Sie war das einzige Kind deutscher Einwanderer gewesen, die sich in den späten Achtzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts in New York angesiedelt
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- Gregor Hertz
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2 Sie war das einzige Kind deutscher Einwanderer gewesen, die sich in den späten Achtzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts in New York angesiedelt hatten. Mein Urgroßvater hatte sich als Kürschner in relativ kurzer Zeit ein eigenes Geschäft mit der Fabrikation von feinen Handschuhen aufbauen können. Als meine Großmutter in den neunziger Jahren geboren wurde, lebte die kleine Familie im Schoße einer großen deutschen Gemeinde innerhalb eines New Yorker Quartiers, das sich Kleindeutschland nannte und sich kaum von einer Stadt in Deutschland unterschied. Es wurde mehrheitlich Deutsch gesprochen, mein Urgroßvater sang in einem deutschen Männerchor, trank nach den Proben sein Bier in einem der vielen Biergärten, es gab deutsche Kirchen, eine deutsche Bibliothek, und vor allem auch deutsche Schulen.
3 Hier wurde meine Großmutter eingeschult. Es musste am Ende der dritten Klasse gewesen sein, als das Ereignis eintraf, das sie für ihr ganzes Leben traumatisieren sollte. Kurz vor den großen Sommerferien hatte sie die Röteln bekommen und musste daher zu Hause bleiben. Das war für sie insofern ein kleines Drama, als sie damit am großen Fest zum Schuljahresschluss nicht würde teilnehmen können. An diesem Fest musste ein schreckliches Unglück passiert sein, was es genau war, wusste ich nicht mehr. Auf jeden Fall zogen die Urgroßeltern bald danach um, aus der Lower East Side von Manhattan hinauf, in die Upper East Side. Hier ging nun meine Großmutter in eine englischsprachige Schule, sie wurde voll und ganz zu einer Amerikanerin, die ihre deutschen Wurzeln immer weniger spürte. Ihre musikalische Begabung wurde entdeckt,
4 sie lernte Geige spielen, wurde im Schulorchester zu einer unverzichtbaren Stütze und besuchte nach ihrem Schulabschluss das Konservatorium von New York. Über die Musik lernte sie zu Beginn der zwanziger Jahre meinen Großvater kennen, einen Schweizer, der kurz nach dem ersten Weltkrieg für eine Basler Firma nach New York geschickt worden war. Er war erheblich älter als sie und soll ein recht passabler Geigenspieler gewesen sein, allerdings nicht ganz auf dem Niveau meiner Großmutter. Sie lernten sich beim Quartettspiel kennen und lieben, heirateten und bekamen schon bald eine kleine Tochter, meine Mutter. Mein Großvater hatte nie vorgehabt, für immer in Amerika zu bleiben. Als dann die Zeit für die Einschulung meiner Mutter kam, war dies auch der Zeitpunkt für die Rückkehr
5 in die Schweiz. Das musste meiner Großmutter, die eine patriotische Amerikanerin gewesen ist, sehr schwer gefallen sein. Sie besann sich wieder auf ihre deutsche Muttersprache zurück, die unter dem Amerikanischen noch erstaunlich gut erhalten war, sie sprach das Deutsche mit leicht amerikanischem Akzent und weigerte sich standhaft, sich in Schweizerdeutsch zu versuchen. Ich nehme an, dass sie sich in der schweizerischen Enge sehr einsam gefühlt hatte, dass ihr die Großstadt fehlte, die englische Sprache und ihre Heimat Amerika. Vermutlich hatte sie die Musik über vieles hinweg trösten können, trotzdem, wenn ich mich an sie zurück erinnerte, erschien in mir das Bild einer nicht sehr glücklichen Frau. War vielleicht dies der Grund, dass sie ihren Mann nur um wenige Jahre überlebte und
6 relativ jung starb? Sie ist nicht einmal sechzig Jahre alt geworden. Überrascht fühlte ich, dass mir meine Oma Lisa nie näher gestanden hatte als jetzt, wo ich zum ersten Mal ihrem Schicksal nachsann. Ich sah vor meinem inneren Auge eine Mutterreihe, diesen hölzernen Babuschkas ähnlich, bei der eine im Innern der nächsten steckte. All diese Frauen waren in meinem Innern, meine verstorbene Mutter, meine Großmutter, die ihre amerikanische Heimat Richtung Europa verlassen musste, meine Urgroßmutter, die es von ihrer europäischen Heimat nach Amerika verschlagen hatte. Ich besah mir nochmals die Bilder, die ich beim Auspacken an die Wand gestellt hatte. Eines von ihnen zeigte meine Großmutter als junges Mädchen, in wenigen Bleistiftstrichen festgehalten. Ich hing es im Schlafzimmer an
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