Ethnographie. Vom Feld zum Bild einer Lebenswelt
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- Klemens Lorentz
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1 Ethnographie. Vom Feld zum Bild einer Lebenswelt Dr. Yvonne Niekrenz Ulrike Marz, M.A. Prof. Dr. Matthias Junge Institut für Soziologie und Demographie Lehrstuhl für Soziologische Theorien und Theoriegeschichte UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN
2 Ethnographie als Methode in der Soziologie Soziologische Ethnographie seit den 1920er Jahren Unterschied zur ethnologischen Ethnographie: soziologische Ethnographie wird in der eigenen Gesellschaft durchgeführt Ursprung in den USA Wichtiges Zentrum: Chicago UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 2
3 UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 3
4 Ethnographie als Methode in der Soziologie Chicago Anfang des 20. Jahrhunderts ein brodelnder Schmelztiegel von Einwandererkulturen Zwischen 1880 und 1890: Verdopplung der Einwohnerzahl von auf 1 Million rasant wachsende Großindustrie: Getreide- und Viehproduktion, Stahlindustrie und Schlachthöfe neue soziale Phänomene, z. B. die Zunahme an delinquentem Verhalten neue Forschungstradition in der Soziologie: Feldforschung Methoden: teilnehmende Beobachtung, biographische Methoden u. Auswertung von Dokumenten UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 4
5 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung Ziel: Alltagleben aus der Sicht der Individuen verstehen Vorübergehendes Teilhaben am Alltagsleben der Individuen notwendig Daten: Beobachtungsprotokolle, Feldnotizen, typische Sprachverwendungen im Feld, Feldinterviews und Informanteninterviews (Transkripte), Videoaufzeichnungen, Sprachaufzeichnungen UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 5
6 Methode der Datenerhebung: Teilnehmende Beobachtung persönliche Teilnahme des Wissenschaftlers an kulturellen Praktiken exploratives Vorgehen Fremder Blick auf das vermeintlich Vertraute Erschließung des Felds: Man verschafft sich einen Überblick, ermittelt mögliche Kontaktpersonen und Interviewpartner und strukturiert das weitere Vorgehen. Beobachtungen werden in Protokollen schriftlich festgehalten, gesammelt und thematisch systematisiert, um sie anschließend interpretativ verwerten zu können UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 6
7 Methode der Datenerhebung: Teilnehmende Beobachtung Was wird beobachtet? Raum, Akteur, Aktivitäten (Set von zusammenhängenden Handlungen), vorhandene Gegenstände, Handlungen, Ereignisse (Set von Zusammenhängenden Aktivitäten), Zeit (Ablauf), Ziel, Gefühle Klassische Studie: W.F. Whyte (1996 [1943]): Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels. Berlin/New York: de Gruyter. Whyte lernte Italienisch und lebte in den späten 30er Jahren mehr als 2 Jahre im Bostoner Stadtteil North End (= Cornerville) UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 7
8 Klassifikation von Beobachtungsverfahren Verdeckte vs. offene Beobachtung: Inwiefern werden Beobachtete über Vorgang der Beobachtung informiert? Nicht-teilnehmende vs. teilnehmende Beobachtung: Inwiefern ist Beobachter aktiver Teil des Feldes? Systematische vs. unsystematische Beobachtung: Wird ein standardisiertes Beobachtungsschema verwendet oder eher offen für Verläufe im Feld beobachtet? Natürliche vs. künstliche Situationen: Wird im interessierten Feld beobachtet oder im Labor? Selbst- vs. Fremdbeobachtung: Meist Fremdbeobachtung. Aber: reflektierende Selbstbeobachtung des Forschers zur Fundierung der Interpretation des Beobachteten mglw. wertvoll UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 8
9 Film Kitchen Stories (2003) Filmkomödie des norwegischen Regisseurs Bent Hamer UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 9
