entstehen kann. Wenn man mit einer speziellen Lampe in das Auge sieht, kann man die Netzhaut mit den vielen kleinen Blutgefässen, von denen die Netzhaut lebt, sehen. Veränderungen durch zu hohen Blutzucker zeigen sich am Anfang als kleine Aussackungen der Gefässe. Werden die Veränderungen stärker, können die Blutgefässe durchlässig werden. Das kann zu Blutungen in der Netzhaut führen, wodurch die umliegenden Sehzellen geschädigt werden. Die diabetische Retinopathie ist die häufigste Erblindungsursache in zivilisierten Ländern wie der Schweiz! Im Frühstadium ist die diabetische Retinopathie symptomlos, daher sind regelmässige jährliche augenärztliche Kontrollen notwendig. Insbesondere bei schlechter Diabeteskontrolle können erste Augenveränderungen vom geschulten Augenarzt bereits nach ca. 8 Jahren gesehen werden. Entscheidend wichtig ist es, diese früh zu erkennen und zu behandeln. Erste Sehstörungen bemerkt der Diabetiker viel später als Schleier- oder Verschwommensehen. Können diabetische Netzhautschäden behandelt werden? Geringe Schäden an der Netzhaut haben für die Sehkraft keine Bedeutung und stellen auch keine Bedrohung dar. Sie erfordern aber regelmässige augenärztliche Kontrollen und meist eine Verbesserung der Blutzuckereinstellung. Auch bei weiter vorangeschrittenen Veränderungen kann noch etwas getan werden. Zur Behandlung der Netzhauterkrankungen werden heute Lasertherapien eingesetzt. Dieses energiereiche, stark gebündelte Licht kann brüchige Blutgefässe so verschweissen, dass daraus kein Blut mehr austreten kann. So können Blutungen 3
4 gestoppt und das Fortschreiten weiter verzögert werden. Die Gefahr das Augenlicht durch Diabetes zu verlieren, ist heute dank besserer Behandlung sehr viel geringer als noch vor einigen Jahren. Veränderungen in den Nieren (Nephropathie) Die beiden Nieren sind stark durchblutete Organe mit vielen lebenswichtigen Funktionen. Vor allem sorgen die Nieren dafür, dass Abbauprodukte aus dem Stoffwechsel ausgeschieden werden können. Die Nieren sind also dafür verantwortlich, dass das Blut und damit der Körper gereinigt werden. In den Nieren ist ein System aus feinsten Blutgefässen für die Filterung des Blutes zuständig. Körperwichtige Bestandteile, z.b. Eiweiss, werden dabei zurückgehalten und wieder in den Blutkreislauf zurückgeführt. Abbauprodukte werden hingegen herausgefiltert, in die Harnblase weitergeleitet und mit dem Urin ausgeschieden. Bei Diabetes werden die kleinen Gefässe in den Nieren durch ständig erhöhten Blutzucker im Sinne eines Gefässlecks geschädigt. Für Blutbestandteile, wie z. B. Eiweisse, welche eigentlich im Körper zurückbehalten werden sollten, werden die Gefässe der Nieren durchlässig. Dieses führt zu einer erhöhten Eiweissausscheidung im Urin. In der Frühphase nennen wir dies Mikroalbuminurie. Die erste Phase der diabetischen Nierenerkrankung kann nur durch den Arzt mittels Urinkontrolle im Labor festgestellt werden. Der Diabetiker selber kann keine Anzeichen einer frühen Nierenveränderung spüren. Damit eine Nephropathie frühzeitig erkannt und behandelt wird, ist es notwendig mindestens ein- bis zweimal jährlich den Urin (z. B. 12-Stunden Nachturin) auf eine Eiweissausscheidung untersuchen zu lassen. Ausserdem wird der Blutdruck regelmässig kontrolliert. Er gibt einen weiteren Hinweis auf eine mögliche Nephropathie einerseits, andererseits kann Bluthochdruck die Nieren zusätzlich direkt schädigen. Unbehandelt hoher Blutdruck und chronisch schlechte Blutzuckerkontrolle können zu fortschreitenden Gefässveränderungen führen, so dass die Nieren ihre lebenswichtigen Entgiftungsaufgaben irgendwann nicht mehr erfüllen können. In diesem Fall wird eine Dialyse-Therapie, maschinelle Blutwäsche, notwendig. Die diabetische Nephropathie ist heute noch die häufigste Todesursache beim schlecht