Herzlich Willkommen im Workshop. Bindung(en) im Klassenzimmer Bindungsorientiertes Lehrerhandeln in der Unterrichtspraxis

Transkript

1 Herzlich Willkommen im Workshop Bindung(en) im Klassenzimmer Bindungsorientiertes Lehrerhandeln in der Dr. phil. Jessica Carlitscheck (Dipl. Heilpäd.) Universität Siegen,

2 Was ist die Bindungstheorie? Die Bindungstheorie beschreibt und klärt wissenschaftlich, warum Menschen dazu tendieren, sich auf enge emotionale Beziehungen einzulassen und inwieweit die psychische Gesundheit einer Person beeinflusst wird, wenn diese Beziehungen beeinträchtigt, unterbrochen bzw. beendet werden. (Lengning & Lüpschen, 2012, S. 9)

3 Definition von Bindung Bindung ist die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern oder Personen, die es beständig betreuen. Bindung ist im Gefühl verankert und verbindet das Individuum mit anderen, besonderen Personen über Raum und Zeit hinweg. (Ainsworth, 1973)...und die gelungene Anpassung an die vorgefundene Wirklichkeit. (Agnes Mali, persönliche Mitteilung, 2010) Gemeinsamer Tanz Frequenzsuche

4 Verhaltenssysteme 1. Das Bindungsverhalten des (Klein-)Kindes: Unter Bindungsverhalten wird, kurz gesagt, jede Form des Verhaltens verstanden, das dazu führt, dass eine Person die Nähe eines anderen differenzierten und bevorzugten Individuums, das gewöhnlich als stärker und/oder klüger empfunden wird, aufsucht oder beizubehalten versucht. Wenngleich das Bindungsverhalten während der Kindheit besonders deutlich sichtbar ist, wird angenommen, dass es für den Menschen von der Wiege bis zum Grab charakteristisch ist. (Bowlby, 1982, S. 159f. zitiert nach Kißgen, 2009, S. 93) Signalverhaltensweisen Annäherungsverhaltensweisen

5 2. Pflege- bzw. Fürsorgeverhaltenssystem der Bezugspersonen: Durch geeignete Fürsorgeverhaltensweisen wie Aufnehmen, Streicheln, Wiegen, Singen usw. versucht die Bindungsperson die Bedürfnisse des Kindes nach Nähe und Sicherheit zu befriedigen. Wenn das Fürsorgesystem aktiviert wird, dann greift die Bindungsperson auf ihr inneres Arbeitsmodell zurück und sucht aus dem dort gespeicherten Verhaltensfundus ein geeignetes Verhalten aus. (Lohaus, Ball & Lißmann, 2004, S. 152f.)

6 Verhaltenssysteme Kind Bindungsverhaltenssystem (BVS) Explorationsverhaltenssystem (EVS) Bezugsperson Pflege-/ Fürsorgeverhaltenssystem (PVS) Erst wenn das BVS deaktiviert ist, ist das Kind (wieder) lernbereit!

7 Das Prinzip der secure base von Ainsworth (Cooper, Hoffman, Powell & Marvin, 1999 zitiert nach Lengning & Lüpschen, 2012, S. 86) und Lehrer/innen

8 Die Bedeutsamkeit der Exploration und die Voraussetzungen für Lernbereitschaft unterliegt dem Zeitgeist

9 Die Bindungsqualität des Kindes, wie sie sich im Fremden Situations-Test darstellt, kann durch die Qualität der elterlichen Feinfühligkeit während des ersten Lebensjahres vorhergesagt werden. (Pederson & Moran, 1996; van Ijzendoorn, 1995) Die Feinfühligkeit ist die wichtigste Determinante dafür, ob ein Kind eine sichere Bindung entwickelt oder eine unsichere (Belsky & Pasco Fearon, 2008, S. 296/299)

10 Definition Feinfühligkeit Feinfühligkeit ist die Fähigkeit des Erwachsenen, die Signale eines Kindes wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren, angemessen und prompt auf sie zu reagieren. (Brisch, 2010, S. 45; Grossmann, 1977, S. 98)

11 Kernaussagen zur Feinfühligkeit Professionelle Feinfühligkeit heißt nicht, dem Kind keinerlei Grenzen im Unterricht zu setzen! Professionelle Feinfühligkeit heißt nicht, dem Kind alles abzunehmen und es nicht zu fordern! Professionelles feinfühliges Handeln zeichnet sich aus durch Abgestimmtheit auf die Signale und Befindlichkeit des Kindes aus sowie durch ein dem Bindungsmuster des Kindes angepasstes Interaktionsund Kontaktangebot!

12 Drei organisierte Vier Bindungsqualitäten 1. Sichere Bindung: Das Kind spielt, erforscht und lernt begeistert und vertrauensvoll in Anwesenheit der Bindungsperson. Es kann Kummer offen zeigen und sucht und akzeptiert den Trost der Bindungsperson. Es holt sich das Ausmaß an Zuwendung, dass es braucht, um wieder beruhigt explorieren zu können. 2. Unsicher-vermeidende Bindung: Das Kind nutzt das Spiel bzw. die Unterrichtsaufgabe, um sich von seinen Bindungsbedürfnissen abzulenken. Es versteckt Kummer oder Hilfebedarf, da viel Wert auf Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Gefühlskontrolle gelegt wurde. (Suess & Burat-Hiemer, 2009, S. 33ff.)

