Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Öffentliches Wirtschaftsrecht Lehrstuhl für Öffentliches Recht
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1 Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Institut für Öffentliches Wirtschaftsrecht Lehrstuhl für Öffentliches Recht Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, LL.M. Sachverhalt Alkoholverbot Dank der stetig wachsenden Zahl an Touristen versteht sich die Stadt Kiel (K) zunehmend als bedeutendster Fremdenverkehrsort in Schleswig-Holstein. Um die sorglose Urlaubsstimmung der Besucher nicht zu trüben, soll das Stadtbild möglichst perfekt erscheinen. Aus dem Grund erlässt der Oberbürgermeister eine verfahrens- und formgemäße Verordnung, die den Alkoholkonsum in den Straßen und das Herumtreiben verbietet. Ein derartiges Verbot sei notwendig, um die Bevölkerung vor Gesundheits- und Sachschäden zu bewahren. Zudem könnten sich die Urlauber durch den Anblick von Betrunkenen oder Herumtreibern belästigt fühlen. Die Verordnung enthält dabei unter anderem folgende Regelungen: 1 Verbote Auf den öffentlichen Straßen und Anlagen im Stadtgebiet der K ist verboten: a) der Aufenthalt zum Alkoholkonsum b) das Herumtreiben nach Art eines Land- oder Stadtstreichers. 2 Ordnungswidrigkeiten Zuwiderhandlungen gegen 1 stellen Ordnungswidrigkeiten dar und werden mit einem Bußgeld von geahndet. Der Obdachlose A trifft sich fast jeden Tag mit seinen Freunden auf dem P-Platz im Stadtzentrum von K, um mit ihnen gemeinsam Bier zu trinken. Er möchte die Verordnung so nicht hinnehmen und wendet sich daher an einen Rechtsanwalt. Dieser beantragt form- und fristgerecht beim zuständigen Oberverwaltungsgericht, die Norm für nichtig zu erklären. Hat der Antrag Aussicht auf Erfolg?
2 Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 2 Lösungsskizze - Alkoholverbot A. Zulässigkeit I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs 1. Aufdrängende Sonderrechtszuweisung (-) 2. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art: 40 Abs. 1 S.1, 47 Abs. 1 VwGO i.v.m. 5 AGVwGO (+) 3. Abdrängende Sonderrechtszuweisung: Nach der Rechtsprechung des BVerwG (BVerwG 99, 88) ist das Amtsgericht über den Wortlaut des 68 OWiG hinaus auch für die Überprüfung der Normen zuständig, auf Grund derer ein Bußgeld erlassen werden kann. 2 der Verordnung kann somit nicht vom OVG überprüft werden. 17 Abs. 2 S. 1 GVG wird nicht angewandt, sodass für die restlichen Normen der Verordnung der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Diese Rechtsprechung hat allerdings zur Folge, dass Bußgeldnormen in Verordnungen nie mit allgemeiner Wirkung durch ein Gericht verworfen werden können. Eine mögliche Entscheidung des Amtsgerichts hätte nur inter partes Wirkung. II. Beteiligten- und Prozessfähigkeit, Postulationsfähigkeit Antragsteller A als natürliche Person ist nach 47 Abs. 2 S. 1 VwGO beteiligtenfähig und nach 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO prozessfähig. Vor dem OVG herrscht gemäß 67 Abs. 1 VwGO Anwaltszwang. Antragsgegner ist nach 47 Abs. 2 S. 2 VwGO die Stadt Kiel. Diese ist nach 62 Abs. 3 prozessfähig und wird gemäß 64 Abs. 1 GO durch den Bürgermeister vertreten. III. Statthafte Antragsart A begehrt die Überprüfung einer Rechtsvorschrift unterhalb des Landesrechts. Dafür ist gemäß 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.v.m. 5 AGVwGO der Normenkontrollantrag die statthafte Antragsart. IV. Antragsbefugnis A müsste nach 47 Abs. 2 S. 1 VwGO geltend machen können, durch die Rechtsvorschrift in seinen Rechten verletzt zu sein. Er ist obdachlos und trinkt regelmäßig Alkohol auf dem P-
