TEXTE VON ANTONIA BARBORIC
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- Nadine Solberg
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1 TEXTE VON ANTONIA BARBORIC MIT-SCHULD 2 OBERFLÄCHLICHKEIT 5 WAS BEDEUTET EUROPÄISCHES ERBE? 6 ZUGFAHREN / ZU SPÄT 7 WOZU / SELBSTZENSUR I / SELBSTZENSUR II 8 EHRLICH 9 LOS I / LOS II /EMPFINDEN 10 NEU / MUSIK 11 1
2 MIT-SCHULD Schuld? Was heißt das eigentlich? I. Es tut so weh, da drinnen. Diese Augen. Mein Kopf tut weh. Diese hohlen Augen. Ich kann nichts mehr sehen. Dieser anklagende Blick. Ich krümme mich vor Schmerzen. Auch du bist schuld. Es sind aber eigentlich nur Phantomschmerzen. Keine Worte Nur der leere Blick. Wieso kann ich wegen etwas Schmerz empfunden, das ich gar nicht selber getan habe? Es waren deine Großeltern. Wieso kann ich diese Schuld spüren? Dieselbe Macht ist noch immer präsent. Und diese Traurigkeit? Die Gefahr ist ständig da. Ich bin so hilflos, was soll ich tun? Trage die Schuld nicht weiter mit dir herum; sühne sie. Wie werde ich diese Schuld los? Vergiss es nie. II. Und die, die wirklich schuld sind? Wo sind die, was tun die, wie können die damit leben? III. 2
3 Abgemagert bis aufs Skelett. Der Hunger hält sie am Leben; sonst wären sie schon längst tot. Die knöchernen Hände, die sich mir entgegen strecken. Die großen Augen, die eingefallenen Wangen, die spitz hervorstechenden Backenknochen. Der flehende Blick, worin kein Lebenswille mehr zu finden ist. Aber aufgeben dürfen sie auch nicht. Dann hätten die ja ihr Ziel erreicht. Ich will das nicht sehen, nicht hören, nicht wissen, aber ich kann nicht wegschauen, nicht weghören, nicht vergessen. IV. Ich fühle mich so hilflos, ich kann die Bilder nicht vergessen. Ich habe nur Vorstellungen im Kopf, aber die sind so furchtbar, so real; die lassen mich nicht mehr los. Ich weiß, ich bin auch mit schuld. Dabei war ich gar nie dabei. V. Es ist so kalt, es schneit. Ich friere. 3
4 Sie müssen barfuß, mit dünnem Sommergewand, durch den Schnee laufen. Mir bleibt der Bissen im Halse stecken. Sie können nicht mehr, sie haben keine Kraft mehr. Nur Hunger. Aber etwas hält sie am Leben. Sie wollen denen sagen, dass sie verletzt werden können aber nicht getötet. VI. Ich möchte sie um Verzeihung bitten. Alle. Auch die, die ich es nicht mehr kann. Aber vielleicht merken sie, dass ich es möchte, vielleicht spüren sie es. Auch jetzt noch. VII. Ihr Leben, ausradiert. Die Erinnerung an sie, fast erloschen. Ein Denkmal, ein Gedanke an sie. Aber ist das genug? Die haben ihnen ihr Leben genommen. Und ich fühle die Schuld. 4
5 OBERFLÄCHLICHKEIT Über Oberflächlichkeiten, auf die ich wie Stufen steige, gelange ich endlich von der Tiefe an die Oberfläche. Indem ich einen Fuß vor den anderen setze, steige ich immer weiter hinauf, mein Ziel vor Augen, das Tiefe hinter mir gelassen. Worte, die achtlos fallen gelassen werden, benütze ich als Trittsteig. Dinge, die sinnlose Zufriedenheit heucheln, verwende ich als Sprungbrett. Und dann bin ich oben angelangt und fühle mich frei. Zuerst. Denn gleich darauf spüre ich, wie mir die Tiefe fehlt. Da oben ist alles so glatt und eben und seicht. Ich will wieder runter. Und lasse mich fallen. Und lasse alle Worte und Dinge auf mich niederprasseln. Oktober
6 WAS BEDEUTET EUROPÄISCHES ERBE? Wer trägt europäisches Erbe in sich Wer trägt Schwermut bei sich Wie ein Rucksack, der, vollgestopft, als ob er eine Schultasche eines Erstklässlers wäre, also: viel zu schwer, kaum auf seinen Rücken passt, schleppe ich da auch irgendwas hinter mir her Ich kann s nicht tragen, ich kann s nicht aufheben, ich kann s nur schleppen Und am Ende fällt es von meiner Schulter wie ein Erdäpfelsack, den meine Ururgroßmutter vielleicht einmal abends nach der Ernte nach einem langen Tag vom Feld nach Hause geschleppt hat Und was hab ich nun davon? 6
7 ZUGFAHREN Waren diejenigen, die in Viehwaggons deportiert wurden und Auschwitz überlebt haben, jemals wieder fähig, Zug zu fahren? ZU SPÄT Und was ist, wenn in ein paar Jahren fast kein Überlebender mehr da ist? Wen sollen wir fragen? Wer soll uns erzählen? Wie sollen wir uns an das erinnern können, was wir selber nicht miterlebt haben? Und: Was ist, wenn alles das vergessen werden würde? Alle sagen, sie wollen nichts mehr davon hören nichts mehr davon sehen nichts mehr davon wissen Aber keiner sagt, dann fangt alles wieder von vorne an 7
8 WOZU Wozu ehrlich sein, wenn s keiner hören will? Wozu hören, wenn keiner ehrlich ist? Wozu sprechen, wenn keiner zuhört? Wozu zuhören, wenn keiner spricht? Wozu da sein, wenn mich keiner hier haben will? SELBSTZENSUR I Immer und überall. Aber keiner merkt es. SELBSTZENSUR II Noch bevor ich etwas sage, weiß ich, dass ich das nicht sagen darf. Noch bevor ich etwas sage, weiß ich nicht, was ich überhaupt noch sagen darf. 8
9 Noch bevor ich etwas sage, überlege ich, was ich sagen darf. Noch bevor ich etwas sage, bleiben mir die Worte im Hals stecken. EHRLICH Ich darf nicht ehrlich sein, damit keiner schockiert ist. Ich muss lügen, damit alle zufrieden und froh sind. Ich möchte lieber die Wahrheit hören, als belogen zu werden. Auch wenn es weh tut, ist es wenigstens ehrlich. Ich weiß dann, woran ich bin. Ich weiß dann, wer ich bin. Und ich weiß dann, wer übrig bleibt und was übrig bleibt. 9
10 LOS I Die Schatten der Vergangenheit lassen mich nicht los. Sie hängen an mir. Oder ich lasse sie nicht los. LOS II Befrei dich. Lösch diese Telefonnummer aus deinem Verzeichnis. Löse dich von der Vergangenheit, von Vergangenem. Reiß dich los von alten Gewohnheiten, die schlecht sind für dich; von Menschen, denen du nicht das bedeutest, was du solltest. EMPFINDEN Liebe etwas, hasse etwas. Alles so starke Gefühle, aber sie sind da. Ich spüre, ich bin am Leben. Ich empfinde etwas, ich weiß es. Leidenschaft und dazu fähig. 10
11 NEU Ich mache lieber aus nichts etwas. Ich beginne lieber von vorne als von hinten. Ich probiere lieber etwas Neues als etwas Altes. Es nervt, ich lasse los. Es reizt mich, ich beginne. MUSIK Das Lied. Und ich fühle so viel. So viel Leben, so viele Möglichkeiten. Und es ist so gut. 11
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