13 Vier Bindungsqualitäten Unsicher-ambivalente Februar 2013 Bindung: Das Kind ist ganz davon in Anspruch genommen, den Kontakt zur Bindungsperson aufrecht zu erhalten und traut sich daher kaum zu erkunden. Zeigt Kummer offen, reagiert aber entweder mit verzweifelter Anklammerung und/oder aktivem Kontaktwiderstand, wenn Bindungsperson Trost/Hilfe spenden will. Und eine desorganisierte 4. Desorganisierte Bindung: Keine einheitliche Bindungsstrategie erkennbar: Die Kinder verhalten sich derart widersprüchlich, als ob sie mit sich ringen würden, ob sie sich an die Bindungsperson wenden oder doch lieber vor ihr weglaufen sollen. Mögliche Schutzstrategien: Kleiner Krawallmacher oder Rollenumkehr (Suess & Burat-Hiemer, 2009, S. 33ff.)

14 Schule als Bewährungsprobe für die internalisierten Bindungsmuster des Kindes: 1. Konfrontation mit zahlreichen neuen, in ihrer Funktion unbekannten Personen 2. Aktivierung des Bindungsverhaltenssystems des Kindes in außerfamiliärer, bedingt resonanten Umwelt Klassenzimmer (Schleiffer, 2004, S. 23f.)

15 Entwicklungspsychologische Konsequenzen sicherer Bindungsqualität im Schulalter: bewältigen inner- und außerfamiliäre Belastungen erfolgreicher haben ein gut ausgebildetes Selbstwertgefühl können Beziehungen befriedigend gestalten (Kommunikationskompetenz, Konfliktlösungskompetenz etc.) sind beliebter bei Altersgenossen trauen sich mehr zu und ihnen wird mehr zugetraut Lernen besser: konnten mehr explorieren, da sie sich der Zuwendung der BP sicher sein konnten (Schleiffer, 2009, S. 44f.)

16 Entwicklungspsychologische Konsequenzen unsicherer Bindungsqualität im (Vor-)Schulalter: Zusammenhang zwischen vermeidender Bindung und externalisierenden Störungen wie Dissozialität und Aggressivität, häufiger Lese-, Schreib- und Rechenschwächen als sicher gebundene Kinder Zusammenhang zwischen ambivalenter Bindung und Angststörungen Desorganisierte Bindung: Kinder neigen in der Folge zu aggressiv- bzw. strafend-kontrollierendem oder fürsorglich-kontrollierendem Verhalten; im Schulalter ausgeprägte aggressive und feindselige Verhaltensweisen ggü. Gleichaltrigen, geringe Sozialkompetenzen, kaum Vertrauen in die eigenen schulischen Fähigkeiten, schlechtere Schulnoten im vgl. zu Kindern mit organisiertem Bindungsmuster (Schleiffer, 2009, S. 45)

17 Konsequenzen für die schulische Situation: Secure readiness-to-learn-hypothese: Das Kind muss sich ausreichend sicher fühlen, um lernen zu können (Schleiffer, 2004, S. 24) Unsicher- und desorganisiert gebundene Kinder sind in ihrem Explorationsverhalten gehemmter Sicher gebundene Kinder können sich leichter soziale Unterstützung holen Negativ-Spirale bei unsicher-vermeidend gebundenen Kindern: tendieren dazu, die Bedeutung des Beziehungsaspekts beim Lernen zu verleugnen Unsicher-ambivalente Kinder hingegen betonen den Beziehungsaspekt beim Lernen: Dauerthematisierung von Beziehungsthemen (Schleiffer, 2009, S. 49ff.)

18 Lehrerhandeln: Fürsorgeverhalten Übertragung der Bindungsrepräsentation auf die professionelle Caregiving-Beziehung (Transmissions-Hypothese) Lehrkräfte mit sicherer Bindung: feinfühlig und flexibel hinsichtlich Regulationsstrategien für Verhalten der SuS Lehrkräfte mit unsicherer Bindung: ungünstigere Reaktionen wie Ignorieren, Gegenkontrolle Imitieren etc. (Beetz, 2014)

19 Verteilung der Bindungsrepräsentationen Normalbevölkerung (van Ijzendorrn & Bakermans- Kranenburg, 1996; Mickelson, Kessler & Shaver, 1997) Lehrkräfte im Förderschwerpunkt ESE (Beetz, 2014, S. 83) N = 48 Sicher gebunden (F) 55% bis 59% 46% Unsicher-vermeidend (Ds) 16% bis 25% 30% Unsicher-verstrickt (E) 9% bis 11% 6% 54% Desorganisiert (U) 17 % bis 19% 18%

20 Arbeitsphase: Welche (Beziehungs-)Anforderungen stellen die Schüler an Ihr Be- und Erziehungsverhalten?

21 (Beziehungs-)Anforderungen an die Lehrerrolle 1) Schaffen einer vertrauensvollen Atmosphäre, innerhalb derer sich die Schüler sicher fühlen 2) Unterstützen der Kinder mit unsicherem Bindungsmuster durch Emotionsregulation: erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber Rückzugstendenzen bei Misserfolgen von Schülern sowie professioneller Umgang mit den eigenen Gefühlen 3) Fungieren als neue Bindungsfigur als sichere Basis und dadurch Umstrukturierung der inneren Arbeitsmodelle der Schüler

22 Vielen Dank für Ihr Interesse und Ihre Mitarbeit! Dr. phil. Jessica Carlitscheck (Dipl. Heilpäd., STEEP TM -Beraterin) Professur für Entwicklungswissenschaft und Förderpädagogik Telefon:

23 Weitere Infos: Bindungsfilme von R. Kißgen