3 Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 3 Platz im Stadtgebiet von Kiel. Es ist somit nicht von vornherein ausgeschlossen, dass er in seiner Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt ist. V. Form- und Fristvorschriften 81 ff. VwGO (+) 47 Abs. 2 S. 1 VwGO (+) VI. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis Dem A ist nicht zuzumuten, zunächst gegen die Verordnung zu verstoßen und anschließend gegen den Bußgeldbescheid vorzugehen. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis besteht somit. VII. Ergebnis Der Antrag des A ist zulässig. B. Begründetheit Der Antrag des A ist begründet, wenn 1 der Verordnung gegen höherrangiges Recht verstößt. I. Ermächtigungsgrundlage Für den Erlass einer Rechtsverordnung ist nach Art. 38 Abs. 1 LV eine Ermächtigungsgrundlage erforderlich. Die vorliegende Verordnung stellt eine allgemeine Gefahrenabwehrmaßnahme dar. Die Ermächtigungsgrundlage dafür findet sich in 175 LVwG. II. Formelle Voraussetzungen Zuständigkeit: 166 Abs. 1, 165 Abs. 1, 164 Abs. 1 Nr.2 LVwG Verfahren und Form (+) III. Materielle Voraussetzungen 1. Aufenthalt zum Alkoholkonsum ( 1 a) der Verordnung) Es müsste eine (abstrakte) Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorliegen. a) Betroffenheit von Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit aa) Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen (-)
4 Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 4 bb) objektive Rechtsordnung: - Straftaten nach 303, 223 ff. StGB OWiG: Das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit könnte gegen die Öffentliche Ordnung verstoßen. Allerdings ist Alkoholkonsum allgemein anerkannt. Auch das öffentliche Trinken widerspricht nicht den allgemein herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen. - Ordnungswidrigkeit nach 56 Abs. 1 Nr. 1 StrWG: Voraussetzung dafür wäre, dass der Aufenthalt zum Alkoholgenuss eine erlaubnispflichtige Sondernutzung nach 21 Abs. 1 StrWG darstellt. Sondernutzung ist die Nutzung außerhalb der Widmung ( 20 Abs. 1 StrWG). Hauptsächlich dienen die Straßen und Plätze der Ortsveränderung von Sachen und Personen. Gerade in Stadtzentren sollen die Straßen jedoch auch zum bloßen Aufenthalt oder zur Kommunikation genutzt werden. Dies zeigt sich unter anderem an der Gestaltung (Aufstellen von Bänken, Tischen und Kunstwerken, Bepflanzungen), die zum längeren Aufenthalt auffordern. Auch der Aufenthalt zum Alkoholgenuss stellt somit grundsätzlich Gemeingebrauch dar. Gemeingebrauch liegt jedoch dann nicht mehr vor, wenn der Gemeingebrauch anderer unzumutbar beeinträchtigt wird. Das wäre dann der Fall, wenn sich mehrere Personen zum intensiven Alkoholkonsum niederlassen und es anderen dadurch unmöglich machen Straßen und Plätze zu nutzen. In dem Fall läge eine erlaubnispflichtige Sondernutzung vor. Regelmäßig liegt dafür keine Erlaubnis vor, so dass die Trinkenden Ordnungswidrigkeiten nach 56 Abs. 1 Nr. 1 StrWG begehen (aa gut vertretbar). cc) Individualrechtsgüter: - Gesundheit und Leben der Trinkenden: Aus 162 Abs. 1 LVwG ergibt sich, dass die Polizei für den Schutz privater Rechte nur subsidiär zuständig ist. Soll die Polizei zum Schutz privater Rechte eingreifen, ist ein gewisser Öffentlichkeitsbezug erforderlich. Bei Betroffenheit von Leib und Leben trifft den Staat grundsätzlich eine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, die den Öffentlichkeitsbezug herstellt. Hier liegt jedoch ein Fall der Selbstgefährdung vor. Der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG steht somit dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen aus Art. 2 Abs. 1 GG gegenüber. Nur wenn die Selbstgefährdung auf die Öffentlichkeit ausstrahlt, überwiegt die Schutzpflicht des Staates und ein Öffentlichkeitsbezug würde vorliegen (Beispiele: der Betroffene ist nicht im Zustand der freien Willensentschließung; die Selbstgefährdung etwa Tauchen in gefährlichen Gewässern, Betreten einsturzgefährdeter Höhlen provoziert Rettungseinsätze, die Leib und Leben der Rettungskräfte gefährdet). Anders als etwa das Rauchen, gefährdet Alkoholtrinken nur den Trinkenden selbst. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass alle Alkoholkonsumenten in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand sind. Somit ist kein Öffentlichkeitsbezug gegeben.