10 Methode der Datenerhebung: Qualitative Interviews der Interviewer versucht, etwas über den anderen oder durch den anderen zu einem bestimmten Thema in Erfahrung zu bringen Der Befragte wird als Experte seines Alltags gesehen und geschätzt, indem die Gesprächsführung weitgehend bei ihm bleibt. Kein standardisierter Fragebogen, sondern ein Leitfaden, der dem Gespräch Offenheit sichert. Forschungsethische Grundlagen und Datenschutz beachten UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 10
11 Wichtige methodologische Grundlage: Clifford Geertz Geertz als Kulturanthropologe etablierte die interpretative Anthropologie Berühmte Studie: Deep play: notes on the Balinese cockfight (1972) C. Geertz ( ) UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 11
12 Textbeispiel dichte Beschreibung Wenn ein Paar zusammengestellt ist, ziehen sich die anderen Aspiranten mit derselben betonten Gleichgültigkeit zurück. Dann legt man den ausgewählten Hähnen ihre Sporen (tadji) an - rasiermesserscharfe, spitze Stahldolche von vier oder fünf Zoll Länge [...] Sind die Sporen angelegt, werden die Hähne in der Mitte des Ringes von den Hahnenführern [ ] einander gegenüber in Stellung gebracht. Eine Kokosmuß, in die ein kleines Loch gebohrt ist, wird in einen Eimer mit Wasser geworfen, in dem sie etwa nach einundzwanzig Sekunden untergeht, eine Zeitspanne, die tjeng genannt wird und deren Anfang und Ende durch das Schlagen eines Schlitzgongs angezeigt wird. Während dieser einundzwanzig Sekunden ist es den Führern (pengangkeb) nicht gestattet, ihre Hähne zu berühren. Wenn es, was zuweilen geschieht, in dieser Zeit zu keinem Kampf zwischen den Tieren gekommen ist, nimmt man sie wieder an sich, sträubt ihre Federn, zieht an ihnen, sticht sie und ärgert sie noch auf andere Weise, und setzt sie dann zurück in die Mitte des Ringes, wo der Vorgang von neuem beginnt. in: Geertz, Clifford (1983): Deep Play. Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: ders. Dichte Beschreibung. Frankfurt am Main: Suhrkamp (orig. engl. 1973), S UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 12
13 Wichtige methodologische Grundlage: Clifford Geertz vergleicht Feldforschungssituation mit literarischem Text, die der/die ForscherIn eher interpretieren als erklären kann Ziel von Ethnographie: dichte Beschreibungen keine einfachen Beschreibungen, sondern eine Kombination von Beschreibung und Interpretation Geertz: Es gibt keine objektive Ethnografie, denn Ethnographen schaffen durch die Abbildung einer fremden Welt eine Fiktion UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 13
14 Kritische Theorie zum Verhältnis von Begriff und Sache Je vollkommener nämlich die Sprache in der Mitteilung aufgeht, je mehr die Worte aus substantiellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie das Gemeinte vermitteln, desto undurchsichtiger werden sie zugleich. Die Entmythologisierung der Sprache schlägt, als Element des gesamten Aufklärungsprozesses, in Magie zurück. Unterschieden voneinander und ablösbar waren Wort und Gehalt einander gesellt. (Horkheimer / Adorno (1947 [1997]): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 187) UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 14
15 Konsequenzen für die Empirische Sozialforschung dem Gegenstand den Vorrang vor der Methode geben die Einsicht, dass das Gegebene (Fakten und Daten) kein Letztes ist, sondern ein Bedingtes Verfeinerung der Methoden UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 15
16 Literatur Geertz, C. (1983): Deep Play. Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: ders. Dichte Beschreibung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Horkheimer, M. / Adorno, Th. (1947 [1997]): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Przyborski, A. / Wohlrab-Sahr, M. (2010): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 3. Auflage. München: Oldenbourg. Whyte, W. F. (1996 [1943]): Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels. Berlin/New York: de Gruyter UNIVERSITÄT ROSTOCK FAKULTÄT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 16
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