kontrollierten Typ-I Diabetiker. Ausserdem können als Folgen der diabetischen Mikroangiopathie der Nieren, zusammen mit dem Zucker, der bei schlecht eingestelltem Diabetes über die Nieren ausgeschieden wird, wiederholte Harnwegsinfekte auftreten. Nervenschädigungen (Neuropathie) Über das Nervensystem sind alle Bereiche des Körpers untereinander und mit der Steuerzentrale Gehirn verbunden. Alle Informationen und Befehle müssen sehr schnell weitergeleitet werden. Für die blitzschnelle Nachrichtenübermittlung sind Nevenzellen mit besonders langen und gut isolierten Ausläufern (Axonen) zuständig. Hohe Blutzuckerspiegel können die Nervenzellen so schädigen, dass Meldungen vom und zum Gehirn langsamer weitergeleitet werden. Die Verzögerung kann man anfangs selber nicht spüren. Erst nach Jahrzehnten, meist jenseits des jungen Erwachsenenalters, kommt es zu den typischen Beschwerden. Typische Beschwerden der diabetischen Neuropathie Vermindertes Gefühl für Temperatur oder Schmerz besonders an den Füssen Taubheitsgefühl, Kribbeln oder Ameisenlaufen in Händen und Füssen 4
5 Reflexe sind nicht mehr auslösbar Störungen im Bewegungsablauf Störungen der Steuerung innerer Organe (Blase, Herz, Magen) und der Haut Störungen der sexuellen Funktion (Impotenz) Diabetisches Fussyndrom Als diabetisches Fussyndrom werden die Folgen von Mikroangiopathie und /oder Neuropathie zusammengefasst. Es geht mit einer erhöhten Verletzlichkeit und Infektanfälligkeit sowie mit einer verminderten Heilung einher. Prophylaxe: - optimale Diabeteseinstellung - gutes Schuhwerk zur Vermeidung von Druckstellen - fachmännische Fusspflege (speziell ausgebildete Podologin) und Kontrolle durch den Diabetologen Wie der Diabetiker seine Zukunft baut! Sicher war die lange Liste möglicher Folgeerkrankungen für Dich als Diabetiker oder für Sie als Angehörige ganz schön schockierend. Hier wurde jedoch nur zur umfassenden Information alles aufgelistet, was vielleicht geschehen könnte. Unser gemeinsames Ziel ist es jedoch, solche Folgeerkrankungen möglichst zu vermeiden. Der Diabetiker beeinflusst durch seine Blutzuckereinstellung heute den zukünftigen Zustand seiner Gefässe. Ob sich Folgeerkrankungen entwickeln oder nicht, hängt massgeblich von der Blutzuckerkontrolle ab. Der Diabetiker kann sich also vor Gefässschäden und Veränderungen an den Nerven weitgehend schützen, indem er immer wieder versucht, seinen Blutzucker so normal wie möglich zu halten (Ziel: mmol/l). Auch bei oder nach Phasen von schlechter Blutzuckereinstellung (d.h. HbA1c >7.7%) lohnen sich alle Bestrebungen zur Verbesserung. Langzeitstudien bei Typ I Diabetikern haben nämlich gezeigt, dass eine Normalisierung der metabolischen Kontrolle das Risiko für Folgeerscheinungen wieder vermindert! Nach schwierigen Phasen mit hohen Blutzuckerwerten ist deshalb kein negatives Fatalismus angesagt, sondern Ehrgeiz für ein optimales Diabetes-Management. Regelmässige Untersuchungen der Augen und der Nierenfunktion gehören zu einer guten Vorsorge. Wie beschrieben werden erste Anzeichen von Folgeerkrankungen sowohl an den Augen, als auch an den Nieren vom Patienten selber nicht wahrgenommen. Sie bedürfen jedoch besonderer Überwachung oder sogar Therapie einerseits, andererseits muss beim Auftreten von Spätfolgen die Diabeteseinstellung erneut genau analysiert und verbessert werden. Zum Schluss noch ein Reizthema, über das sich Jugendliche mit ihren Eltern häufig streiten: Das Rauchen. Da sowohl das Rauchen, wie auch der Diabetes die Blutgefässe schädigen können, sind beide Faktoren zusammen besonders ungünstig. Deshalb raten wir jedermann/frau und den Diabetikern insbesondere damit besser erst gar nicht anzufangen! 2004 Dr. Meinhardt / Dr. Flück / Prof. P. E. Mullis Mkb Spätfolgen 5
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