5 Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 5 - Eigentum und Gesundheit der Anwohner und Passanten: Der Öffentlichkeitsbezug ergibt sich aus der Schutzpflicht des Staates. b) (abstrakte) Gefahr Im Gegensatz zu einer Polizeiverfügung, für die eine konkrete Gefahr erforderlich ist, genügt für eine Polizeiverordnung eine abstrakte Gefahr. Eine solche liegt vor, wenn nach den Erfahrungen des täglichen Lebens mit überwiegender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass wegen bestimmter Geschehnisse, Handlungen oder Zustände ein Schaden im Einzelfall einzutreten scheint. aa) Straftaten nach 303, 223 ff. StGB Zwar ist es nicht völlig fernliegend, dass Betrunkene randalieren und es in diesem Zusammenhang zu Sachbeschädigungen oder Körperverletzungen kommt, allerdings wäre ein derartiges Verständnis nicht mit dem Prinzip der unmittelbaren Verursachung vereinbar. Nicht der öffentliche Alkoholkonsum ist die Straftat. Vielmehr müssen für eine Sachbeschädigung oder Körperverletzung noch weitere Handlungen hinzutreten. Nach Erfahrungen des täglichen Lebens besteht keine überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass in der Öffentlichkeit Trinkende anschließend Straftaten nach 303, 223 ff. StGB begehen. bb) Eigentum und Gesundheit der Anwohner und Passanten Wie unter (1) dargestellt, besteht keine überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass Eigentum und Gesundheit der Anwohner und Passanten zu Schaden kommen. cc) Ordnungswidrigkeiten nach 56 Abs. 1 Nr. 1 StrWG Wie oben dargestellt, ist der Aufenthalt auf öffentlichen Straßen und Plätzen zum Alkoholkonsum grundsätzlich Gemeingebrauch. Nur unter besonderen Umständen (intensives Trinken, regelrechtes Lagern auf den Straßen) wäre es Sondernutzung. Es müsste also eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass beim Genuss von Alkohol auf öffentlichen Straßen und Plätzen andere in ihrem Gemeingebrauch unzumutbar beeinträchtigt werden. In den meisten Fällen hat öffentlicher Alkoholkonsum jedoch keine Auswirkungen auf andere. Intensive Saufgelage bilden eher die Ausnahmen. dd) Ergebnis Es besteht somit keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Die materiellen Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Folglich ist 1 a) der Verordnung rechtswidrig.
6 Univ.-Prof. Dr. Florian Becker, Kiel 6 2. Herumtreiben nach Art eines Land- oder Stadtstreichers 1 b) der Verordnung könnte zu unbestimmt sein und damit gegen 58 Abs. 1 LVwG verstoßen. Die Merkmale Land- oder Stadtstreicher sowie Herumtreiben lassen sich hinreichend konkretisieren. Allerdings ist das Herumtreiben nach Art eines Land- oder Stadtstreichers verboten. Erfasst werden also auch alldiejenigen, die sich, ohne Land- oder Stadtstreicher zu sein, wie solchen herumtreiben. Herumtreiben ist jeder ziellose Aufenthalt in der Öffentlichkeit. Die Grenze wann sich jemand verbotswidrig nach Art eines Land- oder Stadtstreichers herumtreibt und wann ein erlaubter Müßiggang vorliegt, ist jedoch schwer zu ziehen (Darf ein Nichtsesshafter das Stadtgebiet durchstreifen und sich auf einer Bank ausruhen? Dürfen arbeitslose Jugendliche in der Stadt die Zeit totschlagen? Dürfen Arbeitskollegen am Kiosk ein Feierabendbier trinken?). Somit ist 1 b) der Verordnung zu unbestimmt und verstößt damit gegen 58 Abs. 1 LVwG. 3. Ergebnis 1 der Verordnung ist rechtswidrig. C. Ergebnis Der Antrag des A ist zulässig und begründet.
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